Zu den Epigrammen von Kroisos aus Anavyssos und Phrasikleia aus Merenda

June 29, 2017 | Author: Wolfram Martini | Category: Ancient Greek Iconography
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COMUNE DI ROMA ASSESSORATO ALLE POLITICHE CULTURALI E ALLA COMUNICAZIONE SOVRAINTENDENZA AI BENI CULTURALI Sovraintendente

Umberto Broccoli

BULLETTINO DELLA COMMISSIONE ARCHEOLOGICA COMUNALE DI ROMA

SUPPLEMENTI 18

Comitato scientifico EUGENIO LA ROCCA coordinatore - CATERINA BON VALSASSINA, ANGELO BOTTINI, STEFANO DE CARO, MARIA ANTONIETTA FUGAZZOLA DELPINO, ADRIANO LA REGINA, ANTONIO PAOLUCCI, ANNA MARIA REGGIANI, MARINA SAPELLI, ANNA MARIA SGUBINI MORETTI. Comitato di redazione CLAUDIO PARISI PRESICCE coordinatore - MADDALENA CIMA, MARIA GABRIELLA CIMINO, SUSANNA LE PERA, PAOLA ROSSI, EMILIA TALAMO. FRANCESCA CECI, ISABELLA DAMIANI, segreteria e revisione.

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LE DUE PATRIE ACQUISITE Studi di archeologia dedicati a Walter Trillmich

a cura di Eugenio La Rocca Pilar León Claudio Parisi Presicce

«L’ERMA» di BRETSCHNEIDER

UGENIO LA RLOCCA , PLAUDIO ILAR LEON EUGENIO LA REOCCA , PILAR EÓN, C PARISI PRESICCE Le due patrie acquisite Studi di archeologia dedicati a Walter Trillmich

© Copyright 2008 by «L’ERMA» di BRETSCHNEIDER Via Cassiodoro, 19 - Roma http://www.lerma.it

Progetto grafico: «L’ERMA» di BRETSCHNEIDER

Curatore redazionale: Daniele F. Maras

Tutti i diritti riservati. È vietata la riproduzione di testi e illustrazioni senza il permesso scritto dell’editore.

Le due patrie : studi di archeologia dedicata Walter Trillmich cura di Eugenio Leacquisite due patrie acquisite : studi di archeologia dedicata Walter/ aTrillmich Rocca, Pilar Claudio Presicce, Pilar Leon.di –Pilar Roma : “L’ERMA” di BRETSCHNEIDER, La Rocca, Claudio ParisiLaPresicce, Leon. –Claudio Roma : “L’ERMA” BRETSCHNEIDER, La Rocca, Parisi Presicce, Leon. – Roma : “L’ERMA” di BRETSCHNEIDER, ´Parisi 2008. – 464 p. : ill. ; 29 cm. – (Bullettino della Commissione archeologica comunale di Roma. Supplementi ; 18) Nell’occhietto: Pubblicato a cura del Comune Nell’occhietto: Pubblicato Comune di di Roma, Roma, Assessorato Assessorato alle alle Politiche politiche Culturali culturali, eSovraintendenza alla Comunicazione, ai Beni Culturali ai BeniSovraintendenza culturali. ISBN 978-88-8265-508-2

CDD 21. 930.1 1. Archeologia – Studi 2. Trillmich, Walter I. La Rocca, Eugenio II. Parisi Presicce, III. Leon, Pilar III. I. La Rocca, Eugenio II. Claudio Parisi Pilar Presicce, Claudio I. La Rocca, II. Claudio Parisi Presicce, Leon, I.Eugenio La Rocca, Eugenio II. Parisi Presicce, III. Leon, Pilar III. Leon, Pilar ´Claudio

Tiratura fuori commercio, stampata per uso della Sovraintendenza ai Beni Culturali del Comune di Roma

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Trotz der fachlichen Weite unserer Forschungsinteressen haben sich unsere wissenschaftlichen Wege seit unserem gemeinsamen erlebnis- und erinnerungsreichen Studienjahr 1965-66 in Rom als Stipendiaten des DAAD nicht mehr gekreuzt. Dir, lieber Walter, gelang ein eindrucksvoller Aufstieg in Forschung und Management im DAI, mir der lange Weg durch die Universität in Lehre und Forschung. Dich zog es nach Westen, nach Lissabon, nach Madrid, ins geliebte Merida, mich nach Osten, nach Samos, nach Perge, und während Dich cum grano salis die Kaiserzeit mehr interessierte, wandte ich mich nach den Etruskern den Griechen zu, aus deren schönster Epoche und Gattung ich Dir heute einige Überlegungen widmen möchte. Methodisch allerdings beziehe ich mich insofern auf Deine Dissertation, als sie Text und Bild als grundsätzlich gleichwertige, zumindest komplementäre Quellen für die Interpretation heran zieht1. Diese eigentlich selbstverständliche Arbeitsweise lässt in der archaischen Großplastik (und nicht nur dort) zu wünschen übrig. In der Folge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften des klassischen Altertums ist manches antike Monument sozusagen in zwei Teile

gespalten worden: Die Inschriften auf den Basen schöner Statuen bieten gemäß der historisch gewachsenen Zuständigkeit verschiedener Disziplinen meist für Archäologen nur eine vordergründige inhaltliche Ergänzung, während von Klassischen Philologen oder Althistorikern die zu einem berühmten Epigramm gehörende Statue oft kaum wahrgenommen wird. Geht man z.B. in Analogie zu den Münzen von der allgemeinen, aber im Einzelfall zu prüfenden Prämisse aus, dass Bild und Text im Fall von Basisinschrift und Statue durch den Bildhauer oder/und den Auftraggeber als komplementäre Bestandteile eines Ganzen konzipiert worden sind, ist das natürlich ein absurdes Verhalten, zumal die gemeinsame Betrachtung durch die zuständigen Disziplinen mit unterschiedlichen Methoden und Perspektiven zu einem vertieften Verständnis beitragen müsste. Aber auch, wenn die Inschrift später hinzugefügt worden wäre, würde die gemeinsame Betrachtung zu einem besseren Verständnis der zu diesem Zeitpunkt beabsichtigten Aussage verhelfen. Eine zweite zu prüfende Prämisse ist, dass Bild und Text – unabhängig davon, ob sie als gegenseitig sich beeinflussende Medien kom-

1 W. TRILLMICH, Familienpropaganda der Kaiser Caligula und Claudius. Agrippina Maior und Antonia Augusta auf Münzen, in

Antike Münzen und geschnittene Steine, 8, Berlin 1978.

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plementär konzipiert worden sind – komplementär gesehen und gelesen worden sind. Das gilt vermutlich nicht für jede Form der Inschrift und noch weniger für jedermann, ganz abgesehen vom individuellen Ausmaß der Lesefähigkeit sowie der Zugänglichkeit des Monuments2. Schließlich ist auch das Vorwissen des Betrachters wesentlich, wobei sich ein etablierter Leitbildtypus – wie z.B. Kuros und Kore – vielleicht leichter d.h. selbstverständlicher dem Betrachter erschließt als ein auf den Einzelfall bezogenes Epigramm, zugleich aber dadurch auch zu einer nur flüchtigen Wahrnehmung des konkreten Gegenstands führen kann; gerade das Fremde, das Unbekannte kann intensivere Betrachtung und intensiveres Nachdenken fördern. Bei alldem darf natürlich nicht vergessen werden, dass der antike Betrachter weder als Archäologe noch als Epigraphiker Bildwerk und Epigramm sah, dafür aber mit der Zeichensprache seiner Zeit vertraut gewesen ist; sein Sehen und Verstehen dürfte ein völlig anderes als das unsrige gewesen sein. Bei allem Bemühen um eine Interpretation auf der Grundlage unseres über Jahrhunderte angesammelten Wissens um die Antike sehen wir dennoch die antiken Phänomene aus der Perspektive unserer kulturellen, auch individuellen Prägung. Unter diesem grundsätzlichen Vorbehalt stehen natürlich auch die folgenden Überlegungen zur Aussage von zwei der schönsten Bildwerke archaischer Zeit und ihrer Epigramme3. KROISOS AUS ANAVYSSOS

Die bekannte, sehr schön erhaltene Statue eines Kuros im Athener Nationalmuseum trägt wegen der dazugehörigen Basis mit Inschrift den archäologischen Rufnamen Kroisos4. Auf-

2 z.B. können die Grabstatuen mit ihren Epigrammen für Kroisos und Phrasikleia praktisch unlesbar auf der Spitze eines Grabhügels gestanden haben, ebenso gut aber auch gut lesbar am Rand der Grabhügel nahe der passierenden Straße. Mangels entsprechender Befunde kann diese Frage nicht beantwortet werden, auch wenn einige wenige Befunde für letztere Möglichkeit zu sprechen scheinen: K. KISSAS, Die attischen Statuen- und Stelenbasen archaischer Zeit, Bonn 2000, S. 32 ff. 3 Der Beitrag geht ursprünglich auf einen Vortrag für das Kolloquium IkonoTexte-Duale Mediensituationen (Kleine MommsenTagung, 17.-19. Februar 2006) zurück, wird hier aber in veränderter Form vorgelegt. Für die Diskussion danke ich bes. T. Hölscher (Heidelberg), M. Meyer (Wien), I. und A. Petrovic (Durham). H.-U. Wiemer (Gießen) danke ich für epigraphische Hinweise und N. Eschbach (Gießen) für seine Hilfe bei der Beschaffung der Bildvorlagen. N. Kaltsas (Athen) danke ich für die freundliche Zusendung der Abbildungsvorlagen und die Publikationserlaubnis für Abb. 1 und Abb. 3.

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grund der stilistischen Nähe zu den Skulpturen des Schatzhauses von Siphnos in Delphi und Vasenbildern des Andokides dürfte die Statue um 530 v.Chr. geschaffen worden sein. Die Statue ist im südlichen Attika in Anavyssos, in der Nähe des antiken Anaphlystos, gefunden worden5 und dürfte aus einem Grabbezirk eines adeligen Landsitzes stammen, wie der Text auf der Basis und das Bildwerk selbst nahe legen. Gemäß ihrem guten Erhaltungszustand ist diese Statue ein Angelpunkt der archaischen Plastik und erscheint in jedem Werk zu dieser Epoche (Abb. 1.). ste`qi Ú kai; o[iktiron Ú Kroivso ⁄ para; se`ma qanovntoς Ú ˙ovn pot∆ ejni; promavcoiς Ú o[lese ⁄ qo`roς Ú “Areς

Die übliche Übersetzung der Inschrift (Abb. 2.)6 lautet „Bleibe stehen und trauere bei dem Grabmal des toten Kroisos, den unter den Kämpfern in vorderster Linie der ungestüme Ares einst dahingerafft hat“7. Die meist in Umschrift und Übersetzung beigegebene, aber selten abgebildete Basisinschrift8, ist von Archäologen jedoch offenbar nie sorgfältig gelesen worden oder nicht der Erörterung würdig befunden worden. Denn auf ein eigenartiges Problem der Inschrift ist man in archäologischem Kontext m.W. bisher nicht aufmerksam geworden. Es besteht aus drei Buchstaben am Anfang der 3. Zeile: POT = potev, was mit irgendwann einmal oder einst zu übersetzen ist. Vermutlich ist dieses potev meist als ein Füllwort aufgefasst worden, denn was könnte seine Bedeutung gewesen sein? Ist das Grabmal erst lange nach seinem Tod errichtet worden, z.B. als Kenotaph, nachdem Kroisos irgendwann einmal gefallen war? Dann wäre es ein primär retrospektives Denkmal in Erinnerung an einen heroischen Gefallenen, wobei angesichts der Namensgleichheit mit dem Lyderkönig eine Deutung als mythische

4 W. FUCHS, J. FLOREN, Die griechische Plastik. Die geometrische und archaische Plastik, München 1987, S. 255 f.; W. MARTINI, Die archaische Plastik der Griechen, Darmstadt 1990, S. 71, 83, 185, 187 ff., 204 f., und 263 f.; J. BOARDMAN, Griechische Plastik: die archaische Zeit: ein Handbuch, Mainz 1989, S. 89, Abb. 107. 5 D. MÜLLER, Topographischer Bildkommentar zu den Historien Herodots. Griechenland, Tübingen 1987, S. 602; Der Neue Pauly, I, 1996, S. 654, s.v. Anaphlystos (H. LOHMANN). 6 Umschrift nach P.A. HANSEN, Carmina Epigraphica Graeca, Berlin 1983-1989, 1, S. 19 f., N. 27; K. KISSAS, op. cit. (Anm. 2), S. 54 f., N. 20. 7 W. PEEK, Griechische Vers-Inschriften, 2, Berlin 1955, N. 1224; G. PFOHL, Geschichte und Epigramm, Stuttgart 19662, S. 9, N. 4. 8 Abschrift nach einem Foto der Basis; ein Faksimile auch bei J. BOARDMAN, op. cit. (Anm. 4), Abb. 107.

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Abb. 1. Kroisos aus Anavyssos (Athen, NM 3851).

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Abb. 2. Abschrift der Inschrift auf der Basis der Statue.

Heroengestalt auszuschließen ist, während sich der Bezug auf diesen aufdrängt. Oder ist die Inschrift prospektiv in die Zukunft gerichtet, mit der Absicht, dass man sich angesichts des Grabmals von Kroisos der Heldentaten vergangener Zeiten erinnern soll?9 Eliot10 hat sich für die erste Möglichkeit entschieden. Gestützt auf die Vermutung von L.H. Jeffery11 unter Hinweis auf Herodot (VI, 125), dass Kroisos in Anavyssos ein Sohn des von dem Lyderkönig reich beschenkten, aber belächelten Adeligen Alkmeon gewesen sei, geht er davon aus, dass Kroisos zur Familie der Alkmeoniden gehörte, 546 in der Schlacht von Pallene gefallen sei und in Übereinstimmung mit seiner stilistischen Datierung erst nach der Rückkehr der Alkmeoniden 528/527 an seinem Heimatort bestattet und mit einer Statue geehrt werden konnte. Wenn Kroisos aus Anavyssos im Jahr 546 gefallen wäre, müsste er mindestens das Ephebenalter von 18 Jahren erreicht gehabt haben, so dass er mindestens 4 Jahre vor Regierungsantritt des Lyderkönigs geboren sein müsste. Um die These von Eliot akzeptieren zu können, müsste die Namensgebung aber irgendwann in der Blütezeit des Lyderkönigs, also erst ca. 1014 Jahre nach der Geburt des attischen Kroisos erfolgt sein; das erscheint jedoch eher unwahrscheinlich. Ähnlich vieler Annahmen bedarf aber auch die an sich die einfachere und plausible Annah-

me, dass Kroisos in Anavyssos seinen Namen bereits nach der Geburt zur Blütezeit des Lyderkönigs um die Mitte des 6. Jhs. aufgrund dessen Berühmtheit ohne persönlichen Bezug erhalten hat und ca. 20 Jahre später als Ephebe bei einem der zahlreichen innergriechischen Scharmützel gefallen ist. Angesichts dieser Schwierigkeiten hinsichtlich der Biographie von Kroisos in Anavyssos stellt sich die Frage, ob sich anhand der Statue aus Anavyssos eine Deutung von potev gewinnen lässt. Die Statue gibt den männlichen Leitbildtypus der archaischen Epoche wieder. Kein individuelles Merkmal ist erkennbar, das auf eine bestimmte Person wie z.B. Kroisos von Anavyssos hinweisen würde. Bei dem Bildwerk findet sich wie zu erwarten nicht der geringste Hinweis auf den Anlass seines Todes wie gelegentlich bei gleichzeitigen Grabreliefs durch z.B. kennzeichnende Attribute12. Die Statue als solche bietet also keinen unmittelbaren Hinweis auf das Individuum Kroisos; dieses wird nur durch die Inschrift fassbar. Man könnte daher überlegen, ob auch das Epigramm topischen Charakter hat, in das nur der Name Kroisos eingefügt wäre, und für das potev dann als Bestandteil des formelhaften Epigramms ohne Bedeutung für den besonderen Fall wäre. Das scheint nach Häusle13 aber nicht möglich zu sein, sondern diese Epigramme haben offenbar stets individuellen Charakter als spezifizierende

9 Diese Differenzierung in retrospektiv und prospektiv hat rein hermeneutischen Charakter, um das Problem zu akzentuieren; vgl. W. MARTINI, Prospektive und retrospektive Erinnerung. Das Pantheon in Rom, in W. MARTINI (ed.), Architektur und Erinnerung, Göttingen 2000, S. 19-44. 10 C.W. J. ELIOT, Where did the Alcmeonids live?, in Historia, XVI, 1967, S. 279 ff.

11 L.H. JEFFERY, The inscribed Gravestones of Archaic Attica, in BSA, LVII, 1962, S. 143 f. 12 B. SCHMALTZ, Griechische Grabreliefs, Darmstadt 1983, S. 167 ff. 13 H. HÄUSLE, Einfache und frühe Formen des griechischen Epigramms, Innsbruck 1979, S. 60 f.

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Beischrift zur Statue, so dass der Text wörtlich und spezifisch auf Kroisos bezogen interpretiert werden muss. Daher ist die zweite Möglichkeit zu bevorzugen, dass durch potev über den aktuellen Zeitpunkt der Errichtung der Statue hinaus in prospektiver Absicht die Erinnerung an einen heroischen Gefallenen als auch für künftige Generationen vorbildhaftes Verhalten des Verstorbenen verewigt wird. Dass diese prospektive Erinnerungsfunktion von Epigrammen in kriegerischem Kontext keine Ausnahme darstellt und u.a. eine Parallele in dem berühmten Epigramm bei den Thermopylen hat, hat A. Petrovic14 überzeugend dargelegt. Es muss also kein zeitlicher Abstand zwischen dem Tod des Kroisos und der Errichtung seines Grabmals mit Statue postuliert werden. Das Epigramm fordert zum Verweilen und Klagen auf. Die übliche Übersetzung ist allerdings „trauern“. „Klagen“ ist jedoch zu bevorzugen, wenn man Klagen als gestisch und sprachlich aktive Trauerbekundung versteht, die stärker nach außen in die Gemeinschaft wirkt, während sich dagegen Trauern mehr nach innen auf die trauernde Person bezieht. In der Bilderwelt der primär handlungsorientierten archaischen Epoche ist kein Bild des Trauerns als Ausdruck eines individuellen oder kollektiven Empfindens zu erwarten. Stattdessen zeigen die Bilder in topischer Weise aktive Klage durch Raufen der Haare, Schlagen gegen Kopf und Brust (Frauen) oder erhobene Arme (Männer), die lautes Gestikulieren anzeigen. Trauern im Sinne von Empfindung wird erst seit klassischer Zeit vor allem im Kontext sepulkraler Denkmäler wie den Grabreliefs oder den weißgrundigen Lekythen15, aber auch im narrativen Kontext des trauernden Achill16 oder im Typus der sog. Penelope dargestellt17. In diesem Epigramm archaischer Zeit ist daher m.E. die rituelle, des Toten gedenkende Totenklage in Analogie zu dem jährlich sich wiederholenden Gedenkzeremoniell gemeint. Daran soll der Adressat des Epigramms teilnehmen. Der Aufforderung zum Verweilen vor der Statue entspricht ihre zeittypische, geradezu

von Bewegung erfüllte Ausrichtung auf den Betrachter hin, die sich in der Frontalität, dem vorgesetzten linken Bein, den leicht nach vorn angewinkelten Armen und dem gerade nach vorn gerichteten Blick äußert. Der Aufforderung zum Klagen widerspricht jedoch die Mimik des Dargestellten. Die leicht hochgezogenen Mundwinkel und die sich dadurch stark vorwölbenden Wangenknochen muss man zwar nicht unbedingt als heitere Mimik interpretieren, als Lächeln, sondern man kann darin auch ein allgemeineres Mittel zur Belebung des Gesichts und zur Steigerung der Lebendigkeit der Statue sowie einen Ausdruck von Kommunikationsbereitschaft mit dem Betrachter sehen18. Aber unabhängig davon steht die aus diesem sog. archaischen Lächeln gewonnene typusspezifische strahlende Lebendigkeit scheinbar in schroffem Kontrast zum Inhalt der Inschrift. Erst durch das Epigramm wird der Statue der Aspekt des Klagens hinzugefügt und – sozialgeschichtlich interessant – der Betrachter aufgefordert, sich über das dem Denkmal, dem mutmaßlichen Grabmonument, innewohnende Gedenken hinaus in die Gemeinschaft der Klagenden einzureihen. Damit wird der Anspruch auf öffentliche Klage erhoben. Das Epigramm stattet die Statue mit einer Geschichte aus, die an der Statue nicht ablesbar ist und auf die die Statue auch keinen Bezug nimmt. Denn bei diesem Bildwerk gehören Text und Bild verschiedenen inhaltlichen Genera an. Der Kuros kann genauso Weihgeschenk an eine Gottheit sein, während das Epigramm ausschließlich sepulkrale Funktion hat. Gerade deshalb gewinnen Epigramm und Statue zusätzliche dialektische Aussagen: Einerseits wird die Grausamkeit von Ares bzw. des Krieges durch die von Lebenskraft erfüllte Gestalt gesteigert und durch den Aufruf zur Klage negativ konnotiert, andererseits wird der jugendlich-schönen Gestalt ein ‚memento mori’ hinzufügt. Ob der antike Betrachter diese Empfindung haben konnte, soll nach der Betrachtung von Phrasikleia und dem zugehörigen Epigramm geprüft werden.

14 Im Rahmen des Colloquiums hat mich A. PETROVIC (True Lies of Public Epigrams, unveröffentlicht, S. 11 ff.) auf seine überzeugenden Überlegungen zur Bedeutung von potev mit mehreren Beispielen aus der Zeit der Perserkriege aufmerksam gemacht. 15 D.C. KURTZ, J. BOARDMAN, Thanatos. Tod und Jenseits bei den Griechen, Mainz 1985, passim; E. BUSCHOR, Griechische Vasen, München 19692, S. 215 ff., Abb. 223. 16 S.B. MATHESON, Polygnotos and Vase Panting in Classical Athens, Madison 1995, S. 250 ff. 17 H. KENNER, Die Trauernde von Persepolis, in WSt, 79,

1966, S. 572-592; J. BOARDMAN, Griechische Plastik: die klassische Zeit: ein Handbuch, Mainz 1987, S. 71 f., Abb. 24 ff. Zum Trauern in der Bildkunst allgemein: G. NEUMANN, Gesten und Gebärden in der griechischen Kunst, Berlin 1965, S. 123 ff.; I. HUBER, Die Ikonographie der Trauer in der Griechischen Kunst, Mannheim-Möhnsee 2001; N. SOIC, Trauer auf attischen Grabreliefs: Frauendarstellungen zwischen Ideal und Wirklichkeit, Berlin 2005. 18 Diskussion verschiedener Interpretationen bei W. MARTINI, op. cit. (Anm. 4), S. 83 ff.

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Abb. 3. Phrasikleia aus Merenda. Athen NM 4889 (nach N. KALTSAS, art. cit. [Anm. 19], Taf. 1, b).

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Abb. 4. Abschrift der Inschrift.

„Grabmal von Phasikleia. Ewig werde ich Kore genannt werden, statt der Hochzeit beschieden mir die Götter diesen Namen“, während sich an der linken Nebenseite die Bildhauerinschrift eines Aristion aus Paros befindet. Anstelle der direkten Anrede des Betrachters bei dem Epigramm für Kroisos hat das Epigramm für Phrasikleia22 durch die Ichform den

Charakter einer auf sich selbst bezogenen Aussage. Ihr entspricht die typusspezifische Zurückhaltung der Statue mit ihren eng gestellten Füßen, dem verhaltenen Griff mit der Rechten in den bodenlangen Chiton und der ruhig erhobenen Linken mit der aufrechten Lotusknospe. Der Text des Epigramms enthält keine Aufforderung zur Klage und auch keine unmittelbar hörbare Klage, sondern eher eine sachliche biographische Mitteilung, die erst vor dem Hintergrund damaliger gesellschaftlicher Vorstellungen ein bemitleidenswertes Schicksal erkennen lässt und so zur nach außen dezenten und nach innen sehr intensiven Klage wird. Denn keklevsomai aijeiv drückt durch das Futur und das „immer“ völlige Aussichtslosigkeit aus, dass ihr Schicksal sich jemals ändern könne. Vom Tod wird zwar nicht direkt gesprochen, dennoch bilden der in der Aussichtslosigkeit der üblichen gesellschaftlichen Bestimmung der Frau implizierte Tod im Epigramm und die strahlende Lebendigkeit der Statue die polaren Aspekte dieses Bildwerks wie bei der Statue des Kroisos. Die eindrucksvoll überlebensgroße Statue veranschaulicht durch den leuchtend roten, reich verzierten Chiton23, den Goldschmuck an

19 N. KALTSAS, Die Kore und der Kuros aus Myrrhinous, in AntPl, 18, Berlin 2002, S. 7 ff., Taf. 1 ff.; K. KARAKASI, Archaische Koren, München 2001, S. 115 ff., und 235 ff. 20 N. KALTSAS, art. cit. (Anm. 19), S. 7, Anm. 2, hält es angesichts des guten Erhaltungszustands für wahrscheinlicher, dass die Statue im Zusammenhang mit den Streitigkeiten zwischen den Peisistratiden und Alkmeoniden vergraben wurde. Dann wohl ehestens zum Zeitpunkt der Verbannung, die aber bereits

546 erfolgte, als der ‚mitbestattete’ Kuros noch nicht geschaffen war. 21 Umschrift nach P.A. HANSEN, op. cit. (Anm. 6), S. 17 f., N. 24; W. PEEK, op. cit. (Anm. 7), N. 68; K. KISSAS, op. cit. (Anm. 2), S. 47 f., N. 14. 22 Abschrift nach Foto der Basis. 23 Farbige Rekonstruktion bei N. KALTSAS, art. cit. (Anm. 19), tav. 1.

PHRASIKLEIA AUS MERENDA

Sehr viel verhaltener ist die Aussage im Epigramm für Phrasikleia auf der Basis einer alterslosen Frauenfigur aus dem kleinen Ort Merenda im östlichen Attika (Abb. 3.)19. Ihren ausgezeichneten Erhaltungszustand verdankt sie der Tatsache, dass sie zusammen mit einem Kuros frühzeitig, vielleicht im Zusammenhang mit dem Einfall der Perser nach Attika 480 v.Chr., in der Erde bestattet worden ist20. Der ebenfalls vergrabene Bleiverguss der Plinthe sichert die Zugehörigkeit der bereits seit 1729 bekannten Basis mit Inschrift, deren Vorderseite das Epigramm trägt (Abb. 4.)21: se`ma Frasikleivaς. ⁄ kovre keklevsomai ⁄ aijeiv, ajnti; gavmo ⁄ para; qeo`n tou`to laco`s∆ o[noma.

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Armen, Hals, Ohren und auf dem Kopf, den leuchtenden roten Mund und die strahlenden Augen eindringlich die festlich frohe Stimmung dieses reich geschmückten Mädchens. Den Anlass der kostbaren Ausstattung bietet hier das Epigramm durch die Erwähnung der Hochzeit; es steigert dadurch ähnlich wie bei der Grabstatue für Kroisos den Gegensatz zwischen Leben und Tod; durch den Diskurs zwischen dem Bildwerk und dem Text werden die Sinne des Betrachters für das Schicksal des schönen Mädchens24 geschärft, über dessen genaueres Lebensalter das Bildwerk uns nichts mitteilt. Stellt man die beschriebenen Aussagen der Epigramme und Statuen der Grabmäler von Phrasikleia und Kroisos einander gegenüber, so fällt gerade aufgrund gewisser Gemeinsamkeiten der Epigramme, die sich beide auf das Grabmal und die schicksalhafte Rolle der Götter beziehen, und trotz dieses gemeinsamen Bezugs auf das Grabmal und die Götter ein weiterer, gravierender Unterschied ihrer Aussagen auf. Warum ruft das Epigramm für Kroisos den Passanten zum Stehen-bleiben und Klagen auf, das für Phrasikleia aber nicht? Ist das Zufall? Ich glaube es nicht, auch wenn die geringe Anzahl archaischer Grabepigramme keine verallgemeinernde Aussage erlaubt25. Daher sei eine nur von diesen Einzelwerken ausgehende Deutung gewagt. Der makellose athletische Körper des jungen Mannes repräsentiert auch und gerade in der von dem Epigramm für Kroisos begleiteten Statue die zentrale Bedeutung des trainierten Körpers als wesentliche Voraussetzung für den kriegerischen Erfolg und damit für den Erhalt der Gemeinschaft in einer durch zahllose Kriege geprägten Zeit. Dadurch dass Kroisos ejni; promavcoiς, in der ersten Reihe der Kämpfenden, seine Arete im Krieg vorbildlich unter Beweis gestellt und dabei den Tod gefunden hat, hat er seine Pflicht gegenüber der Gemeinschaft in höchstem Maß erfüllt, die ihm dafür ein dankbares Gedenken und Klagen schuldet. Der Anlass seines Todes verpflichtet die Lebenden zum ehrenden aktiven Gedenken im Rahmen des Klagerituals, auch unter dem Aspekt der Verfestigung des rühmlichen Vorbilds für die anderen jungen 24 Diese altmodische Wortwahl scheint mir geeigneter, die Bedeutung der Bezeichnung Kore zu erfassen, die nach diesem Epigramm für den weiblichen Leitbildtypus archaischer Zeit verwendet wird. 25 Der Aufruf zur Klage findet sich noch auf weiteren Grabinschriften archaischer Zeit für männliche Frühverstorbene, von denen sich einige wiederum auf den Tod im Krieg beziehen: W. PEEK, op. cit. (Anm. 7), N. 1223 ff.; F. WILLEMSEN, Archaische

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Männer der Gemeinschaft. Insofern gibt es für diese Gemeinschaft, an die sich das Epigramm wendet, auch keinen Grund zur Trauer über den Tod des Kroisos. Und insofern löst sich auch der scheinbare Widerspruch zwischen dem ‚archaischen Lächeln’ und dem vorzeitigen Tod auf. Phrasikleia dagegen haben die Götter die Hochzeit versagt, für die sie erzogen und ausgebildet worden ist; sie hat ihr Lebensziel nicht erreicht und daher auch nicht die Möglichkeit gehabt, der Gemeinschaft gegenüber ihre Pflicht zu erfüllen. Folglich hat sie auch keinen besonderen Anspruch auf die ehrende Klage seitens der Gemeinschaft, obwohl sie als Individuum Phrasikleia im Hinblick auf ihr unerfülltes Leben26 ein viel traurigeres Schicksal als Kroisos gehabt hat. Dem entspricht die Ichform des Epigramms, da sie die Auf-sichselbst-Bezogenheit der Aussage unterstreicht, in der auch das Allein-Sein von Phrasikleia anklingt, während der Imperativ des Epigramms für Kroisos nicht von ihm, sondern von der Gemeinschaft ausgeht und an die Gemeinschaft der Lebenden gerichtet ist. Aus der Perspektive der Gemeinschaft archaischer Zeit ist daher m.E. das Schicksal von Phrasikleia auf individueller Ebene – wie von Kroisos – durchaus betrauernswert, jedoch nur das von Kroisos auch beklagenswert. Insofern ist es konsequent, dass das Epigramm für Phrasikleia keine Klage einfordert. Die Frage, warum dann Phrasikleia überhaupt eine so aufwendige Statue erhalten hat, wenn ihr Leben für die Gemeinschaft sozusagen wertlos geblieben ist27, stellt sich m.E. nur, wenn man die Statue ausschließlich als an die Gesellschaft adressiert auffasst, was aber durch das Epigramm eben nicht zum Ausdruck gebracht wird. Warum soll nicht die Familie um den Tod der jung Verstorbenen getrauert haben und die Erinnerung an das ewig schöne Mädchen durch die Statue bewahrt haben wollen? Kann es nicht unterschiedliche Adressaten gegeben haben und können nicht unterschiedliche Botschaften wahrgenommen worden sein? WOLFRAM MARTINI Justus-Liebig-Universität Gießen

Grabmalbasen, in AM, 78, 1963, S. 118 ff., N. 4. 26 Vgl. G. VESTRHEIM, Voice in Sepulchral Epigrams. Some Remarks on the Use of First and Second Person in Sepulchral Epigrams, and a Comparison with Lyric Poetry, unveröffentlicht, S. 13 f.; den Hinweis verdanke ich I. Petrovic. 27 Ich beziehe mich hier auf einen Einwand von T. Hölscher im Rahmen der o.g. Tagung.



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