Wo vermutet der Westdeutsche die sächsische Sprachlandschaft? Zur Verortung von Regionalsprache durch linguistische Laien

June 22, 2017 | Author: Alfred Lameli | Category: Sociolinguistics, German Language
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Wo vermutet der Westdeutsche die sächsische Sprachlandschaft? Zur Verortung von Regionalsprache durch linguistische Laien Alfred Lameli

1. Einleitung1

Wo vermutet der Westdeutsche die = Lameli, Lameli, Alfred Alfred(2012): (im Druck): Wo vermutet der Westdeutsche die sächsische Sprachlandschaft? Zur Verortung von Regionalsprache sächsische Sprachlandschaft? Zur Verortung von Regionalsprache durch linguistische Rainer /Jakob, Karlheinz durch linguistische Laien. Laien.In: In:Hünecke, Jakob, Karlheinz / Hünecke, Reiner (Hrsg.): Die obersächsische Sprachlandschaft in Geschichte undund (Hrsg.): Die obersächsische Sprachlandschaft in Geschichte Gegenwart. Heidelberg: Heidelberg: Winter. Winter. S. 95-142 Gegenwart.

In den vergangenen Jahren sind verschiedene Arbeiten entstanden, die der Lokalisation von Regionalsprachen gewidmet sind. Dabei ist auch das Sächsische in den Blick geraten, so wohl am umfassendsten in der Arbeit von Anders (2010), die die sprachräumlichen Vorstellungen ostmitteldeutscher Informanten offen legt. Eine Studie, die dem gegenüber unter Nicht-Ostmitteldeutschen explizit nach dem Ort des Sächsischen fragte, gibt es derzeit nicht. Zwar deuten alle einschlägigen Arbeiten darauf hin, dass das Sächsische zu den bekanntesten Dialekten in Deutschland zählt, wo genau es räumlich konzeptualisiert ist, ist jedoch nicht immer ersichtlich und in gewissem Maße unklar. „Im Osten“, ließe sich aus den Arbeiten ganz allgemein schließen, doch ist auch zu sehen, dass die Forschungslage Anlass zur feineren Differenzierung gibt. Vor diesem Hintergrund kommt der hier gestellten Aufgabe, nämlich den Lokalisationen des Sächsischen durch westdeutsche Informanten nachzuspüren, ein lohnendes Interesse zu. Ein Problem der Analyse von Sprachräumen ist jedoch, dass Sprachräume im Wesentlichen als Abstrakta zu verstehen sind, deren Konzeptualisierung flexibel ist, d. h. einer dynamischen Anpassung an jeweilige Verwendungskontexte unterliegen kann. Werden z. B. Informanten nach einzelnen Sprachräumen befragt, so zeigt sich bisweilen, dass dieselben Informanten je nach Stimulus mit demselben Formativ auf unterschiedliche Denotate referieren (vgl. Purschke 2010, Lameli 2009), inhaltsseitig also Mehrdeutigkeit, nicht selten Vagheit begegnet, die Bedeutung selbst damit in der Regel unterspezifiziert ist. Dennoch ist die geographische Komponente im Rahmen der Konzeptualisierung von Sprachräumen insofern wesentlich als ihr offensichtlich eine relativ gut fassbare, d. h. intersubjektiv nachvollziehbare Eigenschaft zukommt: Sprachräume lassen sich in Relation zum Ort des eigenen räumlichen Erlebens setzen. Untersuchungen zur Konzeptualisierung von raumgebundener Sprache zeigen jedoch auch, dass die räumliche Komponente – auch wenn sie im Ausdruck „Sprachraum“ elementar wird – nicht ausschließlich sein muss und etwa in komplexen Repräsentations-

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Ich danke allen Teilnehmern der hier vorgeführten Studien. Außerdem danke ich Martina Lameli und Alexander Werth für ihre Unterstützung bei der Erhebung der Daten. Roland Kehrein und Christoph Purschke danke ich für wertvolle kritische Hinweise und eingehende Diskussion.

2 gefügen aus z. B. personenbezogenen oder sprachphänomengebundenen Faktoren auch individuell nachrangig sein kann.2 Der vorliegende Beitrag baut auf dieser räumlichen Komponente auf und zielt am Beispiel des Sächsischen auf eine Konkretisierung. Von den Herausgebern des Bandes wurde dabei qua Titel der Bezug auf die Sichtweise westdeutscher Informanten vorgegeben. Das macht insofern Sinn, als damit von vornherein die individuelle Ebene der Sprachraumkonzeptualisierung angesprochen ist. Freilich ist es in einem solchen Rahmen nicht zu leisten, einen repräsentativen Einblick in die mentale Organisation der Westdeutschen zu bieten. Konsequenterweise konzentriert sich die Untersuchung in ihren empirischen Teilen daher auf Informanten identischer Sprachraumprovenienz.3 Nach einem kurzen Forschungsüberblick in Kapitel 2 wird mit den Kapiteln 3 und 4 das Ergebnis einer Implizit- und einer Explizitbefragung nach dem Ort des Sächsischen präsentiert, der seinerseits mit dem Konzept „Ostdeutsch“ kontrastiert wird. Mit Kapitel 5 werden die Resultate eines Assoziationsexperiments vorgeführt, das im Eigentlichen aufzeigen soll, welcher kognitive Stellenwert der geographischen Komponente überhaupt beigemessen werden kann. In diesem Zusammenhang wird zugleich die Konzeptualisierung des Sächsischen auf einer allgemeineren Ebene zu betrachten sein. Kapitel 6 schließt durch einen stärker theoretisch-semantischen Zugang.

2. Hinführung 2.1

Erste Einblicke

Wie schon erwähnt wurde, liegen zwar keine Studien vor, die explizit die Lokalisierung des Sächsischen durch westdeutsche Informanten behandelten, doch gibt es mehrere Studien, die westdeutsche Sprecher ganz allgemein nach dem Ort deutscher Sprach- bzw. Dialekträume fragen, woraus sich wiederum Erkenntnisse auch über das Sächsische ableiten lassen.4 Aktuell ist die in einem größeren Projektkontext angesiedelte Studie von Hundt (2010), der an sechs ausgewählten Universitätsorten – darunter vier westdeutsche – neben anderen Informationen auch Dialektverortungen von Studienanfängern im Fach Germa2

Dies zeigt sich etwa bei solchen raumgebundenen Varietäten, die Informanten in einschlägigen Experimenten nicht oder nur in mangelnder Übereinstimmung mit der Realität verorten können, obwohl sie die Varietäten aufgrund spezifischer sprachlicher Phänomene konzeptualisieren (vgl. Kehrein in diesem Band). 3 Damit ist zugleich die Hoffnung verbunden, einer ungerechtfertigten Ost-West-Pauschalisierung nicht Nahrung zu geben. 4 Ergänzend ist für eine sprachsoziologische Bewertung des Sächsischen auf die Zensusarbeiten der vergangenen Jahre etwa durch Allensbach hinzuweisen. Aktuell sind die Arbeiten der Projektgruppe ‚Spracheinstellungen‘ des IDS Mannheim (vgl. Eichinger et al. 2009; Gärtig/Plewnia/Rothe im Druck; Plewnia/Rothe 2009).

3 nistik erhebt (Frage 11 des Fragebogens). Seine an die Informanten gestellte Aufgabe besteht darin, „auf der beiliegenden Karte alle bekannten Regionen einzuzeichnen, wo ihrer Meinung nach gleich oder ähnlich gesprochen wird“ (Hundt 2010: 190). Aus Hundts Daten lassen sich für unseren Kontext erste Unterschiede ableiten. So zeigt der Autor u. a. die Kartierungen zweier Erlanger Studierender, die neben anderen Sprachräumen eine Lokalisation ansetzen, die sie jeweils als „Sächsisch“ bezeichnen. Eine Informantin (S. 195, Abbildung 6) setzt das Sächsische im östlichen Grenzraum der BRD an und umgrenzt sehr großräumig auf einer Achse Berlin–Magdeburg–Erfurt bis nördlich Hof am Erzgebirge. Die zweite (S. 191, Abbildung 1) isoliert Dresden und Leipzig aus diesem sächsischen Verband und schließt stattdessen die Region nördlich Neustrelitz bis südlich Rügen ein. Offenbar handelt es sich also geographisch um verschiedene Dinge. Dass sich dahinter nicht unbedingt Wissenslücken, sondern möglicherweise Konzeptdifferenzen verbergen, lässt sich erahnen, wenn die Kartierung einer dritten Erlanger Informantin berücksichtigt wird. Diese (S. 194, Abbildung 5) zeichnet ein Gebiet ein, das beinahe der Schnittmenge der beiden vorgenannten Eintragungen entspricht, jedoch von ihr als „Ostdeutsch“ etikettiert wird. Eine solche konzeptuelle Überlagerung von „Sächsisch“ und „Ostdeutsch“ ist nicht unbekannt. Beispielsweise zitiert Auer aus einer Studienabschlussarbeit, in der bei einigen Informanten eine ähnliche konzeptuelle Überlagerung deutlich wird, die er als Ausdehnung des Obersächsischen „auf das gesamte politische Territorium der DDR“ interpretiert (Auer 2004: 166). Zudem treten bisweilen intergenerationelle Unterschiede zwischen jungen und älteren Informanten zu Tage, so z. B. beim Vergleich einer Gruppe über 60-jähriger Informanten mit einer Gruppe ca. 16-jähriger Informanten aus der Stadt Kassel, die in einer Verortungsaufgabe ihr regionalsprachliches Wissen belegen sollten (Lameli 2009: 137). Während die älteren Informanten dazu neigen, das Sächsische eher kleinräumig anzusetzen, tendieren die jüngeren Informanten zum weiträumigen Einschluss der östlichen Großregion. Diese Ergebnisse lassen auf theoretischer Ebene vermuten, dass zwischen „Ostdeutsch“ und „Sächsisch“ zumindest keine unbedingt konsequente Bedeutungsinklusion in dem Sinne besteht, dass „Sächsisch“ notwendigerweise als Hyponym eines Hyperonyms „Ostdeutsch“ gelten muss. Freilich spielen dabei auch individuelle Verwendungsweisen, d. h. pragmatische Bedingungen eine Rolle, denen bislang noch nicht konzentriert nachgespürt wurde. In allen aufgeführten Beispielen wurden Lokalisationen auf der Grundlage eines mehr oder weniger spontanen regionalsprachlichen Wissens erhoben, das in der Regel lediglich durch die vorgegebene Grundkarte samt Anleitung stimuliert wurde. Eine andere Möglichkeit der Sprachraumlokalisation ergibt sich hingegen über die Verwendung von Sprachproben. Diese erlauben es Kehrein (in diesem Band), auf der Grundlage eines akustischen Verortungstests weitere Facetten des Sächsischen aufzudecken. Im Kern geht es bei seinem Ansatz darum, vorgegebene Sprachproben von Informanten unterschiedlicher Herkunft

4 auf Grundkarten lokalisieren zu lassen. Auf diese Weise kann Kehrein spezifische Sprachphänomene aufzeigen, die in der Konzeptualisierung westdeutscher Hörer leitend sind. Zudem kann gezeigt werden, dass Sprachproben des Sächsischen mit v. a. moselfränkischen Sprachproben und zu großen Teilen auch schwäbischen Sprachproben verwechselt werden. Dieses Ergebnis ist insofern bedeutsam, als es auf die stereotype Wirkung einzelner Dialektmerkmale verweist. Anders ist nicht zu erklären, dass die wenigen sprachlichen Merkmale, die das Sächsische mit dem Moselfränkischen und Schwäbischen teilt, ausreichen, um einen Sprecher als Sachsen zu identifizieren. Der Ort des Sächsischen ist damit in der Vorstellung von Laien der Ort, in dem bestimmte sprachliche Marker – z. B. die Verdumpfung von /a/ und /r/-Vokalisierung oder die Zentralisierung/Entrundung hinterer gerundeter Vokale – wahrzunehmen sind. Dieser Stereotypeneffekt zeigt sich erwartbarerweise auch bei anderen akustisch basierten Untersuchungen, wie etwa bei der schon angeführten Kasseler Studie zum regionalsprachlichen Wissen von Schülern und älteren Erwachsenen (Lameli 2009). Dort wurden den Informanten in einem weiteren Untersuchungskomplex dialektale Sprachproben aus dem Hessischen und den angrenzenden Dialektregionen vorgespielt. Es zeigt sich v. a. bei den jüngeren Informanten zweierlei. Unter denjenigen, die in der Lage waren, eine Verortung der für sie bisweilen nicht verstehbaren Dialektaufnahmen vorzunehmen, wird die thüringische Sprachprobe mehrheitlich, die osthessische Sprachprobe teilweise nach Sachsen verlagert. Ganz offensichtlich sind also auch in diesem Fall nur einzelne dialektale Merkmale des Sächsischen für eine Verortung entscheidend, die mit dem Osthessischen und Thüringischen konform gehen, wie zum Beispiel die Besonderheit der ungerundeten Hinterzungenvokale. Zweitens kartieren die Informanten auf der Grundlage des akustischen Stimulus kleinräumiger, als dies bei einer nicht-akustisch geleiteten Kartieraufgabe der Fall ist (Lameli 2009: 148 f.; vgl. auch Purschke 2008). Auf den ersten Blick zeigt sich demgemäß die Verortung des Sächsischen durch westdeutsche Informanten im Wesentlichen von den bekannten geographischen Relationen, politischen Raumordnungen und sprachphänomengebundenen Erfahrungen abhängig. Ausgehend von einer autozentrischen Erschließung des übergeordneten Sprachraumes (vgl. z. B. Hofer 2004, Karten 12–14) muss außerdem herausgestellt werden, dass bei solchen Experimenten letztlich jeder markierte Raum, der nicht mit dem Raum der eigenen sprachlichen Sozialisation korreliert, einen Kontrast zur eigenen sprachlichen Herkunft markiert.5 „Sächsisch“ ist so gesehen als ein Negativ des eigenen, nicht-sächsischen Sprachraumes erkennbar, unabhängig davon, wie dieser eigene Raum individuell definiert sein mag.

5

Die Schweizer Informanten Hofers operieren diesbezüglich sogar mit den Kategorien „Fremd“ vs. „Gewohnt“ (Hofer 2004, Karte 6).

5 2.2

Theoretisierung

Schon diese ersten Einblicke bieten Erkenntnisse über die Konzeptualisierung des Sächsischen im Besonderen wie über die Konzeptualisierung von Sprachräumen im Allgemeinen. Zum näheren Verständnis der unterliegenden Prozesse solcher Sprachraumverortungen soll an dieser Stelle wenigstens ein kurzer Bezug zu einem Repräsentationsmodell hergestellt werden, das zugleich für die weitere Analyse hilfreich sein kann. Hierfür kommt das prozessorientierte Modell von Kehrein/Lameli/Purschke (2010) in Frage, das in Abbildung 1 aufgeführt ist.

Abbildung 1: Prozessorientiertes Modell der Konzeptualisierung nach Kehrein/Lameli/Purschke (2010: 381)

Ausgangspunkt des Modells ist die Dynamik von Konzeptualisierungen, bei der Gegenstände und Sachverhalte des individuellen Erfahrungsbereichs in mentale Wissenseinheiten überführt werden. Am Beispiel der oben dargebotenen Einblicke lässt sich dies nachvollziehen. Ein Informant, der z. B. die Verortung der sächsischen Sprachlandschaft vornimmt, bezieht sich zunächst auf sein allgemeines Wissen. Er weiß, etwa durch Medien, Reisen oder Bekanntschaften, dass es einen Sprachraum gibt, in dem sächsisch gesprochen wird und er weiß wo dieser Raum relational zu seinem eigenen Lebensmittelpunkt ungefähr liegt und wie sich anhört, was dort gesprochen wird. Möglicherweise kann er konkrete sprachliche Merkmale benennen, etwa die Besonderheit der ö- und ü-Laute. Solche Elemente der Wahrnehmung, seien sie lautlich konkret oder immateriell abstrakt, bilden einen Bestandteil seines Sächsisch-Konzeptes.6 Da diese Elemente als Konzeptbestandteile miteinander verbunden sind, handelt es sich um Konjunkte, die im Modell synonym als Repräsentate bezeichnet sind. Sie sind im Falle von Konkreta das mentale Abbild einer realweltlichen Gegebenheit 6

Abstrakte Elemente unterliegen einer komplexeren Speicherung von Stellvertreterelementen, die hier nicht ausgeführt werden muss. Der Sprachraum selbst stellt ein Beispiel hierfür dar.

6 (Repräsentanda) und als solche das Ergebnis eines Wahrnehmungsprozesses (Repräsentation). Hinsichtlich ihrer Abbildungsqualität können die Repräsentate sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Mitunter leisten sie allenfalls eine vage Abbildung. So wird die Phonetik der konzeptualisierten Laute möglicherweise nicht adäquat gespeichert sein, sie reicht dennoch aus, ein Konzept aufzubauen, womit aber zugleich deutlich wird, dass Vorstellung und Realität bisweilen auseinanderklaffen. Wird nun über das Sächsische gesprochen oder eine Verortung vorgenommen, so erfolgt eine Äußerung des individuell vorhandenen Konzepts nach Maßgabe der Anforderung (Projektion). Jedoch wird bei der Äußerung – je nach Komplexität der mentalen Bündelung – die volle Konzeptbreite nicht unbedingt berücksichtigt sein. Der geäußerte Repräsentant des Konzeptes, der sich dann hinter dem Formativ „Sächsisch“ verbirgt, wird also je nach situativer Einschätzung nur einen Teil der Repräsentate transportieren. So ist z. B. zu erklären, dass Informanten je nach Stimulus mit demselben Formativ auf unterschiedliche Regionen verweisen. Für diese Arbeit hat dies zur Konsequenz, dass die vorzufindenden Lokalisationen der sächsischen Sprachlandschaft als Repräsentanten einer konzeptuellen Konjunktmenge (Repräsentate) zu gelten haben, denen – wie gesehen – kein absoluter Abbildungswert beizumessen ist. Vielmehr können die Äußerungen der Informanten individuellen Schwerpunktsetzungen unterliegen, je nachdem, welches Repräsentat bzw. welche Repräsentate zum Zeitpunkt der Aufgabe leitend sind. Die Ortsbestimmung in dieser Arbeit ist damit ein indirekter Beleg einzelner Repräsentate bzw. Repräsentatmengen. Bei den nachfolgenden eingehenderen Differenzierungen wird dies zu berücksichtigen sein.

3. Regionale Referenzen: Der Ort des „Sächsischen“ 3.1

Implizitbefragung

3.1.1 Vorbemerkung Das wesentliche Erhebungsinstrument aller bisher aufgeführten Arbeiten ist eine vorgegebene Karte, wobei jedoch auffällt, dass im Forschungsdiskurs – auch über die erwähnten Arbeiten hinaus – kein Konsens hinsichtlich der Organisation dieser Karten besteht. Es liegt auf der Hand, dass die vorgegebenen Kartenstimuli (z. B. Differenziertheit der eingetragenen politischen Grenzen oder Städte) unterschiedliche Wissensbestände aktivieren und damit auch die erhobenen Konzepteigenschaften beeinflussen. Diesem methodischen Problem, aber auch den Möglichkeiten, die sich aus differierenden Kartenstimuli ableiten lassen, widmet sich eine Studie über den Vergleich verschiedener Erhebungskarten (Lameli/Purschke/Kehrein 2008). Grundlage dieser Arbeit ist eine Auswertung von Sprachraumlokalisationen, die bei insgesamt 163 Marburger Schülern (Bundesland Hessen) im Alter zwischen 17 und 20 Jahren erhoben wurden. Den

7 Informanten wurden unterschiedliche Grundkarten mit verschiedenen regionalen Informationen vorgelegt (z. B. politische Grenzen, Flüsse, Städte oder Stimuluskombinationen), auf denen sie anschließend die ihnen bekannten Sprachräume flächig markieren sollten. Eine statistische Auswertung der Eintragungen weist insgesamt acht prominente Sprachräume aus, die von den Informanten besonders häufig belegt wurden. Es handelt sich um: Bayerisch, Berlinisch, Sächsisch, Schwäbisch, Hessisch, Hochdeutsch, Kölsch und Norddeutsch (Lameli/Purschke/Kehrein 2008: 61). Im Sinne des hier gestellten Themas handelt es sich bei dieser Implizitbefragung um einen indirekten Zugang zum Sächsischen. Aus der Summe der Ergebnisse sollen hier zunächst auch tatsächlich nur die Informationen über die Sicht auf diesen Sprachraum vorgestellt werden. Da eine solche Implizitbefragung den Vorteil bietet, aus Sicht der Sprecher den Stellenwert des Sächsischen im Gefüge der übrigen deutschen Sprachräume ableiten zu können, soll an der einen oder anderen Stelle des Beitrages auch ein Blick auf weitere Sprachräume fallen. Gegenüber der Originalstudie erfolgt eine alternative Darstellung sowie in einigen Teilen eine Neuauswertung der Daten nach Maßgabe der Themenvorgabe. An späterer Stelle (Kapitel 3.2) werden ergänzend die Ergebnisse einer Explizitbefragung präsentiert. 3.1.2 Überblick Werden alle Informationen der Erhebungen, die sich dem Typ „Sächsisch“ zuordnen lassen, undifferenziert übereinandergelegt, so ergibt sich aus den entsprechenden 117 Markierungen eine räumliche Situation aus Kern und Randlage, wie sie Abbildung 2 verdeutlicht.7 Die linke Grafik zeigt eine Karte, in der alle Eintragungen der Informanten übereinandergelegt wurden. Der Schwärzungsgrad verdeutlicht die Dichte der Überlagerungen. Die rechts daneben stehende Grafik baut auf diesen Daten auf und konkretisiert die Schnittmengenrelationen in 10%-Intervalle. Die größte Schnittmenge ist durch die dunkelste und zugleich kleinste Fläche ausgewiesen, an der insgesamt 61–70% aller Eintragungen partizipieren. Von dort ausgehend nehmen die Überschneidungen v. a. nach Norden kontinuierlich ab. Das letzte Intervall (0–10%), dem letztlich nur ein individueller Wert beigemessen werden kann, ist unbezeichnet geblieben. Die Gesamtausdehnung der Eintragungen ist über die linke Karte erschließbar. Eine Dichte von 61–70% ist im Vergleich zu anderen Sprachräumen, die von den Informanten angesetzt wurden, eher hoch und wird nur vom Bayerischen (81–90%) und Hessischen (71–80%) übertroffen.8 Letzteres ist die Hei7

Ich verzichte hier auf die von Auer (2004) verwendete Terminologisierung von Zentrum und Peripherie, da – nicht nur in diesem Fall, sondern immer wieder bei solchen Eintragungen – zentrale, d. h. mittige Positionen nur selten besetzt werden. 8 Zur Markierung des Charakters einer Laienbewertung wird hier und im Folgenden „Bayerisch“ dem linguistisch angemesseneren Terminus „Bairisch“ vorgezogen.

8 matregion der Informanten.9 Der Blick auf die rechte Grafik von Abbildung 2 zeigt eingedenk des oben angedeuteten Negativ-Charakters, die eindeutige Separierung des Sächsischen vom eigenen Sprachraum der Informanten. Trotz hoher Gesamtausdehnung ist „Sächsisch“ demgemäß explizit an einem solchen Ort angesiedelt, an dem „Hessisch“ nicht anzutreffen ist. Sächsisch

Hessisch

Abbildung 2: Überlagerung des Bezeichnungstyps „Sächsisch“, unabhängig vom verwendeten kartographischen Erhebungsinstrument, kontrastiert mit der Schnittmengenanalyse für „Hessisch“ als Ort der Herkunft der Informanten

Doch steht der Dichte des Kerns die Größe seines Umfangs gegenüber. Wird die Ausdehnung des „Sächsisch“-Kerns in Relation zur Gesamtausdehnung der Eintragungen mit mehr als 10% Deckung gesetzt, so resultiert mit 1,7% ein Wert, der den meisten anderen Sprachräumen gegenüber zwar vergleichbar ist, jedoch im Vergleich zum Bayerischen mit 12,6% und dem Schwäbischen mit 10% auffallend gering ist. Das bedeutet mit anderen Worten, dass sich die hessischen Informanten bei der Verortung des Sächsischen insofern ähneln, als zwei Drittel der Informanten einen ganz bestimmten kleinen Ausschnitt der Karte konsequent in ihre Verortung integrieren. Andererseits fällt die Reichweite des sächsischen Areals insgesamt sehr unterschiedlich aus. Es wird darauf an späterer Stelle zurückzukommen sein (vgl. Kapitel 4).10 3.1.3 Konzeptuelle Differenzierung In der oben gebotenen Gesamtschau der Daten (Abbildung 2) sind die spezifischen Wirkweisen aller Stimuli vereint, so dass nun zu fragen ist, ob durch die Verwendung einzelner Stimuli eine Ausdifferenzierung des Sächsischen erreicht 9

Die übrigen signifikanten Sprachräume kommen auf geringere Dichtewerte der Kerne, wobei der geringste Wert bei 31–40% (Kölsch, Hochdeutsch) liegt. 10 Es soll hier darauf hingewiesen sein, dass der kontinuierliche Übergang der Flächen keine Konzepteigenschaft an sich belegt. Es handelt sich um eine Aggregation, die freilich prognostisch, d. h. hier im Sinne eines Prototypizitätsausweises genutzt werden kann.

9 werden kann, die zum Beleg einzelner Konzepteigenschaften führt. Dies könnte erwartungsgemäß z. B. durch Orientierung der Informanten an den Grenzen des Bundeslandes Sachsen oder einzelner Städte gegeben sein. Das Ergebnis zeigen die Karten in Abbildung 3. Dort aufgeführt sind die Eintragungen des Typs „Sächsisch“ auf Grundkarten mit qualitativ unterschiedlichen Stimuli. Entgegen der Erwartungen und im Gegensatz zu anderen Sprachräumen begegnen beim Formativ „Sächsisch“ nach Ausweis von Abbildung 3 nur sehr eingeschränkte Stimulusabhängigkeiten. Die Referenzen sind insgesamt gut vergleichbar und offenbaren informantenseitig sehr ähnliche bis identische Lokalisationsstrategien. Stets findet sich ein Kern der Eintragungen im unteren Bereich des mittleren Ostens, wobei einzelne Eintragungen immer wieder bis in die Mitte der Grundkarten hineinragen, sehr deutlich auf der Karte der Großstädte bis einschließlich Hannover, das von einem Informanten also sehr bewusst integriert wird. Da es sich jedoch um Einzelfälle handelt, ist solchen Eintragungen nur ein individueller Wert beizumessen.

Abbildung 3: Das Sächsische auf unterschiedlichen Grundkarten. Oben von links nach rechts: Staatsgrenze, Bundesländer, Großstädte; unten von links nach rechts: Flüsse, Relief, Kombination aller Stimuli (außer Relief)

Bei der Kernbildung verhält es sich aufgrund der erkennbar starken Kumulation grundsätzlich anders. Insofern lassen sich aus der Dichte des Kerns weiterführende Erkenntnisse gewinnen. Dies trifft v. a. auf den Stimulus der Bundeslandgrenzen in bemerkenswerter Weise zu. Die Karte mit den Bundesländern zeigt, dass das Bundesland für 6 von 15 Informanten, die „Sächsisch“ verorten, zwar

10 einen Orientierungspunkt bilden mag, jedoch setzen die Eintragungen nicht markant an der politischen Grenze an. Anders bei der Karte mit den Stimuluskombinationen, bei der 8 von 18 Informanten, die „Sächsisch“ verorten, die Bundesländer explizit markieren, indem sie mit dem Stift den Grenzverlauf direkt nachfahren.11 Auffällige Stimulusabhängigkeit zeigt sich außerdem auf der Karte mit den Großstädten, in der Leipzig, Dresden und Berlin insofern markante Orientierungspunkte darstellen, als sie sich entweder direkt im Kern der Lokalisationen oder in unmittelbarer Nähe desselben befinden.

Abbildung 4: Städtische Prototypen des Sächsischen 11

Lameli/Purschke/Kehrein (2008: 81) stellen fest, dass Grundkarten mit einer Kombination mehrerer Stimuli dazu führen, dass sich die Stimuli in ihrer Wirkung gegenseitig aufheben, indem sich die Informanten offenbar auf einen einzelnen Stimulus konzentrieren – v. a. die Bundeslandgrenzen treten dabei hervor –, der dann für ihre Eintragungen leitend wird. Das Ergebnis der hier vorgenommenen erweiterten Betrachtung desselben Korpus stützt dieses Ergebnis und ist daher auch von methodischem Interesse.

11 Sehr viel differenzierter sind hingegen die Eintragungen auf der Grundkarte mit 102 Städtenamen, die in Abbildung 4 dargeboten ist. Die Abbildung verweist darauf, dass Städte offenbar besonders gute Ankerpunkte in der Konzeptualisierung von Regionalsprache darstellen (vgl. auch Purschke 2008). Eine Besonderheit dieser Karte ist die Möglichkeit, Repräsentanten des Sächsischen hinsichtlich ihres prototypischen Gehalts ableiten zu können. So besteht ein Kern aus den Städten Hoyerswerda, Bautzen und Dresden, von dem aus die Schnittmengen vorwiegend nach Thüringen und Brandenburg hin abnehmen. Bemerkenswert ist eine fast ortsweise Staffelung der Schnittmengenrelationen. Erkennt man in der Dichte der Überschneidungen ein Indiz für die Prototypizität der Städte im sächsischen Sprachraum (vgl. oben Fußnote 10), so ist folgende Reihung von Städten mit abnehmendem prototypischen Gehalt anzusetzen: Bautzen, Dresden, Hoyerswerda > Görlitz > Chemnitz, Cottbus > Zwickau > Dessau, Halle, Leipzig > Gera, Plauen > Jena > Erfurt, Frankfurt/Oder > Berlin, Brandenburg, Magdeburg, Potsdam > Halberstadt > Eisenach > Coburg, Nordhausen, Suhl Weniger von konkreten kartographischen Stimuli beeinflusst, sondern vielmehr der schon oben angesprochenen Sprachphänomenebene geschuldet, scheinen solche Lokalisierungen zu sein, die eine spezielle Attitüde transportieren. Bei der Erhebung der Daten wurde in der Anweisung an die Informanten die Referenz auf den Begriff Sprachraum zugunsten einer möglichen Alternativnennung Dialektraum vorgezogen. Dies hat dazu geführt, dass im Korpus insgesamt 59 Lokalisationen des Hochdeutschen zu finden sind. Die Karte, die alle Eintragungen zusammenführt, trägt im Zusammenhang mit dem Sächsischen einen indirekten Erkenntniswert. Sehr deutlich ist erkennbar, dass im südöstlichen Raum, der zu einem großen Teil das Bundesland Bayern abdeckt, keine Eintragungen für das Hochdeutsche vorliegen (vgl. Lameli/Purschke/Kehrein 2008: 66), womit ein inkompatibles Verhältnis belegt ist. Dasselbe gilt aber in ähnlicher Weise auch für das Sächsische. Es ist nämlich in weiten Teilen des östlichen Gebietes, und gerade auch im Gebiet, das durch das Bundesland Sachsen abgedeckt ist, unter den 59 „Hochdeutsch“-Lokalisationen nur ein einzelner Beleg zu finden, wie Abbildung 5 andeutet. Das Sächsische stellt damit v. a. unter Berücksichtigung der Schnittmengenanalyse in Abbildung 2 zugleich einen Kontrastort zum Hochdeutschen dar: „Hochdeutsch“ ist in der Vorstellung der Informanten mehrheitlich dort, wo „Sächsisch“ nicht ist.12 12

Die kontradiktische Umkehrung der Aussage im Sinne von „Sächsisch ist dort, wo Hochdeutsch nicht ist“, ist nicht möglich, da wie gesehen das Gebiet Bayerns zum Teil noch weniger Eintragungen hat. Zudem muss berücksichtigt werden, dass in manchen Karten in Abbildung 3 einzelne Verortungen zu finden sind, die sich mit dem Kern des Hochdeutschen decken. Diese Informanten haben jedoch das Hochdeutsche seinerseits – wenn überhaupt – andernorts lokalisiert, so dass hier auf individueller Ebene keine konzeptionelle Deckung von

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Abbildung 5: Überlagerung des Bezeichnungstyps „Hochdeutsch“ unabhängig vom verwendeten kartographischen Erhebungsinstrument

Bemerkenswert ist zudem ein weiterer Umstand. In der einschlägigen Literatur wurden bisweilen großregionale Eintragungen des sächsischen Sprachgebiets mit dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR gleichgesetzt (Auer 2004: 165). In der Tat sind mit Blick auf die Gesamtausdehnung des Areals, wie sie in den Karten der Abbildung 3 und Abbildung 4 deutlich wird, sehr ähnliche Umrandungen augenfällig, die von Ausnahmen abgesehen an den historisch-politischen Raum erinnern. Wird jedoch diese realweltliche Parallelität ausgeblendet und der Grenzverlauf der Karte als geometrischer Körper verstanden, mit dem sich die Informanten während ihrer Zeichenaufgabe als Orientierungsmittel auseinanderzusetzen haben, so fällt auf, dass die Gesamtausdehnung der Eintragungen mit einem äußerst markanten Flächenabschnitt korreliert, der sich über die eingetragenen Linien in Abbildung 6 erschließen lässt. Am Beispiel der Staatsgrenzenkarte verbinden diese Linien geometrisch markante Punkte, die in Summe ein Parallelogramm belegen, das zum Verständnis der Eintragungen hilfreich ist. So zeigt sich im unteren (geographisch südlichen) Abschnitt der Schwerpunkt der Lokalisationen, wohingegen der obere (geographisch nördliche) Abschnitt eine Randlage der Eintragungen markiert. Auf der rechten Seite von Abbildung 6 wurde nochmals auf das Gesamtkorpus zurückgegriffen, das in Abbildung 2 bereits eingehender dargestellt wurde. Hier wurden nun allerdings nicht 10%Intervalle angesetzt, sondern die Schnittmenge auf dem 50%-Niveau gekappt. Es ist folglich nur derjenige Schnittbereich eingetragen, an dem mindestens 50% aller 117 „Sächsisch“-Eintragungen partizipieren. Aus Abbildung 2 wird außer„Hochdeutsch“ und „Sächsisch“ nachweisbar ist. Im Zusammenhang von „Sächsisch“ und „Hochdeutsch“ auf der Objektebene vgl. den Beitrag Schmidts (in diesem Band). Der Befund deckt sich zudem mit der Studie Kehreins (2009), in der Sprachproben unterschiedlicher Regionalsprachen von linguistischen Laien hinsichtlich möglicher Dialektalität beurteilt werden. Dabei zeigt sich, dass das Sächsische im Vergleich zu anderen Regionalsprachen als eher dialektal eingeschätzt wird.

13 dem deutlich, dass sich im unteren Bereich des Parallelogramms der Lokalisationskern befindet, an dem immerhin 61–70% aller Eintragungen Teil haben.13

Abbildung 6: Geographie und Geometrie des Sächsischen. Links: mögliche Erschließungsroutinen am Beispiel der Eintragungen auf der Staatsgrenzenkarte; rechts: Schnittmenge aller „Sächsisch“-Eintragungen aller Grundkarten auf dem 50%-Niveau

Es liegt so gesehen nahe anzunehmen, dass das Sächsische aus kognitiver Sicht nicht nur über einen geographischen, sondern auch über einen geometrischen Ort verfügt, der sich über seine topologische Relation zur Staatsgrenze bestimmen lässt. Ob es sich dabei um ein methodisches Artefakt handelt oder ob die geometrische Erschließung, die sich auch bei anderen Sprachlandschaften und anderen Informanten sehr deutlich ableiten lässt (Lameli/Purschke/Kehrein 2008: 70; Lameli 2009: 135–138), eine konzeptuelle Besonderheit ist, die sich auch ohne Kartenvorgabe äußern würde, ist bislang nicht geprüft worden. Es ist jedoch vor dem geschilderten Hintergrund nicht unplausibel, dass Sprachraumkonzepte im Allgemeinen und der Raum des Sächsischen im Besonderen auch geometrisch gespeichert werden und sich somit auf einer mentalen Karte über eine spezifische Rekonstruktionsroutine, wie in Abbildung 6 dargestellt, verorten lassen. Stützung erfährt diese Annahme auch in dem später zu diskutierenden Assoziationsexperiment dieser Arbeit, auf das hier vorgegriffen sei. Für das Formativ „Hessisch“ begegnet dort z. B. die Assoziation in der Mitte von Deutschland, was einer geometrischen Erschließungsstrategie durchaus entspricht (vgl. Fußnote 28). Das bedeutet aber auch, dass wenn davon ausgegangen wird, dass die „(ehemalige) Staatsgrenze […] automatisch auch als Sprachgrenze gedacht“ wird (Auer 2004: 166), dies im einen oder anderen Fall zwar zutreffen mag, der apodiktische Schluss jedoch zu überdenken ist, auch wenn eine großregionale Konzeptparallelität nicht zu verkennen ist.

13

31–40% aller Eintragungen decken den unteren Bereich des Parallelogramms vollständig ab.

14 3.2

Explizitbefragung

In der bisherigen Betrachtung wurden Informationen aus einer Befragung abgeleitet, in der das Sächsische nur implizit berücksichtigt ist. Um allerdings auch eine direkte Antwort auf die Lokalisation des Sächsischen bieten zu können, wurde die Frage in expliziter Weise an eine Informantengruppe weitergegeben. Hierfür konnten insgesamt 76 Informanten gewonnen werden, darunter 59 weibliche und 17 männliche. Es handelt sich um 40 Schüler der 11. bis 13. Jahrgangsstufe eines Marburger Gymnasiums im Alter zwischen 15 und 20 Jahren (Zeitpunkt der Datenerhebung) sowie 36 Studierende an der Philipps-Universität Marburg im Alter zwischen 19 und 23 Jahren.14 Das Experiment selbst fand während der Jahre 2009 und 2010 statt. Alle Informanten sind im Bundesland Hessen aufgewachsen, zudem sind sie nach eigenen Angaben bis auf Ausnahmen keine Dialektsprecher. Etwa ein Drittel der Informanten gibt an, Bekannte aus dem sächsischen Sprachraum zu haben. Den Informanten wurde eine Grundkarte, die lediglich die Staatsgrenze zeigte, vorgelegt und die Frage gestellt: „Wo spricht man Sächsisch? Markieren Sie mit einem Kringel!“ Die Ergebnisse sind geeignet, den bisherigen Diskussionsverlauf zu unterstützen, indem sie im Vergleich mit der Implizitbefragung sehr ähnlich ausfallen, wie Abbildung 7 verdeutlicht. Dennoch fällt auf, dass die extrem großräumigen Lokalisationen nicht so häufig vorkommen, wie bei der früheren Erhebung. Dies führt bei der Schnittmengenanalyse zu einem etwas anderen Ergebnis. Der Bereich, in dem sich über 10% aller Eintragungen überschneiden, ist dadurch kleiner. Zudem ist die Dichte des Kerns weniger hoch. Das bedeutet, dass eine höhere Variation in der Positionierung der Eintragungen vorliegt. Zu begründen ist das damit, dass die Informanten insgesamt kleinere Sprachräume in einem insgesamt ebenfalls kleineren Areal einzeichnen. Bemerkenswerterweise ist hier eine besonders gute Deckung mit dem unteren Bereich 14

Die Explizitbefragung erfolgte in Verbindung mit einem Assoziationsexperiment, das in Kapitel 5 vorgestellt wird. Zum näheren Ablauf vgl. auch Fußnote 19. Die Studierenden waren zum Zeitpunkt der Datenerhebung im ersten Semester des B.A.-Studiengangs „Sprache und Kommunikation“. Das Experiment fand in der ersten Semesterwoche eines linguistischen Einführungsseminars statt. Regionalsprachen des Deutschen waren zu diesem Zeitpunkt kein Unterrichtsthema. Ähnliches gilt auch für die Schüler. Die regionale Verteilung der Dialekte in Deutschland war zum Zeitpunkt der Erhebung kein Unterrichtsthema gewesen. Die Auswahl von Schülern und Studierenden erfolgte ursprünglich auch, um mögliche Altersunterschiede in den Ergebnissen berücksichtigen zu können. Ein solcher Unterschied zeigt sich jedoch vorliegend nicht. Um die regionale Provenienz weitgehend einheitlich zu halten, wurden Nicht-Hessen schon vor der Datenaufbereitung aussortiert. Neben den eigentlichen Verortungen wurden Angaben zum Alter der Informanten, ihrem Geschlecht sowie ihrem Herkunftsort erhoben. Zudem liegen eine Selbsteinschätzung zur Dialektkompetenz (sprechen vs. verstehen) vor sowie Hinweise auf Prominente und persönliche Bekannte aus dem „Sächsischen“. Ein Zusammenhang der vorliegenden Angaben zu den Verortungen lässt sich nicht ableiten.

15 des oben angeführten Parallelogramms festzustellen. Ob sich diese Konzentration im unteren Bereich auf die Art der expliziten Fragestellung zurückführen lässt, bedarf weiterer Prüfungen. Es kann jedenfalls hier keine andere Motivation nachgewiesen werden.

Abbildung 7: Ergebnis der Explizitbefragung nach dem Ort des Sächsischen. Links: Kumulation aller Angaben; rechts: Klassifikation in 10%-Intervallen

4. Semantische Relationen: „Sächsisch“ versus „Ostdeutsch“ Vor allem im Rahmen der Implizitbefragung wurde deutlich, dass in die Verortung des Sächsischen unterschiedliche Konzepte hineinspielen, nämlich ein eher kleinregionales und ein eher großregionales Konzept. Dieser Punkt soll im Weiteren genauer betrachtet werden. Neben der Nennung „Sächsisch“, die bislang im Fokus stand, begegnet im Korpus noch ein weiterer Sprachraumtyp, der in der Regel als „Ostdeutsch“ etikettiert wird. Da es sich um einen vergleichsweise häufigen Benennungstyp handelt, wurden die „Ostdeutsch“-Nennungen in der publizierten Studie separat geführt. Mit dem vorliegenden Kontext, der explizit dem Sächsischen gewidmet ist und damit einem anderen Erkenntnisinteresse folgt, ist Gelegenheit gegeben, die Unterscheidung zwischen „Sächsisch“ und „Ostdeutsch“ etwas genauer zu betrachten. Eine Gegenüberstellung der beiden Lokalisationen auf der Grundlage der Gesamteintragungen aus allen stimulusdifferierenden Grundkarten aus Lameli/Purschke/Kehrein (2008) leistet Abbildung 8. Die Zahlenverhältnisse sind hinsichtlich der Vorkommenshäufigkeit der Nennungen eindeutig: 117 „Sächsisch“-Lokalisationen stehen 40 „Ostdeutsch“-Lokalisationen gegenüber.15 Eine klare Raumdifferenzierung, die auf eindeutige Konzeptdifferenzen schließen ließe, ist zumindest mit Blick auf die Gesamtaus15

Lameli/Purschke/Kehrein (2008: 60) erwähnen ein Verhältnis von 125:42, wobei allerdings auch Nennungen mitberücksichtigt sind, die keine klare Verortung aufweisen.

16 dehnung der Areale kaum möglich. Dennoch ist erkennbar, dass „Sächsisch“ geringfügig weiträumiger angesetzt wird. Es könnte dies einerseits auf die unterschiedliche Zahl der Belege zurückgeführt werden, andererseits aber auch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Informanten mit „Sächsisch“ einen Kleinraum markieren wollen, dessen reale Lage in der abstrakten Aufgabe nicht zu finden ist, was wiederum zu einer regional breiteren Streuung führt als es bei „Ostdeutsch“ gegeben ist. Tatsache ist, dass nur einer von 157 Informanten sowohl „Sächsisch“ als auch „Ostdeutsch“ verortet hat, womit der Eindruck entsteht, dass es sich um Alternativbenennungen handeln könnte. Die Ähnlichkeit, welche die beiden Karten in Abbildung 8 auf den ersten Blick vermitteln, erstaunt daher nicht. Jedoch fällt das Fehlen eines Lokalisationskerns beim ostdeutschen Typus auf, was für einen insgesamt eher großflächigeren Raumbegriff spricht und Anlass für eine weiter gehende Betrachtung gibt. Sächsisch

Ostdeutsch

Abbildung 8: „Sächsisch“ (links) versus „Ostdeutsch“ (rechts)

In einem nächsten Analyseschritt werden die Lokalisationen hinsichtlich ihrer klein- und großräumigen Lokalisationsmuster separiert. Hierfür wird die in Abbildung 6 angesetzte Erschließungsroutine nutzbar gemacht. Eintragungen, die im unteren Abschnitt des Parallelogramms ansetzen und damit ganz offensichtlich auf das Sächsische im engeren Sinne referieren, werden zu einem kleinräumigen Lokalisationstyp gruppiert. Eintragungen, die sowohl den unteren als auch den oberen Teil des Parallelogramms einbinden und damit auf das Ostdeutsche im weiteren Sinne referieren, werden zu einem großräumigen Lokalisationstyp gruppiert. Sofern möglich, wird außerdem eine Schnittmengenanalyse vorgenommen, die die Überlagerungen abermals in 10%-Intervalle differenziert.16 Die Karten in Abbildung 9 zeigen das Ergebnis. 16

Für die kleinräumige Verortung des Ostdeutschen wurde mangels Belegen keine Schnittmengenanalyse durchgeführt.

17 Schnittmengenrelation großräumig kleinräumig

Sächsisch

graduelle Kumulation großräumig kleinräumig

Ostdeutsch

 

   

Abbildung 9: Differenzierung der Lokalisationen „Sächsisch“ (obere Zeile) und „Ostdeutsch“ (untere Zeile) nach Großräumigkeit (links) und Kleinräumigkeit (rechts) separiert. Zusätzlich sind die Ergebnisse einer Schnittmengenanalyse dieser Separierungen aufgeführt (rechter Abschnitt)

Die hinter diesen Lokalisationen stehenden Zahlenangaben fasst Tabelle 1 zusammen. Daraus ergibt sich zunächst das schon erwähnte, sehr deutliche Übergewicht der „Sächsisch“ benannten Lokalisation von 117 zu 40. Zudem wird deutlich, dass unter den sächsischen Lokalisationen die kleinräumigen mit 73 Markierungen überwiegen (62%), wobei jedoch auch die großräumigen Lokalisationen mit 44 Markierungen (38%) immerhin mehr als ein Drittel ausmachen. kleinräumig Großräumig Gesamt

Sächsisch 73 (62%) 44 (38%) 117 (100%)

Ostdeutsch 6 (15%) 34 (85%) 40 (100%)

Tabelle 1: Zahlenverhältnisse der als „Sächsisch“ und „Ostdeutsch“ benannten Lokalisationen

Beim Ostdeutschen ist dies anders. Hier überwiegt der großräumige Lokalisationstyp deutlich, wohingegen der kleinräumige Typ in den Hintergrund tritt.17 Dennoch ist bemerkenswert, dass auch hier kleinräumige Lokalisationen in einem Maße vorkommen, das keiner Zufälligkeit unterliegen kann. Konzeptuell 17

Dies wird zusätzlich dadurch gestützt, dass „Ostdeutsch“ noch weitere Sprachräume überlagert, wie „Berlinisch“ im oberen bis mittleren Abschnitt des Parallelogramms oder „Sorbisch“, abermals im unteren Abschnitt gelegen.

18 ergibt sich daraus im interindividuellen Vergleich eine bemerkenswerte begriffliche Komplexität. Die Ergebnisse deuten auf assoziativer Ebene auf eine interindividuell ableitbare enge semantische Relation zwischen „Sächsisch“ und „Ostdeutsch“, die – wie auch oben schon angedeutet wurde – sich nicht unmittelbar in ein Verhältnis von genus proximum und differentia specifica überführen lässt. In einigen Fällen sind die Formative mit zumindest partiell identischen Denotaten oder Konzepten verknüpft, so dass sich bisweilen Sächsisch zu Ostdeutsch als pars pro toto wie sich umgekehrt Ostdeutsch zu Sächsisch als totum pro parte verhält. Daraus ist aber auch zu schließen, dass in solchen Fällen eine grundsätzliche Synonymie der Begriffe nicht gegeben ist, wie umgekehrt keine grundsätzliche Polysemie gegeben ist, sondern lediglich individuell gegeben sein kann. Was sich demgemäß zeigt, ist ein individueller Usus, der sich insgesamt betrachtet in Mehrdeutigkeit und Vagheit äußert. Dieser Usus scheint durch den schon erwähnten quantitativ bedeutsamen Umstand, dass nur ein Informant beide Formative ansetzt, insofern konkretisiert zu sein, als er auf das Vorhandensein von Alternativbenennungen hindeutet. Doch wird das der Sache insgesamt nicht gerecht, denn auf qualitativer Ebene ist die aus Abbildung 9 und Tabelle 1 erkennbare konzeptuelle Differenzierung belegt. Das bedeutet, dass interindividuell zwar die Parallelität der beiden Konzepte begegnet, doch darf diese nicht als interindividuelle Identität missverstanden werden. Denn auf der anderen Seite wird deutlich, dass nicht jeder Informant mit „Sächsisch“ denselben Sprachraum anspricht. Da in diesen Zusammenhängen mit der räumlichen Fassung eine erweiterte Konzeptebene angedeutet ist, handelt es sich um nuancierende Differenzen, die unter prototypischem Gesichtspunkt geschärft werden können. In dieser Hinsicht kann eine Definition von „Sächsisch“ aus Informantensicht auf der Grundlage der Kartenvergleiche von einer Gegenüberstellung mit „Ostdeutsch“ profitieren. In Abbildung 10 ist eine solche Abgrenzung schematisch gefasst.

Abbildung 10: Schematisierung der Definitionsnuancen in Hinblick auf die regionale Zuordnung von „Sächsisch“ in Abgrenzung zu „Ostdeutsch“

Damit liegen zwei prototypische Bedeutungen vor. Im Vergleich der vorliegenden Verortungen weist „Sächsisch“ in seiner prototypischen Bedeutung zunächst eine kleinräumige Komponente auf, „Ostdeutsch“ hingegen eine großräumige. Beide Konzepte tragen zugleich die jeweils andere Konzeptebene als Nebenbedeutung (gerissene Pfeile), wobei der Nebenbedeutung im Falle des Sächsischen

19 ein höheres Gewicht zukommt (abgebildet über Strichstärke). Dieses höhere Gewicht wird v. a. an der höheren Frequenz der großräumigen Lokalisation sichtbar. Gespeist werden diese Bedeutungen nach bisheriger Betrachtung durch die erwähnten geometrischen, politischen, verwaltungsbezogenen oder individuell erfahrenen Faktoren. Es handelt sich folglich um zwei trennbare Konzepte, die sich hinsichtlich ihrer Repräsentate überschneiden.

5. Spontane Assoziationen 5.1

Vorbemerkung

Der letzte empirische Untersuchungsteil beschäftigt sich mit dem Stellenwert der geographischen Komponente im Rahmen der allgemeinen Konzeptualisierung des Sächsischen. Eine Möglichkeit, sich einem solchen Anliegen zu widmen, ist die Berücksichtigung spontaner Assoziationen. In der Forschung zu Sprachraumkonzepten ist dies bereits ergänzend zu Kartierungsanalysen unternommen worden. Hundt (2010) und auch Anders (2010) präsentieren entsprechende Ergebnisse, die nicht nur durch die Art der Äußerungen, sondern auch durch ihren Umfang interessant sind. Mittel der Wahl sind in diesen Zusammenhängen Fragen des Typs „Welche Eigenschaften fallen Ihnen spontan zu den einzelnen Dialekten, die Sie auf der Karte eingezeichnet haben, ein?“ (Hundt 2010: 184). Die gewonnenen Ergebnisse belegen die assoziative Einbettung regionalsprachlicher Konzepte, die erwartungsgemäß nicht allein auf regionalen Aspekten gründet, sondern auch z. B. auf konkreten Repräsentanten, sprachlichen Besonderheiten oder dem individuellen Umfeld. Eine Gewichtung der Assoziationen im Sinne einer Hierarchisierung von z. B. Assoziationsdomänen ist vor der Folie der Spontaneität jedoch schon wegen des Aufzählungscharakters schwer zu leisten, zumal die im Ablauf der Erhebung vorhergehende Aktivierung einzelner Wissenskomponenten als beeinflussend gelten darf. Es wird daher hier testweise ein anderer Weg beschritten, der einerseits die Spontaneität des Urteils in den Vordergrund rückt, andererseits die Isolation vom unmittelbaren Erhebungskontext. Ziel ist es vor diesem Hintergrund, in einer experimentellen Annäherung Hinweise auf die Relevanz der geographischen Komponente im Rahmen der Konzeptualisierung des Sächsischen zu erlangen. Notwendigerweise wird der Blick also über die Lokalisationsebene hinaus reichen. 5.2

Durchführung

Unabhängig der genannten speziellen Zielsetzung folgt das nachstehende Experiment dem übergeordneten Zweck, auf individueller Ebene einen Einblick in die spontanen Assoziationen zu dem Formativ „Sächsisch“ zu gewinnen. Grund-

20 bedingung des Experiments war im Vorfeld, dass 1.) die Spontaneität so weit möglich nicht beeinflusst sein sollte. Das bedeutet, dass keine Antizipationen zu Gegenstand und Ablauf des Experiments möglich sein sollten. 2.) sollte die Assoziationsstärke des Stimulus unbeeinflusst und interindividuell vergleichbar sein. Während sich das erste Kriterium vorrangig auf die methodische Umsetzung des Experiments bezieht, bezieht sich der zweite Punkt eher auf das Spektrum der reizbedingten Reaktionen. Die Assoziationsstärke sollte möglichst gering gehalten werden, um individuelle Schwerpunkte ermessen zu können. Das bedingt jedoch, dass pro Informant nur ein Versuch zur Erhebung der Assoziationen unternommen werden kann, denn schon beim zweiten Durchlauf sind die Grundbedingungen nicht mehr erfüllt.18 Diese Erwägungen führten zur Auswahl eines als geradezu klassisch zu bezeichnendes Assoziationsexperiments. Als Informanten standen die schon im Rahmen der Explizitbefragung vorgestellten 76 Personen zur Verfügung. Zusätzlich wurden 36 Studierende gewonnen, die ebenfalls in Hessen aufgewachsen sind und noch am Anfang ihres Studiums stehen.19 Damit stehen insgesamt 112 Informanten zur Verfügung, darunter 28 Männer und 84 Frauen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren. Die Informanten waren über Gegenstand, Ablauf und Ziel des Experiments nicht informiert. Unmittelbar vor Beginn wurde ihnen mündlich mitgeteilt, dass ihnen auf einer Leinwand in der Folge ein bestimmter sprachlicher Ausdruck eingeblendet würde. Gleichzeitig wurde die ankündigende Frage gestellt: „Was fällt Ihnen zum folgenden Ausdruck als Erstes ein? Schreiben sie möglichst schnell ihren ersten Gedanken nieder!“. Daraufhin wurde für die Dauer von 100 Millisekunden das Wort SÄCHSISCH in Majuskeln projiziert und wieder ausgeblendet. Im unmittelbaren Anschluss schrieben die Informanten ihre Assoziationen nieder.20 Die bisherigen Ausführungen deuten darauf hin, dass pro Erhebungssitzung und Informant idealerweise nur ein einziges Konzept abgefragt werden kann bzw. für weitere Befragungen eine ausreichende Zwischenzeit eingeplant wer18

Aus den Grundbedingungen ergibt sich zudem, dass die ermittelten Assoziationen zwar nicht geeignet sind, individuell die volle Konzeptbreite abzudecken. Hierfür sind stärker elizitierende Verfahren, wie etwa von Anders (2010) angewendet, besser geeignet. Dafür kommt den hier erhobenen Assoziationen jedoch eine besonders hohe Spontaneität zu, was als hilfreich erachtet wird, eine Hierarchie möglicher Assoziationsdomänen zu ermitteln. 19 Anlass der Erhebung war primär der Assoziationstest. Die Explizitbefragung fand ergänzend statt und wurde bei den 76 Informanten nach dem Assoziationsexperiment durchgeführt, so dass die Spontaneität des Assoziationsexperiments nicht beeinflusst ist. Die beiden Erhebungen wurden kombiniert, um auch Lokalisierungen derselben Informanten verfügbar zu haben. Wie aber schon bei der Auswertung der Explizitbefragung deutlich wurde, unterscheiden sich die Lokalisierungen nicht wesentlich (Kapitel 3.2) und weisen auch bei näherer Prüfung keine Bezüge zu den belegten Assoziationen auf. 20 Ein möglicher Mitschnitt mündlich produzierter Assoziationen wurde nicht durchgeführt, da der zusätzliche apparative Aufbau zu einer extremen Beeinflussung der Erhebungssituation geführt hätte. Das Paper-Pencil-Verfahren simuliert hingegen im Kontext der Erhebung von Schülern und Studenten Gewohnheit im Unterricht. Im Rahmen der Datenerhebung an der Schule ließ sich das Setting mit Projektor und Leinwand nicht umsetzen, weswegen das Formativ „Sächsisch“ über ein Schild präsentiert wurde.

21 den muss. Da aber dennoch Kontrollen aus der Gruppe heraus möglich sein sollten, wurde das Experiment mit einer Teilmenge (71 Studierende) nach ca. zehn Wochen wiederholt.21 Um einen für die weitere Auswertung möglichst brauchbaren Kontrast zum Sächsischen zur Verfügung zu haben, wurde den Informanten mit dem Formativ „Hessisch“ der Ort der eigenen Provenienz vorgegeben.22 Ähnliche Experimente sind der Forschung aus psycholinguistischen Fragestellungen, v. a. zur Struktur des mentalen Lexikons bekannt. Aitchison (1997: 106 f.) weist auf Nutzen und Schwächen solcher Vorgehensweisen hin. Eine Schwäche erkennt die Autorin in der mangelnden Sicherheit im Urteil über das Ausmaß der Verknüpfung von Stimuluswort und Reaktionswort (z. B. butter vs. bread). Mit Blick auf „die Struktur des menschlichen Wortgewebes“ lassen sich hieraus nicht zuletzt wegen einer erheblichen lexikalischen Kontextabhängigkeit keine verbindlichen Aussagen ableiten. Dieses Problem stellt sich im vorliegenden Kontext jedoch nicht oder zumindest nur stark eingeschränkt, da es nicht um ein solches konkretes Wortgewebe im Sinne eines konkreten semantischen Netzwerkes oder Feldes in kontextueller Dynamik geht, sondern schlicht um allgemeine Assoziationsdomänen, die in einem formal und kontextuell einheitlichen Setting Hinweise auf die reaktive, metageleitete Dominanz der geographischen Komponente in der Konzeptualisierung von Sprachräumen als Abstrakta erbringen sollen. Freilich wird diese Problematisierung bei der Ergebnisinterpretation schon allein in der Weise zu berücksichtigen sein, dass hier keine Aussagen über den Untersuchungskontext hinaus getroffen werden sollen. 5.3

Ergebnisse

Schon ein erster Blick auf die Ergebnisse belegt sehr unterschiedliche Assoziationen. So werden für das Sächsische z. B. genannt: Akzent, unsexy, Asterix und Obelix, Dresden, Osten, ö. In diesen Beispielen sind unterschiedliche Assoziationsdomänen zu erkennen, die einerseits auf geographischen Angaben basieren (Dresden, Osten), auf emotionalen Wertungen (unsexy), auf sprachphänomengebundenen Stereotypen (ö) und Sprechlagenbezeichnungen (Akzent) oder auf Akteuren und Elementen einer medialen Inszenierung (Asterix und Obelix). Solche Nennungen deuten eine weitere lokale Eigenschaft des Sächsischen an. Für manche Informanten ist der Ort des Sächsischen ganz offenbar auch in den Medien zu finden. Dort ist Sächsisch ebenfalls mit einem konkreten Variantenrepertoire ausgestattet, jedoch handelt es sich um inszenierende Stere-

21

Ein Informant stand für das „Hessisch“-Experiment nicht mehr zur Verfügung. Es muss berücksichtigt werden, dass „Hessisch“ als linguistischer Begriff durchaus problematisch ist und als einheitliche sprachliche Größe kaum zu fassen ist. Es zeigt sich jedoch bei der Befragung linguistischer Laien stets, dass es sich um einen alltagsweltlich relevanten Begriff handelt, was seine Einbindung in die Studie rechtfertigt. 22

22 otype, denen eine realweltliche Abbildungsqualität nur eingeschränkt zugestanden werden kann.23 Für Hessisch kommen beispielsweise vor: Heimat, Butzbach, Äbbelwoi, Badesalz, ich, Marburg, Dialekt, womit eine Erweiterung mindestens um eine identitätsbezogene Dimension erkennbar ist (Heimat, ich).24 Daneben begegnen bei beiden Experimenten in geringem Umfang Meta-Kommentare zur Erhebungssituation (Warum das denn jetzt?). Deutlich wird auch, dass die Assoziationen zu dem Abstraktum des Sprachraums zuweilen ebenfalls abstrakt ausfallen, wie etwa im Falle von unsexy gegeben. Es handelt sich in solchen Fällen in der Regel um Wertungen, die indirekt auf gefühlsregende Assoziationen rückschließen lassen. Nach Sichtung der Daten wurden die wesentlichen Assoziationsdomänen kategorisiert und alle Nennungen entsprechend zugeordnet. Folgende Domänen wurden, ggf. mit Untergruppen, festgelegt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

neutrale Sprechlagen- und Sprachbezeichnung Sprachphänomen und Sprachbeispiel Verstehbarkeit Wertung a. positiv b. negativ sprachlicher Träger a. allgemein b. persönliches Umfeld Identität a. individuell b. kulturell Ort bzw. geographische Referenz Medien Sonstiges

Naturgemäß kommt es bisweilen zu Überschneidungen zwischen diesen Kategorien. Zum Beispiel kann ein mit „Sächsisch“ assoziiertes sprachliches Phänomen ö theoretisch mit allen Domänen in Verbindung stehen. Es wird daher als das gehandelt, was es de facto ist, nämlich ein sprachliches Phänomen. Das ist z. B. bei einer Nennung Asterix und Obelix anders, die klar mediengebunden ist und daher der entsprechenden Kategorie zugeschrieben werden kann, wenngleich in der entsprechenden Lektüre viele ö-Stereotype des Sächsischen vor23

Vgl. diesbezüglich den Imitationstest von Purschke (2010), der das Wechselspiel von Stereotypisierung und Konzeptualisierung verdeutlicht. 24 Der Identitätsbegriff lässt sich dabei auf zweierlei Weise operationalisieren. Erstens als Begriff der kulturellen Identität, der hier als bewusste Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen Gruppe mit gemeinsamer kultureller Erfahrung, Sprache etc. verstanden ist (Heimat). Zweitens als definierender Selbstbezug (ich).

23 kommen mögen. Darüber hinaus begegnen z. B. Nennungen des Typs Dialekt im Osten Deutschlands, die theoretisch den Domänen der Sprachbezeichnung und der geographischen Referenz entsprechen. Aufgrund der räumlichen Konkretisierung wurden solche Nennungen der letztgenannten Domäne zugeordnet. Die oben angesprochenen Metakommentare wurden gemeinsam mit weiteren nicht klar auswertbaren Nennungen unter „Sonstiges“ subsumiert. Einen Überblick über die entsprechenden Zahlenverhältnisse beider Erhebungen bietet Tabelle 2. Domänen Sprechlage Sprachphänomen Verstehbarkeit Wertung sprachlicher Träger Identität Ort Medien Sonstiges Gesamt

Sächsisch 28 (25%) 6 (5%) 5 (5%) 34 (31%) 5 (5%) 0 (0%) 24 (22%) 2 (2%) 8 (7%) 112 (100%)

Hessisch 17 (24%) 10 (14%) 0 (0%) 9 (13%) 0 (0%) 13 (19%) 10 (14%) 8 (11%) 4 (6%) 71 (100%)

Tabelle 2: Häufigkeiten der Assoziationen nach Assoziationsdomänen

Aus der Tabelle werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Assoziationsdomänen deutlich, die mit den Netzdiagrammen in Abbildung 11 als Assoziationsprofile visualisiert sind.25 Sächsisch

Hessisch

Abbildung 11: Hierarchisierte Assoziationsdomänen zu den Stimuli „Sächsisch“ (links) und „Hessisch“ (rechts) im Vergleich.

25

Aus Darstellungsgründen setzen die Skalen im Minusbereich an, so dass die Profile besser differenziert werden können.

24 Mit Blick auf die geographische Komponente, die ja den Ansatzpunkt der Untersuchung bildet, zeigt sich vorliegend ein relativ hoher Stellenwert, der für das Sächsische hinter den allgemeinen Sprechlagenbezeichnungen und v. a. emotional-wertenden Äußerungen eingeordnet ist. Die spezifischen ortsbezogenen Assoziationen sind in Tabelle 3 aufgelöst. Assoziation Sachsen Osten Dresden Leipzig Ostdeutschland Sächsische Alp ostdeutscher Dialekt Ostdeutsch Dialekt, der in Sachsen gesprochen wird Dialekt im Osten Deutschlands Thüringen Saarländisch Österreich bzw. die deutsche Aussprache der Österreicher

Frequenz 6 5 3 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 24

Referenz Großregion Großregion Stadt Stadt Großregion Landschaft Großregion Großregion Großregion Großregion Kontrast Kontrast Kontrast

Tabelle 3: Assoziationsdomäne Ort

Höchst erwartbar ist in diesem Zusammenhang die Nennung Sachsen, die als Ableitung des vorgegebenen Adjektivs zu verstehen ist und somit nahe liegt. Bemerkenswert ist daher v. a. der Umstand zu bewerten, dass diese Nennung unter allen 112 Assoziationen nur sechsmal vorkommt.26 Darüber hinaus dominieren die großräumigen Verortungen, wobei sich auch hier wiederum die Parallelität von „Sächsisch“ und „Ostdeutsch“ andeutet. Gegebenenfalls ist ein Bezug zur gesprochenen Sprache erkennbar. Auch begegnen abermals die städtischen Prototypen Dresden und Leipzig, die schon in Abbildung 4 sogar in ähnlichem Typizitätsgrad erkennbar waren. Zu erwähnen ist ferner die Nennung Sächsische Alp. Eine solche topographische Angabe war im Falle der Verortungsaufgaben nicht zu finden. Sie belegt damit einen weiteren Aspekt der Konzeptualisierung.27 Unerwartet sind darüber hinaus die Nennungen Thüringen, Saarländisch, Österreich…, die nicht-sächsische Kontrastrelationen belegen. Diese Nennungen sind von besonderem Interesse, denn sie verdeutlichen, in ähnlicher Weise wie oben schon am Beispiel der Verortung des Hochdeutschen gesehen, einen nega26

Eine gleichermaßen erwartbare Nennung Sachse kommt nur zweimal vor, einmal als Nennung Sachse in der Domäne „Träger“ und einmal als Sachse mit blasser Haut, wobei diese Nennung als emotional wertend interpretiert und daher der Domäne „Wertung“ zugeordnet wurde. Es mag dies als Beleg für die Assoziationsstärke des vorgegebenen Formativs gelten. 27 Purschke (2010: 106 f.) führt topographische Angaben bei Verortungsexperimenten auf die regionale Schärfe des Erhebungsinstrumentes zurück. Da die Verortungen hier auf einer Karte der BRD vorgenommen wurden, bestätigen die Ergebnisse die Interpretation Purschkes.

25 tiven Ort des Sächsischen, d. h. einen Ort, an dem das Sächsische nicht ist. Anders als bei der Hochsprache müssen die Kontraste jedoch keiner Wertungsdifferenz unterliegen. Es wäre denkbar und bisweilen annehmbar, dass die Assoziationen in solchen Fällen eher Ähnlichkeiten als Unterschiede belegen, wie etwa im Kontrastwort Thüringen, wenn man davon ausgeht, dass Thüringen, sei es sprachlich oder politisch, in vielen Fällen gemeinsam mit „Sächsisch“ im Etikett „Ostdeutsch“ aufgeht.28 Für die übrigen Domänen lässt sich folgende Situation zusammenfassen: Annähernd gleiche Verhältnisse bestehen z. B. bei den Assoziationen der Sprechlagenbezeichnungen. Fast ausnahmslos erfolgen hier die Nennungen Dialekt und Akzent. Aufgrund des vorgegebenen Adjektivs ist dies nicht weiter erstaunlich. Vergleichbar sind die Verhältnisse bei der Domäne der persönlichen Umwelt, die bei „Sächsisch“ nur schwach, bei „Hessisch“ überhaupt nicht gefüllt ist. Die Assoziationen für „Sächsisch“ sind Ein Lehrer von unserer Schule, der Freund meiner Schwester und Michael. Auch bei den nicht eindeutig zuzuordnenden Nennungen gilt ein ausgeglichenes Verhältnis. Hier werden z. B. für „Sächsisch“ genannt: Vorurteil, okay!?, ??, Bezeichnung der Herkunft Angelsächsisch, Gurken. Für „Hessisch“ finden sich blau, ich sag lieber nichts, hessische Flagge.29 Zudem sind ähnliche Relationen bei der Angabe der Sprachphänomene festzustellen. Es begegnen hier z. B. ö, nasal, Zischlaut, Tempotoschentüscha für „Sächsisch“, dem sein statt Genitiv, net, k statt g für „Hessisch“. Dieser Kategorie der konkreten Realisierungsmuster stehen die vergleichsweise seltenen, doch immerhin vorhandenen Assoziationen (hier Urteile) zur Verstehbarkeit zur Seite: unverständlich, schlecht zu verstehen, schwer zu verstehen. Solche Angaben finden sich nur für das Sächsische, nicht für das Hessische. Die übrigen Domänen belegen klare Unterschiede. Am klarsten gilt dies für die Identitätsdomäne, was angesichts der hessischen Provenienz der Informanten erwartbar ist. Während für das Sächsische diesbezüglich keine Assoziationen festzustellen sind, ist der Identitätsbezug für Hessisch auch im Gefüge aller Domänen prominent. Dabei lassen sich individuelle und kulturelle Bezüge trennen. Eher individuell sind z. B. ich, Herkunft, mein Heimatland, kulturell hingegen traditionell oder sozialsymbolisch stilisiert Apfelwein. Bemerkenswert ist v. a. die Domäne der wertenden Äußerungen, die den größten Unterschied der Profile belegt. „Sächsisch“ erweist sich hier im doppelten Sinne als Reizwort, das v. a., aber nicht ausschließlich, zu negativen Reaktionen führt, die dann in der Regel emotive Urteile sind, wie z. B. üäh (als 28

Für Hessisch begegnen unter den ortsbezogenen Assoziationen z. B. Marburg, Butzbach, Gießen, in der Mitte von Deutschland. Explizite nicht-hessische Kontraste sind nicht zu finden. Die Assoziation in der Mitte… ist im Diskussionsverlauf der Arbeit bedeutsam, da sie die geometrische Erschließung der Sprachlandschaften betont (vgl. Kapitel 3.1.3). 29 Im Zusammenhang mit der Farbnennung sei auf den Beitrag von Spiekermann (in diesem Band) verwiesen. Soweit ich erkennen kann, ergeben sich jedoch sachlich keine sinnvollen Bezüge, selbst wenn man Hessisch über Neuhessisch in Relation zum Rheinfränkischen setzt, mit dem hohe Überschneidungen bestehen.

26 Ausdruck des Ekels), dümmlich, unsexy, unästhetisch, ätzend, schrecklich, bauernmäßig, anstrengend. Es begegnen jedoch auch in geringem Maße positivwertende Assoziationen wie nett, witzig, lustig. Es wäre anzunehmen gewesen, dass die Emotionen gegenüber dem Hessischen positiver wären, jedoch ist dies nur eingeschränkt der Fall. Vielmehr besteht ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen negativer und positiver Einstellung. So steht grammatikalisch minderwertig, langweilig, hässlich positiven Belegen des Typs locker, schön, cool gegenüber. Dabei ist in eher grundsätzlicher Weise zu berücksichtigen, dass manche der positiven Assoziationen bei den „Hessisch“-Reaktionen in der Identitätsdomäne aufgehen, wie andererseits manch positive Wertung zu „Sächsisch“ in den Sprachphänomenen oder dem der Domäne des persönlichen Umfelds aufgehen mag. Es sollte dies daher nicht unmittelbar mit dem Ausdruck einer Grundstimmung gegenüber dem Sächsischen gleichgesetzt werden. Jedoch deuten auch andere Arbeiten auf ein negatives Image des Ostens hin (z. B. Kennetz 2010). Auch die jüngsten Ergebnisse der Projektgruppe Spracheinstellung beim IDS Mannheim deuten in diese Richtung, wenngleich stark differenzierend, etwa nach Generationenabhängigkeiten und Provenienz der Urteiler (Eichinger et al. 2009; Gärtig/Plewnia/Rothe im Druck; Plewnia/Rothe 2009). Unerwartet ist die Verteilung bei der Mediendomäne. Allerdings ist auch hier wiederum von einer Domänenüberschneidung v. a. mit dem Bereich der Sprachphänomene auszugehen. Für „Sächsisch“ werden genannt Asterix und Obelix, Radiowerbung für Hessisch Asterix babbelt Hessisch, Badesalz, Koch, Aschenbecher.30 Auffällig ist zudem, dass personelle Repräsentanten nur äußerst selten genannt werden. Überhaupt wird, abgesehen von Asterix und Obelix, für das Sächsische (nicht stimmigerweise) nur Michael Ballack als medialer Repräsentant genannt.31 Damit ist alles in allem eine klare Ausrichtung belegt. Es dominieren für das Sächsische, das hier im Fokus steht, diejenigen Nennungen im Experiment, die eine emotionale Einstellung belegen, die sprechlagenbezogen sind oder aber auf den Ort des Sächsischen referieren. Unter diesen Ortsreferenzen dominieren die großregionalen Angaben, ergänzt um Städtenennungen, Landschaftsangaben und Kontraste, ggf. mit Bezug zur gesprochenen Sprache, womit alles in allem die schon oben sichtbar gewordenen Tendenzen bestätigt sind, zugleich aber auch die sozial-affektive Einbettung der Regionalsprache betont ist. Schließlich sei noch erwähnt, dass sich informantenseitig keine Bezüge zwischen der Lokalisation des Sächsischen im Rahmen der Explizitbefragung und den entsprech30

Die beiden letzten Nennungen wurden dem Bereich Medien zugeordnet, da Koch, gemeint ist der damalige Ministerpräsident Roland Koch, sich gerade im Wahlkampf befand und über die Medien dauerhaft präsent war. Die Nennung Aschenbecher referiert auf ein in den Medien transportiertes Stereotyp des Hessischen, das mit komödiantischem Hintergrund v. a. in jüngeren Generationen seine Zielgruppe findet. 31 Die Besonderheit der Medien als Ort einer stereotypenbasierten Inszenierung des Sächsischen wurde bereits weiter oben angesprochen. Im Rahmen der Explizitbefragung wird alternativ zu Michael Ballack noch Angela Merkel als Repräsentantin des Sächsischen genannt.

27 enden Assoziationen bzw. ihren Domänen feststellen lassen. Hierfür sind die Verortungen zu ähnlich.

6. Implikationsstruktur Fasst man die bisherigen Ergebnisse zusammen, so lassen sich nicht nur Aussagen über den geographischen Ort des Sächsischen, sondern auch über die Konzeptualisierung des Sächsischen aus Sicht der hier berücksichtigten Informanten hessischer Provenienz treffen. Im vorläufigen Verzicht auf detaillierte Ergebnisse lassen sich diese Aussagen grob etwa folgendermaßen verdichten: „Sächsisch“ ist (A) eine regionalsprachliche Varietät des Deutschen, die (B) über einen spezifizierbaren geographischen/topographischen/geometrischen Ort verfügt, der im Osten der Republik liegt, in enger Verbindung mit dem Ausdruck „Ostdeutsch“ steht und sich bisweilen mit dem Gebiet des Bundeslandes Sachsen deckt. Im Rahmen typischer Konzeptualisierungen kommt der Verortung ein hoher Stellenwert zu. Die Repräsentanten des Sächsischen (C) sind nicht nur Personen, sondern auch Städte oder Regionen, die freilich auf die dort lebenden Sprecher des Sächsischen referieren können. Es besteht (D) ein typisches Variantenrepertoire des Sächsischen, das (E) in Kontrast zum Variantenrepertoire des Hochdeutschen steht. Bekannt sind die Varianten über individuell unterschiedlich intensive Erfahrungen, womit also (F) Bezüge zur eigenen Person bestehen können. Das Sächsische ist medial präsent (G), es emotionalisiert (H) und verfügt über ein eher negatives Image. Ein Bezug zur individuellen oder sozialen Identität (I) besteht nicht. Für sich genommen sind diese Aussagen A bis I trivial, doch ergeben sie in Summe ein semantisch komplexes Geflecht relationaler Abhängigkeiten, das in seiner Gesamtheit einen beträchtlichen Teil der Sprachraumkonzeptualisierung ausmacht. In Erweiterung der in der Definition kurz gefassten, allgemeinen Ergebnislage ist es ein reizvolles Experiment, diese Relationen im Rahmen einer implikativen Bezugnahme zu sortieren, so dass spezifischere kognitive Wirkweisen aufgedeckt werden können. Es wird daher der Versuch unternommen, der semantischen Komplexität der Sprachraumkonzeptualisierung, insonderheit hier der Verortung von Sprachräumen, versuchsweise über die Semantik allgemeiner Aussagen näherzukommen. Methodisch besteht somit eine Verbindung zur Aussagen- bzw. Prädikatenlogik. Ziel ist es Hinweise zu erlangen, die zum Verständnis der dynamischen Organisation individuell oder sozial dependenter Konzeptualisierungen von Sprachräumen hilfreich sind.32 32

Inhaltlich schließt der Beitrag auf diese Weise an der methodisch anders gelagerten Analyse des Hessischen von Kehrein/Lameli/Purschke (2010) an, in der ähnliche Bedingungen der Sprachraumkonzeptualisierung gefunden wurden.

28 In einem ersten Schritt werden die in der obigen Definition zusammengetragenen allgemeinen Befunde zu grundsätzlichen Aussagen positiver Lesart transformiert. Das Formativ „Sächsisch“ ist durch eine allgemeine Referenz K ersetzt, womit sowohl die sprachliche als auch die räumliche Komponente aufgelöst wird. Die positiven Grundaussagen erhalten damit zugleich hypothetischen Charakter. Im direkten Anschluss wird für das Sächsische eine Konkretisierung nach Maßgabe der oben gewonnenen Ergebnisse vorgenommen. Es gilt: A K ist eine Regionalsprache des Deutschen.33 Ergebnis: A Sächsisch ist eine Regionalsprache des Deutschen. B K hat einen typischen Ort. Ergebnis: B Sächsisch hat einen typischen Ort. C K hat typische Repräsentanten. Ergebnis: C Sächsisch hat typische Repräsentanten. D K hat ein typisches Variantenrepertoire. Ergebnis: D Sächsisch hat ein typisches Variantenrepertoire. E K ist Hochdeutsch.34 Ergebnis: E Sächsisch ist nicht Hochdeutsch. F K hat einen Bezug zur eigenen Person. Ergebnis: F  F Sächsisch hat einen / keinen Bezug zur eigenen Person. G K ist medial präsent. Ergebnis: G Sächsisch ist medial präsent. H K emotionalisiert. Ergebnis: H  H Sächsisch emotionalisiert / nicht. I

K hat einen Bezug zur eigenen Identität. Ergebnis: I Sächsisch hat keinen Bezug zur eigenen Identität.

Wie angedeutet handelt es sich bei den sächsischen Konkretisierungen um typische Aussagen, die im Einzelfall unterschiedlich spezifiziert sein können und, wie oben gesehen, auch unterschiedlich spezifiziert sind. Auf der Grundlage der Gesamtbetrachtung und vor dem Hintergrund ihrer positiven oder negativen Lesart stehen diese Aussagen untereinander im Verhältnis der Konjunktion, in Teilen auch der Disjunktion: A  B  C  D  E  (F  F)  G  (H  H)  I. 33

Unter einer Regionalsprache des Deutschen sei hier eine genetisch verwandte Varietät des Deutschen mit regional begrenzter Reichweite verstanden, deren Variantenrepertoire regionale Exklusivität aufweist. 34 Hochdeutsch hier im Sinne von Standard- oder Schriftsprache.

29 Das Sächsische ist dergestalt in verschiedenen relationalen Abhängigkeiten zu betrachten: Erstens in einer individuellen Relation, die sich auf persönliche – oder identitätsbezogen auch auf soziale – Erfahrungen und Einstellungen bezieht (F, H, I). Zweitens besteht eine topologische Relation zu bestimmten Orten, Regionen oder Lagebeziehungen (B). Drittens besteht eine phänomenbezogene Relation, womit ein Bezug zur Ebene der sprachlichen Varianten vorliegt, die ihrerseits im hier diskutierten Fall wahrnehmungsbezogen sind (A, D, E). Viertens besteht eine trägerbezogene Relation, die sich auf den Zusammenhang mit den Vermittlern der sprachlichen Varianten bezieht, seien sie an ein privates oder öffentliches Erleben gebunden (C, G).35 Im Rahmen der vorliegenden Studie sind diese Relationen als die eigentlichen Faktoren der Konzeptualisierung des Sächsischen anzunehmen. Schon bei flüchtiger Betrachtung wird deutlich, dass sich diese Relationen, wie überhaupt sämtliche Aussagen, in unterschiedlich engen semantischen Abhängigkeiten zu einander befinden. Einige der Aussagen stehen in einer implikativen Beziehung. So lässt sich z. B. aus A folgern, dass B, weswegen in etwas formalisierter Weise gilt: A  B. Andere Aussagen stehen hingegen in einer Äquivalenzbeziehung. Beispielsweise lässt sich aus A folgern, dass E, wie sich aus E folgern lässt, dass A, d. h. A genau dann gegeben ist, wenn E: A  E. Aufbauend auf diesen Vorgaben kann für die Einzelaussagen zum Sächsischen hinsichtlich ihrer implikativen Beziehungen untereinander sowie ihrer möglichen Äquivalenzrelationen folgende Struktur abgeleitet werden:

Abbildung 12: Implikative Beziehungen von „Sächsisch“ im Rahmen der Sprachraumkonzeptualisierung

35

Diese Sichtweise ist zu Purschkes Modellierung der Repräsentation von Regionalsprachen kompatibel (vgl. Purschke 2010: 119), die hier in gewisser Hinsicht zu einem minimalen Satz gekürzt ist.

30 Die Darstellung baut auf den oben angesprochenen vier relationalen Abhängigkeiten auf, die in das Schema als gliedernde Ebenen eingebunden sind. Die das Sächsische betreffenden Konkretisierungen sind als Einzelkomponenten aufgenommen. Die obere Ebene (B) referiert auf die räumliche Verortung des Konzepts Sächsisch, die zweite Ebene (A, D, E) auf seine phänomenbasierte Ausrichtung, die dritte Ebene (C, G) auf seine Träger und die vierte (F, H, I) auf seine individuelle Disposition.36 Die implikative Struktur folgt einer logischen Erschließung. Zugleich simuliert sie in gewisser Hinsicht die bei der Verortung wirkenden implikativen Schlüsse. Die räumliche Komponente B ist mit der Regionalsprachenkomponente A verknüpft. Ausgehend davon, dass „Sächsisch“ eine Regionalsprache des Deutschen ist, darf angenommen werden, dass „Sächsisch“ einen typischen Ort hat. Umgekehrt ist diese Beziehung nicht zwingend. Die Aussage „Sächsisch“ hat einen typischen Ort impliziert nicht notwendigerweise ein sprachräumliches Konzept. Sofern „Sächsisch“ also nicht sprachlich motiviert ist, sondern z. B. politisch, kulturell oder ethnisch, impliziert die Ortskomponente nicht das Vorhandensein einer Regionalsprache. Die Beziehung ist daher unidirektional. Die Aussage, dass „Sächsisch“ eine Regionalsprache des Deutschen ist (A), impliziert Inkompatibilität mit dem Hochdeutschen (E) und umgekehrt, weswegen eine Äquivalenzrelation zur Aussage E vorliegt. Ferner ist aus A wie auch aus E zu schließen, dass „Sächsisch“ über ein typisches Variantenrepertoire verfügt (D). Umgekehrt impliziert Aussage D „Sächsisch“ hat ein typisches Variantenrepertoire jedoch nicht zwingend, dass „Sächsisch“ eine Regionalsprache des Deutschen ist. Zu denken wäre diesbezüglich auch an jugendoder szenesprachliche Varianten, die im Konzept des Sächsischen aufgehen können, was z. B. dann der Fall ist, wenn auf bestimmte Personen aus Sachsen referiert wird, die sich über solche Sprechweisen auszeichnen.37 In diesem Zusammenhang ist auch der Verweis auf das Sorbische wichtig, das im Bundesland Sachsen eine Fremdsprache belegt, die keine Regionalsprache des Deutschen darstellt und von den Informanten im Rahmen der Sprachraumlokalisierung genannt wird (vgl. Fußnote 17). Damit ist eine unidirektionale Implikation A  D anzusetzen. Da in allen genannten Fällen, die sozialen bzw. soziostilistischen und fremdsprachlichen Varietäten in Kontrast zur Hochsprache stehen, kann eine Beziehung E  D angesetzt werden. Was die Träger des Sächsischen angeht, so lässt sich aus Aussage D schließen, dass es auch Personen geben muss, die diese Varianten verwenden und damit personelle Träger bestehen. Doch zeigt sich an dieser Stelle, dass als 36

Ein vergleichbares Vorgehen ist mir im Bereich der empirischen Regionalsprachenforschung nicht bekannt. Einen formal-logischen Zugang zu einer Explizitdefinition des Begriffs Dialekt hat Ammon (1983) vorgelegt. 37 Lameli/Purschke/Kehrein (2008: 60) finden solches z. B. im Falle des Manischen, das von Jugendlichen für die Region Gießens angesetzt wird. Es handelt sich dabei um eine dem Rotwelschen ähnliche Sondersprache.

31 Repräsentanten des Sächsischen in auffallendem Maße solche Sprecher begegnen, die keine oder nur sehr wenige regionalsprachliche Varianten aufweisen, wie vorliegend etwa Angela Merkel oder Michael Ballack.38 Ihre Stellvertreterfunktion beziehen diese Repräsentanten folglich eher aus ihrer (vermuteten) regionalen Herkunft, denn aus ihrer sprachlichen Besonderheit. Das bedeutet, dass Aussage C „Sächsisch“ hat typische Repräsentanten nicht notwendigerweise ein spezifisches Variantenrepertoire D impliziert, die Beziehung also unidirektional ist. Dies gilt umso mehr, wenn unbelebte Repräsentanten berücksichtigt werden, wie z. B. Ortsangaben auf einer Landkarte.39 An Aussage C zu den Repräsentanten ist wiederum Aussage G zur Medienpräsenz angebunden. Der Umstand, dass „Sächsisch“ in den Medien präsent ist, lässt auf Repräsentanten des Sächsischen schließen, was umgekehrt jedoch keine Gültigkeit beanspruchen kann. Auf der Ebene der individuellen Disposition sind die Aussagen F zum persönlichen Bezug, I zur Identität und H zum emotionalen Potenzial angesiedelt. Da das Individuum, das ein Konzept des Sächsischen belegt, über die Träger des Sächsischen – seien sie real oder fiktional, aktuell oder historisch, belebt oder unbelebt usw. – in Kenntnis kommen muss, setzt die Verbindung zwischen den trägerbezogenen Relationen des Sächsischen und den direkt auf das konzeptualisierende Individuum bezogenen Relationen an Aussage F „Sächsisch“ hat einen / keinen Bezug zur eigenen Person an. Die Beziehung zwischen F und C setzt an der positiven Aussage F an. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass sich die oben gesehenen Emotionalisierungen (H  H) gegenüber dem Sächsischen nicht direkt aus der Perzeption von Sprachvarianten (D), aus der räumlichen Lage (B) oder einer medialen Präsenz (G) an sich ergeben, sondern aus den individuellen und sozialen Erfahrungen (F  F)  I, die sich in konkreten oder vagen Einstellungen äußern. Im vorliegenden Kontext wurde ein Bezug zur eigenen Identität nicht festgestellt (I), wohl aber unregelmäßige Bezüge zur eigenen Person (F  F), etwa durch Bekanntschaft (vgl. Kapitel 3.2). Es ist davon auszugehen, dass die Emotionalisierung gegenüber dem Sächsischen, baue sie auf positiven oder negativen Einstellungen auf, an dieser individuellen Ebene ansetzt. Die Implikationsbeziehungen sind dabei als mehrdirektional anzusehen, d. h. dass die emotionale Auseinandersetzung einen wie auch immer gearteten Bezug zum Sächsischen voraussetzt, wie umgekehrt, der Bezug zur eigenen Person/Identität eine wie auch immer geartete emotionale Konsequenz impliziert.40 Im vorliegenden Fall ist jedoch kein Bezug zur Identität belegt, weswegen dieser negative Bezug am negativen Teil der Disjunktion (F  F) 38

Ähnliches zeigt sich auch in anderen Regionen (vgl. Lameli/Purschke/Kehrein 2008: 79 f.). Bei den Repräsentanten ist zusätzlich eine fiktionale, im Eigentlichen literarische oder komödiantenhafte Dimension zu berücksichtigen (vgl. z. B. den Verweis auf Asterix und Obelix). 40 Erinnert sei an die im Rahmen des Assoziationstests evozierten Nennungen des Typs Heimat oder ich, die eine emotionale Bindung offen legen. Es wird daher nochmals nachvollziehbar, dass die Emotionsdomäne im Assoziationstest Bezug zu anderen Domänen aufweist. 39

32 ansetzt. Dennoch trägt die negative Identitätsaussage – v. a. über den Aspekt der Fremdheit – positiv oder negativ emotionalisierendes Potenzial, so dass eine Anbindung an H möglich ist. Weitere Bezüge als die hier angesetzten sind grundsätzlich denkbar. So wurde z. B. schon oben darauf hingewiesen, dass die Medien eine lokale Eigenschaft des Sächsischen ausmachen. Insofern kann z. B. die Medienkomponente über Fiktionalisierung auch in einer abstrakten Beziehung zur Ortskomponente B gesehen werden. Doch wird das hier entworfene Schema insgesamt als schlüssig erachtet. Bemerkenswert ist dabei der Umstand zu bewerten, dass die logische Verbindung zwischen den übergeordneten Relationen stets unidirektional erfolgt: F  C; D  C; A  B. Wird jedoch die empirische Datenbasis und damit die logische Erschließung der Informanten vertiefend ins Kalkül gezogen, so besteht Anlass zur Annahme, dass in der Konzeptualisierung der Informanten an diesen Stellen durchaus auch bidirektionale Implikationen vorliegen können. Angedeutet hat sich das v. a. bei den Repräsentanten der Sprachräume, die bisweilen keine regionalsprachlichen Varianten aufweisen. Hier mag für die Informanten die Relation D  C nicht unwahrscheinlich sein. Auch sonst können individuelle Erschließungen wirken, weswegen das vorgestellte Modell als logische Möglichkeit betrachtet werden sollte und nicht als ausschließliche Wirkkraft. Eine Übertragung der hier vorgefundenen „Orte“ des Sächsischen auf die geographische Komponente B des Implikationsmodells und damit eine Einbettung der konkreteren Ergebnisse leistet Abbildung 13. Die Darstellung zeigt ausgehend von der konkreten Verortung als oberflächenbasierte Realisation ein Mehrebenenmodell. Wesentlicher Bestandteil ist die unterhalb der Oberfläche gelagerte Ebene der implikativen und äquivalenzbasierten Beziehungen, die für die Konstituierung spezifischer Repräsentate verantwortlich ist. Diese Repräsentate sind in ihrem semantischen Gehalt, wie er in der vorliegenden Arbeit abgeleitet werden konnte, auf der untersten Ebene angedeutet. Da es sich gerade mit Blick auf die implikativen Beziehungen um einen dynamischen Prozess der Repräsentation bzw. Projektion handelt, ist dieses Modell als prototypischer „Schnappschuss“ zu verstehen, bei dem die Implikationsstruktur als übergeordneter logischer Erschließungskomplex eingebunden ist. Indem damit die gefundenen Orte des Sächsischen, die Teil der Konzeptualisierung des Sächsischen durch die Informanten sind, zusammengetragen und in eine übergeordnete Motivationsebene eingebunden sind, fasst Abbildung 13 das Gesamtergebnis der vorliegenden Studie gleichsam zusammen. Auf diese Weise wird nicht nur eine in die tieferen Strukturen hineinreichende Anbindung möglich. Zugleich wird damit erkennbar, dass letztlich alle hier angesetzten Implikations- und Äquivalenzbeziehungen mit der Konzeptualisierung der räumlichen Lage des Sächsischen in Verbindung stehen.41 41

Hier nicht eingebunden wurden die spezifischen Assoziationsdomänen, gleichwohl sie eine weitere Ebene unterhalb der Implikationsstruktur einnehmen könnten. Auch die übrigen

33

Abbildung 13: Ableitung der „Sächsisch“-Orte aus der Implikationsstruktur

Wenngleich über die Implikations- und Äquivalenzrelationen eingehender und v. a. kritisch diskutiert werden müsste, lässt sich mit dem hier beschrittenen Weg die Konzeptualisierung des Sächsischen in einer bislang nicht gegebenen

Oberflächenelemente könnten in ähnlicher Weise konkretisiert werden. So könnte z. B. das von Kehrein (in diesem Band) erarbeitete Schema an die Variantenkomponente D angebunden werden. Das Ergebnis bei vollständiger Füllung wäre eine netzartige Struktur, die mindestens eine teilweise Simulation der konzeptuellen Dynamik leistete.

34 Weise ordnen.42 Für das Untersuchungsziel der vorliegenden Arbeit ist vorrangig Aussage B leitend, wobei deutlich wird, dass B nicht ohne die anderen Aussagen denkbar ist. Der Wert des hier testweise erstellten Modells ist darin zu erkennen, dass es mit Blick auf die Konzeptualisierung der sächsischen Sprachlandschaft eine Schärfung direkter und indirekter Einflussfaktoren vornimmt, womit sein Zweck erfüllt ist. Die Konzeptualisierung des Raumes lässt sich folglich keineswegs nur aus einer spezifischen Variantenverteilung an einem bestimmten Ort erklären, sondern aus einer Vielzahl an Faktoren, die – individuell abhängig – untereinander in konkreten Beziehungen stehen.43 Die Darstellung zeigt damit ergänzend zu der Verortung der sächsischen Sprachlandschaft durch westdeutsche Laien, die Verortung der sächsischen Sprachlandschaft in einer weiter gefassten mentalen Dimension.

7. Fazit Der hier zur Diskussion stehende Ort, an dem westdeutsche Informanten das Sächsische vermuten, wurde über verschiedene methodische Zugänge gesucht und letztlich an verschiedenen Stellen gefunden. Darunter lassen sich – nicht nur geographisch – typische Orte ableiten, doch muss auf der Grundlage der Ergebnisse, die in gewissem Umfange auch die nicht-räumliche Konzeptualisierung des Sächsischen betreffen, geschlossen werden, dass Ort, im Sinne von der Ort, an dem das Sächsische ist, im Kern nicht die ausschließliche Kategorie zur Beschreibung der räumlichen Konkretisierung durch linguistische Laien ist. Zwar ist die geographische Komponente aus Sprechersicht elementar (z. B. über klein- oder großräumige Referenzen), dennoch bezieht sich der Ort in der Vorstellung der Informanten nicht allein darauf, wo das Sächsische ist, sondern zu einem Gutteil auch darauf, wo das Sächsische nicht ist. Gerade dieser Umstand steht mit bestimmten Wertungen und Attitüden in Beziehung, wie besonders am Beispiel der Inkompatibilität mit dem Hochdeutschen deutlich wird, sich aber auch im Assoziationsexperiment zeigt, das „Sächsisch“ mit z. B. den Kollokationen Thüringen, Saarländisch und Österreich in Verbindung bringt. Erwartbar ist der Ort des Sächsischen insofern platziert, als er aufs engste mit dem Osten Deutschlands verknüpft ist. Doch konnte die Studie aufzeigen, dass 42

Es liegt damit eine Konkretisierung des kombinatorischen Aspekts vor, wie er sich aus Purschkes Modell der Strukturkomponenten von Sprachraumkonzepten ergibt (Purschke in Bearb.). 43 Erinnert sei hier auch an die Arbeiten Prestons, in denen der Zusammenhang von Lokalisation und sozialer Projektion bzw. individueller Einstellung ebenfalls offensichtlich ist, so z. B. in der konkreten Verortung des Stereotyps Hillbilly, das nur sekundär sprachlich motiviert ist (Preston 2010: 131). Vgl. auch Williams/Garrett/Coupland (1999: 358), die im Rahmen eines akustisch basierten, regionalsprachlichen Verortungsexperiments zu ähnlichen Ergebnissen gelangen sowie Montgomery (2010: 593), der die negative Bewertung von Sprachräumen betont.

35 die Überschneidung mit dem Osten Deutschlands interindividuell komplex und konzeptuell schwer fassbar ist. Bisweilen sind stark unterschiedliche individuelle Zugänge ersichtlich. Für den einen mag im Rahmen der Verortungsaufgabe Sächsisch gleichbedeutend mit dem Bundesland Sachsen sein, für den anderen mit weiten Teilen der ehemaligen DDR, für wieder andere eine spezifische Grenzregion, eine konkrete Stadt usw. Sächsisch ist damit interindividuell als tendenziell offenes Konzept angedeutet. Gleichwohl lassen sich typische Orte des Sächsischen, v. a. unter den Städten benennen (Bautzen, Dresden, Hoyerswerda). Weiterhin zeichnet sich „Sächsisch“ ganz offenbar durch eine besondere Lage aus, die in enger Verbindung mit dem Grenzverlauf der Bundesrepublik in Verbindung steht, die zu einer Interpretation als geometrische Relation Anlass gibt. Auf diese Weise sind spezielle Verortungsstrategien und Verortungsroutinen der Informanten deutlich geworden. Das bedeutet zusammengefasst: Wenn hier nach dem Ort der sächsischen Sprachlandschaft gefragt wurde, so ist zu konstatieren, dass sich das Konzept „Sächsisch“ als eine komplexe Mischform identifizieren lässt, die sich aus offensichtlich unterschiedlichen Konjunkten (Repräsentaten) konstituiert.44 Diese individuell determinierte Konjunktmenge konnte zumindest in Teilen geschärft werden. „Sächsisch“ scheint diesbezüglich für die Informanten der vorliegenden Arbeit konzeptuell eine Kombination solcher Repräsentationsebenen zu sein, die 1.) Bezug zur individuell emotiven Befindlichkeit aufweisen und mit persönlichen Erfahrungen ebenso in Verbindung stehen wie mit sozialer Vermittlung (z. B. Identitätskonstruktion qua Abgrenzung nach außen), die 2.) die Erschließung topologischer Relationen (Ort, Lage etc.) ermöglichen, die sich 3.) aus bestimmten sprachlichen Phänomenen konstituieren und die 4.) trägerbasiert und – nicht zuletzt – medial inszeniert sind. Im Assoziationsexperiment erwies sich dabei insbesondere die affektive Ebene als relevant. Wie z. B. über die Modellierung von Implikationsstrukturen deutlich wurde, stehen solche Repräsentationsebenen in einer mehr oder weniger engen Verbindung, deren direkte und indirekte Wirkkraft hier ergänzend zu den vorliegenden detaillierten Ergebnissen auf der Oberflächenebene in bisher nicht gegebener Weise spezifiziert werden konnte.45 Damit ist der Ort des Sächsischen aus Sicht westdeutscher Informanten zum einen multilokal gefunden worden, wie andererseits seine Einbettung in das Gesamt einer flexiblen Sprachraumkonzeptualisierung konkretisiert werden konnte.

44

Vgl. Konzepttyp 3 in Lameli/Purschke/Kehrein (2008: 83). Das Ergebnis erweitert damit das in Kapitel 2.2 erwähnte Repräsentationsmodell um eine spezifische, d. h. kontextuell dependente Einsicht. 45

36

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