Wuggenig, Ulf (2011): „ Kunst-Kunst, Street Art und »Kreativität«. Annäherungen mit Hilfe von Feld- und Systemtheorie”. In: Daniel Suber, Hilmar Schäfer and Sophia Prinz (ed.), Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften. Konstanz: UVK, 217-251.

July 19, 2017 | Author: Ulf Wuggenig | Category: Visual Studies, Sociology of Arts, Visual Arts
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Ulf Wuggenig

Kunst-Kunst, Street Art und »Kreativität«. Annäherungen mit Hilfe von Feld- und Systemtheorie

1. Die »Ornament-Seuche« Wie hätte wohl Adolf Loos auf ein Phänomen wie American Graffiti reagiert, oder auf die Street Art der Gegenwart? In seinem berühmten, gegen die »Ornament-Seuche« seiner Zeit gerichteten Manifest »Ornament und Verbrechen« heißt es unter Berufung auf die Evolution von Menschheit und Kultur: »Der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. [...] Mir und mit mir allen kultivierten menschen erhöht das ornament die lebensfreude nicht. wenn ich ein stück pfefferkuchen essen will, so wähle ich mir eines, das ganz glatt ist und nicht ein stück, das ein herz oder ein wickelkind oder einen reiter darstellt, der über und über mit ornamenten bedeckt ist.« (Loos 1997: 79ff.)

Und in der Manier eines Propheten: »Ich habe folgende erkenntnis gefunden und der welt geschenkt: Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande [...]. Seht, die zeit ist nahe, die erfüllung erwartet unser. Bald werden die straßen der städte wie weiße mauern glänzen. [...] Der ungeheuere schaden und die verwüstungen, die die neuerweckung des ornamentes in der ästhetischen entwicklung anrichtet, könnten leicht verschmerzt werden, denn niemand, auch keine staatsgewalt, kann die evolution der menschheit aufhalten!« (Loos 1997: 79ff.)

Loos wandte sich im Wien der Zeit eines Gustav Klimt, Otto Wagner und Josef Hoffmann gleichermaßen gegen den – künstlerisch u.a. als »MakartÄra« in Erinnerung gebliebenen – rückwärtsgewandten Historismus der aus-

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klingenden Gründerzeit wie gegen die Neuerung des Art Nouveau in Gestalt des Jugendstils. Das aufblühende Ornament stellte sich für ihn als »entweder eine rückständigkeit oder eine degenerationserscheinung« dar. Die im Design aufgegriffene Idee des Gesamtkunstwerks und die Versuche, die Kunst ins Leben zu integrieren waren ihm ebenso ein Gräuel wie die ästhetischen Präferenzen eines Teils des großbürgerlichen Milieus. Mehr noch richteten sich seine satirischen Polemiken jedoch gegen die diese Kreise bedienenden bürgerlichen Künstler und Designer, die sich des Ornaments auf verfeinertem Niveau bedienten. Folgender von Bourdieu herangezogene Satz Baudelaires (1868: 208) bezieht sich auf eine im künstlerischen Feld durchaus verbreitete Attitüde: »Es gibt etwas tausendfach Gefährlicheres als die Bürger, das ist der bürgerliche Künstler, der geschaffen wurde, um sich zwischen Bürger und Genie zu stellen.« (1999a: 132) Loos scheute nicht davor zurück, den »barbarischen Geschmack« der Außenseiter ins Spiel zu bringen und auf die hedonistischen Spielarten des bürgerlichen Geschmacks, der bürgerlichen Kunst und des avantgardistischen Designs zu projizieren. Auf diese Weise exemplifiziert er geradezu die gleichermaßen von Mary Douglas (1996: 81ff.) wie von Pierre Bourdieu ins Spiel gebrachten negativ bestimmten Geschmacksdispositionen, ist der Geschmack doch, wie letzterer schreibt, »zunächst einmal Ekel, Widerwille [...] gegenüber dem anderen Geschmack, dem Geschmack der anderen.« (Bourdieu 1987a: 104f.) Der andere Geschmack wird zugleich mit den Personen, die ihn inkorporiert haben, abgelehnt (Lizardo 2006; Prinz 2009). Nahezu ein Jahrhundert später nahmen führende Kunsthistoriker des Museum of Modern Art in New York (Varnedoe/ Gopnik 1990) im Zuge der Ausstellung High and Low Stellung sowohl zum Jugendstil der Jahrhundertwende als auch zu solchen Phänomenen der populären Kultur wie Comics und Graffiti, die in den 1960er und 1970er Jahren ihre Konjunktur erlebten. Diese Reaktionen erfolgten bereits mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu jener Graffiti-Welle, die sich aus der Peripherie von New York City über diese Stadt verbreitet hatte. Während ein Soziologe wie Jean Baudrillard (1978) sie bald zu einem »Aufstand der Zeichen« verklärte, interpretierte sie Nathan Glazer (1979), Mitautor von The Lonely Crowd, als ein Symptom der Anomie von NYC und des Autoritätsverlusts seiner administrativen Elite. Die von diesem neokonservativen Soziologen und anderen moralischen Unternehmern geschürte »moralische Panik« (Cohen 1972) ebnete den Weg zur Anwendung der »Broken-Windows-Theorie« auf das Graffiti-Phänomen – »One example of disorder, like graffiti or littering, can indeed encourage another, like stealing.« (Keizer u.a. 2008: 1682) – und zur »Zero-Tolerance-Politik« (Wilson/ Kelling 1982). Zuvor bereits hatte sich über Paris und andere Metropolen der westlichen 2

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Welt ein Strom von Polit-Graffiti ergossen. Er stützte sich jedoch auf eine andere soziale Basis als die sich bald mit der Hip-Hop-Kultur verbindenden gesprayten Zeichen von »American Graffiti«, war er doch nicht getragen von Jugendlichen aus den Ghettos der unteren Regionen des sozialen Raumes (Rose 1994: 41ff.), d.h. – aus einer Weltsystemperspektive betrachtet – der Peripherie des Zentrums des Zentrums, sondern von der jüngeren Generation der verschiedenen Fraktionen des gesellschaftlichen Machtfeldes in Frankreich und anderen westlichen Ländern. Die Kunsthistoriker stellten Anfang der 1990er Jahre insbesondere Zusammenhänge auf der von ihnen bevorzugten Ebene der internalistischen Interpretation her, d.h. der Zeichenwelten selbst, des »opus operatum« (Bourdieu). Unter weitgehender Vernachlässigung der Differenzen auf der Ebene der Agenten, die sich in einem feldtheoretischen Bezugsrahmen, wie Bourdieu ihn vertritt, in erster Linie als Differenzen des Habitus auf der Grundlage von Volumen und Struktur des Kapitals der Produzenten darstellen, aber auch derjenigen, an welche sich diese visuelle Produktion primär richtete, zog Adam Gopnik eine unmittelbare Linie zwischen Art Nouveau und »American Graffiti«. Auch an einer Berufung auf die kulturelle Evolution ließ er es nicht fehlen. Dieser Kunsthistoriker, zugleich Kritiker in The New Yorker, hatte dabei allerdings weder die für die Wiener Secession oder die Wiener Werkstätten charakteristische Produktion im Auge, sondern den »katalanischen Modernismus« eines Antonio Gaudí. Zudem unterstrich Gopnik im Gegensatz zu Loos nicht eine evolutionäre Tendenz der Steigerung von Reinheit und Einfachheit, sondern im Gegenteil eine zur Erhöhung von Komplexität. Unter Bezugnahme auf die Neuerung des »Tag« und der auf ihn folgenden stilistischen Schritte schrieb er: »In der Folge dieser Innovationen nahm der Stil dann einen normalen evolutionären Verlauf: Vom einfachen hingeschmierten Buchstaben, zu ›Ballon‹-Buchstaben (auf die die stark akzentuierten Kurven und infantilen Kleckse der DisneyKartoons übertragen wurden) und schließlich zum sogenannten ›Wildstyle‹, einem straff gespannten, einhüllenden Gewebe aus Buchstaben, die in Renommierstücken manchmal mit einem ausgefeilten, illusionistischen Hintergrund versehen wurden – etwa mit zerbröckelnden Steinmauern oder explodierenden Gebäuden. Der Anspruch der Graffitischreiber auf kalligraphische Originalität – als Illuminatoren – beruht insbesondere auf dem ›Wildstyle‹. […] Ein Stil, der an die verrücktesten Exzesse der Jugendstil-Ornamentik Barcelonas erinnert und in mancher Hinsicht auch an sie heranreicht – die Balkone der Casa Milá vorgestellt in den Farben Walt Disneys.« (Gopnik 1990: 291)

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Er bezog sich dabei vor allem auf die »Pieces« der New Yorker »Muralisten« (Lachmann 1987) der 1970er und 1980er Jahre. Bei ihnen handelte es sich nicht länger um mit minimalem Aufwand hergestellte, schnell geschriebene Autorenkürzel, sondern um ausgefeilte, bunte Namenszüge, deren Gestaltung nicht mehr spontan erfolgte, sondern in Innenräumen vorbereitet wurde. Die zunächst vor allem in New York City hergestellten Tags und Pieces, die heute zu den bemerkenswerten kulturellen Erfindungen jener Zeit gezählt werden, wovon ihre mittlerweile erfolgte Konservierung und Musealisierung zeugt (Fondation Cartier pour l’art contemporain 2009), diffundierten nach der von Gabriel Tarde (2003) beschriebenen Logik der Nachahmung über die westliche Welt und teilweise über sie hinaus (Ganz 2004; Lost Art u.a. 2005). Dies erfolgte sowohl in naiver, als auch in überlegter und mehr oder weniger stark erneuerter Form – die Nachahmung fördert Tarde wie Deleuze zufolge die Differenz (Borch/ Stäheli 2009). Vor allem der »brasilianische Stil«, in dem der New Yorker Stil eine Verbindung mit regionaler politischer Kunst einging, und der in den Favelas von São Paulo entwickelte Pixação-Stil, markieren heute eine deutliche Differenz zu den Ausgangsformen aus den USA. Gemeinsam mit den vor allem in Paris Anfang der 1980er Jahre wiederbelebten Schablonen-Graffiti – besonders Blek Le Rat, ein damals junger Architekt mit Herkunft nicht aus der sozialen Peripherie sondern aus dem Pariser Bürgertum, wäre in diesem Zusammenhang als einer der maßgeblichen Vorreiter zu nennen – kann man in der visuellen Kultur und Praxis des GraffitiWriting eine der historischen Wurzeln des heute auch im deutschsprachigen Raum meist mit dem Oberbegriff der »Street Art« belegten Typus der öffentlichen Kunst sehen. Bei dieser Form der Herstellung von visuellen Zeichen handelt es sich, sofern mit Kunstanspruch verbunden, gewöhnlich um »Uncommissioned Art« (Dew 2007) bzw. um »Painting without Permission« (Rahn 2002). Sofern ihr Auftrag und Genehmigung fehlen hebt sie sich z.B. von »Kunst im öffentlichen Raum« in Deutschland ab, oder von »Community Art« in Großbritannien, ebenso wie von »Corporate Art«, die auf Veranlassung von Unternehmen hergestellt wird. Mittlerweile ist jedoch in Graffitibzw. Street-Art-Ästhetik hergestellte Auftragskunst keine Seltenheit mehr (Reinecke 2007), sodass Street-Art-Künstler von Gemeinden Aufträge erhalten, wie zur ARTotale in der Stadt Lüneburg 2009. Ein bestimmter Typus von Unternehmen erkannte zudem ab den 1990er Jahren, dass es sich bei Graffiti keineswegs um »leere Signifikaten« handelt, wie Baudrillard (1978) noch meinte, sondern dass der Rückgriff auf Graffiti und Street Art es erlaubt, sich ein jugendaffines Image zu sichern, »einen Schuss transgressiver Coolness in die Produkte einzuschießen« (Maddy 1999), sodass sich Graffiti heute neben »Fly Posting« und »Wheatpasting« unter die Standardtechniken avancierter Marketing-Strategien einreiht (Wikipedia, Guerilla-Marketing) und Street4

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Art-Künstler sich auf den Apps von Unternehmen wiederfinden. Auf diese Weise wurde Street Art zu Kunst im öffentlichen Raum bzw. zu Corporate Art und zu einer Technik von viralem bzw. Guerilla-Marketing. Die ersten Schritte in die kommerzielle Welt wurden bereits viel früher unternommen, sie blieben zunächst aber innerhalb des künstlerischen Feldes. Die illegalen »Graffiti« der Straße und der U-Bahn wanderten in den frühen 1980er Jahren zur Zeit der Blüte der neo-expressionistischen Malerei in die Galerien des künstlerischen Feldes. Auf diese Weise wurde es erforderlich, zwischen »Graffiti« und »Graffiti-Art« zu unterscheiden (Lewisohn 2008), wobei letzteres Label sowohl genuine Sprayer umfasst, die ihre Zeichen auf handelbare Leinwände brachten, als auch – teils auf Netzwerkebene, teils auf der Grundlage von Allusionen auf Graffiti und teils auf Grund ihrer Vergangenheit als Writer – assoziierte Kunst-Künstler wie Jean-Michel Basquiat, Keith Haring oder Kenny Scharf. Der Integrationsversuch von Graffiti-Künstlern des ersten Typs führte aus Gründen, welche mit Bourdieus Soziologie der Kultur ohne weiteres hätten antizipiert werden können, in eine Sackgasse. Nach der Ausstellung »Post Graffiti» (1983) in Sidney Janis, einer führenden New Yorker Galerie, die an der Durchsetzung des Abstrakten Expressionismus und der Pop Art beteiligt war, fanden sich die Graffiti-Writer vom Zentrum des künstlerischen Feldes weitgehend ausgeschlossen. Ein Hauptgrund dafür war, dass die Straßen und der öffentliche Raum einer Stadt einen ungleich interessanteren Kontext für die Graffiti-Ästhetik abgeben als die weißen Räume einer Galerie. In Galerieräumen entsprechen dekontextualisierte Graffitizeichen nur einem beschränkten ornamentalen Vokabular. Alle Konnotationen von Freiheit, Risiko und Anarchie verschwinden in einer solchen Umgebung. Wenn der Reiz dieser Ästhetik auch auf Bedingungen ihrer Produktion beruht, wie Illegalität, Mut oder erzwungene Geschwindigkeit bei der Herstellung, dann geht ihr im Galerienkontext gerade diese distinktive Differenz zur herkömmlichen visuellen Produktion verloren. Statt Zeichen von Subversion werden nur bunte Bilder ohne konzeptuelle Fundierung angeboten, was unter Bedingungen des Modernismus vollkommen verpönt war, aber auch unter dem aufkommenden Regime des Postmodernismus im künstlerischen Feld nicht ausreichte. Ein weiteres Problem hing mit den habituellen Dispositionen der Writer zusammen. Die meisten von ihnen hatten keinerlei Erfahrungen, was und an wen man verkaufen bzw. mit wem man verkehren kann, ohne sein Image und symbolisches Kapital nachhaltig zu beschädigen. Auch produzierten sie gleichzeitig für den exklusiven Kunstmarkt wie für profane Märkte. Auf naive Weise stellten die Writer kommerzielle Produkte her bzw. kehrten ihre Interessiertheit an Geld, banalen Statussymbolen und sozialem Aufstieg hervor. Ihnen war nicht klar, dass es zu den Konventionen bzw. ungeschriebenen 5

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Gesetzen der Kunstwelt, in die sie gerieten, gehört, eine solche Art von Interessiertheit am Alltäglichen und Profanen mindestens zu verbergen (Bourdieu 1993a). So nimmt es nicht Wunder, wenn die Kunstkritik des avantgardistischen künstlerischen Subfeldes mit der Einstufung der Writer als naiven Volkskünstlern – »Abstrakter Expressionismus für die Armen« – bzw. als krass kommerziell orientierten Produzenten reagierte. Außerdem beklagte sie, sofern sie noch an Authentizität glaubte, den Verlust an Echtheit, der mit dem Transfer der Arbeiten von der Straße in die White Cubes der Kunstwelt einhergeht. Solcher bescheidenen Bewertung entsprachen die bescheidenen Preise, welche die Arbeiten der Writer auf dem Kunstmarkt erzielten und in diesem Fall galt nur für wenige, dass auf lange Sicht gemäß eines inversen Matthäus-Effekts die »Verlierer gewinnen«. Am ehesten traf dies unter den an der Sidney-Janis-Ausstellung beteiligten Sprayern und Sprayerinnen jener Macho-Subkultur (McDonald 2003) erstaunlicherweise für Lady Pink zu, die im Juli 2009 – zur Zeit der historisierenden Pariser Ausstellung Né dans la rue – Graffiti – in der das symbolische Kapital erfassenden Liste von artfacts.net auf Platz 11232 rangierte, während männliche Hauptvertreter dieses Typs von Graffiti Art wie Ramm-Ell-Zee, Lee Quinones und Futura 2000 mit 20611, 24247 und 33618 mittlere Ränge in der nach oben bis rund Rang 60000 reichenden Skala einnahmen. Die Kunst-Künstler der »Graffiti Art« belegten derweil vordere Plätze, wie insbesondere der NeoExpressionist Jean-Michel Basquiat (191), der seine Karriere als Writer Samo begonnen hatte, aber auch der für seine Kreidezeichnungen berühmte Keith Haring (290) (Wuggenig 2009). Außerdem fehlte es der Graffiti-Kunst der Writer an dem für die Absicherung des ästhetischen Werts erforderlichen diskursiven Rahmen. Bereits früh hatte Bourdieu (1971b) erkannt, dass die Funktion der Kritik in der zeitgenössischen Kunst nicht mehr in der Evaluation von Werken oder Ausstellungen besteht, sondern in erster Linie in der Mitwirkung an der Bedeutungsproduktion der Arbeiten. Um Graffiti baute sich nicht jene »Atmosphäre von Theorie« (Danto) auf, die den Diskurs der zeitgenössischen Kunst immer stärker zu bestimmen begann und ihn vollends seit dem Siegeszug des Poststrukturalismus im Feld der Kritik dominierte. Es gab keine bedeutenderen Kritiker, die sich an Geschichte und Tradition von Graffiti bzw. ihren speziellen visuellen Merkmalen abarbeiteten. Dies stellte allerdings weder einen Zufall dar noch eine Produktionsbedingung, die ohne weiteres zu ändern gewesen wäre. Darin reflektierten sich vielmehr das schwache kulturelle und soziale Kapital der Writer-Szene und das Problem, dass jenseits der Galerienwelt zunächst keine tragfähige Unterstützungsstruktur aufgebaut werden konnte, weder auf personeller, noch auf institutioneller Ebene. Einen Hype ungleich größeren Ausmaßes als die Graffiti Art erlebte die 6

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Street Art, welcher die Graffiti Art umstandslos als historischer Vorläufer zugeordnet wurde, während des Malereibooms in den Jahren, welche dem Platzen der Kunstmarktblase im ersten Dezennium des 21. Jahrhunderts vorangingen.1 Im Zuge der Heteronomisierung des künstlerischen Feldes (Behnke/ Wuggenig 1994; Zahner 2006; Graw 2008) war figurative Malerei seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verstärkt neben die zur Dominanz gelangte konzeptuelle, postkonzeptuelle und politische Kunst getreten. Bei aller im Vergleich zu Graffiti und Graffiti Art erkennbaren Vielfalt der herangezogenen Medien (Lorenz 2009) stellt sich diese künstlerische Strömung heute in erster Linie als figurativ orientierte visuelle Kultur in der Tradition von älteren, teils prämodernistischen Formen von Malerei, Grafik und Design dar. Nichtsdestoweniger kam es erneut zu einer Differenzierung zwischen einer nicht-kommerziellen Zeichenproduktion auf der Straße und einer künstlerischen Produktion, die auf Verkauf in Galerien und Auktionshäuser abzielte. Für letztere bürgerte sich der ursprünglich eher in subkulturellen Kontexten gebrauchte Begriff der »Urban Art« ein (Rose/ Strike 2004). Nicht unerwähnt bleiben sollte die für die Verbreitung von Graffiti konsequenzenreiche Integration der Writer-Szene in die Hip-Hop-Kultur ab Ende der 1970er Jahre. Das Bild wurde neben Sprache, Musik und Tanz zum festen vierten Element dieser Kultur als Teil einer Synthese, die Rap, DJTechniken, Breakdance und Graffiti zusammenführte. Vor allem der Globalisierung dieser medial hergestellten und verbreiteten Jugendkultur verdankte die Graffiti-Ästhetik ihre internationale Diffusion, gestützt auf Fotodokumentationen, Videoclips (z.B. von Blondie und Malcolm McLaren) und einen Kultfilm wie »Wildstyle«, der bis heute als Inspirationsquelle der Hip-HopSzene fungiert. Die Subkultur, in welche die Graffiti-Ästhetik integriert wurde, hebt sich nicht nur durch ihre Langlebigkeit von anderen Populär- und Jugendkulturen ab, sondern auch durch die umfassende Aktivierung, die sie von allen Beteiligten verlangt: »Um ein Hip-Hopper zu sein, reicht es nicht, korrekt angezogen und dabei zu sein. Hip Hop ist performativ, eine Kultur des Machens und 1

Von 2000 bis 2008 bis zum Ausbruch der Finanzmarktrise waren gemäß Daten des Internet-Portals artprice (Paris) die Preise für Werke im Bereich zeitgenössischer Kunst um mehr als den Faktor 2 gestiegen. Noch steiler fiel der Nachfrageboom speziell für Street Art aus, für die sich Zuwächse um mehr als den Faktor 3 beobachten ließen. In absoluten Zahlen betrachtet waren die Preise der Arbeiten von Street Art Künstlern nicht mit denen, welche Künstler im Kunst-Kunstfeld erzielten, vergleichbar, Banksy ausgenommen, der mit einer auf Damien Hirst referierenden Arbeit auf der von Damien Hirst, Bono und Gagosion organisierten Red Auction zugungsten von AIDS-Kranken in New York City im Februar 2008 1.7 Mill. $ erzielte.

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Produzierens.« (Klein/ Friedrich 2003: 38) Die neue Computertechnologie, die Bildgestaltung und Design allgemein zugänglich machte, und das Internet, dessen sich die Writer-Szene seit 1994 bediente, taten ein Übriges, um die Operationsbasis für Graffiti und Street Art entscheidend auszuweiten. Es entstand eine unüberschaubare Menge von Foren und Web-Sites, die sich der Kommunikation und Vermittlung von Graffiti und Street Art verschrieben. Wie die zahlreichen Fanzines, Magazine und Kataloge dieser Szenen zeichnen sich auch diese Websites dadurch aus, arm an Text und reich an Bildern zu sein, um eine fundamentale Differenz zum diskursiv orientierten avantgardistischen künstlerischen Feld zu betonen. Da zwischen der Zeichenwelt der Street Art und den Zeichen und »Characters« des Felds der Tätowierung kaum zu übersehende ästhetische Korrespondenzen bestehen,2 worauf letztlich auch die Metapher der »Tätowierung von Städten« abhebt (Wuggenig 2009), fällt eine Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage nach der Reaktion eines Adolf Loos auf diese visuelle Produktion nicht schwer. Man muss nicht lange nach Äußerungen zu Graffiti bzw. Street Art suchen, die der Geschmackskultur jenes »asketischen Aristokratismus« (Bourdieu 1987a: 442) zuzurechnen sind, welche Zeichenwelten wie jenen der Street Art allenfalls über eine spezielle Aneignung auf einer zweiten Ebene etwas abgewinnen können. Ebenso ist es ein Leichtes, Autoren zu finden, die sich in den symbolischen Klassenkämpfen, die innerhalb und zwischen den Fraktionen des gesellschaftlichen Machtfeldes ausgetragen werden, der von Loos und Karl Kraus kultivierten polemischen Überspitzung bedienen. Eine naheliegende Figur aus dem künstlerischen Feld ist zunächst Jonathan Jones, Kunstkritiker des Londoner Guardian, mehrmals Juror des Turner Prize von Tate Britain. Über Graffiti, Street Art und Banksy, den im Internet und im journalistischen Feld zum Superstar dieses Genres gehypten »Spaßvogel« mit durchaus beachtlichen Auktionserfolgen (Wuggenig 2009), bei gleichzeitig lediglich mäßiger Anerkennung im künstlerischen Feld (artfacts.net Rang 7196 am 18.1.20113), ist aus der Feder die2

Vgl die Tattoo-Ästhetik, wie sie sich auch in einer Fülle von deutschsprachigen Zeitschriften wie Tatto Magazin, Tattoo-Spirit, TattoStyle, TattooScout, Tatto-Time oder Tätorwiermagazin niedergeschlagen hat. 3 Diese schwache Bewertung wird durch eine Befragung einer Stichprobe von rd. 800 Besuchern des migros museum für zeitgenössische Kunst in den Jahren 2009 und 2010 in Zürich bestätigt. Es ergaben sich die im Folgenden dargestellten Relationen von positiver und negativer Bewertung in %, wobei der Rest auf 100% sich durch die diejenigen ergibt, welche die Künstler/innen nicht bewerteten oder nicht kannten. Berücksichtigt wurden hier die Bewertungen des professionellen Zentrums dieses Feldes (ca. 5% der Besucher), zugleich das »Feld« im Sinne von Kreativitätspsychologen wie Gardner: Warhol (71/0), Francis Bacon (68/7), Jenny

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ses priesterlichen Verteidigers der Kunst-Kunst etwa zu lesen: »Banksy's single-note jokes and don't-frighten-the-horses subversiveness are easily graspable, offering a headline-friendly, visual equivalent of a one-liner« (Jones 2007a); »He is a background artist, as in background music: like all graffiti, he is essentially an accompaniment to other activities.« (Jones 2007b); »Cy Twombly is the only graffiti artist I care about. Twombly is the thinking person's Banksy.« (Jones 2008); »Banksy is no longer hot. [...] You live by the media, you die by the media. [...] The reason I don't like street art is that it's not aesthetic, it's social.« (Jones 2009a) Diese und ähnlich polemische Spitzen gegen populäre bzw. »soziale Kunst« im Sinne von Bourdieu richtete Jones Jahr für Jahr gegen die Street Art. Ein Beispiel aus dem philosophischen Feld für eine vergleichbare Attitüde findet sich bei Michel Serres. Aus seiner Sicht gibt es in einer entscheidenden Hinsicht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Graffiti, Straßenkunst und Bildern der kommerziellen Werbung. Ihre Hersteller zählt er gleichermaßen zu jener Spezies Mensch, welche sich wie »universale Hausbesetzer« benehmen und – darin durchaus den Tieren verwandt – »verschmutzen, um anzueignen« (Serres 2009). Bourdieus (1993a: 49) graphisch visualisiertes Modell des Feldes der kulturellen Produktion unterstellt eine duale interne Struktur dieser symbolischen Ökonomie, zwei ökonomische Subwelten. Es lässt eine Unterscheidung von vier Subfeldern zu – junge bzw. soziale und konsekrierte Avantgardekunst links vom Mittelpunkt in der relativ autonomen Hälfte, bürgerliche und industrielle Kunst rechts im heteronomen Teil des Feldes. Der dandyhafte, an ökonomischem Kapital arme Loos war zu der Zeit, als er »Ornament und Verbrechen« verfasste, am ehesten der Künstler- bzw. Architektenbohème im linken unteren Quadranten des Feldes zuzurechnen. Jedenfalls gehörte er noch nicht der charismatisch konsekrierten Avantgarde an, in Holzer (57/14), Gerhard Richter (75/0), Cy Twombly (68/4), Donald Judd (71/0), Wolfgang Tillmans (68/4), Jeff Koons (61/11), Dan Graham (34/7), Yoko Ono (46/25), Damien Hirst (39/32), Yue Minjun (11/ 14), Banksy (18/46), Hundertwasser (14/64). Das Spektrum reicht von primär positiver über ambivalente bis zu primär negativer Bewertung, wobei eine überwiegend negative Bewertung darauf hinweist, dass der betreffende Künstler einem anderen Subfeld oder Feld zuzurechnen ist als dem der zeitgenössischen Avantgardekunst. Abgesehen von Banksys mäßigem Ergebnis ist auch das von Minjun aufschlussreich. Es ist als ein Indiz für den AntiÖkonomismus des Feldes anzusehen, handelt es sich bei Minjun doch um niemand anders als jenen Künstler, der 2007 die weltweite Rangliste der in diesem Jahr erzielten Auktionspreise anführte. Den ökonomischen Erfolgen entsprechen jedoch weder Bekanntheit noch symbolische Anerkennung im Zentrum des künstlerischen Feldes, was – entgegen Graw (2008, 36f.) – voll und ganz in Einklang mit Bourdieus (1971b: 52) These von der relativen Unabhängigkeit von ökonomischer und ästhetischer Bewertung zumindest auf kurze Sicht steht.

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die er mit der für die Subfelder der eingeschränkten Produktion charakteristischen zeitlichen Verzögerung zwischen dem Angebot und seiner Akzeptanz in Form einer Nachfrage letztlich erst posthum aufsteigen sollte – Indiz für eine zu seiner Zeit wahrhaft innovative Praxis. Von den Bauten, denen Loos seine spätere Berühmtheit verdankte, stand zu dieser Zeit erst ein einziger. Es handelte sich dabei um jenes Café Museum gegenüber dem von Joseph Maria Olbricht errichteten Gebäude der Wiener Secession, das Loos an diesem Ort eingerichtet hatte, um diesen Tempel der Kunst, ein White Cube, wie er sich später als Standardarchitektur über das unter die Vorherrschaft des künstlerischen Modernismus geratene Kunstfeld verbreiten sollte, jedoch ornamentiert mit floraler Jugendstilästhetik, mit einer kaum zu übersehenden visuellen Geste herauszufordern. Wenige Jahre danach platzierte Loos ein »Ungetüm von einem Haus« unmittelbar gegenüber einem barocken Hofburgflügel am Michaelerplatz. Vor dem Hintergrund der Position von Loos im intellektuellen Feld lässt sich die von ihm vertretene evolutionstheoretische Reinigungsthese unschwer als eine standortgebundene Stellungnahme erkennen. Sie erscheint charakteristisch für jene aufwärts strebenden, dominierten Agenten in den Feldern der kulturellen Produktion, welche ihre Fehden gleich an mehreren Fronten zugleich austragen. Sie neigen dazu, den Repräsentanten der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassenfraktionen im sozialen Raum eine bloß oberflächliche Aneignung der Kultur vorzuhalten, die Etablierten und Arrivierten im Feld im Namen der Reinheit der Korruption und Verkommenheit zu geißeln sowie ihre Rivalen der Orientierung an überholten bzw. rückwärtsgewandten Prinzipien zu zeihen: »Anders als die Angehörigen der dominanten Fraktionen, die von der Kunst einen hohen Grad an Verleugnung der sozialen Welt fordern und einer hedonistischen Ästhetik des Behaglichen, Ungezwungenen und Leichten anhängen, […] sind die Angehörigen der dominierten Fraktionen dem wesentlich asketischen Moment der Ästhetik verhaftet und von daher auch stärker verleitet, allen im Namen der Reinheit und Reinigung, der Verschmähung aller protzigen Zurschaustellung, und des bürgerlichen Hangs zum Dekorativen angetretenen künstlerischen Revolutionen ihr Placet zu geben [...]« (Bourdieu 1987a: 287).

Die Befreiung vom Ornament entspricht zudem einer allgemeineren Tendenz der Befreiung der Kunst: »Sobald Kunst sich ihrer bewusst wird […] definiert sie sich […] durch Verneinung, Ablehnung, Verzicht, die auch jener Verfeinerung zugrunde liegen, durch die der Abstand zu simpler Sinnenlust und zu den oberflächlichen Befriedigungen

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Ulf Wuggenig durch Gold und Ornamente sich dokumentiert, zu denen sich der vulgäre Ge4 schmack der Philister verführen lässt.« (Bourdieu 1987a: 357)

Der asketische Modernismus, wie Loos ihn auf der Ebene seiner realisierten Werke nicht frei von Widersprüchen vertrat, und seine Radikalisierung in der späteren Kunst und Architektur, sind längst Geschichte. Als ihr Anderes kannte Loos weder eine mächtige, visuell geprägte Kulturindustrie, noch die Zeichenwelten der Jugendkulturen, die sich mit Stil und Zeichen voneinander und von der Kultur des Mainstream abzuheben versuchen. Unter prognostischen Gesichtspunkten täuschte sich Loos in seiner Generalisierung der Tendenzen zu Reinigung und der Annahme einer gleichsam naturwüchsigen Entfernung von Ornament und Floralität aus der Kultur in längerer Frist. Seine Prophezeiung erwies sich nicht als »self-fulfilling prophecy«. Sie scheiterte bereits bald am politisch hergestellten »Ornament der Masse« (Kracauer). Einer puristischen Phase, geprägt von International Style in der Architektur und Abstraktion in der Malerei, folgte die Wiederkehr des Ornaments unter Bedingungen des Postmodernismus in Architektur, Kunst und Design, dessen populärem Flügel Graffiti und Street Art zweifellos zugerechnet werden können.

2. Feldbegriff, »Kreativität« und Neuerung Wenn man sich den ornamentalen Phänomenen von Graffiti und Street Art und – genereller – »kreativen« Projekten und »kreativer« Projektion sowie kultureller Neuerung in etwas allgemeinerer Form annähern möchte, bietet sich zunächst Bourdieus Feldtheorie an. Sie ist jedoch keineswegs die einzige Theorie, die sich heute auf den Feldbegriff stützt. Ein partieller Vergleich mit jener evolutionstheoretisch orientierten Sozialpsychologie, die sich teils als Systemtheorie (Csíkszentmihályi 1988a, 1999), teils als Interaktionstheorie (Gardner1996) versteht, wobei letztere auf ersterer aufbaut (Kastelan 2010), mag ihre Besonderheiten erhellen, zumal jene sich gleichfalls des Feldbegriffs bedienen. In Martins (2003) Arbeit über das Feld der Feldtheorien blieben diese Ansätze ungeachtet der Prominenz von Howard Gardner, einem führenden Vertreter der Cognitive Sciences und einer der meistzitierten zeitgenössischen Psychologen, allerdings unberücksichtigt. Der Stellenwert des 4

In Bourdieu (1979, 250) findet sich die Formulierung »séductions superficielles de l'or et des ornements (...) des Philistins«, weshalb im übersetzten Zitat der Begriff der »Ornamente« in Abweichung von der unspezifischeren Übersetzung mit »Verzierungen« in der deutschen Ausgabe Bourdieu (1987a) gebraucht wurde.

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Feldbegriffs geht bereits aus dem für diesen Zugang gewählten Akronym »DIFI« hervor, welches auf vier Schlüsselbegriffe des Paradigmas anspielt, nämlich auf Domain, Individual, Field und Interaction (Feldman u.a. 1994). Er versteht sich nicht zuletzt als ein Versuch der Erklärung von »Kreativität« und Neuerung in Sphären der kulturellen Produktion wie Kunst, Literatur, Wissenschaft und Populärkultur und ist insofern ein einschlägiger Zugang für ein Thema wie Graffiti und Street Art, die als kulturelle Innovationen anzusehen sind. Neuerungen, ob auf der Ebene von Problemdefinitionen bzw. -lösungen oder Formen von Gestaltung, werden in diesem Zugang mit »Kreativität« in Zusammenhang gebracht, also mit einem unter normativen Gesichtspunkten für gewöhnlich positiv konnotierten Begriff belegt. Dies gilt jedoch nur, wenn man sich außerhalb des Kontextes poststrukturalistischer Theoriediskurse bewegt. Außerdem geriet der Begriff der Kreativität auch jenseits seiner theologischen Provenienz in Misskredit (Raunig/ Wuggenig 2007, Behnke 2010: 135), weil er vor dem Hintergrund der Diskurse um »Innovation und Kreativität« als Teil eines »gouvernementalen Programms«, als »ein Modus der Selbst- und Fremdführung« (Bröckling 2007: 153) eingestuft wird oder auch als ein indirekt von der »Künstlerkritik« im avancierten ökonomischen Feld durchgesetzte charakteristische Rhetorik des »kognitiven Kapitalismus« (Moulier-Boutang 2007) in der durch seinen »dritten Geist« geprägten Phase (Boltanski/ Chiapello 2002: 7). Ähnlich wie die gegenüber dem Kreativitätsbegriff kritischen Autoren gebraucht auch Bourdieu Begriffe wie »kreativ«, »Kreativität« und »Schöpfung« oftmals, wenn auch nicht durchgängig, in Anführungszeichen. Insofern ist die Übersetzung der Opposition von »Kunst und Geld«, die Bourdieu zufolge nicht nur die Pole der zentralen Differenzierungsachse in Feldern der kulturellen Produktion bestimmen, sondern darüber hinaus für die heutigen westlichen Gesellschaften konstitutiv sind, in eine Opposition von »Kreativität und Kommerz« durch Vertreter der Cultural Studies (Desmondalgh 2006: 223) einigermaßen irreführend. Wird der Kreativitätsbegriff bereits seit längerem eher in Zusammenhang mit kommerzieller Kulturproduktion gebraucht, ist das Kunst-Kunst-Feld gegenüber dem Kreativitätsbegriff doch ziemlich aversiv. Die alten Vorbehalte, die in der Provenienz dieses Begriffs wurzeln, wurden in jüngerer Zeit durch den forcierten Gebrauch des Kreativitätsbegriffs in heteronomen Feldern wie Design, Werbung und »Kreativwirtschaft« sowie im ökonomischen Feld noch verstärkt. Eine Kritik des Kreativitätsbegriffs findet sich in der systemtheoretischen Psychologie weder aus solchen Gründen, noch überhaupt in expliziter Form. Er wird jedoch keineswegs in einem naiven Sinn gebraucht und de facto gegenüber verbreiteten spontansoziologischen und -psychologischen Annahmen stark relativiert. Darüber, ob Praktiken und Artefakte als »kreativ« einzustu12

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fen sind, entscheiden der langjährigen Forschungen jener Psychologen zufolge nicht, wie oftmals angenommen, individuelle Merkmale, wie etwa die Fähigkeit zu divergentem Denken oder bestimmte Persönlichkeitseigenschaften wie Zyklothymie: »Kreativität ist weder im Kopf, noch in der Hand des Künstlers zu verorten, noch in der praktischen Ausübung, noch auch in der Urteilsinstanz.« (Gardner 1996: 61) Obwohl Gardner zu den Hauptvertretern des Feldes der Cognitive Sciences und der Intelligenzforschung zählt, handelt es sich um einen in starkem Maße von soziologischen Überlegungen geprägten Zugang. Für die Theorie ist »nichts an sich kreativ oder nicht-kreativ«, und zwar, weil das, was als kreativ gilt, kontextuell bestimmt ist: »Solange ein Urteil durch ein kompetentes Feld aussteht, ist schlicht unentscheidbar, ob ein Mensch das Epitheton »kreativ« verdient.« Potentielle Kreativität ist überdies nichts, was sich spontan einstellt. Sie setzt langjährige Vertrautheit mit einer Domäne in Verbindung mit der Anerkennung durch ein Feld voraus. Csíkszentmihályi ist in dieser Hinsicht nicht weniger entschieden, wenn er auf die Wechselwirkung von Produzenten und Rezipienten und auf die Relevanz des sozialen Systems verweist: »What we call creativity is a phenomenon constructed through an interaction between producer and audience. Creativity is not the product of single individuals, but of social systems making judgements about individual’s products.« (Csíkszentmihályi 1999: 314) Bei gewissen Ähnlichkeiten der system- und feldtheoretischen Theoriearchitektur und der für beide Zugänge charakteristischen Zurückweisung individualistischer Kreativitätskonzepte sind jedoch eine Reihe von Differenzen zu Bourdieus Feldtheorie nicht zu übersehen. Für eine feldtheoretische Soziologie der »Kreativität« ist nicht das Zusammenwirken von Produzenten und Rezipienten von Bedeutung, als vielmehr das Zusammenspiel eines Habitus mit einem Feld, das wiederum nicht als eine Summe von Individuen, sondern als eine überindividuelle soziale Struktur zu verstehen ist, in welche Agenten eingebettet sind. »Subjekt des Werks« ist Bourdieu zufolge nichts anderes als »ein Habitus in Verbindung mit einem Posten, das heißt einem Feld. [...] Was man ›Kreation‹, ›schöpferisches Schaffen‹ nennt, das ist das Zusammentreffen zwischen einem sozial konstituierten Habitus und einer bestimmten bereits institutionalisierten oder möglichen Stellung innerhalb der arbeitsteilig organisierten kulturellen Produktion (und darüber hinaus, auf zweiter Ebene, der arbeitsteilig organisierten Herrschaft)« (Bourdieu 1993b: 202; Kursivierung getilgt).

Erzeugt nach der vorherrschenden Vorstellung in einem biologischen Evolutionsmodell ein biologischer Organismus eine Variation, die durch die Umwelt ausgewählt und schließlich der nächsten Generation übermittelt wird, so 13

Kunst-Kunst, Street Art, Kreativität

entspricht der ersten Stufe in diesem Dreischritt von Mutation, Selektion und Transmission in der Übertragung auf die kulturelle Sphäre durch die systemtheoretische Psychologie zunächst eine durch eine Person herbeigeführte Variation – z.B. Graffiti oder Street Art – in einer bestimmten »Domäne«. Dieser Begriff zielt auf ein spezielles Symbolsystem ab, exemplifiziert etwa durch ein künstlerisches oder populärkulturelles Genre oder Subgenre bzw. eine wissenschaftliche (Sub)Disziplin. Die Selektion der in der Gesellschaft unentwegt neu produzierten Symbole bzw. Artefakte – im Anschluss an Dawkins (1976) auch als »Meme« bezeichnet – stellt eine der zentralen Funktionen des »Feldes« dar. Auf dieser Grundlage ließen sich die Zeichenstrukturen etwa von American Graffiti als neue Meme begreifen, die ungeachtet aller Anfeindungen auf Akzeptanz von Personen stießen, die in der Lage waren, einen Teil der produzierten neuen Zeichen auszuwählen, zu konservieren und kulturell zu übermitteln. Kommt es zur Akzeptanz durch das »Feld«, also ein spezielles soziales System, das jedoch nicht mit dem Bourdieu‘schen Feld zu verwechseln ist, dann werden der Domäne – z.B. Kunst, Graffiti, Street Art – neue Artefakte hinzugefügt und Prozesse der Kanonisierung und Transmission eingeleitet. Werden neue Mitglieder rekrutiert, eignen sich diese die über Kanonisierungsprozesse verankerten Werke oder Wissensformen an. »Thus creativity can be seen as a special case of evolution; specifically it is to cultural evolution as the mutation, selection, and transmission of genetic variation is to biological evolution.« (Csíkszentmihályi 1999: 316). Aus einer Makroperspektive betrachtet postuliert das Modell eine Wechselwirkung von Person, Kultur und Gesellschaft, wobei die Knoten in diesem triadischen Netzwerk auch als »primäre Subsysteme« bezeichnet werden (Csíkszentmihályi 1988). Bereits der erste dieser Begriffe verweist auf eine fundamentale Differenz zu Bourdieus Theorie. Das kleinste der drei Subsysteme ist individualistisch als Person konzipiert, während Bourdieus Feldtheorie auf dieser Ebene drei Arten von »Agenten« kennt, nämlich »Individuen«, »Gruppen« und »Institutionen«. Weder findet sich in der systemtheoretischen Psychologie die Idee, dass künstlerische Produktion, wie etwa in der soziologischen Theorie der »Kunstwelt« (Becker 1981), auch als kollektives Handeln aufgefasst werden kann, noch werden, wie bei Bourdieu, kollektive Akteure wie Gruppen, Netzwerke oder Institutionen explizit berücksichtigt. Denkbar fern steht der Theorie schließlich die kontraintuitive methodologische Annahme von Bourdieus Feldtheorie, »daß das ›Subjekt‹ der künstlerischen Produktion und ihres Produkts nicht der Künstler sei, sondern die Gesamtheit der Akteure, die mit der Kunst verbunden sind« (Bourdieu 1993b: 211). Dies hindert sie jedoch nicht, Individuen zum Gegenstand der Analyse zu machen, wovon die feldtheoretischen Fallstudien etwa zu Flaubert, Baudelaire oder Manet zeugen (Bourdieu 1999a). 14

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»Kultur« wird in der systemtheoretischen Psychologie in semiotischer bzw. neokantianischer Tradition als Sphäre des Symbolischen aufgefasst, als »ein System von verbundenen Memen« und als Menge hierarchisch angeordneter Domänen. Die Theorie kennt »anerkannte Domänen«, wie Bildende Kunst oder Mathematik, andererseits weniger anerkannte und gesellschaftlich teilweise umkämpfte Domänen wie etwa »Unterhaltungskunst« oder »Graffiti«, was der Unterscheidung nach dem Grad der Legitimität bei Bourdieu – legitime, semi-legitime und illegitime Kultur – entspricht, die im Falle legitimer Kultur einerseits auf positiver Bewertung beruht, auf positiven und negativen Ritualen wie sie Durkheim zufolge gegenüber dem »Heiligen« institutionalisiert sind, andererseits Anerkennung und Übermittlung durch Instanzen wie Universitäten oder Museen, zu denen der Zugang formell oder informell in starkem Maße reguliert ist. »Gesellschaft« ist in der systemtheoretischen Psychologie als Summe aller Felder konzipiert, die in einem Zeit-Raum-Bezugsrahmen operieren. Die einzelnen Felder unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Zentralität. Diese wird nicht nach ihrem gesamtgesellschaftlichen Gewicht oder Einfluss bestimmt, sondern nach der Wahrscheinlichkeit, mit der neue Mitglieder, welche über ein innovatives Potential verfügen, von ihm angezogen werden. Insofern besteht ein Entscheidungsproblem zwischen Domänen und deren Feldern, z.B. zwischen Graffiti und Street Art, Avantgardekunst und Street Art, Literatur und Philosophie, oder Sozial- und Naturwissenschaften etc. Jede Domäne verfügt nach Maßgabe ihrer Autonomie über »ihre eigenen Regeln, Strukturen und Verfahren« sowie über gewisse methodische Grundprinzipien, die im Anschluss an Thomas S. Kuhn als »Paradigmen« bezeichnet werden (Gardner 1996: 59). An ihnen orientieren sich Individuen mit verschiedenen Fähigkeiten, Begabungen und Neigungen. Das Dispositionskonzept erinnert auf den ersten Blick an das Konzept des Habitus bei Bourdieu, den er u. a. »als generative, um nicht zu sagen kreative Kapazität« definiert, »die im System der Dispositionen [...] angelegt ist.« (Bourdieu/ Wacquant 1996: 154) Es fehlt dem Begriff der Neigung jedoch die für den Habitusbegriff konstitutive Annahme einer Inkorporierung der mit sozialer Herkunft, Position und Laufbahn im sozialen Raum sowie der Stellung in einem Feld verbundenen Erfahrungen. Ebenso wenig spielt die Vorstellung, dass die inkorporierten Dispositionen mit einer »Freiheit in Grenzen« verbunden seien, einem sozial begrenzten Spielraum für die »generative« bzw. »kreative« Praxis, ein Rolle. Der Kreativitätsbegriff wird in der systemtheoretischen Psychologie auf einen längerfristig wirksamen Wandel von Domänen bezogen, d.h. nicht wie in den Cultural Studies auf Alltagskreativität (Willis 1990) angewandt, sondern, wie Sawyer (2006) dies ausdrückt, gewissermaßen mit großem »C« geschrieben: »Creativity occurs when a person 15

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makes a change in a domain, a change that will be transmitted through time.« (Csíkszentmihályi 1999: 315) Bourdieus Theorie kennt – nicht zuletzt auf Grund ihres Anspruchs, die interne, »tautegorische« und die externe, »allegorische« Analyse der Kultur zu verbinden – keine analytische Trennung von Feld und Domäne. Diese Trennung führt in der psychologischen Theorie in zwei Schritten zu einem bedeutend engeren Begriff des Feldes als bei Bourdieu: »The term field is often used to designate an entire discipline or kind of endeavor. [...] I want to define the term in a more narrow sense and use it to refer only to the social organization of the domain.« (Csíkszentmihályi 1999: 315) Zum Feld gerechnet werden jedoch keineswegs alle in die soziale Organisation einer Domäne eingebundenen Akteure. Es umfasst lediglich Akteure mit jenen sozialen Funktionen, die Kurt Lewin dem »Gatekeeper« zuschrieb. Er entscheidet über In- und Exklusion durch Auswahl und Grenzziehung darüber, was zu einer Domäne gehört und was nicht (Lewin 1963: 2006). Dieser Personenkreis stellt sicher, dass ein Teil der in einer Domäne entwickelten Ideen, Problemlösungen und Artefakte – die als relevant eingestuften neuen Meme – nicht der Vergessenheit anheim fallen. »In the systems model, the gatekeepers who have the right to add memes to a domain are collectively designated the field.« Dem künstlerischen Feld im Sinne von Bourdieu würde gemäß dieses eingeschränkten Feldkonzepts und der Logik seiner Bestimmung insbesondere das »breite Publikum« derjenigen fehlen, denen es an spezifischem kulturellen Kapital mangelt, aber auch an den übrigen Kapitalsorten, welche Zugang zu relevanten Entscheidungsprozessen im Feld eröffnen. Das Feld der Psychologen kennt somit nur »Virtuosen«, keine »Laien«, nur diejenigen, welche den Zugang in die Domäne kontrollieren bzw. über einen Einfluss auf dessen Struktur verfügen: »The easiest way to define a field is to say that it includes all those persons who can affect the structure of a domain. Thus the field of art includes the following: art teachers and art historians, because they pass on the specialized symbolic information to the next generation; art critics, who help establish the reputation of the individual artists; collectors, who make it possible for artists and works of art to survive; gallery owners and museum curators, who preserve and act as midwives to the production of art; and finally, the peer group of artists whose interaction defines styles and revolutions of taste.« (Csíkszentmihályi 1988a: 330)

Würde diese an einer hochkulturellen Domäne der visuellen Kultur exemplifizierte Konkretisierung des Feldes auf eine Domäne wie die Street Art übertragen, dann wäre nach folgenden Agenten zu suchen: Künstler, Kunsthistoriker, Kunstprofessoren und Kunstlehrer, Kunstkritiker, Galeristen und 16

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Museumskuratoren. Zu berücksichtigen ist zunächst, dass das Publikum bzw. die Konsumenten der Street Art, die nicht zugleich als Produzenten oder Vermittler fungieren, mangels spezifischen Kapitals und spezieller Entscheidungsmacht per definitionem aus dem Feld ausgeklammert bleiben. Während es kaum Mühe machen würde, eine große Zahl von Produzenten in einem Feld der Street Art auszumachen und sich mittlerweile auch eine Reihe von Galeristen finden lassen würden, ist die Zahl von Kunsthistorikern und kritikern sowie von Museumskuratoren, die sich bislang mit diesem Genre befasst haben, verschwindend gering. Auf der Basis von Bourdieus Feldtheorie wäre aus einer solchen Konstellation unter anderem der Schluss zu ziehen, dass es sich nicht um ein künstlerisches Feld handelt, jedenfalls nicht um ein legitimes, sondern um eine »mittlere Kultur« vielleicht wie einst die künstlerische Fotografie. Wie weit der soziologische und der psychologische Feldbegriff auseinander liegen mögen zwei Definitionen Bourdieus verdeutlichen: »Das Feld ist ein Kräftefeld (es gibt Kräfteverhältnisse in einem Feld, ungleiche Verteilungen von Kräften) und ein Feld von Kämpfen, um die Kräfteverhältnisse zu transformieren oder zu konservieren, oder, anders gesagt, um die Struktur der Verteilung von Energie zu konservieren oder zu transformieren, von Kapital, von Macht und von entsprechenden Profiten.« (Bourdieu 1999b: 7)

Ein Feld im Sinne Bourdieus weist somit sowohl eine objektive, strukturelle Dimension auf, als auch eine subjektive. Letztere impliziert die Kämpfe um die Durchsetzung von Visionen und Divisionen ebenso wie die Auseinandersetzungen um das Gewicht des Kapitals der jeweils mit einer bestimmten Kraft und Energie ausgestatteten »Agenten«. Dem systemtheoretischen Feldkonzept liegt nicht nur die konflikttheoretische, agonistische Perspektive auf die soziale Welt fern, sondern auch die Vorstellung, dass es sich bei Feldern um latente Strukturen handelt, um Netzwerke nicht von Personen, sondern von Positionen, wobei zu allererst das hierarchische Verhältnis zu beachten ist, in dem diese zueinander stehen: »Das Feld ist ein Netz von objektiven Beziehungen zwischen Positionen, die in ihrer Existenz und in ihrer Bestimmungsmacht über die Positionsinhaber objektiv definiert sind, d.h. einerseits durch ihre aktuelle und potenzielle Situation (situs) in der Verteilungsstruktur der Kapital- (bzw. Macht-)formen, deren Besitz über die Erlangung der jeweiligen feldspezifischen Profite entscheidet, und andererseits durch ihre objektive Beziehung zu anderen Positionen (Herrschaft bzw. Unter Unterordnung).« (Bourdieu 1984: 6)

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Bourdieu hat sich mit der Kreativitätstheorie von Gardner und Csíkszentmihályi nicht befasst. Umgekehrt hat sich letzterer durchaus auf Bourdieu bezogen (Csíkszentmihályi 1996: 53). Doch treffen Bourdieus Einwände gegen den Begriff der »Kunstwelt«, mit dessen Hilfe etwa Lachman (1988) den Niedergang der Netzwerke von Graffiti-Sprayern im New York der 1980er Jahre nach Zerschlagung der »writers corners« durch die Polizei beschrieb, wie auch gegen die Netzwerktheorie, sofern diese Beziehungen als interpersonelle Interaktions- oder Austauschbeziehungen modelliert (de Nooy 2003), um so mehr auf den individualistisch verkürzten Feldbegriff der Psychologen zu. Gegen die Theorien, welche zwar den Begriff des Relationalen gebrauchen, aber die Relationen auf manifeste interpersonelle Beziehungen wie Kooperation sowie auf den Austausch von Gütern, Werten etc. reduzieren, wendet Bourdieu unter anderem ein, dass »die für die Struktur des Feldes konstitutiven objektiven Beziehungen […] an denen die Kämpfe um Bewahrung oder Veränderung dieser Struktur sich ausrichten« nicht berücksichtigt würden. Außerdem beziehe sich die Feldtheorie nicht einfach auf eine »Population, das heißt eine Summe individueller, schlicht und einfach durch Interaktion und genauer durch Kooperation miteinander verbundener Akteure.« (Bourdieu 1999a: 327) Auf eine solche Aggregation von Individuen läuft die systemtheoretisch orientierte psychologische Theorie mit ihrem speziellen Feldbegriff hinaus, wobei sie in dieser Hinsicht gegenüber Beckers Theorie insofern zurückfällt, als sie die Relationen zwischen den Personen, welche das Feld konstituieren, nicht spezifiziert. Über den Gebrauch des Begriffs der Macht werden potentielle Antagonismen im Feld zumindest implizit berücksichtigt. Zu unterstreichen ist, dass Bourdieus Formel: »das Wirkliche ist relational« (Bourdieu 1998: 7) auf latente Strukturen zielt, die »unabhängig vom Bewußtsein und Willen von Individuen« (Bourdieu/ Wacquant 1996: 126f.) bestehen. Diese Beziehungen der Über- und Unterordnung oder auch der Nähe und Ferne im sozialen Raum bestimmen gemäß Bourdieus Modell beobachtbare Handlungen bzw. Interaktionen, seien dies primär Kooperationsbeziehungen, wie im Interaktionismus Beckers, oder auch Auseinandersetzungen, wie sie in konflikttheoretischen Zugängen im Vordergrund stehen. Der Blick auf die Interaktionen (z.B. zwischen Künstlern und Künstlern, Künstlern und Galeristen, Künstlern und Kuratoren etc.) »verdeckt« somit aus der Perspektive der Feldtheorie von Bourdieu »die Struktur, die über die Form ihrer Interaktion entscheidet« (Bourdieu 1999a: 291). Ein Avantgardekünstler, der von einem Galeristen ausgewählt wurde, und damit eine der wichtigsten Türen des Feldes vor der Tür des Museums, das letztlich über seinen Status in der Kunstgeschichte entscheidet, passiert hat und ein Graffiti- oder Street-Art-Künstler, der sich von einem Unternehmen anheuern ließ, 18

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um mit Hilfe der Zeichensprache, welche er beherrscht, Risikoorientierung, Jugendlichkeit oder Coolness der Produkte des Unternehmens für bestimmte Zielgruppen zu kommunizieren, müssen einander niemals persönlich begegnen. Sie können und werden Interaktion im Allgemeinen sogar nach Möglichkeit vermeiden. Dennoch bleiben ihre Praktiken auch ohne interpersonelle Kommunikation, ohne Kooperation und direkten Austausch durch die Differenz ihrer auf unterschiedlichem Kapital beruhenden Positionen im Feld bestimmt. Solche Differenzen mögen im Bereich sozialer Herkunft angelegt sein, der besuchten oder abgeschlossenen Kunst(hoch)schulen, oder dem kulturellen und ökonomischen Kapital, über welches die respektiven Netzwerke – das jeweilige soziale Kapital dieser Kulturproduzenten – verfügen. Von daher versteht sich die Bedeutung, die den unsichtbaren objektiven Beziehungen in einem strukturalistischen feldtheoretischen Zugang des Bourdieu‘schen Typs im Vergleich zu Zugängen beigemessen wird, welche die Interaktion betonen oder Kollektive wie das »Feld« lediglich als Aggregate, d.h. als Mengen von Individuen, berücksichtigen. Ein bedeutend größeres Maß an Aufmerksamkeit als latenten Beziehungen, aber auch manifesten Interaktionen, schenkt der systemtheoretische Zugang Fragen der Selektion, somit der In- und Exklusion, womit zumindest implizit auch ein Aspekt von Macht und Herrschaft Berücksichtigung findet. Nur wenige neue Meme aus der Menge an Variationen, die von Individuen permanent und im Überfluss produziert werden, überschreiten die Schwelle der Wahrnehmung. Noch weniger Meme werden für die Speicherung ausgewählt, eine noch geringere Zahl erfährt die Übermittlung an eine neue Generation, geht also in das ein, was Kulturwissenschaftler in Weiterentwicklung der in der Durkheim-Schule entwickelten Theorie des sozialen und kollektiven Gedächtnisses (Halbwachs 1967) als »kulturelles Gedächtnis« (Assmann 1992) bezeichnen. Csíkszentmihályi (1994: 166) bietet etwa die Schätzung an, dass nicht mehr als eine einzige von rund 10.000 produzierten künstlerischen Arbeiten für die nächste Generation konserviert wird, d.h. im Rahmen der individuellen und gesellschaftlichen Exklusionsprozesses überlebt. Die Anteile neuer Meme, die ausgewählt und gespeichert werden, sind gemäß der Theorie eine Funktion sowohl der Knappheit der Aufmerksamkeit, als auch der sozialen Organisation der Auswahl. Um dauerhaft zu überleben, muss ein Mem das Bewusstsein zumindest einiger Menschen berühren. Die Übermittlung von kultureller Information über die Zeit erfordert ein hohes Maß an Investitionen in Aufmerksamkeit, was auch die Verwendung der Metapher von einer »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck 1998) nahe legt. Sie wiederum bedarf institutioneller Unterstützung durch Institutionen wie etwa Schulen, Universitäten oder Museen – Instanzen, denen aus der Perspektive von Bourdieu u. a. die Funktion der Legitimierung zukommt, aber auch der 19

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Auferlegung von Klassifikationen und Klassifikationssystemen.

3. Hoch- und populärkulturelle Felder Domänen wie Kunst und Wissenschaft zeichnen sich aus der berücksichtigten systemtheoretischen Perspektive dadurch aus, dass für die Selektion von (im weiten Sinn verstandenen) Artefakten in ihren Kontexten das Expertenurteil – Peer Review – von zentraler Bedeutung ist: »[...] in other fields like science and art a consensus of experts decides whether an artifact is really new.« (Csíkszentmihályi 1994b: 168) In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Autonomie von Feldern, wie Csíkszentmihályi am Beispiel des von ihm nicht zufällig als »ästhetisches Feld« und nicht als »künstlerisches Feld« (Bourdieu) bezeichneten sozialen Systems verdeutlicht. Für Bourdieu ist diese Frage von entscheidender Bedeutung, betrachtet er die Felder der kulturellen Produktion doch primär unter dem leitenden Gesichtspunkt der Herausbildung und Gefährdung jener Autonomie, welche sie erst zur Produktion des Universellen ermächtigt. Er hält die Kontrolle der »schöpferischen« Produktion durch jenes »alter ego« für entscheidend, das man in Wissenschaft und Kunst bei anderen Wissenschaftlern bzw. Künstlern findet: »The absolute autonomy of the ›creator‹ is affirmed, as is his claim to recognize as recipient of his art none but an alter ego – another ›creator‹ – whose understanding of works of art presupposes an identical ›creative‹ disposition.« (Bourdieu 1993a: 114) Diese Autonomie erscheint insbesondere durch die herrschenden Herrschenden in den Machtfeldern von Wirtschaft und Politik bedroht, unterstützt durch heteronome Produzenten, welche in den Feldern der kulturellen Produktion selbst als Brückenköpfe für Interpenetrations- und Invasionsprozesse fungieren sowie durch das »Metafeld« der Medien, das in seiner Heteronomie durch den Siegeszug von TV und Internet noch verstärkt, mit seiner Quotenlogik alle übrigen Felder der kulturellen Produktion noch in diese Richtung transformiert (Bourdieu 1996; Couldry 2003; Benson/ Neveu 2005). Auch der Systemtheorie ist das Problem des Eindringens des Machtfeldes nicht fremd, wobei sie allerdings zu dessen Euphemisierung tendiert. So verlegt sie ihre Beispiele für Übergriffe des Machtfeldes im Gegensatz zu Bourdieu (1989, 2001a), der seit Ende der 1980er Jahre die zunehmende Heteronomisierung der Felder kultureller Produktion – z.B. vermittels Sponsoring durch Agenten des ökonomischen Feldes, Übernahme von Modellen

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des ökonomischen Feldes, ästhetischen Populismus, d.h. Orientierung am Publikumsgeschmack und Zurückdrängung staatlicher Unterstützung (Bourdieu/ Haacke 1994; Bourdieu 2001b) – als frühzeitig ausgemachtes Element der »neoliberalen Invasion« offensiv attackierte, historisch weit zurück, und zwar in die Renaissance. Dies ist die Ära, in der die Autonomisierung des künstlerischen Feldes Bourdieu zufolge erst in ihren Anfängen stand. Zugleich wird das, was in Bourdieus Feldtheorie als ein ökonomisches bzw. religiöses Partikularinteresse erscheint, zu einem Interesse des Gesamtsystems verklärt: »Every field needs a certain degree of autonomy in order to make its assessments purely in terms of excellence within the domain instead of extraneous considerations. […] Occasionally fields become extensions of economic power, responsible to society at large rather than to the domain. For instance, the work of the Renaissance artists were not evaluated by a separate aesthetic field, but had to pass muster from ecclesial authorities. When Carvaggio painted his vigorously original portrait of St. Matthew in a relaxed pose, it was not accepted by the prior of the church that had commissioned it because it looked too unsaintly.« (Csíkszentmihályi 1999: 325f.) Csíkszentmihályi hält letztlich vor allem den Grad der »Kodifizierung« einer Domäne entscheidend für den Grad der Autonomie eines Feldes. Vom Grad der Kodifizierung der Domäne ist wiederum das Volumen der involvierten Gatekeeper abhängig, aber auch die Entscheidungsmacht dieses »spezialisierten Feldes« von Entscheidungsträgern im Vergleich zu den Laien: »When the domain is arcane and highly codified, like in Assyriology and molecular biology then the decision as to which meme is worth accepting will be made by a relatively small field that is committed to following the traditions and rules of the domain.« (Csíkszentmihályi 1999: 326) – Ganz anders in zugänglichen populärkulturellen Domänen: »On the other hand, in the domains of movies or popular music, which are much more accessible to the general public, the specialized field is notoriously unable to enforce a decision as to which works will be creative.« (Csíkszentmihályi 1999: 326) Auf der Grundlage dieser am Grad der Kodifizierung von Domänen ansetzenden Betrachtung lässt sich eine Typologie von Feldern generieren, die am Verhältnis des Gewichts von zwei Gruppen orientiert ist, nämlich den Spezialisten und den Laien. Zunächst gibt es Felder, die sich ausschließlich aus Spezialisten zusammensetzen, wofür die Naturwissenschaften oder esoterische Geisteswissenschaften als Beispiele dienen mögen. Der polare Typus wird exemplifiziert durch die an Populärkulturen angelagerten Felder. Sie zeichnen sich durch die Entscheidungsmacht aus, über welche das breite Publikum im Vergleich zu Spezialisten bzw. Produzenten verfügt. Der im ökonomischen Feld gängige Begriff der Qualität etwa folgt diesem Kriterium (Bröckling 2007) ebenso wie der Kunstbegriff von Ökonomen: »Normaler21

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weise definieren Künstler und andere Insider, was als Kunst zu gelten hat, während man von Laien erwartet, dass sie diese Definition anerkennen. […] Demgegenüber vertreten Ökonomen die Ansicht, dass die Individuen selbst entscheiden sollen, was sie für ›Kunst‹ halten wollen. [...] Die Frage ›Was ist Kunst?‹ lässt sich unter Berufung auf die Wünsche des Publikums beantworten.« (Pommerehne/ Frey 1993: 7) Dies entspricht der Rolle des »öffentlichen Geschmacks«, die Csíkszentmihályi Feldern von populärkulturellen Domänen sowie Massenmärkten zuschreibt: »For mass market products [...] the field might include not only the small coterie of product developers and critics, but the public at large.« (Csíkszentmihályi 1999: 324) Schließlich sind jene Felder zu berücksichtigen, in denen Spezialisten eine wichtige Rolle spielen, ein allgemeines Publikum über die Akzeptanz von Neuerungen jedoch partiell mitentscheiden kann. Darunter fällt die Bildende Kunst, von der Thomas S. Kuhn (1978: 451) bemerkte, dass ihr einziger relevanter Unterschied zu den Wissenschaften darin zu sehen sei, dass sie sich nicht nur an andere Produzenten richtet, sondern auch ein »Publikum«. Auf eine Zuordenbarkeit des Feldes der Bildenden Kunst zu diesem Typus deutet bereits das für das Subfeld der zeitgenössischen Kunst veranschlagte mittlere Volumen hin: »It has been said that in the United States 10.000 people in Manhattan constitute the field of modern art. They decide which new paintings or sculptures deserve to be seen, bought, included in collections – and therefore added to the domain.« (Csíkszentmihályi 1999: 316) Aber auch der Umstand, dass ein Teil des allgemeinen Publikums als Käufer, Sammler und Mäzene von Kunst in Erscheinung tritt, worüber sich Künstler ganz oder teilweise reproduzieren, ist von Bedeutung. Das vorgeschlagene Kriterium alleine reicht jedoch zu einer soziologischen Unterscheidung von Hoch- und Populärkultur genauso wenig aus wie Bourdieus Differenzierung von eingeschränkter und erweiterter Produktion, sofern es nicht weiter spezifiziert wird. In der Unterscheidung dieser zwei Typen von Produktion kann man ein Äquivalent zur Abgrenzung von Domänen mit hoher und niedriger Spezialisierung (Experten vs. Laien) bzw. Inklusivität (kleine vs. große Zahl) der maßgeblich an Valorisierungs- und Selektionsprozessen Beteiligten sehen. Dieses Problem lässt sich am Beispiel der »ästhetisierten Form des Vandalismus«, als die sich Graffiti Writing darstellt, greifen: »Graffiti writing, particularly tagging – or ›bombing‹ – fits very well the idea of destruction as a form of creativity, an ›anti-art‹. Despite all of its destructive tendencies, tagging is a highly aestheticised form of vandalism. [...] The problem for the external viewer is that aesthetic codes exist in such an internalised language that the main group of people who can fully appreciate it are other graffiti writers.«

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Ulf Wuggenig (Lewisohn 2008: 19)

Folgt man dieser Beschreibung, dann erscheint Graffiti Writing als eine Produktion für Produzenten – und stellt damit eine Form von eingeschränkter Produktion im Sinne Bourdieus (1971b) dar. Als kulturelle Praxis ist sie zudem bis in Details kodifiziert, ihre Techniken werden zum Teil im schulischen Unterricht vermittelt. (Schneider 2003) Der »ästhetische Wert« von Tags wird darüber hinaus nicht von Urteilen eines breiten Publikums bestimmt, welches diese Zeichen etwa nolens volens an und in Zügen wahrnimmt, sondern vielmehr weitgehend von anderen Produzenten. All dies sind Merkmale einer relativ autonomen, vom Urteil von Peers geprägten, nicht vom gesellschaftlichen Machtfeld, von Wirtschaft oder Politik gesteuerten kulturellen Produktion. Selektion, Transmission und Konservierung der Zeichen werden von einer kleinen Gruppe kontrolliert. Weder ist das Spezialisierungskriterium, noch das Autonomiekriterium, noch sind beide zusammen hinreichend, um eine Domäne bzw. ein Feld der Hoch- oder Populärkultur zuordnen zu können. Eine andere Möglichkeit der Klassifikation ergibt sich aus Bourdieus (1993: 37ff.) Modell der Felder kultureller Produktion. Es berücksichtigt nicht nur auf der Ebene der Produzenten, sondern auch auf derjenigen der Konsumenten, das Kapital, auf welches diese sich stützen können wie auch die Instanzen der Legitimierung und Übermittlung von Regeln, Konventionen und Techniken. Avantgardistische Produzenten verfügen über ein hohes spezifisches kulturelles Kapital; ihre Produktion folgt zwar nicht der Nachfrage, fasst jedoch durchaus bestimmte Zielgruppen ins Auge. Die kulturelle Produktion ist gemäß Bourdieu zwar grundsätzlich »von der Produktionsweise her zu erklären, aus der Handlungslogik der Schaffenden«. Dies impliziert jedoch auch »beim Autor Vorannahmen eines potentiellen Zielpublikums« im Sinne »einer Art Homologie zwischen dem Feld der ästhetischen Produktion und dem der Publikumsrezeption« (Jurt 2010: 313). Außerdem sind für die avantgardistische Produktion Legitimations- und Vermittlungsinstanzen mit hohem symbolischen Kapital verfügbar wie Kunsthochschule, Akademie, Kunstkritik und Museum. Grundsätzlich geht Bourdieu davon aus, dass die avantgardistische künstlerische Produktion sich an Fraktionen des Machtfeldes orientiert, insbesondere an den beherrschten Herrschenden in der linken oberen Region des sozialen Raumes, wobei sich die »soziale Kunst« auf Grund der Homologie der Position der Produzenten als beherrschte Herrschende mit den eigentlich Beherrschten und negativ Privilegierten sekundär auch an diese richten kann. »Bürgerliche Kunst« adressiert gleichfalls ein Publikum im Machtfeld, und zwar die Fraktionen im Zentrum und in der oberen rechten Region des Fel23

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des, auf dessen an Eskapismus und Verneinung des Sozialen orientierter Nachfrage sie gewöhnlich reagiert. Landschaftsmalerei ist z.B. das beliebteste Genre in bürgerlichen Kreisen (Halle 1993). Die heteronome »industrielle« Kunst, ein älterer Term als der verwandte der »Kulturindustrie«, wiederum spricht primär die Geschmackskulturen der mittleren und der populären Klassen an. Bei der an diese Klassen gerichteten kulturellen Produktion handelt es sich um semilegitime und illegitime Künste, die Sphäre der Populär- und Massenkultur bzw. der auf den Effekt zielenden Kulturindustrie, die sich jedoch ebenso auf die bürgerliche Kultur erstreckt. Auch die bürgerliche bzw. intellektuelle Kunst kann im Laufe der Zeit vermittels von »Trickle-DownProzessen« einer Banalisierung unterliegen und damit ohne weiteres auf den Status zumindest der mittleren Kultur absinken. Der Status von Kultur im differenzierungstheoretischen Sinn (Reckwitz 2000: 79ff.) lässt sich u.a. über folgende Arten ihrer sozialen Konnotationen bestimmen: Soziale Herkunft und Ausbildungswege der Produzenten, Art der Konsekrations- und Übermittlungsinstanzen sowie soziale Position und Herkunft der Konsumenten. Die Herkunft der Graffiti-Writer aus der sozialen Peripherie wurde oftmals beschrieben, wobei im Laufe der Zeit die Rekrutierung der Writer aus den mittleren Klassen hinzukam. Während Akademien und Universitäten als Konsekrations- und Vermittlungsinstanzen weitgehend ausfallen, wird Graffiti Writing durchaus an manchen Schulen unterrichtet (Schneider 2003). Nicht-naive Konsumenten finden sich einerseits unter Writern, andererseits vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen insbesondere der unteren und mittleren Klassen, die in die Hip-Hop-Subkultur eingebunden sind. Als Differenz zwischen Graffiti und Street Art wird etwa von Lewisohn (2008) hervorgehoben, dass ein Kunst- oder Designstudium bei GraffitiWritern selten ist, während sich Street-Art-Produzenten oftmals über Ausbildungen an Design-Hochschulen und marginaleren Kunsthochschulen rekrutieren. Obwohl weibliche Produzenten für die Männlichkeitsrituale der Graffiti-Subkultur eher störend sind und Frauen ungeachtet einer Figur wie Lady Pink überaus selten als Writer in Erscheinung treten (McDonald 2003), liegt der Anteil weiblicher Street Art Künstler immerhin bei rund 20-30% der Produzenten. Kunstakademien zeigen allerdings kein Interesse an Street Art, selbst an manchen Fachhochschulen wird diesem Künstlertypus der Zugang bewusst verwehrt. Das Publikum der Street Art reicht weit in die Mittelklassen hinein und erstreckt sich auch auf Celebrities besonders der darstellenden Künste. Street Art stellt jedoch im Gegensatz zu Graffiti alles andere als ein einheitliches Genre dar (Lewisohn 2008; Lorenz 2009). Zu nennen sind vor allem die Gegensätze von Legalität und Illegalität, politischem Aktivismus und politischer Indifferenz sowie Selbstreferentialität und breiter Zugänglichkeit. 24

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Den im öffentlichen Raum illegal platzierten Zeichen stehen legal hergestellte oder zumindest in legalisierten Bahnen vertriebene Graphiken, Drucke und Objekte gegenüber, die über Websites und Galerien, über eBay und bisweilen auch über die im Kunst- und Antiquitätengeschäft aktiven Auktionshäuser angeboten werden. Im Vergleich zu Graffiti Writing bedient sich Street Art, insbesondere in seiner auf Galerien und Auktionshäuser zielenden Spielart der »Urban Art«, einer Vielfalt künstlerischer Materialien, Medien und Strategien. Sie greift auf den direkten Farbauftrag und die großflächige Bemalung von Wänden genauso zurück wie auf Schablonen, Plakate, Siebdrucke, Aufkleber, Cut Outs oder Scherenschnitte. Auch Anleihen in der Geschichte der Kunst spielen eine gewisse Rolle. So geht etwa der Plakatabriss auf die Décollage der Nouveaux Réalistes (z.B. Raymond Hains, Jaques Villeglé) aus den 1960er Jahren zurück. Neben einer ornamentalen Strömung, die sich um die Verschönerung des Stadtraums mit teils niedlichen, teils cartoonartigen Bildern, die Phantasiegeschichten erzählen, bemüht, kennt Street Art auch einen konsum- und kapitalismuskritischen Flügel. Er arbeitet mit Strategien der ironischen Verfremdung, mit Überklebung, Übermalung, Fälschung, Nachahmung und dem visuellen Kidnapping korporativer bzw. kommerzieller Codes, sodass sich fließende Übergänge zu Culture Jamming, Adbusting und Subvertising erkennen lassen (Lasn 2005). Andererseits ist die Verankerung dieser Kunst in Feldern der visuellen Kultur wie Design, Mode oder selbst Werbung nicht zu übersehen. Dieser Umstand sichert zwar ihre mediale Präsenz, hält sie aber auch auf Abstand zur Welt der autonomen Kunst, in der sowohl angewandte, als auch schwach kodierte »soziale« Kunst verpönt sind. Auf die kommerziellen Spielarten von Street Art und Graffiti wurde bereits hingewiesen. Angesichts des nach wie vor existenten Anti-Ökonomismus im künstlerischen Feld trägt dieser Flügel dazu bei, die Akzeptanz der gesamten Street Art im Feld der Galerienkunst niedrig zu halten, insbesondere im Subfeld der diskursiv orientierten Kunst. Diese Heterogenität macht es schwierig, Street Art aus soziologischer Perspektive als ein Subfeld des künstlerischen Feldes zu klassifizieren und zu behandeln, da auf diese Weise den internen Differenzen kaum Rechnung getragen werden kann. Ähnlich wie im Falle von populärer Musik (Hesmondalgh 2006) scheint es deshalb sinnvoller, Street Art als ein Feld kultureller Produktion sui generis aufzufassen, das seinerseits relativ autonome und heteronome Subfelder kennt. Eine solche Sicht wird auch von einer Reihe ihrer Protagonisten nahegelegt, wie etwa von Steve Lazarides, als Galerist und ehemaliger Manager von Banksy eine der zentralen Figuren dieses Feldes, gleichgültig, ob im psychologischen oder soziologischen Sinn verstanden. Dem populären Impetus des gesamten Feldes folgend, gebraucht 25

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er in Zusammenhang mit der Produktion, die er als Galerist vertritt, gerne die Formel einer »Kunst von Menschen für Menschen« (Lazarides 2009a: 96). Sie wird aus seiner Sicht in einer »Kunstwelt« eigener Art hergestellt, die als eine Parallelwelt neben dem hegemonialen Kunst-Kunstfeld anzusehen ist: »Ich hatte nie eine traditionelle Ausbildung in der Kunstwelt, ich habe keinen Abschluss oder ähnliches. Alle meine Künstler sind Außenseiter. Du hast zwei Kunstwelten, die Seite an Seite funktionieren, unsere Kunstwelt und ihre Kunstwelt.« (Lazarides 2009a: 96) Man könnte einer solchen ZweiWelten-These ohne weiteres zustimmen, wenn sie nicht die Existenz weiterer Kunstfelder ignorieren würde, wie etwa die der angewandten Kunst, oder der »Volkskunst«, mit denen es an verschiedenen Punkten gleichfalls gewisse Überschneidungen gibt. Herbert Gans verdanken wir folgende einfache Charakterisierung der populären Künste aus soziologischer Sicht: »Die populären Künste sind, alles in allem, nutzerorientiert und existieren, um Werte und Wünsche des Publikums zu befriedigen.« (Gans 1998: 76) Unter Anlegung dieses Kriteriums liegt es nahe, die Street-Art-Parallelwelt als »populärkulturelles Feld« einzustufen. In der Zugänglichkeit für die »vorikonographische« Rezeptionsebene des Phänomensinns der Alltagserfahrung sehen Hauptvertreter der Street Art gerne distinktive Merkmale ihres Genres, auch wenn sie dies nicht in einer kunsthistorischen Sprache zum Ausdruck bringen. Blek Le Rat, von der Ausbildung her Architekt wie Adolf Loos, in den 1980er Jahren jedoch bekannt geworden als einer der Reanimateure der Schablonen-Graffiti mit politischem Anspruch, wie sie für die Street Art charakteristisch wurden, stuft diese künstlerische Strömung, für die er den Ausdruck »Urban Art« bevorzugt, deshalb als das »Andere« der konzeptuellen Kunst ein (Römer 2006). Zugleich spricht aus seinen Äußerungen der mit Street bzw. Urban Art verbundene inklusive Anspruch, ihr populistischer Impuls: »Konzeptuelle Kunst wird für Personen gemacht, die mit Philosophie und Kunstgeschichte vertraut sind. Sie wird immer exklusiv sein. Was wir hingegen tun, lässt sich als Niederreißen von Mauern beschreiben.« (Blek Le Rat 2008). In ähnlicher Weise äußert sich Shepard Fairey (2006), weithin bekannt über seine Aufkleberkampagne »André the Giant Has a Posse«, aber auch mit seinen Wahlkampfplakaten für Obama (»Hope«): »Was ich immer wichtig an meiner Kunst fand, ist, dass sie zugänglich und populistisch ist.« Nichts liegt der Street-Art ferner als die für einen bestimmten Typus von Avantgardekunst maßgebliche Leitlinie, mit »allen Codes zu brechen, angefangen natürlich mit dem Code des alltäglichen Lebens.« (Bourdieu 2006: 77) Mit der Street Art erlebte vielmehr die Vorstellung einer »Öffnung zu den Massen«, d.h. zu den unteren und mittleren Klassen, erneut ein Revival. In einer Ausstellung im Wiener Museumsquartier vom Sommer 2010 wurde Street Art deshalb kon26

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sequenterweise als Verwirklichung von kulturpolitischen Ideen aus den 1970er Jahren gefeiert – »Kultur für alle« bzw. »Kultur von allen«, wie es zu dieser Zeit hieß. Von Bourdieu wird dieser Populismus professioneller Kulturproduzenten, dieser »höchst demokratische Mantel einer Öffnung ›zu den Massen‹ (der verschwommenen und euphemistischen Bezeichnung der beherrschten Klassen)« auch als eine Strategie derjenigen identifiziert, »die innerhalb eines spezialisierten Feldes eine beherrschte Position einnehmen« (Bourdieu/ Delsaut 1975: 173). Vielleicht könnte man es auch folgendermaßen betrachten. Im Zuge der kulturellen Evolution wurden zwar die Übergänge zwischen den verschiedenen Feldern der kulturellen Produktion fließender, zugleich vergrößerte sich aber der Abstand zwischen Hoch- und Populärkultur (Franck 1998: 160). Street Art lässt sich nicht zuletzt als eine Antwort auf die Komplexitätssteigerung der diskursiv orientierten zeitgenössischen Kunst interpretieren, auf ihre Unzugänglichkeit, sofern kein spezifisches kulturelles Kapital vorliegt, aber auch auf ihre weitgehende finanzielle Unerschwinglichkeit. Street Art ist in ästhetischer wie in finanzieller Hinsicht zugängliche Kunst. Führende Künstler dieses Feldes treten nicht durch Verkaufsrekorde am Kunstmarkt hervor, sondern durch ihre außerordentliche mediale Präsenz, durch ihre Sichtbarkeit in der »Ökonomie der Aufmerksamkeit«, die sich auch auf die visuelle Zugänglichkeit der Arbeiten zurückzuführen lässt. Was mediale Sichtbarkeit betrifft müssen Künstler wie Banksy, Os Gêmeos oder Shepard Fairey den Vergleich mit führenden Künstlern des hegemonialen hochkulturellen bzw. intellektuellen Kunstfeldes nicht scheuen (Wuggenig 2009). Unter den Künstlern des 20. Jahrhunderts sind lediglich Warhol, Dalí und Picasso im Internet heute noch häufiger vertreten als Banksy, für den sich Anfang 2011 rund 3,9 Millionen Ergebnisse in Google ergaben, während konzeptuelle Künstler mit hohem symbolischen Kapital im Kunstfeld wie Joseph Kosuth mit rund 75.9 Tausend, Lawrence Weiner mit 88.6 Tausend oder Sol Lewitt mit 235 Tausend nur eine vergleichsweise schwache massenmediale Präsenz zeigen. Selbst Kunst-Künstler, die durchaus auch auf mediale Effekte zielen, wie Jeff Koons oder Damien Hirst liegen mit rund 759 Tausend bzw. rund 853 Tausend deutlich hinter dieser Symbolfigur der Street Art zurück. Insofern lässt sich in Zusammenhang mit Street und Urban Art nicht nur von einer »Tätowierung« von Städten sprechen, sondern auch von einer neuen populärkulturellen Medienkunst, abgestützt vor allem durch das Internet und eine Massenbasis, über welches das von intellektueller und bürgerlicher Kunst geprägte künstlerische Feld nicht verfügt. Während Bourdieu in Zusammenhang mit der Autonomisierung des Feldes der Kunst und der Neuerung des Impressionismus im 19. Jahrhundert insbesondere auf Manet verwies, lenkte Harrison C. White die Aufmerksam27

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keit auf die Rolle des Galeristen Durand-Ruel, der als Drehscheibe für die Schaffung einer Nachfrage am Markt fungierte – neben einigen Künstlern aus den oberen Klassen, die ihr kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital einsetzten, insbesondere Gustave Caillebotte und Mary Cassatt, wie zu ergänzen ist (Wuggenig 2007). Hätte White (1993), der hinsichtlich der sozialen Logik von Innovationsprozessen im Gegensatz zu Bourdieu keinen Unterschied zwischen hoch- und populärkulturellen Feldern macht, sich mit Street Art beschäftigt, würde er wahrscheinlich in ähnlicher Weise auf die Rolle unternehmerischer Protagonisten des Feldes verweisen. Steve Lazarides kann als eine Art Durand-Ruel der Street Art gelten. Er selbst gibt Hinweise auf Modelle, welche den Aufschwung der Street Art nach ihrer langen Inkubationsphase herbeiführten. Vor allem über »screen prints« in begrenzter Auflage, erschwingliche, signierte Editionen, die über eine eigene Website – Pictures on Walls (POW) (http://www.picturesonwalls.com/) – vertrieben wurden, konnten jene Schwellen und Schwellenängste gegenüber Kunst ausgeräumt werden, auf welche Interessenten im relativ autonomen künstlerischen Feld typischerweise stoßen: »Es ging Ende der Neunziger los, als wir anfingen, Siebdrucke für 30 Pfund zu verkaufen. Leute gehen ins Museum, aber nicht in Privatgalerien. Wir wurden zu einer Art Museum für sie. Die Leute kamen, um sich Sachen anzusehen, sie konnten Kunst für 30 Pfund kaufen und mit nach Hause nehmen. Damit gehörten sie dazu. Und dann stieg auch die Presse ein, weil es die Leute zu interessieren begann.« (Lazarides, nach Leitch 2009)

Dickens (2010) beschreibt diese neuen Produktions- und Geschäftsmodelle, die Versuche, sie im heterogenen Feld der Street Art, das auch antiökonomistische und anti-kapitalistische Subfelder umfasst, politisch zu legitimieren und gegenüber dem bald erhobenen »Ausverkauf«-Vorwurf zu verteidigen. Nicht unerwähnt bleibt zudem der neue obsessive Typus des den mittleren Klassen zuzurechnenden »Street Art Sammlers« als Basis dieses neuen Marktes symbolischer Güter. Abgesehen von der nicht geringen Zahl erwachsen gewordener Vertreter der Graffiti- und Hip-Hop-Jugendkulturen werden als Käufer insbesondere Repräsentanten der Creative Industries genannt, Vertreter eines neuen Kleinbürgertums, in ihrem Begehren animiert von medial kommunizierten Street-Art-Aneignungen durch Celebrities wie Christina Aguilera, Angelina Jolie oder Brad Pitt oder aus den Feldern des Films und der populären Musik, die sich durch ein ansehnliches ökonomisches Kapital, vor allem aber eine mediale Aufmerksamkeit und Prominenz auszeichnen, welche diejenige sämtlicher Galerienkünstler und Street Artists weit übertrifft. 28

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4. Differenzierung und Integration Das systemtheoretische Modell definiert Evolution als »zunehmende Komplexität über die Zeit« (Csíkszentmihályi 1999: 320). Sie erhält Unterstützung durch zwei komplementäre Prozesse – »Differenzierung« und »Integration«. Eine Kultur gewinnt in dem Maße an Differenzierung, in dem die Zahl unterschiedlicher Domänen wächst, die Autonomie gewinnen. Ihre Integration ist von den Interdependenzen zwischen den Domänen abhängig. Domänen zeichnen sich durch differenzielle Zugänglichkeit aus und sie heben sich schließlich auch im Grad der Autonomie, den sie gegenüber Politik und anderen Sphären der Kultur, wie etwa der Religion, behaupten können, voneinander ab. In diesem Zusammenhang sind Parallelen zu Bourdieus Feldtheorie offensichtlich, wenngleich auf jede Anwendung mit kritischer Intention gegenüber gegenwärtigen Tendenzen verzichtet wird. Stellt die Idee der Autonomie eine Parallele zwischen beiden Paradigmen dar, so fehlen dem systemtheoretischen Zugang alle strukturalistischen Homologieannahmen. Bereits in den frühen Arbeiten Bourdieus, die den Feldern der kulturellen Produktion gewidmet sind, wird unterstrichen, dass die Erklärung der spezifischen Eigenschaften einer Klasse von künstlerischen Werken auf die spezielle Form der Beziehung zu rekurrieren hat, die objektiv zwischen der Fraktion von Künstlern und Intellektuellen in ihrer Gesamtheit und den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen besteht, welche das Machtfeld konstituieren (Bourdieu 1971a). Aus einer dieser Homologien ergibt sich eine Wurzel für den (ästhetischen) Populismus unter Kulturproduzenten. Er findet seinen Ausdruck in der Solidarität von »beherrschten Herrschenden« mit den eigentlich negativ Privilegierten oder den Außenseitern im Feld der sozialen Klassen. Wie gezeigt wurde, lässt sich diese Tendenz bei führenden Vertretern der Street Art, wie Shepard Fairey oder Blek Le Rat, in einer geradezu idealtypischen Weise erkennen. Über die strukturellen Grundlagen solcher Allianzen von Kulturproduzenten und negativ Privilegierten schreibt Bourdieu: »The field of cultural production produces its most important effects through the play of the homologies between the fundamental oppositions which gives the field its structure and the oppositions structuring the field of power and the field of class relations. These homologies may give rise to ideological effects which are produced automatically whenever oppositions at different levels are superimposed or merged. They are also the basis of partial alliances: the struggles within the field of power are never entirely independent of the struggle between the dominated classes and the dominant class. […] Such alliances, based on homologies of position combined with profound differences in condition, are not exempt from misun-

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Kunst-Kunst, Street Art, Kreativität derstandings and even bad faith.« (Bourdieu 1993a: 44)

Diese und weitere Homologien werden unter Berücksichtigung der Homologien zwischen Produzenten und Konsumenten im Rahmen von komplexen Modellen spezifiziert, welche nicht zuletzt der Erklärung der Variation der symbolischen Produktion dienen. Wird unter »Differenzierung« im systemtheoretischen Modell verstanden, dass sich in zunehmendem Maße unabhängige und autonome Domänen entwickeln, so verweist der Begriff der »Integration« schließlich auf die Vorstellung, dass die Domänen, aus welchen eine Kultur wesentlich besteht, aufeinander bezogen sind und wechselseitig ihre Ziele unterstützen, ähnlich wie dies bei Organen eines Körpers der Fall ist. Eine vergleichbare konsenstheoretische, funktionalistische Annahme ist der konflikttheoretisch angelegten und sich insofern auch von der Systemtheorie in Durkheim‘scher und Parsons‘scher Tradition abhebenden Bourdieu‘schen Feldtheorie fremd. Sie kennt den Begriff der Konvergenz (Benson 1999), aber nicht den der Integration von Feldern. »Konvergenz« meint eine Zunahme von Homologie, gemessen am Grad, in dem einzelne Felder um die gleichen relativen Proportionen von kulturellem und ökonomischem Kapital strukturiert sind. Außerdem wird Konvergenz durch Transversalität von Agenten, die von einem Feld in ein anderes und wieder zurück wechseln, erhöht – ein Phänomen, das in der Literatur teilweise unter dem Stichwort des »Cross-Over« behandelt wird. Es fand Aufmerksamkeit im Hinblick auf Überschneidungen von (Bourdieu‘schen) Feldern wie Kunst und Mode (Graw 2008), Street Art und Design (Roth 2005; Kataras 2006) oder Kunst und Street Art (Lewisohn 2008; Wuggenig 2009). Was letztere Konvergenz betrifft, ist etwa auf Street-ArtKünstler zu verweisen, die mit Erfolg »drinnen und draußen« arbeiten, was sich auch in doppelten Namen und Identitäten manifestiert, wie etwa bei Barry McGee (Twist), Todd James (REAS) oder Stephen Powers (ESPO), oder in relativ erfolgreichen Karrieren im Galerienfeld wie bei Os Gêmeos, Blu, Influenza, Lady Pink oder Swoon. Zum anderen gibt es Galerienkünstler mit hoher Sichtbarkeit und Anerkennung im Feld der Kunst-Kunst wie Jenny Holzer, Jean-Michel Basquiat oder Keith Haring, die im Feld der Street Art über ein hohes Ansehen verfügen, nicht zuletzt auf Grund eines Cross-Overs mit dem Graffiti-Feld in frühen Phasen ihrer Laufbahnen. Angewandt auf die Symbolsysteme von Graffiti und Street Art lässt sich schließen, dass diese Domänen in dem Maße die kulturelle Differenzierung und Evolution voranbringen, in dem sie an Autonomie gewinnen. Zur Integration wiederum tragen sie in Form von Konvergenz und Cross-OverTendenzen bei. Verschiedene Systemtheorien erklären den Prozess der Differenzierung auf unterschiedliche Weise, wobei neodarwinistische Erklärungs30

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muster nicht selten sind. Diesen Theorien ist jedoch ein wesentliches Erklärungsmoment der Bourdieu‘schen Feldtheorie eher fremd. Die Differenzierung weist aus dieser Perspektive insofern ein emanzipatorisches Moment auf, als es sich bei der Autonomisierung von Feldern der kulturellen Produktion um Versuche handelt, den Freiheitsspielraum gegenüber den herrschenden Herrschenden, sei es im Machtfeld, sei es in einem etablierten Feld der kulturellen Produktion, zu erobern oder zu erweitern. Selbst wenn man der Street Art auf der Ebene der visuellen Produktion vielleicht wenig abzugewinnen vermag, kann man ihrem relativ autonomen Flügel aus soziologischer Sicht diesen emanzipatorischen Impetus zugutehalten.

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