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Zwischen Wagnis und Bewährung Kurt Hahn als Erlebnispädagoge von Michael Knoll Kurt Hahn, der 1886 geborene und 1974 verstorbene Reformpädagoge und Gründer der Landerziehungsheime Salem und Gordonstoun, ist nicht der „ Urvater“ der Erlebnispädagogik, als der er manchmal erscheint. Aber er ist sicherlich ihr wichtigster Wegbereiter.
Vom Erlebnisunterricht zur E rlebnispädagogik Lässt man die großen Erziehungsphilosophen und Erfahrungstheoretiker wie Rousseau, Dewey und Dilthey einmal außen vor und beschränkt sich auf die Frage, wie der Begriff „Erlebnis“ in die deutsche Pädagogik geriet, dann kann man mit Waltraut Neubert (1925) feststellen, dass Friedrich Kohlrausch und August Vilmar schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom „Erlebnis“ gesprochen und versucht haben, das Gefühl des „unmittelbaren, eindrücklichen Ergriffenseins“ für Schule und Unterricht fruchtbar zu machen. Zugleich weiß man dann auch, dass bereits im Rahmen der Kunsterziehungsbewegung der „Erlebnisunterricht“ – neben dem „Arbeitsunterricht“ von Georg Kerschensteiner und Hugo Gaudig – zur zweiten methodischen Säule der Reformpädagogik wurde. Um 1900 waren es vor allem Carl Götze, Adolf Jensen, Wilhelm Lamszus, Martin Luserke und Fritz Jöde, die dazu beitrugen, die „Ausdrucksfächer“ zu vitalisieren und das „Erlebnis“ in Deutsch, Zeichnen, Werken, Musik, Turnen zum Ausgangspunkt des Lernens zu machen. In den 1930er Jahren nahm Kurt Hahn diesen Gedanken auf, gab ihm jedoch – und das ist nun wirklich bemerkenswert – eine Wendung, die aus dem schulischen „Erlebnisunterricht“ erst die ganzheitliche und außerschulische Ansätze miteinbeziehende „Erlebnispädagogik“ machte, wie wir sie heute kennen. Indem Hahn das Erlebniskonzept über die Schule und 4
das herkömmliche Curriculum hinaus erweiterte, wirkte er in der Tat innovativ, schöpferisch und zukunftsweisend. Hahn war kein Theoretiker und besaß auch keine ausgefeilte Erziehungsphilosophie. Die Grundlagen seiner Pädagogik bestanden aus einfachen, ihm plausibel erscheinenden Annahmen (siehe Abb. 1). So meinte er zum Beispiel, dass Kinder neugierig, Jugendliche reizbar und Eltern überfordert sind, dass die Gesellschaft von Katastrophen heimgesucht und die Demokratie von Politikern bedroht wird, die das Rechte nicht wissen und das Rechte nicht tun. Doch trotz seiner kulturpessimistischen Diagnose war Hahn ein Optimist, der den Weg aus dem Dilemma wusste und ihn mit Ausdauer und Siegesgewissheit verfolgte. Mit Plato glaubte Hahn an die Macht der Erziehung. Und als ehemaliger Berater von Reichskanzler und Ministern erkannte er, dass vor allem „Charakterbildung“ notwendig war und dass die „Erziehung zur Verantwortung“ die Lösung des Problems darstellte.
Sehnsucht nach Wagnis und B ewährung Im Gegensatz zu vielen anderen Reformpädagogen – wie z. B. John Dewey und Maria Montessori – machte sich Hahn keine großen Gedanken über das Wachstum der Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter. Die schienen ihm – quasi wie in einem Kokon lebend – weitgehend sicher und ungefährdet. Er sorgte sich vielmehr um
die Entwicklung der Kinder im Jugend- und Reifungsalter. Die Jugendlichen litten seines Erachtens an den „Gebrechen“ der Pubertät und waren „zivilisatorischen Verfallserscheinungen“ ausgesetzt, die sie zu überwältigen drohten. Aber die Jugendlichen besaßen auch verborgene Kräfte, nämlich Schaffensdrang, Forschungstrieb und die Sehnsucht nach „Wagnis und Bewährung“ (Röhrs 1966, siehe jetzt auch Hentig 2007). Sie ließen sich wecken und einsetzen, um die vielfältigen Beschwernisse und Hindernisse zu überwinden, die ihre Entwicklung hemmten. Hahn dachte dabei nicht an sexuelle oder politische Aufklärung im Unterricht. Was er effektiv in die Diskussion einbrachte, war eine Methode, die nicht informierte, sondern aktivierte. Diese Kräfte sollten die Jugendlichen von ihren inneren Nöten ablenken, sie nach außen kehren und mit vielen attraktiven Tätigkeiten in Berührung bringen. Im Mittelpunkt des Hahnschen Ansatzes standen also nicht – wie bei den Freudianern – Introspektion und Reflexion, nicht – wie bei den Herbartianern – Unterricht und Belehrung, und auch nicht – wie bei den Anhängern Deweys – Aktivität und „Erfahrung“, sondern vielmehr und vor allem Aktivität und „Erlebnis“. Durch bewusst herbeigeführte „Erlebnisse“ sollten die Jugendlichen lernen, sich selbst zu erkennen und ihre „grande passion“ zu entdecken. „Wir glauben“, erklärte Hahn, „dass jedes Kind einer ‚grande passion‘, einer schöpferischen Leidenschaft fähig ist, die zu entdecken und zu befriedigen unsere vornehmste Pflicht ist“. Sei die „heilsame Leidenschaft“ erst einmal gefunden, werde sie zum „Schutzengel“ der Pubertätsjahre, während der unentdeckte und ungeschützte Jugendliche zwischen elf und fünfzehn seine Lebenskraft selten unbefleckt und unverfälscht bewahre. Da sich nach Hahn Einsichten und Ein stellungen am besten im sozialen Zusammenhang erwerben ließen, musste das Schul- und Gemeinschaftsleben eine besondere Rolle spielen. So entwickelte er ein Konzept, das der Sehnsucht des Heranwachsenden nach Abenteuer, Verantwortung und Bewährung entgegenzukommen suchte, ohne jedoch einer „autoritären Erziehung“ oder einer „Schmeichelpädagogik“ zu verfallen. „Gebt den Kindern Gelegenheit, sich selbst zu entdecken … Übertragt ihnen verantwortlich Pflichten,
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die ernst genug sind, um den Schulstaat zu zerstören, wenn sie schlampig durchgeführt werden … Laßt sie Triumph und Niederlage erleben … Sorgt für Zeiten der Stille … Übt die Phantasie“ das bestimmten die „Salemer Gesetze“, und ihnen lag ein Erziehungsprogramm zugrunde, das den gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenwirken und den jungen Menschen zu sittlicher Stärke und zu sozialer und politischer Aktivität führen sollte.
sich jenseits der üblichen reformpädagogischen Methoden und Ziele bewegte. Die „Erlebnistherapie“, wie er sein Programm des sozialen und praktischen Lernens jetzt nannte, bestand aus fünf Elementen, die alle Aspekte einer ganzheitlichen Bildung berücksichtigten und die er, nach eigener Aussage, aus verschiedensten Quellen „zusammengestohlen“ hatte: körperliches Training deckte nach dem Vorbild des Deutsche Sportabzeichens die physische Komponente ab: Laufen, Springen, Schwimmen, Werfen u.a.. Expedition akzentuierte nach dem Vorbild der Boy Scouts die affektive Komponente: Wagnis und Abenteuer bei der Erkundung unbekannter Welten. Projektarbeit betonte nach dem Vorbild des Dalton-Plans die kognitive Komponente: selbständige Durchführung größerer, selbstgewählter Vorhaben. Dienst umfasste nach dem Vorbild der christlichen Nächstenliebe die soziale Komponente: Einsatz etwa bei der Feuerwehr, beim Roten Kreuz, in der See- und Bergnotrettung. Trainingsplan enthielt nach dem Vorbild der Pietisten die sittliche Komponente: Aufstellen von Zielen und Vorhaben, Einhalten der Pflichten, Überprüfen der Absichten und Pläne.
Die fünf Elemente der Erlebnispädagogik Zunächst bewegten sich die Pläne Hahns im herkömmlichen Rahmen. Wie seine Vorbilder wollte er den „ganzen Menschen“ erziehen, die „gesunden Interessen und Bedürfnisse“ der Kinder befriedigen und „Fenster in die Mauern der Schule schlagen, um die Wirklichkeit hereinzulassen“. Daher ließ Hahn von Anbeginn in seinen Internaten Salem und Gordonstoun Sportplätze und Bootshäfen bauen, Arbeitsgemeinschaften und Innungen gründen, Ställe und Gärten anlegen, Werkstätten, Laboratorien und Bibliotheken einrichten. Im Laufe der Zeit erweiterte Hahn jedoch das Repertoire, und Mitte der 1950er Jahre hatte er ein System geschaffen, das
Für Hahn waren Gefühle und Empfindungen – nicht Vorstellungen und Gedanken – Grundlage des Lernens und die notwendige Voraussetzung, um Erfahrungen zu machen, Erkenntnisse zu sammeln, Einsichten zu gewinnen und Einstellungen zu verändern. Ohne eindrucksvolle Erlebnisse, so Hahn, dümpele der Mensch ohne Ziel und Kompass durchs Leben, ihm fehlten Motivation, Orientierung, Gedächtnis und Gewissen. Zudem gelte die Regel: je existentieller und tiefgehender die Erlebnisse sind, die die Menschen erfahren, erlitten, durchgestanden haben, desto leichter können sie heilsame Erinnerungen wachrufen, niedere Leidenschaften unterdrücken und falsche Verhaltensweisen korrigieren. Aus diesem Grund betrachtete Hahn den „Dienst am Nächsten“ als wichtigstes und wirkungsvollstes Element seiner Erlebnistherapie. Das Helfen und Retten, erklärte er, setze Gefühle und Emotionen frei, die so elementar seien, dass sich selbst festgefügte Ansichten, Gewohnheiten und Vorurteile aufweichen und überwinden ließen. Inbegriff des selbstlosen Helfers und Retters war ihm der barmherzige Samariter. Sein Vorbild beschwor Hahn, wenn er sich für den Frieden auf der Welt einsetzte und – mit William James – über Völkerverständigung und das „moralische Äquivalent“
Überwindung durch Wecken der verborgenen Kräfte der Jugend
Krise der Familie Schätze der Kindheit
Gebrechen der Pubertät
zivilisatorische Verfallserscheinungen
Elemente der Erlebnistherapie
Drang nach körperlicher Betätigung
erwachter Geschlechtstrieb
Verfall der körperlichen Tauglichkeit
körperliches Training
Lust an phantasievollen Spielen
gedämpfte Vitalität
Verfall der persönlichen Initiative
handwerkliche Tätigkeit
Freude am Abenteuer
innere Unruhe
Verfall der Sorgsamkeit und Vertiefung
Expedition
neugieriger Wissensdrang
reizbarer Mißmut
Verfall der Selbstsucht und Entsagung
Projektarbeit
menschliche Anteilnahme
boshafter Hohn
Verfall des Bürgersinns und Erbarmens
Rettungsdienst
spontane Aufmerksamkeit und Erinnerung
zuchtloser Zynismus
Verfall der Phantasie und Erinnerung
Trainingsplan
Krise der Demokratie Schaffensdrang, Forschungstrieb Sehnsucht nach Bewährung
Abb. 1: Hahns erlebnispädagogisches Konzept 5
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für den Krieg nachdachte. „Das moralische Äquivalent“, versicherte er unter Hinweis auf die „Dienste“, „ist entdeckt worden. Die Leidenschaft des Rettens entbindet eine Dynamik der menschlichen Seele, die noch gewaltiger ist als die Dynamik des Krieges“.
Errichtung einer internationalen Erziehungsrepublik Die Erfindung der Erlebnistherapie und der Dienste ist sicherlich Hahns besonderer Beitrag zur Pädagogik. Doch darin erschöpft sich nicht seine Bedeutung. Beginnend nach dem Ersten Weltkrieg rief Hahn eine Reihe von Schulen und Programmen ins Leben, um durch unterschiedlichste Einrichtungen jedem Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, mit seiner Erlebnistherapie bekannt zu werden, unabhängig von Herkunft, Bildung, Geschlecht und verfügbarer Zeit. So schuf er eine „internationale Erziehungsrepublik“, die sich heute über fünf Kontinente erstreckt. Hahn ist Gründer und Mitinitiator: von Internatsschulen: seit 1920, vereinigt in der Round Square Conference, heute über 100 Schulen für 10- bis 19-jährige Jungen und Mädchen weltweit. der Outward Bound Schools: seit 1941, heute ca. 50 Einrichtungen für kurzfristige Kurse, altersunbestimmt, zumeist im anglo-amerikanischen Sprachraum. des International Award for Young People: seit 1956, jedes Jahr ca. 100.000 individuelle Teilnehmer im Alter von 14 bis 24 Jahren in mehr als 100 Ländern. der United World Colleges: seit 1962, 13 zweijährige Oberstufenkollegs weltweit, demnächst eines davon in Freiburg / Br., Abschluss: International Baccalaureate. Hahns Erlebnispädagogik, deren Elemente längst auch in vielen staatlichen Regelschulen und Sozialeinrichtungen Eingang gefunden haben, lässt die Jugendlichen Erfahrungen machen, die zu den im traditionellen Bildungssystem vernachlässigten Grundbedürfnissen gehören. Sie bietet ihnen Möglichkeiten des sozialen Lernens für und an der Gesellschaft, die große Attraktivität und Entfaltungskraft besitzen. Bei Projektarbeit, Expedition und Rettungsdienst können die Jugendlichen ihre Intelligenz und Phantasie unter Beweis stellen und in abenteuerlichen, mitunter gefährlichen Situationen hautnah erleben, 6
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dass sie gebraucht werden und dass die Grenzen ihrer Lern- und Leistungsfähigkeit viel weiter gesteckt sind als andere denken und sie selbst glauben. Manche Form der explorativen Kriminalität, der experimentellen Drogennahme und der dissozialen Gemeinschaftsbildung mag sich dadurch erübrigen. Im Kern ist Hahns Erziehungsphilosophie eine Philosophie des „reinlichen Abenteuers“ und der „aktiven Humanität“.
Beitrag zur Sozial- und Friedenspädagogik An Kurt Hahn hat man, teilweise zurecht, heftige Kritik geübt: etwa weil er von Sexualität und sexueller Erziehung nichts verstand, weil er den charakterformenden Wert des Sports überschätzte, weil er zweifelhafte Behauptungen über gesellschaftliche Mängel und Missstände aufstellte, weil er unterschätzte, wie notwendig Einsicht für die moralische Erziehung und wie wichtig Unterricht für die intellektuelle Bildung sein kann. Dennoch gilt unbestreitbar: Kurt Hahn hat mit seiner „Erlebnistherapie“, durch die er zu einem der einflussreichsten Reformpädagogen der Welt geworden ist, einen unverzichtbaren Beitrag zur Friedens- und Sozialerziehung, aber auch zur Ganztagesschul- und Freizeitpädagogik geleistet.
Literatur Kurt Hahn: Reform mit Augenmaß. Ausgewählte Schriften eines Politikers und Pädagogen. Hrsg. Michael Knoll. Stuttgart: Klett-Cotta 1998. Hartmut v. Hentig: Bewährung: Von der nütz lichen Erfahrung, nützlich zu sein. Weinheim: Beltz 2007. Waltraut Neubert: Das Erlebnis in der Pädagogik. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1925. Hermann Röhrs (Hrsg.): Bildung als Wagnis und Bew ährung. Eine Darstellung des Lebenswerks von Kurt Hahn. Heidelberg: Quelle & Meyer 1966.
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Reflexion
Prof. Dr. Werner Michl
Reinhard Zwerger
„Eine fast unentbehrliche Praxishilfe.“
„Eine Essenz [...], die ich empfehlen kann.“
Andreas Bedacht
Holger Seidel
Zwerger & Raab
ZQ Lehrteam/
1. Vorsitzender be e.V.
Burg Schwaneck
„Der Workshop war sehr eingehend auf die Vorerfahrungen [...] und vermittelte wichtige Impulse.“
„Sehr empfehlenswert [...]. Die Arbeit vereint Theorie und Praxis.“
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Reflexionen besser und hilfreicher gestalten Der Weg:
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Autor Dr. Michael Knoll, vormals Leiter des Landerziehungsheims SchloßSchule Kirchberg, Kirchberg / J agst. Kontakt:
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