Humboldt-Universität zu Berlin Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät Institut für Sozialwissenschaften Sommersemester 2015 Vorlesung 53005: Sozialstruktur, Stadt und Diversität Dozentin: Prof. Dr. Talja Blokland
Zwischen Subkultur und PostSubkultur: Über Authentizität und Diffusion in der Berliner Club(sub)kultur
1 Einleitung The difference between a rave and a club is the same as [that] between a holiday resort that no one goes to – you’ve discovered this beautiful place – and going back five years later to find they’ve built twenty-five high-rise hotels along the beach. […] (Leo Paskin, interview: 19 March 1993) [Thornton 1995, S. 22, eckige Klammern im Original]
Dieses Gefühl kennt jede_r: etwas Besonderes gefunden zu haben, etwas Einzigartiges,
etwas
Authentisches.
Subkulturen
als
Hafen
von
Authentizität: so analysiert Thornton die Clubkultur in Großbritannien (1995). Ich möchte im Folgenden die Berliner Clubkultur anhand ihrer Theorien untersuchen und aufzeigen, dass ihre Ausführungen selbst 20 Jahre nach Erscheinen ihres Buchs noch hochaktuell sind. Vorher
jedoch
Subkulturtheorie
werde
ich
werfen
einen (1975),
Blick da
auf
Claude
S.
diese
eine
der
Fischers ersten
Subkulturtheorien ist, die zu einem von Thornton stark kritisierten Feld der Subkulturforschung zählt (vgl. Thornton 1995). Obgleich seine Theorien als überholt und zu kurz gedacht gelten, werde ich einige Ansätze seiner Theorie nutzen, um Verdrängungsmechanismen in der Berliner Clubkultur zu analysieren. Ich verwende im Folgenden den Begriff Club(sub)kultur, um deutlich zu machen, dass es sich bei Berlins Clubkultur um eine besondere Form der Subkultur handelt. So lassen sich viele Merkmale einer Subkultur finden, gleichzeitig droht jedoch der Begriff „sub“ unterzugehen, da die Berliner Clubkultur Diffusions- und Verdrängungsprozessen ausgesetzt ist, die durchaus als bedrohlich angesehen werden können.
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2 Von der Subkultur zur Post-Subkultur 2.1 Fischers „Subcultural Theory of Urbanism“ Claude S. Fischer stellte 1975 in seinem Paper „Toward a Subcultural Theory of Urbanism“ fest, dass bis dahin aufgestellte Theorien zur Urbanisierung (in seinem Verständnis die Verdichtung, vgl. Fischer 1975, S. 1323) von Städten nicht ausreichen, um die sozialen Effekte, die er beobachtete, zu erklären. Seine wichtigste Beobachtung war folgende: [Urban residents] are more likely than rural residents to behave in ways that diverge from the central and/or traditional norms of their common society. (Fischer 1975, S. 1321)
Er
stellt
zunächst
zwei
ältere
Erklärungsansätze
zu
Urbanismus
gegenüber: die von Wirth postulierte Theorie, dass größer werdende und sich konzentrierende Gemeinschaften zu einem sich verstärkenden Individualismus aber auch zur sozialen Anomie führen (vgl. Wirth 1938) sowie einen Ansatz, den er nicht-ökologisch („nonecological“, Fischer 1975, S. 1321) nennt. Diesem zufolge sind Variablen wie Anzahl, Größe oder Heterogenität eben keine bestimmenden Faktoren für das Verhalten Einzelner in einer Großstadt (vgl. Fischer 1975, S. 1321). Fischer stellt weiter fest, dass sich zwar wenig empirische Belege für Wirths Theorie finden lassen, der nicht-ökologische Ansatz aber seine Beobachtungen (siehe oben) ebenfalls nicht vollständig erklären kann. Er entwirft im Folgenden eine eigene Theorie, eine „subcultural theory“ (Fischer 1975, S. 1323), wie er sie nennt. Er definiert eine Subkultur dabei als „a set of modal beliefs, values, norms and customs associated with a relatively distinct social subsystem“ (Fischer 1975, S. 1323). Diese kurze Definition hat durchaus ihren Charme, da sie eine so definierte Subkultur klar von anderen Subkulturen sowie von der Vereinigung ebendieser anderen Subkulturen (also dem ganzen Rest) 4
abgrenzen kann. Dass jedoch diese relativ eindeutige Abgrenzung schwierig bis kaum möglich ist, ist ein Kritikpunkt, auf den ich später noch genauer eingehen werde. Zunächst einmal aber sollen Fischers Vorschläge kurz zusammengefasst werden. Fischer stellt vier (im weiteren Verlauf sogar sieben) Prämissen auf, die er wiederum mit eigenen oder in der bisherigen Forschung gemachten Beobachtungen beschreibt. Die ersten beiden Prämissen, nach denen sowohl die Varietät als auch die Intensität von Subkulturen zunehmen, je urbaner ein Raum ist, erklärt er unter anderem mit Durkheims Ansatz zur Verdichtung der Gesellschaften (vgl. Durkheim 1977), die zu größerer Differenzierung der Gesellschaft führt, als auch mit einer nur in den Städten vorhandenen kritischen Masse, die eine Subkultur überhaupt erst entstehen lässt (vgl. Fischer 1975, S. 1324–1326). Fischers dritte, für meine weiteren Ausführungen interessanteste Prämisse lautet: „The more urban a place, the more numerous the sources of diffusion and the greater the diffusion into a subculture.“ (Fischer 1975, S. 1327) Er meint damit die Übernahme von Verhaltensweisen, Symboliken und Glaubensansichten einer Subkultur in eine andere. Er stellt dabei fest, dass sich sowohl diffundierte als auch intensivierte Elemente in Subkulturen bilden, sich jene also nicht in einem langen Prozess gegenseitig auslöschen (vgl. Fischer 1975, S. 1327). Aus diesen drei erstgenannten Prämissen leitet Fischer nun seine vierte ab: „The more urban a place, the higher the rates of unconventionality.“ (Fischer 1975, S. 1328) Insbesondere Prämisse 3 spielt hier eine große Rolle: so wird durch Diffusion von Elementen aus Subkulturen in die Mainstream-Kultur („mainstream culture“, Fischer 1975, S. 1329) jene Rate erhöht.
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2.2 Kritik an Fischers Subkulturtheorie So bestechend einfach und harmonisierend1 Fischers Subkulturtheorie auch ist, so leicht übersieht sie zwei wichtige Fragen: Können sich Subkulturen so einfach ausbreiten wie von Fischer proklamiert und wie kann man eine Subkultur überhaupt „relativ eindeutig“ von einer Mainstream-Kultur abgrenzen? Fischer stellt die urbane Stadt als einen Ort dar, an dem alle Subkulturen friedlich nebeneinander leben und florieren können. Dass dies in Zeiten neoliberaler Stadtpolitiken mitnichten der Fall ist, zeigt beispielsweise der Clubkataster Berlin (Clubcomission e.V. 2015). Diese (zwar nicht vollständige, aber für diese Zwecke ausreichende) Kartierung Berliner Clubs zeigt eindrucksvoll, unter welchen räumlichen Zwängen die Berliner Club(sub)kultur leidet. So ist bei einer virtuellen Zeitreise gut zu erkennen, wie viele Cluböffnungen und -schließungen es in den letzten Jahren gegeben hat – hauptsächlich liegt dies an durch Gentrifizierung hervorgerufenen Verdrängungsmomenten (zum Beispiel angrenzende Neubauten oder Lärmbeschwerden Neuhinzugezogener, vgl. Spangenberg 2011). Und
obwohl
Fischer
bemerkt,
dass
Verhalten,
welches
er
als
unkonventionell bezeichnet, sozial missbilligt sein kann, so betrachtet er dennoch nicht, welche Implikationen sich hieraus ergeben (vgl. Fischer 1975). So können durch Rassismen und patriarchale Machtverhältnisse auch in der heutigen Gesellschaft nicht alle Subkulturen so an der Öffentlichkeit teilnehmen, wie sie gerne würden (vgl. Harding und Blokland 2014, S. 184). Exemplarisch seien hier queere Subkulturen genannt: während beispielsweise Queer/feministinnen sich aus der
Harmonisierend ist hier gemeint in dem Sinne, als dass Fischer mit seiner Theorie die beiden vorher vorgestellten Theorien (Wirth vs. nicht-ökologischer Ansatz) zum Urbanismus versucht zu vereinen.
1
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patriarchalen, bürgerlichen Öffentlichkeit weitestgehend ausgeschlossen fühlen und sich nur in sogenannten „Gegenöffentlichkeiten“ ausleben können (vgl. Schuster 2012, S. 644), können sich Schwule selbst in bestimmten Club(sub)kulturen fehl am Platz fühlen, da sie diese für weitestgehend heteronormativ und weiß halten, obwohl diese ansonsten als „offen für alle“ betrachtet werden (vgl. Thornton 1995, S. 56). Die
Frage
nach
einer
eindeutigen
Abgrenzungsmöglichkeit
einer
Subkultur gegen das Konventionelle, den Mainstream, wirft Fischer ebenfalls auf, beantwortet sie aber nur sehr schwammig. So ist für ihn Verhalten, dass von den vorherrschenden Normen („predominant norms“, Fischer 1975, S. 1322) abweicht, subkulturelles Verhalten. Er führt also eine negative Definition des Mainstreams an, wie aber genau diese vorherrschenden Normen beobachtbar sind, lässt er offen.
2.3 Thorntons „Club cultures“ Die Strömung der Post-subkulturellen Forschung greift einige dieser Kritikpunkte auf. Der Begriff „Post-Subkultur“ wurde laut Weinzierl und Muggleton zum ersten Mal 1987 verwendet, obgleich er erst Ende der 90er Jahre populär wurde (vgl. Thornton 1995; Weinzierl und Muggleton 2003). Eine der interessantesten und wichtigsten Subkulturanalysen aus dieser Strömung
hat
ethnographischer
Sarah
Thornton
Forschung
verfasst
angefertigte
(1995). Analyse
Ihre der
mittels
britischen
Clubszene bietet ein hervorragendes Analysewerkzeug von musikalischen Jugendsubkulturen, weshalb sie in dieser Arbeit als Basis meiner Ausführungen dienen soll. Sie definiert die Grenzen einer Subkultur nicht anhand von gemeinsamen Werten oder Verhaltensweisen, die häufig mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse zusammenhängen (vgl. Weinzierl und
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Muggleton 2003), sondern verwendet den Begriff des subkulturellen Kapitals („subcultural capital“, Thornton 1995, S. 11, Hervorhebung im Original). Subkulturelles Kapital, in Anlehnung an Bourdieus Konzept des kulturellen Kapitals, ist das Wissen darüber, was gerade in ist: welche Sprach-, Kleidungs- und Körperstile werden gelebt, welche Orte sind populär, wo finden die besten Partys statt (vgl. Thornton 1995, S. 11). Die Anhäufung ebenjenes subkulturellen Kapitals ermöglicht demnach erst die Zugehörigkeit zu bestimmten Subkulturen. Fischers Theorie folgend wäre der Mainstream nun also die Menge an Personen, die über ebenjenes subkulturelles Kapital nicht verfügen und somit nicht Teil einer Subkultur sein können. Die Situation stellt sich jedoch weitaus komplexer dar:
so
beobachtet
Thornton
zwar,
dass
sich
die
meisten
Clubgänger_innen klar gegen eine Menge, die definitiv nicht dazu gehört, definieren können, sie jedoch gleichzeitig ihre eigene Szene als „mixed or difficult to classify“ (Thornton 1995, S. 99) beschreiben würden. Es gibt also nicht den einen Mainstream, demgegenüber sich subkulturelles Verhalten als unkonventionell darstellt, viel mehr stehen den diversen Subkulturen eine gleiche Anzahl an Mainstream-Kulturen gegenüber, gegen die sie sich zu definieren wissen. Thornton liefert noch eine zweite wichtige Beobachtung über den Mainstream:
während
in
Subkulturen
wie
oben
angesprochen
Klassengrenzen verschwimmen, ist es der Mainstream, der diese Grenzen weiter auslebt und sich über sie definiert. In Thorntons Worten (über „Sharon“ und „Tracy“, zweier prototypischer Protagonistinnen des Mainstreams, vgl. Thornton 1995, S. 99): „[T]hey are trapped in their class. They do not enjoy the classless autonomy of ‘hip’ youth.” (Thornton 1995, S. 101) Thornton
beleuchtet
noch
ein
weiteres
wichtiges
Feld
der
Subkulturforschung: die Frage der Authentizität. Sie beobachtet dabei 8
zwei Ausprägungen: Authentizität durch Originalität und Aura sowie Authentizität
durch
Natürlichkeit
innerhalb
einer
Subkultur
(vgl.
Thornton 1995, S. 30). Während die erste Form der Authentizität hauptsächlich im Musikstudio erzeugt und während eines DJ-Auftritts reproduziert wird, entsteht die zweite Form durch Interaktion des DJs mit dem Publikum, in dessen Prozess ein einzigartiges Erlebnis erzeugt werden soll (vgl. Thornton 1995, S. 31). Aber auch die Orte, in denen solche Auftritte gelebt werden, müssen authentisch sein. Dazu müssen sie einzigartig und unterscheidbar sein sowie sich gegen Traditionen wenden (vgl. Thornton 1995, 51, 55). Außerdem trennen sie sich stark von der Außenwelt ab und kreieren so ihre eigene Wirklichkeit: Door restrictions sharply divide inside from outside, while long corridors, inner doors and stairways create transitional labyrinths. Raves add the pilgrimage, the quest for the location, to extend the ritualistic passage. Like Alice’s rabbit hole, both convey the participant from the mundane world to Wonderland. (Thornton 1995, S. 57)
3 Das Berliner „Wonderland“ “Berlin isn’t Lady Gaga or Paul van Dyk; this is the capital city of the underground.” (Kühn 2015a, S. 281)
3.1 Die Berliner Club(sub)kultur als Untersuchungsgegenstand Die Berliner Club(sub)kultur habe ich aus verschiedenen Gründen als Untersuchungsgegenstand für meine Ausführungen ausgewählt. Zum ersten, weil ich mich selber als Mitglied ebenjener betrachte und dadurch auch ethnographisch Bezug nehmen kann. Dann, weil sie sich als Clubkultur hervorragend eignet, Thorntons Ausführungen auf die Berliner Wirklichkeit zu übertragen. Und zum Letzten, da sie wiederholt
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Gegenstand
interessanter
Untersuchungen
aber
auch
aktueller
Diskussionen in den Medien ist, auf die ich Bezug nehmen kann. Eine Einschränkung sei an dieser Stelle jedoch genannt: ich beziehe mich in dieser Arbeit auf die House-/Techno-Subkultur in Berlin. Während das Spektrum in dieser Stadt natürlich weitaus größer ist, ist es der House/Techno-Bereich, der sich aufgrund seiner Größe und internationalen Bekanntheit am ehesten für diese Ausführungen eignet.
3.2 Authentizität in der Berliner Club(sub)kultur Einzigartigkeit ist einer der wichtigsten Faktoren, die laut Thornton für Authentizität innerhalb einer Subkultur sorgen. Wie lässt sich Berlins Club(sub)kultur also als einzigartig betrachten? Zunächst seien hier rechtliche und räumliche Rahmenbedingungen zu nennen. Während in anderen Ländern, die häufig zur Analyse von Subkulturen herangezogen werden (z. Bsp. Großbritannien und USA), das unbegrenzte Öffnen eines Clubs gesetzlich eingeschränkt (vgl. Parliament of the United Kingdom 2003) oder verboten (vgl. u.a. State of California 2015) ist, gibt es in Berlin keine gesetzliche Regelung, die eine Schließung eines Clubs zu einer bestimmten Uhrzeit vorschreibt. Obwohl solche gesetzlichen Regelungen zwar die Bildung von Clubkulturen nicht gänzlich verhindern können (vgl. zu eigentlich verbotenen After-HourClubs in New York zum Beispiel Kurianowicz 2014), wird es dennoch förderlich sein, wenn keine solche Verbote existieren. Nicht nur die rechtlichen, auch die räumlichen Freiflächen nach der Wiedervereinigung Berlins boten insbesondere in den 1990er Jahren eine einzigartige Ausgangssituation, die viele verschiedene Subkulturen gedeihen ließ (vgl. dazu Sextro und Wick 2008; Busse 2012). Und obwohl wie bereits weiter oben geschrieben Clubs heute vermehrt um Freiräume
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kämpfen müssen, so ist es doch diese einzigartige Ausgangslage, die noch heute vielerorts reminisziert wird: Die Erzählungen der Frühzeit haben die Erwartungen der Jetztzeit geprägt: seitdem erwarten Clubbesucher_innen, Tourist_innen, Medienexpert_innen und Sozialwissenschaftler_innen, dass es dieses Ursprüngliche, aus einer lebendigen Kiezkultur Entstandene weiterhin geben müsse. (Bürkner und Lange 2014, S. 1)
Bürkner und Lange stellen in ihrer Analyse der Wertschöpfungsketten in der Berliner Clubindustrie viele Merkmale fest, die auch schon Thornton fast
20
Jahre
technologische
vorher
beobachtete.
Entwicklungen
neue
So
wie
Formen
sie
bemerkte,
von
dass
Authentizität
ermöglichen (sie spricht dabei hauptsächlich über das Mixen von Tracks im Studio, vgl. Thornton 1995, S. 29), stellen Bürkner und Lange fest, dass Heimproduktion und Online-Veröffentlichung von Tracks „Spiralen der De-Professionalisierung“ (Bürkner und Lange 2014, S. 2) hervorrufen. Diese wiederum ermöglichen eine Form der kulturellen Wertschöpfung, in der Tracks ständig im Internet verfügbar sind und bewertet werden und so die Anhäufung von subkulturellem Kapital ermöglichen: Zu wissen, welche Musiktitel angesagt sind, wodurch sich gute von schlechter Musik unterscheidet, welche DJs und Musiker_innen „in“ und „out“ sind, ist ohne Artefakt-bezogene kulturelle Wertschöpfung kaum möglich. (Bürkner und Lange 2014, S. 4)
„‘in the know‘“ (Thornton 1995, S. 11) zu sein, ist also sowohl für DJs2 als auch Clubgänger_innen3 wichtig, um genug subkulturelles Kapital anhäufen zu können und dadurch Authentizität auszudrücken.
Ein DJ muss beispielsweise wissen, welche Musik gerade viel gehört wird, darf aber gleichzeitig nicht zu populäre Musik spielen, um nicht zu sehr wie der Mainstream zu wirken (vgl. Thornton 1995) 3 Ohne Wunder ist es von Vorteil, am Clubeingang zu wissen, welchen DJ man später überhaupt hören wird, um seine Chancen, eingelassen zu werden, zu erhöhen. 2
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Der DJ Ricardo Villalobos sagt im Dokumentarfilm „Feiern“ über die Berliner Club(sub)kultur: Das ist wirklich echt, was hier passiert. Da hab ich dann auch nicht mehr auf die Zahlen geguckt, sondern einfach auf das Erlebnis, auf die… auf das Austauschen von Tanzfläche und DJ-Pult und diese Energien, die da halt hin und her geworfen werden […]. (Classen 2006)
Dazu Lee Jones, DJ und Producer: It draws a certain crowd of people. A certain section of society that… I think there’s quite a creative atmosphere there, because the music’s so creative and original. […] The atmosphere is like the music, it’s creative and it’s original and it’s exciting. (Classen 2006)
Diese Zitate hätten genauso gut für Thorntons Studie verwendet werden können, belegen sie doch, dass auch über zehn Jahre später noch dieselben Voraussetzungen für die zweite Form der Authentizität, die Thornton in Clubs beobachtet hat (siehe oben), gelten. Und auch Thorntons Beobachtungen, dass Clubkulturen oft segregierte Gruppen sind, die sich anhand kleinster kultureller Details unterschieden (vgl. Thornton 1995, S. 99), lassen sich in Berlin beobachten. So lassen sich in der Berliner Club(sub)kultur Gruppierungen finden, die sich hauptsächlich um die Lieblingsclubs ihrer Mitglieder_innen definieren. Sie zelebrieren ihre eigenen Kleidungsstile und teils auch eigene Sprache. Während ein_e Berghain-Gänger_in sich selbst zum Beispiel als „Berghaini“ bezeichnen würde und eher dunkel gekleidet ist, würde ein_e Sisyphos-Gänger_in keine Gelegenheit auslassen, mittels Glitzer und Konfetti ein möglichst farbenfrohes Auftreten zu erzeugen4. Auch den
Selbstverständlich sind diese (von mir gemachten) Beobachtungen überzeichnet und wurden auch nicht in einem wissenschaftlich fundierten Verfahren gemacht. Dennoch denke ich, dass sie helfen, verschiedene Formen der Authentizität in der Berliner Club(sub)kultur zu definieren.
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Clubs, die sie besuchen, werden einzigartige Qualitäten zugeschrieben, beispielsweise, wenn es um den Klang der Musikanlage geht: […] ich hab auch schon öfter festgestellt, dass der dampfer [ein Dancefloor im Club Sisyphos, Anm. des Autors] einen sehr eigenen sound hat, der so schön knackig ist […] (Weber 2015) ich bin schon lange dazu übergegangen elektronische musik eher nach den orten wo sie am besten hinpasst bzw. gespielt wird einzuordnen. also auch nach den einzelnen Sisy-floors (Schorsch 2015)
Wie man sieht, lassen sich Thorntons Beobachtungen sehr gut auf die Berliner Club(sub)kultur übertragen. Insbesondere ihre Ausführungen zu Authentizität haben selbst 20 Jahre nach Erscheinen ihrer Analyse nach wie vor Gültigkeit. Im Folgenden werde ich mich nun den Orten zuwenden, die diese Authentizität nicht ausstrahlen, und beleuchten, welche Auswirkungen das haben kann.
3.3 Diffusion in der Berliner Club(sub)kultur Auch wenn Fischers Ausführungen zurecht kritisiert wurden und wohl als überholt gelten dürften, spricht er doch einen in meinen Augen sehr wichtigen Punkt an: Diffusion zwischen verschiedenen Subkulturen und zwischen Subkulturen und Mainstream. Und auch wenn, wie bereits festgestellt, es nicht den einen definierbaren Mainstream gibt, möchte ich anhand einiger Ausführungen zeigen, dass Fischers Thesen durchaus Gültigkeit besitzen. Die Berliner Club(sub)kultur gilt bereits seit einiger Zeit als wichtiger Wirtschafts- und Tourismusfaktor der Stadt (vgl. Hartwig-Tiedt 2011). Dennoch ist das Betreiben eines Clubs kein Garant für wirtschaftliches Florieren und persönlichen Reichtum. So verbuchten zwar weltweit bekannte Clubs wie das „Berghain“ oder das „Watergate“ im Zeitraum von 2009 bis 2012 Gewinne, der „Tresor“, als ehemals ebenfalls sehr
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bekannter Club, der jedoch mittlerweile international stark an Bedeutung verloren hat (vgl. Sextro und Wick 2008), hingegen Verluste (vgl. Kühn 2015b). Kleinere Clubs und Veranstalter_innen, die sich eventuell auch am Rande der Legalität bewegen, haben es demzufolge schwerer, wirtschaftlich zu überleben. Dabei sind gerade diese Orte diejenigen, die am ehesten authentisch sind und so den Mythos der Berliner Club(sub)kultur überhaupt erst am Leben erhalten (vgl. Bader und Scharenberg 2010, S. 82). Seit einiger Zeit gibt es in der Berliner Club(sub)kultur Akteure wie den Club „Haubentaucher“, die versuchen, sich diese Authentizität zu Nutze zu machen. Ein Ort, der sich „die Berlin-Schablone der unfertigen Charakterorte“ (Perdoni 2015) anlegt, um ein Stück vom großen Kuchen des Clubhimmels Berlin abzuschneiden. Perdoni weiter: Abgesehen vom Design hat der Haubentaucher nicht viel mit den Clubs von damals gemeinsam. An warmen Sommertagen tummeln sich dort 18-Jährige, die vom Stadtrand mit Papas Audi anreisen und ihn inmitten der Scherben direkt auf der RAW-Gelände parken. Ein Mojito kostet hier 8,50 Euro. Jeden Donnerstag findet "Open Sky Yoga" statt, zur Eröffnung gab es Whirlpool-Kino, zur Fashion Week laufen Models. (2015)
Es wird deutlich, dass es hier nicht mehr um die von Bürkner und Lange beobachtete „Artefakt-bezogene kulturelle Wertschöpfung“ (2014) geht, sondern es sich um einen Ort handelt, den Thornton als typischen Aufenthaltsort von Sharon und Tracy ausmachen würde: ein Ort, an dem es mehr um die sexuellen und sozialen Aspekte geht denn um die Musik (vgl. Thornton 1995, S. 99). Dass sich damit Geld verdienen lässt, sollte bei den beschriebenen Getränkepreisen klar sein.
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Diese Form der Diffusion, also die (ausschließlich) kommerzielle5 Nutzung von Merkmalen Berliner Club(sub)kultur, birgt Risiken für die eigentliche Subkultur. So können räumliche Zwänge, unter denen wie bereits geschrieben die Club(sub)kultur leidet, verstärkt werden, in dem kommerziell stärkere Betriebe die wenigen Freiräume nehmen, die es noch gibt. Ein Beispiel hierfür ist die Verdrängung des Clubs „M.I.K.Z.“6 bzw. „spirograph.berlin“7 durch den Veranstaltungsort „Neue Heimat“: In unseren Augen handelt es sich schlicht um Verdrängung, vorangetrieben von seit einiger Zeit in der Stadt etablierten Gewerbetreibenden bzw. Unternehmern, die sich öffentlich gerne als Gegner vergleichbarer Praktiken präsentieren. Mutmaßlich hat das größere Kapital und ein Investor im Hintergrund den längeren Hebel betätigt und die Expansion unseres Nachbarn [Neue Heimat, Anm. des Autors], der übrigens seit seinem Einzug noch nie den Weg zu uns gefunden hat, bewirkt. Das Angebot auf dem Gelände wird künftig bestimmt nicht kleiner, aber mit Sicherheit kommerzieller. (spirograph.berlin 2014)
Fischer
spricht
in
seiner
Subkulturtheorie
an,
dass
es
ein
Wechselverhältnis zwischen Intensivierung und Diffusion der Subkulturen gibt (vgl. Fischer 1975, S. 1327). Es bleibt zu untersuchen, ob eine solche Intensivierung auch in der Berliner Club(sub)kultur stattfinden wird, oder ob die oben angesprochene Diffusion letztlich zu einer eingehenden und verdrängten Club(sub)kultur führen wird.
Sicher nutzen auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Clubs wie das Berghain oder das Sisyphos diesen Berlin-Mythos für kommerzielle Interessen, denn „organisierte Partys, Feiern und Tanzveranstaltungen funktionieren nicht ohne Geld.“ (Bürkner und Lange 2014, S. 1–2) Dennoch finden sich hier, wie oben bereits analysiert, viele Merkmale, die Authentizität hervorrufen, die an Orten wie dem Haubentaucher gänzlich fehlen. 6 Ehemaliger Name 7 Name seit Oktober 2014 5
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4 Fazit Ich habe in meiner Analyse der Berliner Club(sub)kultur die von Thornton und Fischer angesprochenen Merkmale der Authentizität und der Diffusion untersucht. Es zeigt sich, dass Thorntons Analyse auch 20 Jahre nach
Erscheinen
Untersuchung
einen
von
hohen
wissenschaftlichen
Clubkulturen
bietet.
Ihre
Wert
für
die
Ausführungen
zu
Authentizität konnte und kann ich in der Berliner Club(sub)kultur ausgezeichnet beobachten. Auf die Gefahren, die einer Subkultur in Zeiten neoliberaler Stadtpolitiken drohen, ist Thornton jedoch zu wenig eingegangen, trotzdem sie durchaus Effekte wie Segregation beobachtet (vgl. Thornton 1995). Obwohl Fischers Analysen zu Subkulturen hingegen Machtverhältnisse und Verdrängung gänzlich ignorieren, eignen sich seine Thesen zur Diffusion gut, um Verdrängungsprozesse in der Berliner Club(sub)kultur
zu
verstehen,
die
parallel
bzw.
ergänzend
zu
„klassischen“ Verdrängungsprozessen durch Gentrifizierung verlaufen. Freilich benötigt diese Analyse tiefergehende Untersuchungen, um festzustellen, welche genauen Effekte die beobachtete Diffusion auf die Berliner Club(sub)kultur hat. Diese Arbeit soll nur mehr als Denkansatz in diese Richtung dienen. Clubkulturen brauchen Authentizität, um zu überleben, aber sie benötigen genau so dringend Räume, um sich ausleben zu können. In einer Stadt, in der rein kommerziell handelnde Akteure diese Art von Subkultur nutzt, um große Profite zu erzielen, sind authentische Clubkulturen ganz besonders bedroht. Ein Grund mehr, Freiräume zu schaffen, die auch von Akteuren genutzt werden können, die kein rein kommerzielles Interesse vorweisen.
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5 Literaturverzeichnis Bader, Ingo; Scharenberg, Albert (2010): The Sound of Berlin. Subculture and the Global Music Industry. In: International Journal of Urban and Regional Research 34 (1), S. 76–91. DOI: 10.1111/j.14682427.2009.00927.x. Bürkner, Hans-Joachim; Lange, Bastian (2014): Wertschöpfung in der Szenewirtschaft. Elektronische Clubmusikproduktion in Deutschland. Online verfügbar unter http://www.berlin-mitteinstitut.de/files/Lange_Buerkner_2014_Wertschoepfung_Szenewirtsch aft.pdf, zuletzt geprüft am 20.07.2015. Lucien Busse (Regie) (2012): Berlinized. Dokumentarfilm. Maja Classen (Regie) (2006): Feiern. Dokumentarfilm. Clubcomission e.V. (2015): Clubkataster. Hg. v. Musicboard Berlin GmbH. Online verfügbar unter http://www.clubkataster.de, zuletzt geprüft am 20.07.2015. Durkheim, Émile (1977): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt/Main. Fischer, Claude S. (1975): Toward a Subcultural Theory of Urbanism. In: American Journal of Sociology 80 (6), S. 1319–1341. Harding, Alan; Blokland, Talja (2014): Urban theory. A critical introduction to power, cities and urbanism in the 21st century. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage Publications. Hartwig-Tiedt, Almuth (2011): Drucksache 16 / 15 633. Kleine Anfrage. Die Entwicklung der Berliner Clubszene. Hg. v. Abgeordnetenhaus Berlin, zuletzt geprüft am 24.10.2015.
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