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Hendrik Trescher
Zielperspektive Inklusion – Freizeit von Menschen mit geistiger Behinderung Zusammenfassung Dieser Beitrag befasst sich mit der Freizeitsituation von Menschen mit geistiger Behinderung. Er diskutiert praktische Handlungsmöglichkeiten, die auf der Grundlage von empirischen Daten formuliert wurden. Sie zielen darauf ab, dem Personenkreis (mehr) Teilhabe am Lebensbereich «Freizeit» zu ermöglichen. Der Artikel zeichnet nach, wie vielschichtig die damit einhergehenden Herausforderungen sind. Résumé Cet article se propose d’aborder la question des loisirs des personnes atteintes de déficience intellectuelle. Il présente un certain nombre de possibilités d’agir dans la pratique qui ont été formulées sur la base de données empiriques. Ce sont des mesures qui ont pour but de permettre aux personnes concernées de prendre (davantage) part à ce domaine de la vie que forment les «loisirs». L’article met en évidence la complexité des défis qu’il faut alors relever.
Einleitung
Welche Chancen und Potentiale bestehen, Menschen mit geistiger Behinderung inklusive Teilhabe am Lebensbereich Freizeit zu ermöglichen? Diese und weitere Fragen standen im Mittelpunkt der Studie «Freizeit als Fenster zur Inklusion» (Trescher, 2015b). Die Fragen wurden über ein multimethodales Forschungsdesign bearbeitet (Trescher, 2015a). Zentrales Augenmerk lag dabei auf den drei Ebenen Lebenswelt (324 leitfadengestützte Interviews mit Vertretungen verschiedener Freizeitinstitutionen), Subjekt (6 narrative Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderung) und Ebene der Betreuungsinstitutionen (4 narrative Interviews mit Personen, die in unterschiedlicher Weise für die Freizeitgestaltung von Menschen mit geistiger Behinderung zuständig sind). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, zunächst einen kurzen Blick auf die Ergebnisse der Studie zu werfen. Ausgehend davon sollen Handlungsoptionen für die (sonder-)pädagogische Praxis formuliert werSchweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 21, 9 / 2015
den, die auf die Eröffnung inklusiver Freizeit ausgerichtet sind. Ergebnisse Ebene der Lebenswelt
Unter anderem über telefongestützte Leitfadeninterviews wurden Institutionen / Gruppen befragt, deren Mitglieder gemeinsam ihre Freizeit verbringen (z. B. Vereine oder «offene» Gruppen). Insgesamt wurden 324 Befragungen im Bezugsraum Frankfurt am Main durchgeführt. Gefragt wurde nach (physischen / intellektuellen) Voraussetzungen, damit Menschen mit geistiger Behinderung an den Aktivitäten teilnehmen können. Ausserdem wurde erfasst, ob die Institution / Gruppe bereit wäre, Menschen mit geistiger Behinderung an ihren Aktivitäten teilhaben zu lassen. Dabei zeigte sich, dass nur ein geringer Anteil (17 %) der befragten Institutionen / Gruppen die Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung kategorisch ablehnt. Die Mehrzahl (49 %) der Institutionen / Gruppen wäre zumindest dazu bereit, eine Teilnahme zu ermöglichen, wenn zuvor
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gewisse Anforderungen erfüllt würden (z. B. eine Begleitperson mitzubringen). 35 % der Befragten sind klar bereit, Menschen mit geistiger Behinderung die Teilnahme an den jeweiligen Aktivitäten zu ermöglichen, auch wenn dies strukturelle Veränderungen (z. B. andere Uhrzeiten der Treffen) bedeuten würde. Auch wenn diese Ergebnisse auf eine grundsätzliche Offenheit hinweisen und als erfreulich eingestuft werden können, so wurde weiter deutlich: Nur ein geringer Teil der Menschen mit geistiger Behinderung nimmt tatsächlich an Freizeitaktivitäten der Institutionen / Gruppen teil (19 %). Aus der Erhebung lässt sich also auf ein ungenutztes Inklusionspotenzial schliessen.
Nur ein geringer Teil der Menschen mit geistiger Behinderung nimmt an organisierten Freizeitaktivitäten teil. Subjektebene
Mittels narrativer Interviews wurden Menschen mit geistiger Behinderung zu ihren Interessen und Wünschen bezüglich ihrer Freizeitgestaltung befragt. Hier wurde deutlich, dass ihr Alltag stark durch die jeweiligen Betreuungsinstitutionen bestimmt wird. Die befragten Personen haben nur bedingt Raum zur freien Gestaltung von Freizeit und zur Entwicklung eigener Interessen. Ihr Alltag ist durch Warten und ein begrenztes Repertoire an fremdorganisierten Aktivitäten geprägt. Essenszeiten und Pflege bestimmen den Tagesablauf. Dies steht dem geäusserten Wunsch nach Vergemeinschaftung und Aktivität gegenüber, zumal insbesondere das Essen oft auch kein gemeinsames Essen darstellt, sondern die Abläufe so geregelt sind, dass eine Person
nach der anderen isst. Die Nutzung des o. g. Inklusionspotenzials scheitert somit verschiedenfach an der Institutionsgrenze (etwa fehlende Interessensentwicklung, Abhängigkeit von fremdbestimmten Angeboten, lebensweltliche Begrenzung auf den Institutionsrahmen). Ebene der Betreuungsinstitutionen
Die Befragung der Institutionsmitarbeitenden untermauerte die Ergebnisse der Subjektebene. Auch sie machte deutlich, dass die innerinstitutionelle Alltagsgestaltung primär durch pflegerische Handlungen und Essenszeiten bestimmt wird. Neben diesen Tätigkeiten bleibt nur wenig Raum für die Freizeit- und Alltagsgestaltung der Bewohnerinnen und Bewohner. Insofern setzen vorhandene Angebote nur in Ausnahmefällen an den Interessen der einzelnen Personen an und beschränken sich häufig auf Aktivitäten, die sich ohne grösseren arbeitstechnischen Aufwand umsetzen lassen. Immer wiederkehrend war etwa das gemeinsame Basteln oder das Spazierengehen auf dem Institutionsgelände. Neben den fehlenden zeitlichen Ressourcen bemängelten die Mitarbeitenden, dass die Bewohner und Bewohnerinnen nur selten Interessen äussern oder selbst aktiv werden, sodass sie in Sachen Freizeitgestaltung stark von den Betreuenden abhängig sind. Dies wurde oft mit einem fehlenden Interesse der Bewohner und Bewohnerinnen an einer freizeitlichen Aktivität gleichgesetzt, was jedoch problematisch ist. Tatsächlich scheint es zunächst an mangelnden Interessen seitens der Bewohner und Bewohnerinnen zu liegen, dass sie kaum welche äussern. Dazu kommt es allerdings aufgrund ungenügender Möglichkeiten der Interessensentwicklung. Und diese ist wiederum Aufgabe der Institution. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 21, 9 / 2015
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Praktische Überlegungen
Anhand der Ergebnisse lassen sich drei Diskursebenen identifizieren, die im Kontext
einer inklusiven Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung von Relevanz sind:
Der Fokus liegt auf einem «sehen und gesehen werden». Es gilt, für Menschen mit geistiger Behinderung eine Präsenz im öffentlichen Raum und Teilhabemöglichkeiten am Diskurs um die eigene Person zu schaffen (Entmystifizierung von geistiger Behinderung; Abbau von Vorurteilen).
Intrainstitutioneller (Selbstbestimmungs-)Diskurs
Hier wird nach möglichen innerinstitutionellen Veränderungen gefragt. Ziel ist die Erhöhung der Selbstbestimmungsfähigkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung innerhalb der Institution und die Eröffnung weiterführender Handlungsräume. Möglich wäre dies etwa durch die feste Etablierung eines Tagesstrukturprogramms (Wedekind, Conradt & Muth, 1994, S. 139ff.).
Zuständigkeitsdiskurs
Die Ebene des Zuständigkeitsdiskurses rekurriert auf das Spannungsverhältnis zwischen «Normalgesellschaft» und Betreuungsinstitution, was die «Zugehörigkeit» von Menschen mit geistiger Behinderung angeht. So wurde im Rahmen der Studie (Trescher, 2015a) etwa der Einwand einer Person dokumentiert, dass man sich nicht um Menschen mit geistiger Behinderung zu «kümmern» brauche, da es hierfür entsprechende Institutionen gäbe.
Konkrete konzeptionelle Überlegungen
Mit Blick auf die drei Diskursebenen können mögliche konzeptionelle Ansätze dahingehend konkretisiert werden, als dass es um die Schaffung von Begegnungsräumen zwischen Menschen mit und Menschen ohne geistige Behinderung geht. Hierfür erscheinen vier praxisrelevante Ebenen 1 bedeutsam: 1. Ebene der Begegnung 2. Ebene der Alltagsgestaltung 3. Ebene der Freizeitgestaltung 4. Ebene der Beratung / Begleitung
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Diese vier Ebenen sind nicht klar voneinander zu trennen. Sie markieren vielmehr vier pädagogische Schwerpunkte.
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Ebene der Begegnung
Hier geht es um die Schaffung von Schnittstellen der Lebenswelten von Menschen mit und Menschen ohne geistige Behinderung und damit um die Eröffnung alternativer Lebensräume für Erstere. Jene Räume sollten innerhalb der Gemeinde gelegen sein, damit die Betroffenen auch physisch Teil der Ortskultur werden. Dies könnte etwa über die Etablierung eines Kulturhauses (im Sinne eines «Hauses der Begegnung») gelingen, welches für verschiedene (inklusive sowie nicht-inklusive) Veranstaltungen / Projekte genutzt werden kann. Einen solchen Raum zu schaffen und durch bestimmte Massnahmen (etwa vorteilhafte Ausstattung der Räumlichkeiten, Auswahl einer günstigen Lage) Anreize zu erzeugen, dass diese Angebote von möglichst heterogenen Personenkreisen genutzt werden, ist eine politische Aufgabe.
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Eine weitere Möglichkeit bestünde in der Auslagerung des Tagesstrukturprogramms in Betreuungsinstitutionen. Notwendig hierfür ist, dass dieses einen eigenen Lebensbereich jenseits des Wohnens markiert, damit es nicht hinter der physischen Versorgung der Betreuten zurücksteht. Um dies zu erreichen, müssen die jeweils zuständigen Personen losgelöst von sonstigen innerinstitutionellen Abläufen agieren und planen können. Auch die Einbindung externer Personen, die unabhängig von den jeweiligen Trägern der Behindertenhilfe agieren, könnte sich als hilfreich erweisen. Diese können die Rolle von «Störfaktoren» erfüllen und entscheidend dazu beitragen, innerinstitutionelle Wandlungsprozesse anzustossen.
Es erscheint zentral, dass es Menschen mit geistiger Behinderung ermöglicht wird, externe Freizeitangebote wahrzunehmen. Weiter unterstützen liessen sich solche Entwicklungen durch die Konzeption eines gemeindeinternen Freizeitkatalogs, der sowohl von Menschen mit als auch von Menschen ohne Behinderung genutzt werden kann. In einem solchen könnten bestehende Freizeitgruppen (inklusive sowie nichtinklusive) ihr Angebot bewerben. Ein solches Heft könnte auch zur innerinstitutionellen Interessensentwicklung genutzt werden und böte ebenfalls die Möglichkeit einer direkten Vermittlung (ähnliche Effekte könnten auch mittels der Etablierung einer gemeindeweiten Freizeitbörse erreicht werden). Hierfür könnten auch die Daten der Studie genutzt werden – etwa mittels Bezugnahme auf den eruierten Pool an Freizeitaktivitäten oder über die Kontaktauf-
nahme zu jenen Gruppen, die sich als besonderes aufgeschlossen erwiesen hatten. Grundsätzlich erscheint der Gedanke zentral, dass es Menschen mit geistiger Behinderung ermöglicht wird, externe Angebote wahrzunehmen, d. h. Freizeitgestaltung als solche nicht mehr im Aufgabenbereich «zuständiger» Institutionen zu verorten ist. So käme es zu einer Verschiebung auf der Ebene des Zuständigkeitsdiskurses. Ebene der Alltagsgestaltung
Veränderungen auf der Ebene der Alltagsgestaltung betreffen besonders die Eröffnung von Lebensräumen jenseits des institutionellen Rahmens. Darunter fällt nicht nur der Aspekt der inklusiven Freizeitgestaltung, sondern insbesondere auch der Aspekt der «Normalisierung» der Alltagsstruktur, in Form einer Übernahme lebenspraktisch üblicher Aktivitäten (Einkaufen, Kochen, hauswirtschaftliche Tätigkeiten). Die Alltagsgestaltung sollte Ort von Alltäglichem sein, damit ebendiese Bereiche nicht zu besonderen «Events» avancieren. Beispielhaft herangezogen sei hier die Aussage einer befragten, in einer Institution mitarbeitenden Person, dass am Tag der Befragung eine der in der Institution wohnenden Personen «sogar» in die Stadt gefahren sei, um dort Pizza essen zu gehen. Es handelt sich hier um eine lebenspraktisch «normale Aktivität», die innerhalb des Institutionsalltags jedoch zur besonderen Freizeitaktivität wird. Zu einem «normalen» Alltag gehört auch ein gewisses Mass an «Obligationszeit» (Opaschowski, 2008, S. 34), welche jedoch abgelöst wird durch jene Zeitbereiche, in denen unabhängig eigene Interessen verfolgt werden können (insofern diese zuvor herausgebildet wurden). Die zumindest teilweise Verlagerung des Tagesstrukturprogramms aus dem Institutionsrahmen (z. B. in das oben geSchweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 21, 9 / 2015
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nannte «Kulturhaus») und die Hinwendung zu alternativen Wohnformen, die ein zunehmendes Mass an Eigenaktivität ermöglichen und auch einfordern, scheinen hierfür gute Ausgangsperspektiven zu bieten. Weiter denkbar wäre auch die Einbindung von Menschen mit geistiger Behinderung in ein Ehrenamt, im Rahmen dessen sie bestehenden Interessen nachgehen und sich als aktive Mitglieder der Gesellschaft präsentieren können. In der Studie haben sich verschiedene Besuchsdienste für ältere Menschen an einer solchen Option interessiert gezeigt.
tet werden. Erst hierdurch wird die Umsetzung inklusiver Freizeit ermöglicht. Wichtig ist zudem die Regelmässigkeit der Angebote, um Vergemeinschaftungsprozesse zwischen den Besucherinnen und Besuchern (mit und ohne Behinderung) zu ermöglichen und damit feste Begegnungsräume zu etablieren.
Ebene der Freizeitgestaltung
Ebene der Beratung / Begleitung
Hier wird gerade die Eröffnung jenes Zeitbereichs bedeutsam, die in Abgrenzung zur Obligationszeit, nach Opaschowski (2008) als sogenannte «Dispositionszeit» (S. 324) zu sehen ist. Wie bereits bei der Ebene der Alltagsgestaltung angesprochen wurde, betrifft dies unter anderem den Umstand, dass alltägliche Aktivitäten, wie das regelmässige Einkaufen, das gelegentliche Pizzaessen, Backen oder auch das Strassenbahnfahren (es handelt sich um genannte Fälle aus der Studie), nicht zu besonderen freizeitlichen Aktivitäten erhoben werden dürfen. Der Bereich der Freizeit muss in seinem Stellenwert für das Individuum sowie die Gemeinschaft ernst genommen werden. Grundvoraussetzung hierfür ist jedoch auch das Entwickeln und das Ausfindigmachen von Interessen. Die Etablierung des oben genannten Freizeitkatalogs oder der Freizeitbörse wären hierfür gute Ansätze. Elementar ist auch, dass sich die Freizeitangebote sowie die zeitlichen Räume zur Freizeitgestaltung nicht länger auf Werktage und den Mittag / Nachmittag beschränken dürfen, sondern auch auf den Abend und das Wochenende hin ausgewei-
Um bestehende Berührungsängste und Vorurteile auf allen Seiten abzubauen – man denke hier gerade an die oben genannten 49 % der Befragten, die sich unsicher gegenüber einer Teilnahme von Menschen mit geistiger Behinderung äusserten – ist die feste Etablierung von Beratungs- bzw. Begleitungsangeboten notwendig. Diese könnten unter anderem auch von und für Menschen mit geistiger Behinderung gestaltet und an unterschiedlichen Schnittstellen etabliert werden – beispielsweise im Falle der Interessensentwicklung via Freizeitkatalog sowie bei anschliessenden Vermittlungsbemühungen in die entsprechenden Angebote. Diese könnten, falls nötig, durch den Einsatz von Assistenzkräften ergänzt werden, deren Einsatz häufig dazu beiträgt, dass Hemmschwellen überwunden werden. Assistenzkräfte geben für beide Seiten Sicherheit und können im Laufe des Vermittlungsprozesses auch zunehmend aus der Situation herausgezogen werden – man denke hier etwa an das Konzept der Unterstützten Beschäftigung bzw. das dort praktizierte «Job-Coaching» (Doose, 2009).
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Alltägliche Aktivitäten dürfen nicht zu besonderen freizeitlichen Aktivitäten erhoben werden.
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Schlussbetrachtung
Auf Grundlage obiger Anstösse wäre es möglich, Veränderungen auf allen Diskursebenen zu erzeugen. Der intrainstitutionelle Diskurs wäre dahingehend betroffen, dass die beherbergende Institution nicht mehr in dem gleichen Masse allumfassend für die Betreuung der Personen zuständig wäre, was wiederum den Zuständigkeitsdiskurs verändert. Die Institution würde vielmehr auf den Strukturbereich «Wohnen» reduziert, womit sich wiederum ihre Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung verändern würde.
Inklusion heisst letztlich für alle Beteiligten: Berührungsängste abbauen und neue Erfahrungen machen. Durch die Ausdifferenzierung der Institutionen und eine verstärkte Schaffung von Begegnungsräumen wären Menschen mit geistiger Behinderung im öffentlichen Raum präsenter und zugänglicher, wodurch wiederum andere Projekte, wie etwa eine Zeitschrift von und für Menschen mit geistiger Behinderung, geschaffen werden könnten (vgl. Trescher, 2014). Insgesamt muss gesagt werden, dass Inklusion, verstanden als Dekonstruktion von normativen Ordnungen, krisenhaft ist und sich nicht ad hoc durch eine politische Massnahme herbeiführen lässt. Vielmehr ist
es die gesellschaftliche Aufgabe der Normdekonstruktion, was letztlich für alle Beteiligten heisst: Berührungsängste abbauen und neue Erfahrungen machen. Damit ist Inklusion gerade auch für Menschen mit geistiger Behinderung eine grosse Herausforderung, gilt es doch, sich aus dem Protektorat der Institutionen zu lösen und das Leben «in die eigene Hand» zu nehmen. Was sich auf theoretischer Ebene leicht formulieren lässt, stellt auf der praktischen Ebene einen lang andauernden Prozess dar. Um diesen anstossen zu können, ist ein Umdenken nötig, welches wiederum über theoretische Ansätze ermöglicht wird (vgl. Trescher & Börner, 2014; Trescher & Klocke, 2014). Inklusion heisst nicht pauschal «Gleichbehandlung». Vielmehr zielt sie auf die Schaffung von gemeinsamen lebensweltlichen Erlebens- und Erfahrungsräumen. Inklusion heisst Dekonstruktion von manifesten und latenten (Diskurs-)Teilhabebarrieren sowie von diskursiv hervorgebrachten Normen, «…die bestimmte lebensweltliche Ausprägungen und Konzepte als vorrangig / wünschenswert postulieren und somit einen exkludierenden, verletzenden Effekt mit sich bringen [...]. Inklusion verheisst […] die uneingeschränkte, gleichberechtigte Teilhabe an gemeinsamen Lebenspraktiken sowie die gesellschaftliche Akzeptanz des (scheinbar) anderen» (Trescher & Börner, 2014).
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