Antikörper zur Atombombe. Verwissenschaftlichung und Programmierung des Klassenzimmers im Kalten Krieg. In: Den kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte. Eds. Patrick Bernhard & Holger Nehring. Essen: Klartext, pp. 259-284.
Den Kalten Krieg denken Beiträge zar sozialen Ideengeschichte seit 1945
KLARTEXT
Antikörper zur Atombombe Verwissenschaft lichung und Programmierung des Klassenzimmers
im Kalten Krieg' ANNF.
1965 brachte
RoHsrocK
Tom Lehrer, ein bekannter amerikanischer Künstler, Harvard'Absol-
vent und Mathematik-Dozent am berühmten Massachusetts Institute ofTechnology (MIT), einen Song heraus, der sich wochenlang in den Hitlisten hielt und in Eng-
land und Amerika einen Millionenumsatz einspielte: Mit 80 Textzeilen im Hochgeschwindigkeits Sprechgesang eigentlich kein Kassenschlaget traf Lehrers stoccato vorgetragene Piano-Satire aufdie sogenannteNeue Mathematik (New Math) offenbar den Nerv der Öffentlichkeit. Wie keine andere curriculare Reform davor oder danach sorgte der Siegeszug, den di€ Neue Mathematik seit den 196oer Jahren in den Schulen Nordamerikas und westeuropas algetreten hatte, für gesellschaftlichen Zündstof: Weltweit verzweifelten Eltern über den Arithmetik-Aufgabeü ihrer Zöglinge, Medien und Mediziner griffen das Thema auf und in Frankreich kam es sogar zu Suizidversuchen überforderter Lehrer Der Ansatz der Neuen Mathematikstellte, kurzgesagt, statt dereigentlichen Rechentätigkeit das allgemein abstrake Verständnis für mathematische Operationen in defl Vordergrund und wollte aufdiese Weise das logische Denken befirrdert wissen. Odet wie Tom Lehrer den neuen Zugang der Mathematik in seinem Lied ironisch charakterisiete: ,,In the üew aPproach [...] the important thing is to understand what you're doing rather than to get the righl
Dieneue Mathematikwar aber lediglich ein kleiner Teil ungleich umfassenderer Bemühungen zur Szientifrzierung, Rationalisierung und Technologisierung west_ Iicher Curricula in der Nachkriegsära. Ob nun Lehr und Lernmaschinen als neue Unterrichtstechnologien in den Schulen eingeführt wurden, audiovisuelle Medien kh dänke PatrickBernhärd. Ma Rohstock und Catherina Schreibe. für thre Ideen, Hinweise und Ein animiertes video des l96s erhtandenen Songs "N€w
Ilrw.youtube..om/wat hiv=Ul(Gv2cTgqA
Matli
von Tom Lehrer ist unter hnpr/ Zugrilf 29.3.2012).
auf youtube abzurufen (letzter
258
die europäischen Klassenzimmer eroberten oder eine Verwissenschaftlichung des Unterrichts iDsgesamt um sich grift All diese Bemühungen, so die zentrale These, waren wesentlich durch den Kalten Krieg geprägt und sind ohne den Kontext der west-östlichen Blockkonfrontation nicht in vollem Umfang zu verstehen, Die vielfälti8en Versuche sowohl der Bildungspolitik als auch der scientific community zur Erneuerung der Curricula hatten letztlich zum Ziel, das KlasseDzimmer analog zu anderen gesellschaftlichen Subsystemen (Verteidigung, Wirtschaft) planbar und steuerbar zu machen. Angesichts der real drohenden Gefahr eines atomaren Vernichtungskriegs stand die systemische, wissenschaftliche Kontrollfühigkeit des Klassenzimmers ganzoben aufder politischen Agenda der Bildungsplaner. AIs nicht bloß metaphorischer Raum der Zukunft war die Schulklasse damit der Ort, an dem der Kalte Krieg durch programmierte Rationalisierung ungeschehen gemacht werden sollte Für die technologische Verwissenschaftlichung des Unterrichts gilt auf diese Weise, was Buckminster Fuller, amerikanischer Ingenieur, Systemtheoretiker und Futurist, in den 196oer Jahren für die Computerisierung des Alltags in den westlichen Gesellschaften allgemein festhielt: Er erblickte in hochgradig rationaIisierten Systemen wie dem Computcr vom Menschefl entwickelte Antikörper zur Atombombe.t Die Verwissenschaftlichung der ry€stlichen Curricula beschreibt damit letztlich auch den Versuch, den drohenden Krieg zu irrationalisieren. Diese Bemühungen hatten im Wesentlichen zwei, nicht immer miteinander in Einklang stehende Zide. Einer Gruppe von Wissenschaftlem und Politikern ging es insbesondere darum, über die Bildungssysteme einen durch und durch rationalen Menschen zu formen, der die zunehmend als interdependent wahrgeDommenen weltprobleme, darunter eben auch Krieg, kognitiv lösen sollte. In dieser Perspekive hatte Frieden fürjeden Einzelnen die mit rationalen Mitteln zu eßchließende und damit logischere Alternative zu Vernichtung und Tod zuwerden. Eineranderen Gruppe war zwar auch an der Erschaffung des llodo rutionalis gele9en. Sie sah aber in der Verwissenschaft' lichung von Erziehung und Bildung primär ein geeignetes Mittel, um den Cegner, also insbesondere die Staaten des Ostblocks, vor einem Angriff abzuschr€cken. In dieser Logik garantierte die Szientifizierung der Schule einen bewaffneten Frieden analog zu dem im militärischen Bereich durch Nuklearwaffen gesicherten ,Gleich" gewicht des Schreckens". Obwohl beid€ Stdmungen letztlich das Umschlagen des Kalten Kriegs in einen,,heißen Krieg" durch die Verwissenschaftlichung der Bildungundenkbar machen wollten, zog die Irrationalisierung des Krieges gleichzeitig auch eine übersteigerte Quasi RationalisierunS des Friedens nachsich. Schulen und Curricula sollten in der Folge nicht nur verwissenschaftlicht, sondem auch technologisiert und automatisiert werden.lm Bereich der Bildunggalt€n die neuen Unter, richtstechnologien nämlich als dem Menschen als Iogisch ,,handelndem' System
Ietztlich weit überlegen. Der Schüler sollte deswegen nicht nur an, sondern von der Maschine lerneni den Lehrer gar hoffte nicht nur die neu entstehende Unterrichts-
industie, die die neuen Bildungsideologien marktwirrschaftlich zu nutzen trachtete, über kurz oder lang vollständig zu ersetzen. Dabei war die Vision einer durch Technologie Lrnd Wissenschaft befriedeten Welt selbst alles andere als rational, sondern trug an utopischen Heilsversprechen orientieite religiirse Züge. Darüber hinaus erwies sie sich in zahlreichen Fällen als bar ieder erhiichen Norm. war zum Teil eng an polilis(ne Überzeugungen gekoppelt und redele häufig einem neuen Totalitarismus in Form einer ,,totalen Weltplanung" das Wort. Die neuen Bildungsideologien kollidierten in der Folge heftig mit der im Wesentlichen kulturell bedingten,lokal gewachsenen und historisch etäblierten Funk tionsweise von Bildungssystemen, deren Ziel und Zweck durch die neuen Ansprüche nachhaltig in Fmge gestellt wurden. Bis heute sind die Alrswirkungen zu spüren, die die im Kalten Krieg entstandene Erwartungshaltung an Schule, die letztlich zu nichts Ge ngerem als arr Lösung von Weltproblemen beitragen sollte, nach sich zog. Diese These sollin drei Kapiteln entwickelt werden. Ein erster Abschnitt charakterisiert den von den USA ausgehenden Wandel, den Wissenschaft und Technik im Verlauf des Zweiten Weltk egs durchmachten, urld benennt die Auswirkungen, die diese Entwicklung auf die folgende Phase des Kalten Kriegs insbesondere im Bildungsbereich hatte. Ein zweites Kapitel zeichnet den Transfer der neuen Bildungsideologien des Kalten Krieges in die westeuropäischen Curricula nach. In einem dritten uüd letzten (apitel sollen die langfristigen Folgen dieser im Kontext der Blockl(onfrontation eingeleiteten Verwissenschaft lichung von Lehr- und Lerninhalten in den elrropäischen Schulen abgeschätzt werden.
Die verwissenschaftlichung des Curriculums made in USA
Die Bedeuturg des Zweiten Weltkriegs fiü Entwicklung und Stellenwert der Wissenschaft in den USA kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er initiierte einen Wandel, derauch die folgenden Jahrzehnte prägte. Zum eiren veränderte sich während des Zweiten Weltkiegs die Beziehung zvdscheü wissenschaft und Politik nachhaltig. Die kiegswichtigen Forschungen, die Physiker Mathematiker, Psychologen, Chemiker und Biologen gemeinsam zwischen r94r uüd 194, in den Laboren insbesondere des Massd chusetts Institute of Tech,loloSy (MIT) durchnihrten, wurden in einem bis dato nie dagewesenen Umfang von der Politik untentützt. Die Millio' nenbeträge, mit denen die Regierung Projekte wie das Manhattan Project zum Bau der Atombombe bezuschusste, bandefl die wissenschali in der Folge immer enger an den politisch-militärischen Komplex.'
4
Vgl. kvin SteM.t, OrganiziDgScientilic Research for War, New York 1980; Paul lormän, Behind Quantum Electronicsr National Securityas Basis fo. Physi.al Research in the United States,19401960, in: Historicäl Studis in the Physicaländ BiologicalSciences l8 (i987), S. 149 229; Robert
260
Militär und Forschung beschleunigte zum anderen einen wissenschaftsinternen Warldel, Durch die verstärkte[ finanziellen Diese enge Verquickung von Politik,
Zuwendungen der Regierung entwickelte sich Wissenschaft seit dem Zweiten WelF eg immer mehr zur Großforschung. Der relativ unabhängig von seinen Kollegen und der Gesellschaft arbeitende Gelehrte gehörte schon bald der Vergangenheit an und machte Pletz für interdisziplinärc Zusammenarbeit, verstärkten ifiternationalen Austausch sowie Ziel- und Zweckgerichtetheit der Projekte. Die einzigartige Situation in den Laboren des MIT, wo Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen den kreativen Austausch - zum Teil auch mit dem verbündeten Ausland - zur wissenschaftlichen Lösung von politisch und gesellschaftlich relevanten Problemen pflegten, prägte das Wissenschaftsverst;indnis der beteiligten Forscher fur immert Amerikanische Historiker haben die neu entstandene Wissenschaftsform, wie sie insbesondere in den Laboren des MIT betrieben wurde, als science' oder ,,large"big
k
scale researclf bezeichnet.6
Doch änderten sich nicht nur Größe und Form der Projekte im anbrechenden -Age ofscieflce", wie die neue Ära zuweilen genannt wurde. Es kam auch zu einem erkenntnistheoretischen Wandel: Ni:ht mehr die intrinsisch motivierte Suche nach Wahrheit um ihrer selbst willen stand im Vordergrund, sondern eine am gesell, schaftlichen und politischen Nutzen orientierte Suche nach wissenschaftlichen Lösungsmöglichkeiten für aktuelle Probleme.T Nach 1945 wurde diese neue Linie beibehalten. Daran war nicht zuletzt der Politik gelegen. Bereits kurz vor Ende des Zweiter Weltkiegs hatte Präsident hanklin D. Roosevelt den Direkor des Ofice of Scientifc Reseorch and Development,Vannevar Bush, mit der Ausarbeitung eines Wissenschaftsprogramms für Friedenszeiten beaufiragt. Darin sollte Bush eine Antwort auf die Frage finden, wie die Erfahrungen, dieman während des Krieges inWissenschaft und Foßchung gesammelt habe, gewinnbringend in derZeit nach dem WaffeNtillstand angewandt werden könnten. Roosevelt zufolge sollten die die Techniken und die Forschungser"lnformationen, fahrung', die das Ofce im Krieg gewonnen hatte, nun beitragen zur Verbesserung der nationalen Gesundheit, der Etablierung von neuen Unternehmen und zur allGilpin und Christophe. Wri8ht, Sci.ntists and Narioaal Policy MakinS, New York 1964r Stuarl
dd American Scied€e 'IIe Military-Industrial-Aodemic Compl€x atMIT York 1993; Robert D. Seidel, Äccel€rating Science fte Possvar Transformation of th. Lawren e Padiarion Laboratory in: Histori., Studies in the Physical Sci€n@s t3 (1983), W tesli€, Cold War aDd Stanford, New
Alvin M. Weinberg, lmpact of LarSe'Scale ScieDce on the United Stätes, in: Science 134 (rüly 1961). S. 161 164; lonathan lurnea Litde Book, Big Book: Before and After little Science, Big Scienc.: A Revi.w A.ticle, Part I, ini loumal of Librarianship and Information Science 3t (June 2003),s.
Heöe
us
125.
olEdrcation for our A8e ofScience: Reflectioos ofa Logical Empiricist, in: Nelsotr B. H.nr), (Hg.), Modern Philosophi.s and Edrcation. fte Fifty,Founh Yedbook of rhe National Society for the Study of Education, Chicago 195s. Feigl, Aims
Semeinen Erhöhung des ame kanischen Lebensstandards.s Dieses Ziel der Nutzbarmachung von Kriegserkenntnissen verloren auch die nachfolgenden Präsidenten nicht aus dem Blick. Sowohl Harry S. Truman, mehr noch aber Dwight D. Eisenhowef knüpften die Bande zwischen Politikund Wissenschaftin der Nachkriegsära vor allem durch die Erhöhung der fin.nziellen Zuschüsse immer engere Doch auch die Wissenschaftler selbst hatten ein Interesse an de. Aufrechterhal' tungdieser einmal eingegangenen Symbiose. Der Zweite Weltkrieg hatte ihnen nicht nur finanzielle Vorteile, sondern auch Prestigegewinn,ja, zuweilen sogar Heldenstatus eingebracht. Treffend beobachtete etwa das Life Magazine, dass der schusselige, Formeln murmelnde Professor gleichsam über Nacht aus dem Wollpullover in den Umhang von Superman geschlüpft sei.to Diesefi Status galt es mit der finanziellen Rückendeckung der Politik nach 1945 aufrechtzuerhalten. Viele wissenschalller erkannten sehr deutlich, dass sich ihneD jetzt die historische Chance bot, den tra ditionellen Antiintellektualismus der amerikanischen Gesellschaft in die Schranken zu weisen. Forscher aller Disziplinen ließen deswegen nach Kriegsende keine Gelegenheitaus, aufdrälgende Fragen der weltpolitik aufmerksam zu machen und ihre Lösung durch intellektuelle, rationale und streng wissenschaliliche Mittel zu versprechen.rl Der Glaube an die universale Problemlösungskompetenz der Wissenschaft war bei den Forschern selbst durch die Brfahrungen des Zweiten Weltkriegs nachhaltig bestärkt worden. Kaum einer der nach r94t die öffentliche Bühne erobernden Wissenschaftler hegte derl geringsten Zweifel daran, dass Rationalität und Intellekt prinzipiell den weg in eine bessere Welt wiesen, sei es über den technologischen Fortschrittoder die Höherentwicklung desMenschen selbst. Burrhus Frededc Skin' ners 1948 verdffentlichte Wissenschaftsutopie I4/aldelx lI,in der et eine d]uldt cultural erßIree,,irg und Selbstkontrolltechniken perfektionierte, 8lückliche Wissenschaftlergemeinschaft entstehen lässt, warletztlich gar nicht weit entfernt von den Vorstellunger, die viele seiner Kollegen für das zukünftige Funktionieren der welt vor Augen hatten.r: Jerrold Zacharias etwa, Physiker im Kriegseinsatz und Mitglied der ame rikanischen wisseffchaftlichen Elite der Nachkiegsära, sprach stellvertretend für seine Kollegefi, ais er seiner unumstößlichen Überzeugung Ausdruck verlieh, dass n.hezu iedes Problem der amerikanischen Gesellschaft durch,,fißt_class_intellect" gelöst werden könne.rr
I 9 lo It
vannelar Bush, Science Ille Endless Frontier A Report to the lresident, WashingtoD 1945. Vgl. David M. Hart, ne lorged Consensus: Science, Technology, and lconomic Policy in th€ United States, 1921 1953, Plinceton 1998. lrancisSill Wickware, Manhattan Project, ini Life vom 20.8.194s,S.100. So etwa in der Biologi.. Vgl. Robert Jungk und Hans ]osefMuDdt (Hg.), Modele für eine neue
12 13
Welt. Das utustittene Experiment, de. M€nsch. Siebenundavanzig Wissenschaliler diskutieren die El€mente einer biologischen Revolution, deutsche Ausgabe, München 1966 (engli§che Au§_ gabe London l96s), S.3l-52. Bufthns lrederic Skinner, Walder Two, Indianapolis 1948. Rudolph, Scientists (Anh. s).
262
Ins Visier geriet aufdieseWeise auch die ,,Erziehungskrise", die die USAnach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermeintlich erfasst hatte. Nicht pädagogen, sondern vornehmlich Wissenschaftler insbesondere aus den ,,kriegswichtigen" Disziplinen Psychologie, Mathematik, Chemie, Physik und Biologie lvaren es, die sich nach 1945 zunehmend in die Diskussionen über die künftige Gestaltung der Schulcurricula, die Neuordnung der Lehrerbildung und die Reform der Universitäten einschalteten. Ihnen ginges, wiekürzlich erschienene bildungs- und wisseNchaftshistorische Studien gezeigt haben, vor allem um die Verwissenschaftlichung des Unterrichts und die Bindung der Lehrpläne an die traditionellen akademischen Fachdisziplinen.r. Die von den Wissenschaftlern unternommenen Anstrengungen zur Szientifizierung des Klassenzimmers hatten mehrere Urcacheni Da war eßtens der vermeintliche Rückstand des amerikanischen Bildungswesens. Die Vemachlässigung der Wissenschaft irl den Schulcurricula lasteten viele Wissenschaftler dem Einfluss an, den die Lehrer traditionell in dem lokal organisienen Schulwesen der Vereinigten Staaten ausübten. Die Szientifizierung der Lehrpläne war damit auch ein gezielter Diskreditierungsversuch derseit den l92oer Jahren dominierenden Erziehungsphilosophie, der progressive educatiol,, und ilres verlüngerten pädagogischen Arms in den Schden, de s I ife - adj u st me fl t - m 01, e rn e n t.t 5 Als b estimmend€ pädagogische Linie auch nach 1945 hatte das fe-adjustment-novment vor allem zum Ziel, Schülern prakisch nutzbare Kenntnisse zur Bewältigung des Alltags zu vermitteln. Die Bindung der Schulcurricula an die akademischen Fachwissenschaften war darüber immer mehr ins Hintertreffen geraten. Mehr noch: Wissenschaft im Unterricht galt lange Zeit als nicht praktikabel, von geringem Nutz€n für Individuum wie Gesellschaft und deswegen sogar als regelrecht verpönt.I6 Die Vernachlässigung der Wissenschaft im Untericht nahm die akademische Elite zum Anlass, um ihr Engagement im Bildungswesen zu rechtfertigen. Man verwies insbesondere auf die angeblich verhe€renden Ergebnisse, zu denen Tests zur Überprüfung der Schulbildung von ArmyRekruten in den l94oer Jahren gekommen waren.tT Vor allem die mathematischen Fähigkeiten von Offiziersanwärtern in der Naly schienen so miserabel, dass sich die Streitkräfte gezwungen sahen, zusätzliche Arithmetik,Kurse anzubieten.rs Zweitensjedoch war es insbesondere der Kalte Krieg, der dem Verwissenschaftlichungsprogramm der akademischen Elite Vorschub leistete. Die im Zweiten \{elt, krieg gefestigte Beziehung zum politisch-milirärischen Komplex führre dazu, dass die Wissenschaft im Kontext der Blocklonfrontation erneut an die Waffen gerr:fen
14
Ebd., Andrew Hartman, Educätionand the Cold War'fte Battte for the Amerkan School, New York 2008.
l5
Ebd.
16
Djane Ravitch, LeftEackrA CenturyofFailed School Reforns, New york 2000. Ralph Raini,ludging Standardr for K-12 Mathenatics, in: Sedra Storsky (Hg.), wtart at Stake h the K, 12 Standards Waß: A Primer for Educational ?olicy MakeE, New york u. a. 2000. lhillip lon€s und,{. F. Coxford,Ir, Mathematics in th€ Evoleing Schooh, in: dies. (Hg.),A History ofMathematics Education in the United States änd Canada. 'I'hi.ty second yearbook Washington, DC 1970, S.90 r52.
17
l6
wurde; noch einmal sollten Forschung und Technologie den Feind bezwingen und Frieden sichern helfen.rt Den Grundstein fur diesen ,,call to arms" hatten die Wissenschaftler selbst geiegt: Gerade die ideologische Unverdächtigkeit der Naturwissenschaften, die die Forscherin der Nachkriegsära immer wieder propagiert hatten, eignete sich vermeintlich hervormgend für ihren Einsatz an den ideologisch festgefahrenen Fronten des Kalten Kriegs.'o Der strenge intellektuelle Rigorismus, den der Fachunterricht zu lehren veßprach, schien zudem Voraussetzung für die ideologische Immunisierung der Iugend im anbrechenden Systemkonflikt. Hatten die Attacken, die die akademischen Traditionalisten seit der Zwischenkriegszeit immer wiedet gegen die prcgressiw education gefahten halten, bislang nicht gegriffen, veränderte sich diese Situation im Kontext des Kalten Kriegs rasch:
Erstmals schien die Überlegenheit, mit der die professionellell Erzieher und die zehntausende lokalen s.roolroards bisher die Geschickeder amerikanischen Schule gesteuert hatten, zu bröckeln. Wissenschaft und Politiklästeten nun Lehrern in ganz Amerika die angeblich ungenügende intellektuelle Vorbereitung derSchülerfür den
Konflikt mit dem Ostblock an.'zL Ein Übriges taten in dieser Stimmung die technologischen Erfol8e der Sowjetuüion, allen voran die erfolgreiche Zündung der Atombombe im Jahr 19+g. Ztdem führten alarmierende Berichte über die vermeintlich herausragende Qualität des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts in den sowjetischen Schulen sowie der in den USA grassierende Fachkräftemangel schon langevor dem Sputnik-S€ho& des Jahres r957 zu Diskussionen, in denen insbesondere über Mt glichkeiten zur Reform des amerikanischen Schulunterrichts nachgedacht \,!'urde.':2 Wie verschiedene Studien minutiös herausgearbeitet haben, war beim Sta des ersten bemannten Erdsatelliten deswegen die Notwendigkeit einer Verwissenschaftli chung des Unterrichts bereits fest in den Köpfen der Amerikaner etabliert." Der ein ,ahr späterverabschiedete Natioflal Defense Educdrio, Aci (NDEA)legte den künftig zu beschreitenden Weg dann auch nur noch einmal omziell fesl Den Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften, von denen man sich die He.ausbildung einer univeßell anwendbaren sciefitifc literacy versptach, galt es nach den Vorgaben des
l9 20
2l
22 23
Dereerikanische Historike.walter McDougall spricht lon der ,,institutionalization oftechnological change for state purposes". Siehe Walter A. McDougall, ... the Heavens and the Earth: A Political Historyofthe Space Age, Ne York 1985, S.5. Rudolph, Scienthts (Anh. 5), Zitat S.90. John L. Rurn fte Changing SocialContext ofUrban Education: A Natioml PesPective, ini de6 und lrank A. Cassell (Hg.), Seeds Ofcrisis: Public Schooliogin MilMuke€ sin.e 1920, Madison, Wisconsin 1993, S. l0-41. Nicholas De witt, Soliet Professio.al Mdpower: Its lducatlo!, Training and SuPply, Washington, Da$ der Sputnik-Schock nicht Auslöser dieser B€mühungen war, wohl aber als Katabßalor wirkte, haben zahl.eiche hhto.ische Studien deullich herausgearbeitd: Hartman, Edücation (Anm. 14); Philip W ]ackson,fteReform ofscience Education: A Cäutiondy Tale, in: Daedälus 112,2 (1983), S. 143-166; Diane Ravit h, lhe Troubled Crusade American Education, 1945-1980, New York 1983i Rudolph, Scientists (Anm. 5).
264
NDEA besonders zu ftildern." Alle bereits laufendeü curricularen Projeke, die Wissenschaftler insbesondere in den Fächern Physik und Mathematik über das gesamte Land verteilt initiiert haften, sollten hier gebündelt werden. Allein schon der Titel des Gesetzes machte das Ansinnen der US-Administration deutlich: Das amerikanische Eziehungswesen hatte nun analog zum A tlas Weapon S)tstefi ,ßr allerr. Aer Verteidigung d€s Landes und der Welt vor dem Kommunismus zu dienen." Der NDEA stellte der National Science Founilation Millionenbeträge zur Reform der Curricula aus bundesstaadichea Ttipfen zur Verfügung. All€in die Modernisierung der Mathematik zu Verteidigungszwecken wurde von der Regierulg mit roo Milliooerl Dollar bezuschusst.'6 Das war im dezentralen Schulwesen der USA ein bislang nie dagevr€sener und verfassungsrechtlich nicht ganz unumstrittener Eingrif der Bundeslegierung in die lokale Schulorganisation, Studiengruppen zur Curriculurnreform vor allem in den Fäch€h Mathematik, Phys& Biologie, Chemie und modernen Sprachen schossen in den Folgeiahren wie Pilze aus dem Boden.'17 Die in dieJen Grupp€n engagierten WissensdBftl€r rekrutierten sich fast ausschließlich aus kriegswichtigen Forschungsprojektell. ,etzt arbeiteten Forscher, die zu!,or am Bau der Atombombe beteiligt gewesen warcn, an Proiektel zur Neugestaltung des Schu.lunterichts. Mcht übeffaschend kamen desweg€n ganz ?ihnliche Methoden und Mittel wie in der militärischen Forschung zum Einsatz: Insbesondere operution rasearclr Verfahlen, die sich, von den Briten entwickelt ulrd ron derl Arnerikanern adaptiert", im Gefolge der entstehenden ziel- und zweckgerichteten Großforschung im Zweiten Weltkieg €tabliert hatt€n, fanden nun in d€l Cur cullrmreform Anwen-
d*9."
Ergänä $urden diese Verfahren durch neue Theorien des L€rnens aus dem Bereich der aufstrebenden Kognitionspsychologie. Die ,kognitive Wende', die den Abschied von den bislang vorherrschenden behavioristischen Lernmodellen einleitete, v,,ar vornehn ich düch den Haavard-Psycholog€n und Veteran der PJrcrologi.al Wddne Di"ision im Zweiten Wehkrieg,lerome S€ymour Bruner, beftirdert worden. Unter seiüer Agide erlangten die neuen Theorien des Geistes nun Einfluss aufdie wissenschaftliche Curriculumreform. 19t8 fühte die berühmte zehntägige
S l3 16, hier S.52. Da!ielIröhler' Histo.iognphische lJerausfoldefilrgen d.r Bildungsgerhi.hte, in: Silduntsg. s.h ichte I ntcrnarional lournal for tlt HisrörbSraph.v oi Edu.ario! I (201 I ), S. 9- 22i $ r)!e l Urbin, rlore lhrn Science and Sputnik 1}. r"attunälD.linse EducationA.l otr958, Tus.!loo. (1958),
10t0. Cr rl som nE!, Schook in Cris i§: Iiainin8 for Su.&t\ or Fiilure ? A Teacher Investigdres th. tidL,.. nonJ srstrm from within and Ofeß Pracl ic,l Solll ion.. Hou non 198a, zahlenan8lbe auf S I r \\'lll,im Pinar ü. .. (Hg. ), Undeßtand ing (irri.ulum 1n Introdudtun ro the Study ot llßtori.., a.i C.nre mporrD' Cu ri.ulu,, Discourses, \e\r )bik r :our Il!rh I \1lrr, Operations Analysis nr the AünrAir For.. Ln \\itrld \r'.r Il: §on. Rehinisccnce.
r
,. l9
:,,:.!n.!r
13.
\_r
äNJ,,i:l \.ientisls
5
(1991).S.47'19
(Anm. 5).
Woods-Hole Konferenz Curriculumreformer insbesondere ar.rs den FächernMathe_ matikund Physik mit Psychologen zusammen. wie die Teilnehmerliste der Tagung zeigt, waren nahezu älle der in der Lehrplanreform engaSierten Wissenschaftler auf der Konferenz vertreten - von dem Vater der Ne, Mdrr'Bewegung und Vorsit zenden der School Mathemati.s StuÜ Group (SMSG), Edward G. Begle, bis hin zu Jerrold Zacharias, Teilnehmer am Manhattan Project und Leiter des Prlsi.al Sciefl.e
Sndy Committee (PSSC).)o Die Verbindung von operatiofi rcserach Verfahren mit kognitionspsychologi_ schen Ansätzen wirkte sich massiv aufdie Inhalte der Reformen aus Ob nun Physih Mathematik oder Biologie betroffen waren: Überatl in den neuen LehrPlänen standen von nun an abstrakte Problemlösungsähigkeiteü im Vordergrund, erhiel_ ten logische Operationen und allgemeines Verständnis für die Materie den Vorzug vor Faktenlvissen und sollten sich Schüler und Lehrer künftig ganz ähnlich wie die wissenschaliliche Forschüng seit dem Zweiten weltkdeg selbst an verbindlichen Zielvorgaben orientieren. Strukur war das neue Zauberwort, dem sich Unterricht künftig unteruordnen hatte. Der Lehrer sollte den Schiller mit Wissens§trukturen ausstatlen, die ihm die Lösung von unbekannten Problemen in ganz anderen als den bislang erlebten Kontexten ermöglichen sollte.!' Schule in dieser Sichtweise diente der Überfuhrung desmenschlichen Geistes in ein Dechiffrierungssystem, mit dem alle denkbaren Codierungen einer zukünftigen Umwelt aufgeschlüsselt werden konnten.'2 Universell anwendbare und auf die Zukunft ge chtete Denkw?ise, hiel_ ten aufdiese Weise Einzug in die amerikanischen Klassenzimmer und veldrängten dort den traditionell gegenwartsbezogenen, räumlich, historisch und kulturell kon_ textualisierten Lernstoff. Die Neuformulierung der Inhalte ging Hand in Hand mit einer Neuausrichtung des gesamten Efliehungswesens. Die durch die Kognitionspsychologie und die Facliwissenschaften geplante Intellektualisierung des Curriculüms versclmolz mit den systemischen Ansätzen der operatiofi researah_Vefahren zum Ziel der wissenschaftlichen Revolutionierung des gesamten Schuls)'5rems. Dass der Reform damit ganz entgegen ihrer Rationalisierungsabsicht der Politische Kontext des Kalten Krie_ ges gleiclsam eingeschrieben war, $'urde nirgends deutlicher als in Woods-Hole: iVielerome Br,]ner uttd seine wissenschallskollegen immerwieder betonten, hatte Schule künftig analog zu den für Abschreckungszwecke entwickelten Waffen_ und Verteidigungs=systemen des Kalten Kriegs zu funktionieren. Eine Studie' die unter den Kon'ferÄziellnehmern zirkulierte, betonte so, dass "the goals ofeducation [ ] ex?ressed in terms ofthe human functions and tasks to be Performed l l can be as exactly and objectively specified as can the human functions and tasks in the
30
'Ihe Process of Education, Cambridge, Jercme S. Btuner
31
lbd. lerome 2006,
S.
Mas
1960'
B.uner. In Search of Pedagosvr 'Ihe Selected Work§ ofJerome S' Bruner, Bd-
hi€rS. I
l
1,
New York
266
Atlas Weapon System".3' In dieser Sichtweise machte allein ein durch intellektuelle Strenge hochgradig rationalisiertes System die Sicherung des Friedens überhaupt möglich. Anders formuliert erwarteten die Wissenschaftler von der Rationalisierung des Erziehungssystems nichts weniger als die Irationalisierung des Krieges in den Augen derGegner FriedeD ünd Freiheit konnten in dieser Logikalsoletztlich einzig und allein durch Wissenschaft garantiert werden.'r Als störend erwies sich aufdiesem Weg, der letztlich auch zur ,,Verbesserung des Menschen'führen sollte, lediglich der Faktor Mensch selbst.'s Wie die Bemühungen der Wissenschaftselite zeigen, ging es ihnen bei der Verwissenschaftlichung der Klassenzimmer im Kontext des Kalten Krieges auch um eine Depädagogisierung des Unterrichts. Von Beginn an zweifelten die Wissenschaftler nän ich sehr stärk daran, dass der ,,herkömmliche* Lehrer die neuen Lernformen überhaupt v€rmitteln
könne und den intellektuellen Anforderungen des Unterrichts gewachsen sei. Die Lehrer waren ja bislang eben nicht - wie mancher Wissenschaftler naserümpfend bemerkte - in ,,cutting-edge-science" geschult worden, sondern zunächst und vor allem Pädagogen.36 Die Technologisierung des Unterrie+lts versprach hier einen Ausweg. Lehr- und Lernmaschinen sowie der Einsatz des Unterrichtsfilms sollten den Einfluss der alten Lehrerschaft ebenso minimieren wie die in seitenstarken Büchern niederyelegten Handreichungen, die den Pädagogen minutiös durch die Schulstunde führen soll, ten. Entgegen allen Beteuerungen, die neuen Unterrichtstechnologien könnten den Lehrer nicht ersetzen, war es doch das mehr oder minder implizit mitschv[ingende Anliegen der amerikanischen Wissenschaftselite, den Pädagogen nach urtd nach überflüssig zu machen. Dazu passt auch, dass nach dem Willen d€r Curriculumreformer nicht mehr die besten Pädagogen, sondern die besten Wissenschahler des Landes im Unterricht eingesetzt werden sollten. Die erfolgreichsten unter ihnen wollte man desw€gen aufZelluloid bannen. Überden Unterrichtsnlm hofftemanauf diese Weise, wissenschaftliche Exzellenz in wirklich jedes amerikanische Klassenzimmer tmgen zu können.t1 lm Ptuject Continertal ClasJloom wurde diese Vision zumindest in Ansätzen erstmals Wirklichkeit. Zwischen r9t8 und 1964 sendete die
36
Tretrend beschr€ibt der amerikanische Historiker Joho Rudolph die Bemühunsen de. Wisen schaftler: Jh€ modern Cold War weapoo system re, in th. minds of all lhese reformeß, the epitome of rarional imtrumentation - a pow.rtul model to be emulaied if, s€eking solürions to educational probl€ms. Rudolph, Scientists (Anm. 5), Zitat€ beide aufs. 99; vgl. dazu auch Daniel Tröhler, Ianguages of Edu.ation. Protesranr l€gacies, National Id€Dtities, and clobäl Aspirarions, New York und London 2010, S.20otr, Vgl. etM den beze,chnenden Titel der internationalen Konfcrenz Scien e and Fre.domr the proceedings ofa conf€rence convened by the Congr.ss for cultural lr€edom aDd held in Hamburg on ]uly 23rd-26th, Iordon 1955. ,Ne need a surer se6e ol what to teach to whom and how to 80 about l€äching it in such ä way rhat it will mak€ those taught more efe.tht, les alienat.d, and betier human beings." Jerome S. Bruner, the Cuhure of Education, Cmb.id8e, Mss. 1965, Zitat S. I I E. Rudolph, Scientists (AnIn.5), ZnatS 66.
37
Ebd.
National Broadcasting Compa"_r/ (NBC) täglich ab sechs Uhr morgens von herausragenden Fachwissenschaftlern geleitete Unterrichtseinheiten, die sich mit Physik rm atomaren Zeitaller. Mathemalik und Chemie be5ch äfi igten. '3 Ende der r9
Comments
Report "Antikörper zur Atombombe. Verwissenschaftlichung und Programmierung des Klassenzimmers im Kalten Krieg. In: Den kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte. Eds. Patrick Bernhard & Holger Nehring. Essen: Klartext, pp. 259-284. "