Avantgarden der Biopolitik Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer „Aufrüstung“ Fotograf: Juius Groß (AdJb, F1 Nr. 116/01)
Robert Budzinski „Revolution“ Titel: Robert Budzinski „Unsere Zeit“
War die Emanzipation des Menschengeschlechts im 18. Jahrhundert an die Selbst-Setzung der Vernunft und die ästhetische Erziehung innerhalb dieses Vernunftrahmens geknüpft, wird sie im 19. Jahrhundert zunehmend körperlich gedacht: Die Erkenntnisse der ins Biologische gewendeten Wissenschaften vom Menschen – Biologie, Medizin, Psychiatrie, beginnende Sexualwissenschaft – durchdringen das Alltagswissen und kanalisieren die expandierenden Ängste um den biologisch anfälligen Körper. Die Fortschritte der Lebenswissenschaften werden unterlaufen von den ihnen zugeschriebenen Bedrohungen: Herunterkommen aus selbstverschuldeter oder ererbter Nervenschwäche bzw. rassische Degeneration – es droht neben dem eigenen Verfall die nachhaltig wirksame nervöse Schwächung der Nachkommenschaft wie die Verunreinigung des „Volkskörpers“; denn Volk wird als organische Größe imaginiert. Die Sorge um Degenerierung ist allenthalben präsent: Um den erreichten Grad der Zivilisation und die Selbstzuschreibung der obersten Position in der Hierarchie der Rassen halten und um überleben zu können, muss man sich rüsten; es geht darum, stark und gesund sowie rassisch rein zu bleiben. Also müssen diese Werte nachhaltig geschützt und verteidigt werden, eine überaus schwierige Aufgabe, denn die Bedingungen der modernen Lebensweise (Verstädterung, Industrialisierung, Technisierung, koloniale Globalisierung, Reizüberflutung) haben – so erleben es zumindest die Zeitgenossen – sich so gestaltet, dass sie allgemeiner Schwächung bis hin zum individuell-familiären wie gesellschaftlich-kollektiven Verfall zuzuarbeiten scheinen.
Anfragen und Anmeldungen (bis 04.10.2016): Archiv der deutschen Jugendbewegung Burg Ludwigstein 37214 Witzenhausen Tel. 0 55 42 – 50 17 20 Fax 0 55 42 – 50 17 23 E-Mail:
[email protected] Homepage: www.archiv-jugendbewegung.de
Archivtagung auf Burg Ludwigstein 21. – 23. Oktober 2016 ARCHIV DER DEUTSCHEN JUGENDBEWEGUNG
Die Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung 2016 versucht die Jugendbewegung und die mit ihr in Verbindung stehende Lebensreform auf der Folie körperlich-biologischer, sozialdarwinistischer, sexual- und rassetheoretischer Argumentationsweisen zu bedenken. Dabei gilt es, Konzepte von Verbesserung, Vermeidung von Gefährdung, Verhinderung von Gefährdendem, kurz die breite Palette von Auslese, Ausschluss, Ausmerze in den Blick zu nehmen. Eine Betrachtung der Vorstellungen › von Weiblichkeit und Männlichkeit, › von rassischer Reinheit, › von den Gestaltungsmöglichkeiten des individuellen wie kollektiven Sexuallebens, › vom Umgang mit dem Körper und den Lebensfunktionen, › von Modellen vergangener, wieder- bzw. neu herzustellender sozialer Organisationsformen unter dem Aspekt von Biopolitik verspricht einen Zugang, der es erlaubt, die Jugendbewegung in das diskursive Umfeld gesellschaftlicher Beunruhigung und der Suche nach Antworten auf diese Beunruhigungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu stellen und die jugendbewegten Bestrebungen – in der gegebenen Ambivalenz – nachvollzieh- und verstehbar zu machen.
Tagungsprogramm Samstag, 22. Oktober 2016
Freitag, 21. Oktober 2016 18.00 Uhr
18.15 Uhr
Begrüßung
Felix Linzner (Marburg)
Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen),
„Freie Liebe oder Zucht“ – Friedrich Lamberty zwischen
Eckart Conze (Marburg)
jugendbewegter Selbst- und völkischer Aufzucht
Einführung und Eröffnungsvortrag
16.00 Uhr
Das Eigene bewahren: Reinheit – Volkstum –
Karl Braun (Marburg)
Fortschritt der Kultur
Jugendbewegung, Sexualaufklärung, Sozialhygiene.
John Khairi-Taraki (Marburg)
Das Beispiel Max Hodann (1894 –1946)
Gegen Fremdkörper und Fremdherrscher im eigenen Reich. Körperdenken bei Hans Paasche und Herman Popert
20.30 Uhr
Ausstellungseröffnung Felix Linzner (Marburg),
Christina Niem (Mainz)
Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen)
Körperkultur, Jugendbewegung und Volkskunde –
„Gegen Sumpf und Fäulnis – leuchtender
zum Engagement des Verlegers Eugen Diederichs
Menschheitsmorgen“ : Jugend!
17.45 Uhr
Klaus Hödl (Graz)
Samstag, 22. Oktober 2016 9.00 Uhr
„Verpönte Jüdischkeit“. Die Festschreibung des Jüdischen im Körper
Heterosexualitäten Sabine Andresen (Frankfurt a. M.)
Zur körperlichen Dimension des Antisemitismus
Sonntag, 23. Oktober 2016
Sexualität und Weiblichkeit. Diskurse und Schlüsselthemen im Kontext der Jugendbewegung
9.00 Uhr
Gynaikokratie: Aktualität eines
Vanessa Hautmann (Marburg)
urgeschichtlichen Konzepts
„Kultiviertes Triebleben“ – Sexualität und Geschlechtlich-
Meret Fehlmann (Zürich)
keit in der Zeitschrift Der Anfang
Zwischen nostalgischer Sehnsucht und matriarchalen Gesellschaftsentwürfen – Bachofen-Rezeption in
11.00 Uhr
Lebensreform und Jugendbewegung
Inversion und pädagogischer Eros Sven Reiss (Kiel) „Renaissance des Eros paidikos“ – erotische/sexuelle
11.00 Uhr
Aspekte der Reformpädagogik Gabriele Guerra (Rom)
Leitbilder und Alltagspraxen in der Jugendbewegung
Führung und Befreiung des Körpers. Gustav Wyneken Rebecca Gudat (München)
und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906 –1920
„Man sagte ihm, daß es nichts, fast nichts mit Sexualität zu Meike Sophia Baader (Hildesheim)
tun habe“ – Erich Ebermayer als literarischer Advokat des
Der kindliche und jugendliche Körper in der Perspektive
Pädagogischen Eros
von (Land-) Erziehung, Reformpädagogik und Fürsorge14.00 Uhr Robert Budzinski „Fabrikstadt“
wesen um 1900
Körperlichkeit und völkischer Aufbruch Uwe Puschner (Berlin) Arbeit am völkischen Körper. Gustav Simons und Richard Ungewitter: Lebensreformer und völkische Ideologieagenten
12.30 Uhr
Abschlussdiskussion Moderation: Jürgen Reulecke (Essen)