„Wo dat Blömsche jeblöht hät, do wor Widerstand?“ — Die Edelweißpiraten als Beispiel oppositioneller Subkulturen im Dritten Reich

June 20, 2017 | Author: Annika Stendebach | Category: History, Resistance (Social), Protest, Twentieth Century History and Culture, Anti-nazi resistance, Youth Subcultures, Twentieth Century Germany, Nazi Germany, Germany, Protest Movements, Social protests, Protest and resistance, Widerstand, Protest and State Repression, Youth Movement, Edelweisspiraten, Youth Subcultures, Twentieth Century Germany, Nazi Germany, Germany, Protest Movements, Social protests, Protest and resistance, Widerstand, Protest and State Repression, Youth Movement, Edelweisspiraten
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„Wo dat Blömsche jeblöht hät, do wor Widerstand?“ — Die Edelweißpiraten als Beispiel oppositioneller Subkulturen im Dritten Reich

ANNIKA STENDEBACH HISTORISCHES SEMINAR Johannes Gutenberg-Universität Mainz 0

Annika Stendebach

„Wo dat Blömsche jeblöht hät, do wor Widerstand?“ — Die Edelweißpiraten als Beispiel oppositioneller Subkulturen im Dritten Reich

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und historischer Kontext

1

2. „Edelweißpirate, su han se sich jenannt“ — Strukturen der Edelweißpiraten

2

3. Vorüberlegungen zur Klassifizierung von Widerstandsformen im Nationalsozialismus

4

4. „Met Jitta jäjä Nazi-Marsch“ — Protestformen der Edelweißpiraten 4.1 Nonkonformität

6

4.2. Verweigerung

8

4.3 Öffentlicher Protest

10

4.4. Widerstand im engeren Sinne

12

5. Schlussbetrachtung

16

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

17

Annika Stendebach

1.

Einleitung und historischer Kontext

Circa seit Beginn der 1980er Jahre erstarkte das Interesse an einer Auseinandersetzung mit „spontanem“ Jugendwiderstand, sowohl unter Historikern als auch in der Öffentlichkeit. Erstmals wurde das weitverbreitete Bild einer die gesamte jugendliche Bevölkerung einschließenden Hitler-Jugend als Staatsjugend ansatzweise dekonstruiert.1 In jenem Zusammenhang sang die Kölner Band Bläck Föös „Edelwießpirate – su han se sich jenannt. Wo dat Blömche jeblöht hät, do wor Widderstand!“.2

Doch um jene Bezeichnung der Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer überprüfen zu können, müssen zunächst die Begriffe „Edelweißpiraten“ und „Widerstand“ genauer beleuchtet und für diese Arbeit definiert werden. In dieser Arbeit wird sich der weit verbreitetet Auffassung, dass es sich bei dem Namen „Edelweißpiraten“ um einen Sammelbegriff für diversen Jugendgruppierungen im Rhein/Ruhrgebiet handelt, angeschlossen.3 Das Begriffsfeld zum Thema „Widerstand“ lässt sich mittlerweile zahlenmäßig nur noch schlecht erfassen. Seit den 1960er Jahren wurden auch diverse Ordnungsschemata als Versuch die verschiedenen Stufen des Widerstandes zu kategorisieren

entwickelt.4

Für

diese

Arbeit

wird

das

vierstufige

Widerstandsmodell von Gotto, Hockert und Repgen5 verwendet um die Aktivitäten der Edelweißpiraten zu beurteilen, da es mit der „Risikobereitschaft“ als eines der wenigen Modelle eine klare Skala vorweisen kann und daher auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung oft herangezogen wird. Wie und ob überhaupt jene beiden Begriffe miteinander in Verbindung stehen, soll im Folgenden beleuchtet werden indem die Protestformen der Edelweißpiraten am Widerstandsmodell von Gotto, Hockert und Repgen 1

Hellfeld: Die betrogene Generation, S. 268; Peukert: Die Edelweisspiraten, S. 9. „Edelweißpiraten – so haben sie sich genannt. Wo das Blümchen blühte, da war Widerstand.“ (Theilen, S. 208213). 3 Peukert: Jugendsubkulturen, S.307. 4 Dazu gehören die Modelle von Bethge 1963, Erdmann 1976, Peukert 1982 sowie Löwenthal 1982. Für eine Übersicht über jene Modelle siehe Kißener, S. 84-88. 5 Gotto (u.a.), S. 173-176. 2

1

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gemessen

werden.

Allerdings

muss

bei

einer

wissenschaftlichen

Auseinandersetzung mit Widerstandsformen im Dritten Reich immer im Blick behalten werden, dass ein Großteil der vorhandenen

Quellen von

nationalsozialistischer Seite überliefert wurden. Dies beinhaltet oftmals die Gefahr fehlender Objektivität, da die Nationalsozialisten in der Regel den Fokus auf die von der Norm abweichenden Verhaltensweisen ihrer Gegner legten und diese daher oftmals bewusst in einem kriminellen oder „asozialem“ Licht darstellten.6

Das

Bild

der

arbeitsverweigernden,

leicht

kriminellen

Edelweißpiraten7, welches hauptsächlich durch die einseitige Überlieferung durch Dokumente der Nationalsozialisten entstanden ist8, muss daher mit ausreichender Sensibilität und Objektivität betrachtet werden. Um dies zu gewährleisten, wurden jene Darstellungen anhand der autobiographischen Erinnerungen Fritz Theilens, eines Ehrenfelder Edelweißpiraten sorgfältig gegengeprüft.

2.

„Edelweißpirate, su han se sich jenannt“9 — Strukturen der Edelweißpiraten

Der Titel jenes zweiten Kapitels, entnommen aus dem gleichnamigen Lied der Kölner Band Bläck Föös, ist im Grunde irreführend. So handelte es sich bei dem Namen „Edelweißpiraten“ zunächst nicht um eine Selbstbezeichnung. Stattdessen entstammt diese Bezeichnung den Berichten der Nationalsozialisten und war ursprünglich als Verunglimpfung gedacht, bevor er von den Jugendlichen übernommen wurde.10 Unter den Edelweißpiraten versteht man in der Regel eine lose Organisation von oppositionellen Jugendlichen, vorrangig aus dem Arbeitermilieu11, welche schwerpunktmäßig im Rhein-Ruhr-Raum

6

Peukert: Die Edelweisspiraten, S. 11 u. 60. Peukert: Jugendsubkulturen, S. 310. 8 Laut einem internen Bericht kam es zu solchen Bezeichnungen, um die Jugendlichen in ihrer Ehre zu kränken, anstatt ihrem Treiben einen zu hohen Stellenwert zukommen zu lassen und sie somit als Märtyrer darzustellen (Theilen, S. 58). 9 „Edelweißpiraten, so haben sie sich genannt.“ (Theilen, S. 210f.). 10 Kenkmann, S. 140; Rusinek: Gesellschaft, S. 79. 11 Kenkmann spricht bei den Edelweißpiraten von einem Anteil von 90% an Jungarbeitern im Gegensatz zu der vorrangig aus Gymnasiasten bestehenden Bündischen Jugend (S. 142). 7

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anzutreffen war.12 Alleine in Köln waren laut Gestapo-Akten im Jahre 1942 ca. 3 000 Edelweißpiraten erfasst.13 Allerdings handelt es sich dabei nur um eine recht grobe Einschätzung, die genaue Zusammensetzung der Edelweißpiraten muss differenzierter betrachtet werden. So wird von Historikern oftmals angeführt, dass es sich bei den Edelweißpiraten mehr oder minder um eine direkte Fortsetzung der spätestens durch das Verbot von „wilden Jugendbünden und Wandergruppen“14 des Regierungspräsidiums Düsseldorf vom 18. August 1933 verbotenen Bündischen Jugend handelt.15 Diese Auffassung wurde wohl auch durch zeitgenössische Berichte aus nationalsozialistischen Kreisen gestützt, welche die Edelweißpiraten oftmals direkt in entweder eine bündische oder kommunistische Tradition stellte.16 Die hier vertretene These lautet jedoch vielmehr, dass es sich bei den Edelweißpiraten nicht um eine unmittelbare Fortsetzung der Bündischen Jugend handelt, sondern dass sie lediglich ähnlich oppositionelle Elemente aufwiesen. Gründe gegen eine solche Bezeichnungskontinuität sind unter anderem die personellen Wechsel (jene Jugendlichen, die in der Mitte der 1930er Jahre dem nationalsozialistischen Überwachungsapparat negativ aufgefallen waren, befanden sich während den Hochzeiten der Edelweißpiratenaktivitäten in den frühen 1940er Jahren zum Großteil bereits als Soldaten an der Front) sowie das Fehlen einer übereinstimmenden Ideologie.17 Ein weiteres Argument ist, dass sich unter dem NS-Regime die Tendenz beobachten lässt, sämtliche Jugendaktivitäten außerhalb der Hitler-Jugend als „bündisch“ zu bezeichnen, ohne in irgendeiner Art und Weise zu differenzieren.18 Dementsprechend muss dieser Sammelbegriff nicht zwangsläufig auf eine enge Verbindung der Traditionen der Edelweißpiraten und der Bündischen Jugendbewegung hindeuten.

12

Hellfeld nennt die Gegend um Köln/Düsseldorf als Ursprung, berichtet aber dennoch von einer Ausdehnung über weite Teile des Reiches (Einleitung, S. 9). 13 Rusinek: Gesellschaft, S. 75. Auch Kenkmann spricht von tausenden Kölner Edelweißpiraten gegen Mitte des zweiten Weltkrieges (S. 139f.). Allerdings ist nicht zweifelsfrei zu belegen, dass es sich bei all jenen jungen Menschen um bekennende Edelweißpiraten handelt (Rusinek: Gesellschaft, S. 82). 14 Weitere Informationen zum Verbot bündischer Betätigung finden sich bei Kater. 15 Krolle, S. 116; Hellfeld: Die betrogene Generation, S. 50ff. u. S.226; Hellfeld: Einleitung, S. 8; Klönne: Strom, S. 66. 16 Hellfeld: Die betrogene Generation, S. 79. 17 Peukert: Die Edelweißpiraten, S. 309; eine ähnliche Auffassung vertritt Rusinek Desintegration, S. 280f. 18 Rusinek: Desintegration, S. 280f.

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Im Zusammenhang mit dem Begriff der Edelweißpiraten fallen häufig andere Namen wie Navajos, Kittelbachpiraten und zahllose andere Bezeichnungen, oftmals mit regionalem Bezug. Dies lässt Raum für die Theorie, dass es sich bei all diesen um eigenständige Gruppierungen und damit bei den Edelweißpiraten um ein auf den Kölner Stadtteil Ehrenfeld begrenztes Phänomen handelt. Dem lässt sich jedoch entgegen halten, dass es sich zwar um einen Einzelfall handelt, der nicht in allen Punkten übertragbar sei19, sich aber das Phänomen der Edelweißpiraten nach der heftigen Bombardierungen auf Köln bis in schlesische und süddeutsche Gebiete ausgeweitet hat.20 Tatsächlich sahen sich jene Untergruppen durchaus als Bestandteil der Edelweißpiraten und standen auch durch regelmäßige Treffen in Kontakt miteinander.21 Selbst die lokalen Gruppen innerhalb Kölns müssen als eine große Organisation aufgefasst werden.22

3.

Vorüberlegungen zur Klassifizierung von Widerstandsformen im Nationalsozialismus

Um „Widerstand" im Nationalsozialismus einschätzen und bewerten zu können, muss zunächst auch ein Blick auf die Rahmenbedingungen jener Zeit geworfen werden, welche sich fundamental von den vorausgegangenen Epochen unterscheiden. Die erste und zugleich wichtigste Bedingung war dabei der totale Kontrollanspruch des nationalsozialistischen Staates, der im Grunde alle Bereiche des öffentlichen Lebens sowie der Erziehung durchdrang. Dies hatte zu Folge, dass eine aktive Teilnahme der Bevölkerung gefordert wurde, ein passives Enthalten geschweige denn ein aktiver Widerstand war so effektiv kaum möglich.23 In jenem Zusammenhang lässt sich also auch festhalten, dass man bei der Betrachtung des Widerstandsphänomens in den 1930er und 1940er Jahren nicht einfach auf anachronistische Art und Weise die heutigen Vorstellungen von

19

Theilen, S. 8. Das Äquivalent der Edelweißpiraten in Koblenz nannte man z.B. „Alabande“, Theilen, S. 56. 21 Peukert: Subkulturen, S. 308. 22 Theilen, S. 55. 23 Gotto (u.a.), S. 173f. 20

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Widerstand auf jene Zeit übertragen darf, sondern man muss sich vergegenwärtigen, dass jedes nicht per se regelkonforme Verhalten ein Risiko in sich trug, wenn auch in verschiedenen Ausprägungen. Dementsprechend muss eine Abstufung, gemessen an dem Ausmaß jenes Risikocharakters, getroffen werden, um Widerstand während des Nationalsozialismus zu untersuchen.24 Darüber hinaus darf allerdings auch nicht außer Acht gelassen werden, dass eine zeitliche Differenzierung durchaus von Nöten ist, unterscheiden sich doch die Rahmenbedingungen der dreißiger Jahre fundamental von denen der Kriegszeit. Gerade in den vierziger Jahren fand eine Verschiebung des Machtverhältnisses statt, es kommt zu einer „Asymmetrie von Schutz und Gehorsam“ 25, das heißt der durch das Regime gebotene Schutz und der im Gegenzug eingeforderte Gehorsam gerieten immer mehr in ein Ungleichgewicht. 26 Ähnliches ist für die von Welter festgehaltenen Rahmenbedingungen der Lebenswelt Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Kausalität zu beobachten,27 gerade ab der Zeit nach der Invasion der Alliierten im Juni 1944 kam es somit zu heftigen Bedrohung der grundlegenden Kategorien der Lebenswelt der deutschen Bevölkerung. 28 Mitunter wird auch die besondere Situation der Kriegsjahre als Erklärung der Existenz der Edelweißpiraten und ähnlicher jugendlichen Oppositionsgruppen herangezogen. Es lässt sich in der Tat nicht abstreiten, dass jene Zeit der Entbehrung dazu beigetragen hat, dass die Aktivitäten der Edelweißpiraten sowohl an Quantität als auch an Rigorosität zunahmen.29 Allerdings gilt es jener These dennoch entgegenzuhalten, dass eben jene Gruppen schon in den Vorkriegsjahren aktiv waren und somit die Kriegsjahre nicht als Auslöser jenes Widerstandes aufzufassen sind.30 Welche Ausmaße, gemessen an dem Widerstandsmodell von Gotto, Hockert und Repgen, jene Protestaktionen der Edelweißpiraten annahmen, soll im folgenden

24

Ebd., S. 174. Rusinek: Desintegration, S. 275. Eine detaillierte Übersicht über symmetrische und asymmetrische Herrschaftsverhältnisse bietet Hüttenberger in seinen soziologischen Vorüberlegungen zum Bayernprojekt. 26 So berichten Kölner Edelweißpiraten häufig noch vor dem Sicherheits- und Hilfsdienst erste Hilfe geleistet zu haben während den heftigen Bombardierungen Kölns, was ihnen Sympathie aus Kreisen der Bevölkerung eintrug (Theilen, S. 62). 27 Welter, S. 16. 28 Rusinek: Desintegration, S. 277ff. 29 Erst ab dem Jahre 1944 spricht man von einer erkennbaren Politisierung (Historisches Archiv der Stadt Köln, S. 394f.) 30 Peukert: Edelweisspiraten, S. 147f. 25

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Kapitel beleuchtet werden. An Stufenmodellen wie dem von Detlev Peukert wird mitunter kritisiert, dass sie eine gewisse Abfolge von der Passivität zum aktiven Handeln, von unbewussten zu bewussten Aktionen suggerierten. Jene Logik greife allerdings nicht bei jugendlicher Opposition, da diese oftmals von Spontanität sowie höchst reaktionären Zügen geprägt seien. Als Gegenentwurf wird daher die „biographische Rekonstruktion“ vorgeschlagen, um die Motivation

jugendlicher

Protestformen

unter

Berücksichtigung

ihrer

individuellen Lebensumstände besser erfassen zu können. 31 Jene Kritik ließe sich auch auf das in dieser Arbeit hinzugezogene Modell von Gotto, Hockerts und Repgen übertragen, da eine umfassende Untersuchung der Lebenswelt der Gesamtheit der Edelweißpiraten aber methodisch im Rahmen einer Seminarsarbeit wohl kaum zu leisten wäre, handelt es sich bei jenem Stufenmodell– unter Berücksichtigung seiner Schwachstellen– dennoch um die am besten geeignete Alternative.

4.

„Met Jitta jäjä Nazi-Marsch“32 — Protestformen der Edelweißpiraten

4.1

Nonkonformität

Mit Blick auf die im vorherigen Kapitel geschilderten Umstände werden nach Gotto, Hockert und Repgen vier Stufen des Widerstands unterschieden. Die erste Phase der punktuellen Nonkonformität ist davon geprägt, dass sich der Unmut nicht unbedingt direkt gegen die Person Adolf Hitlers selbst oder das damit verbundene nationalsozialistische System richtete, sondern oftmals gegen konkrete Umstände in der Lebenswelt der Person, die sich seit der

31 32

Breyvogel, S. 10f. „Mit Gitarren gegen den Nazi-Marsch“ (Theilen, S. 210f.)

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Machtübertragung auf die Nationalsozialisten nicht verbessert, sondern eher noch verschlechtert hatten.33 Jener ersten Phase lassen sich eine Vielzahl der Protestformen der Edelweißpiraten zu ordnen. Auch wenn man bei den Edelweißpiraten in der Regel im Gegensatz zu zum Beispiel den Mitglieder der Widerstandsgruppe der Weißen Rose nicht von einem ausgesprochenem politisierten Aufbegehren sprechen kann, so war doch ein Ablehnen des nationalsozialistischen Systems und seiner Organisationen, allen voran der Hitler-Jugend, ein Kennzeichen jener Gruppierung aus dem Arbeitermilieu des Rheinlandes. 34 Allerdings gibt es auch Hinweise auf eine Vielzahl ehemaliger Edelweißpiraten, die sich dennoch freiwillig zum Reichsarbeitsdienst oder sogar zur Waffen-SS meldeten.35 Es scheint sich also mehrheitlich um eine partielle Kritik am NS-System, konkret an der Hitler-Jugend zu handeln. So wurde der Hitler-Jugend regelmäßig von Edelweißpiraten in Wort und Tat eine Abfuhr erteilt, bei vielen Edelweißpiraten handelte es sich gar um ehemalige Mitglieder der Hitler-Jugend, die sich meist aus Gewissensgründen bewusst deren Einfluss entzogen hatten.36 Immer wieder wird in den Gestapoberichten über die Edelweißpiraten betont, dass es sich bei der überwältigenden Mehrheit um von Grund auf anständige Jugendliche handelte, welche wahrhaftig die "Soldaten von morgen" verkörperten. Diese seien lediglich durch die anthropologische Konstante des "jugendlichen Kraftprotzertums des Entwicklungsalters" vom rechten Weg abgekommen. 37 Stattdessen zogen sie es vor, Kontakte außerhalb der Hitler-Jugend zu pflegen und jene Beziehungen aufrechtzuerhalten– ein eindeutiges Kennzeichen der Nonkonformität.38 So waren viele Aktivitäten der Edelweißpiraten auch durch den Wunsch, einen eigenen sozialen Raum aufrecht zu erhalten, geprägt. 39 Aktionen, die auf die Bewahrung jener Freiräume abzielten, müssen in einem von Totalitarismus geprägten Staat auch schon als politisiert betrachtet werden. 40

33

Gotto (u.a.), S. 175. Hellfeld: Einleitung, S. 9. 35 Rusinek: Gesellschaft, S. 90. 36 Hellfeld: Die betrogene Generation, S. 270. Dennoch gab es auch einige Mitglieder der Edelweißpiraten, die die Hitler-Jugend nicht grundsätzlich ablehnten, sondern dieser häufig aufgrund von verpassten Aufstiegs chancen den Rücken kehrten (Rusinek: Gesellschaft, S. 90). 37 Peukert: Edelweisspiraten, S.54. 38 Breyvogel, S. 10. 39 Ebd., S. 9. 40 Hellfeld: Einleitung, S. 9. 34

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Im Zusammenhang mit den bereits erwähnten besonderen Umständen der gesellschaftlichen Organisation während des Nationalsozialismus können also bereits solche aus heutiger Sicht relativ harmlose Aktionen wie der zivile Ungehorsam in Form der Nichtteilnahme an der Hitler-Jugend als mit einem gewissen Risiko versehene Widerstandshandlung betrachtet werden.41

4.2

Verweigerung

Die zweite Phase, die Verweigerung, lässt sich ungleich schlechter erfassen. Jene Phase der Nicht-Anpassung, die eng mit dem von Martin Broszat geprägten Resistenzbegriff42 verbunden ist, lässt sich auch im Verhalten der Edelweißpiraten wiederfinden. Dabei ist oftmals zu beobachten, dass sich Merkmale der Nonkonformität mit dem Bestreben, einen eigenen moralischen Hintergrund zu bewahren, mischten. Dies war nicht nur im christlichen Milieu, sondern eben auch bei den Edelweißpiraten zu beobachten. Dabei spielte die angebliche Anlehnung der Edelweißpiraten an das Wandervögel-Leben in bündischer Tradition eine große Rolle. So veranstalteten die diversen den Edelweißpiraten zugehörigen Gruppierungen trotz der ausdrücklichen Verbote regelmäßig Wochenend- und Tagesfahrten, sowohl innerhalb der näheren Umgebung des Ruhrgebietes als auch zu weiter entfernten Ausflugszielen wie das Bergische Land oder sogar München.43 Bei jenen Freizeitaktivitäten der Edelweißpiraten sollte zwischen Treffs und Fahrten unterschieden werden. Bei ersterem handelt es sich um meist tägliche Verabredungen auf der Straße oder auch in Gaststätten, wo dann meist im „kleinen Saal“ Lieder gesungen 44 oder in Erinnerung über gemeinsame Erlebnisse auf den Fahrten geschwelgt wurde. 45 Jene Fahrten fanden dahingegen fast ausschließlich am Wochenende statt, wetterbedingt hauptsächlich in den wärmeren Monaten des Jahres. Gerade zu

41

Gotto (u.a), S. 175; Hellfeld, S. 69. Broszat betrachtet Resistenz als werteneutralen Begriff, der alle Erscheinungsformen der Herrschaftsbegrenzung miteinschließt und legt dabei den Fokus auf die Auswirkung jener Handlung, nicht auf ihre ursprüngliche Intention (S. 50f.). 43 Peukert: Edelweisspiraten, S. 67; Kenkmann, S. 145. 44 Auf die Bedeutung jener Lieder wird in dieser Arbeit in Kapitel 4.3 vertieft eingegangen. 45 Theilen, S. 54. 42

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Pfingsten machten sich die jungen Leute bis zu Hunderten auf die Reise, größtenteils mit Musikinstrumenten ausgestattet.46 Hinzu kam die Verweigerung der gesellschaftlichen Uniformierung von Seiten der Edelweißpiraten, hauptsächlich eminent im Bereich der Kleidung. So trugen sie zwar keine Uniform im eigentlichen Sinne, wie es aus der Hitler-Jugend zu jener Zeit bekannt war, allerdings gab es bei der Kleidungsweise der einzelnen Mitglieder doch immer Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten, anhand derer sie sich erkennen konnten. So trugen die männlichen Jugendlichen in der Regel bunte, oft karierte Skihemden zu recht kurz ausfallenden schwarzen Hosen. Als Schuhwerk wurden entweder Halbschuhe an den weißbestrümpften, mit Troddeln versehenen Füßen getragen oder mitunter wahlweise auch Schaftstiefel.47 Komplettiert wurde die Gaderobe in der Regel durch ein Edelweißabzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen, wie zum Beispiel Totenköpfe, am Hemdkragen.48 Die verhältnismäßig wenigen jungen Frauen im Kreise der Edelweißpiraten trugen dagegen meist weiße Blusen kombiniert mit bunten Tüchern, dazu im Gegensatz zu der männlichen knapperen Beinbekleidung lange Samtröcken über in Seidenstrümpfen und Schaftstiefeln steckenden Beinen.49 Diese an die bündische Tradition erinnernde „Uniform“ der Edelweißpiraten kann durchaus als Distinktionsmittel von der Hitler-Jugend verstanden werden, und wurde nachweislich auch von den Betroffenen als solches aufgefasst.50 Zusätzlich weigerten sich die Mitglieder der Edelweißpiraten in der Regel den Hitlergruß zu verwenden. So stellte die Gestapo Düsseldorf in einem Bericht Ende des Jahres 1937 fest, dass sich eine unter Edelweißpiraten übliche eigene Grußformel, wie zum Beispiel "Heidewitzka" neben „Ahoi“ und „Hummel, Hummel“ entwickelte.

Gerade erstere kann aufgrund ihrer

46

Ebd., S. 54. Hellfeld: Die betrogene Generation, S. 79. 48 Theilen, S. 54. 49 Hellfeld: Die betrogene Generation, S. 79. Allerdings handelt es sich bei den Edelweißpiratinnen lediglich um ein Randphänomen, weshalb in dieser Arbeit verstärkt auf deren männliches Pendant eingegangen werden soll (Theilen, S. 55). Klönne stellt jedoch die Sexualisierung der weiblichen Mitglieder, eminent in ihrer Aufgabe als Anlockungsmittel für weitere Mitglieder, heraus (Jugendopposition, S. 122). 50 Peukert: Edelweisspiraten, S. 29. 47

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lautmalerischen Ähnlichkeit als oppositionelles Pendant zu „Heil Hitler“ betrachten werden.51

4.3

Öffentlicher Protest

Charakteristisch für jene dritte Stufe des öffentlichen Protestes ist es, dass im Gegensatz zu den eher passiv geprägten beiden ersten Stufen bereits ein direkter Angriff auf einzelne Teilbereiche des Systems mitinbegriffen ist.52 Bei diesen oftmals stummen Protest der zweiten Stufe handelt es sich aber wahrlich nicht um das einzige Rebellionsmittel im Sinne der Verweigerung der gesellschaftlichen Uniformierung der Edelweißpiraten. Wie schon in Kapitel 3 dargelegt, nahm das Ausmaß der Aktivitäten der Edelweißpiraten mit der Zeit zu. So nahmen manche ein Dasein als Kriminelle auf, während andere den Anschluss an Widerstandsgruppen suchten. Dort wurde der Protest dann öffentlich kundgetan, mithilfe von Flugblättern und kleineren Sabotageakten, die vereinzelt sogar direkt an Polizeidienststellen verteilt wurden.53 So gehörte es unter anderem auch zu den Freizeitaktivitäten der Edelweißpiraten bereits bekannte Lieder, meist ebenfalls aus der bündischen oder russischen Tradition54, mit neuen, oftmals gegen die Hitler-Jugend gerichteten, Texten zu versehen.55 Diese Einstellung kann gut an folgendem Lied aufgezeigt werden, welches um 1943 im Ruhrgebiet weit verbreitet war:

„Es steht an der Grenze die Edelweißschar, die Kämpfer für Freiheit gegen Nazigefahr, das Edelweiß, es wehe, es weht bei Tag und Nacht, der Kampfruf erschalle, Edelweiß bahnt sich Macht.“56

51

Ebd., S. 30. Gotto (u.a.), S. 175. 53 Kenkman, S. 139. 54 Theilen, S. 55. 55 Peukert: Edelweisspiraten, S. 29. 56 Ebd., S. 75. 52

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Jene Lieder wurden in der Regel mündlich überliefert, oftmals durch ältere Verwandte oder Bekannte, deren Sozialisation im Gegensatz zu den meisten Edelweißpiraten nicht ausschließlich während des Nationalsozialismus stattgefunden hat.57 Die Inhalte der Lieder drückten dabei nicht nur die Abneigung gegenüber der Hitler-Jugend, sondern auch die Sehnsucht der Edelweißpiraten nach einem freien Leben, nach der Bewahrung eigener sozialer Freiräume, aus.58 Das Singen solcher Lieder könnte auch als gesellschaftliche Verweigerung gewertet werden, da sie meist doch in relativ geschlossenen Kreisen fern der Öffentlichkeit zum Besten gegeben wurden. Aber in Anbetracht der in Kapitel 2 dargelegten Strukturen des Dritten Reiches, werden sie an dieser Stelle bereits als öffentlicher Protest angesehen. Dafür spricht auch, dass die musikalischen Aktivitäten der Edelweißpiraten dem nationalsozialistischen Überwachungsapparat keineswegs verborgen blieben.59 Unbestreitbar ist jedoch die Einordnung der anfangs schon erwähnten Flugschriften als öffentlicher Protest. Die Themen der Flugblätter waren den Liedinhalten nicht unähnlich, so wurde häufig die Unterdrückung der abweichenden Jugendkulturen durch die Nationalsozialisten thematisiert sowie auf die den Edelweißpiraten eigene Lebenswelt des Arbeitermilieus verwiesen.60 Aufgrund jener Inhalte wurden die Flugblätter der Kölner Edelweißpiraten unmittelbar mit der bündischen Tradition in Verbindung gebracht.61 Aber auch politischen Themen wurde mitunter in den Flugblättern Beachtung geschenkt. So verteilten Düsseldorfer Edelweißpiraten Klebezettel, die ihnen von ehemaligen Kommunisten ausgehändigt worden waren, mit der folgenden Botschaft:

„Eltern von Düsseldorf! Rettet eure 16 1/2 jährigen [sic] Söhne und

57

Theilen, S. 55; Peukert: Edelweisspiraten, S. 76. Ebd., S. 72. 59 Theilen, S. 55. 60 Peukert: Edelweisspiraten, S. 80-83. 61 Hellfeld: Die betrogene Generation, S. 286. 58

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warnt sie vor dem Eintritt in die Waffen-SS, denn sie sind nur Todeskandidaten für Hitlers Kriegspolitik!“62

Ähnlich einzuordnen sind auch die Edelweißzeichen, die zum Beispiel von Wuppertaler Edelweißpiraten auf Hauswände, sogar an die der NSDAPOrtstgruppe, gemalt wurden. So machten sie einen territorialen Anspruch geltend, zeigten auf, dass es noch weitere Jugendbewegungen gab. 63 Hinzu kamen die zahlreichen Prügeleien mit Angehörigen der Hitler-Jugend sowie anderer nationalsozialistischer Organisationen. Diese wurden oft genug von den Edelweißpiraten initiiert,64 konnten mitunter aber auch einen reaktionären Charakter aufweisen.65 Denn auch hier lässt sich eine Entwicklung aufzeigen, wurden jene Auseinandersetzungen doch erst durch den Einsatz des HJ-Streifendienstes politisiert.66 Anhand jener Handgreiflichkeiten lässt sich eindeutig eine Absicht aufzeigen, die Funktionsweise des Systems zu beeinträchtigen.

4.4. Widerstand im engeren Sinne

Das Aufbegehren des öffentlichen Protestes richtet sich oftmals lediglich gegen einzelne Aspekte innerhalb des Regimes. Anders verhält es sich bei Aktionen, die jener vierten Stufe des aktiven- oder Widerstand im engeren Sinne zuzuordnen sind. In diesem Fall wird ganz klar und entschieden dem System in seiner Gesamtheit eine Absage erteilt und gezielt versucht eine Umwälzung herbeizuführen.67 Gerade wenn es um die Betrachtung der Aktionen geht, die in jene letzte Stufe des Widerstands im engeren Sinne einzuordnen sind, ist es unumgänglich, sich auch mit der sogenannten „Ehrenfelder Gruppe“ auseinander zu setzten. Diese 62

Rusinek: Gesellschaft, S. 91. Ebd., S. 85. 64 Hellfeld: Die betrogene Generation, S. 286. 65 Theilen, S. 110. 66 Viebahn/Wuchta, S. 340. 67 Gotto (u.a.), S. 175. 63

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Gruppierung, auch unter dem Namen ihres federführenden Mitgliedes als Steinbrück-Gruppe bekannt, legte sich durch diverse Einbrüche, u.a. dem „Butterraub“, einen recht umfangreichen Vorrat an Waffen und Lebensmitteln an. Darüber hinaus wurde auch ein Bombenschlag auf den Sitz der Kölner Gestapo, das EL-DE-Haus verübt und Hitler-Jugendangehörige und sowie der Leiter der Kölner Gestapo Hoffmann tödlich verwundet.68 Am 10. November 1944 wurden in Köln-Ehrenfeld 13 Deutsche, darunter auch sechs 16-18-jährige, ohne Gerichtsurteil durch die Gestapo hingerichtet. Bei jenen ermordeten Jugendlichen handelte es sich neben dem Dachdeckerlehrling Bartholomäus Schink auch um

andere

Arbeitersöhne,69

denen

eine

Vergangenheit in Edelweißpiratenkreisen nachgesagt wurde.70 Die Diskussion um eben jene Gruppe hat in der Vergangenheit sehr polarisiert.71 So wurde der sogenannten „Ehrenfelder Gruppe“ im Angesicht ihrer mitunter als kriminell eingestuften

Aktivitäten

jahrzehntelang

die

Anerkennung

als

Widerstandskämpfer von der Bundesregierung versagt. 72 Dieser Ansicht lässt sich jedoch entgegenhalten, dass dort wiederum ein gewisser anachronistischer Anspruch

mitschwingt.

Viele

der

Tätigkeiten,

die

während

des

Nationalsozialismus als Straftaten aufgefasst wurden, fallen nach unserem heutigen, demokratisch und westlich geprägtem Rechtsverständnis lediglich unter den Schutzmantel der freien Meinungsäußerung und dürften somit keineswegs als Straftaten angesehen werden. Während des Krieges war Jugendlichen der alltäglich scheinende abendliche Aufenthalt in Kneipen gleich in mehrfacher Hinsicht untersagt, so dass die Zeitgenossen diese Verbote selbst ad absurdum führten: „Sollte ich durch mein Verhalten gegen irgendeine Vorschrift verstoßen haben, so bitte ich um eine milde Beurteilung.“73 Anders verhält es sich allerdings mit den von der Ehrenfelder Gruppe begangenen Diebstählen, bei denen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, dass die Beute anderen vom NS-Regime verfolgten Personengruppen 68

Rusinek: Gesellschaft, S. 21-23. Siehe Focke/Reimer 1980 sowie Goeb 1981 für nähere Informationen zum Fall Schink. 70 Rusinek: Gesellschaft, S. 16. 71 Eine detaillierte Beschreibung dieses Konfliktes findet sich bei Rusinek: Gesellschaft, S. 15-39. 72 Rusinek: Desintegration, S. 271. 73 Rusinek: Gesellschaft, S. 89. 69

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zugute kam.74 Dieser Einschätzung wurde darüber hinaus von vielen Historikern entgegnet, dass es sich bei den Angehörigen jener Ehrenfelder Gruppe trotz gewisser kleinkrimineller Aktivitäten um Widerstandskämpfer, die wie viele andere Gruppen auch den Opfern des NS-Regimes auf selbstlose Art und Weise half, handelte.75 Als weiterer Grund für die Nichtanerkennung als Widerstandskämpfer wurde

lange

die

fehlende politische Dimension

herangezogen76, allerdings scheint es auch vermessen, eine konkret ausdifferenzierte politische Aussage von Jugendlichen in einer solchen Situation zu erwarten.77 Jedoch scheint auch von Hellfelds Charakterisierung der Edelweißpiraten als „unbewusster Widerstand“,78 der lediglich von den Verfolgern als solcher aufgefasst wurde, nicht geeignet, um jenem Phänomen auf den Grund zu gehen. Von Seiten der Gestapo wurde die Protestmotivation der Edelweißpiraten in der Regel nicht als politisch motiviert angesehen. So ging man selbst im Jahre 1943 noch davon aus, dass es sich lediglich um eine rein biologische Komponente handelte, so sei es typisch für Heranwachsende, während der Pubertät aufständisches Verhalten an den Tag zu legen.79 Des Weiteren stellten jene Befürworter der Ehrenfelder Gruppe auch schon gleich eine Verbindung zu den Edelweißpiraten her; ihrer Ansicht nach bildeten diese die Basis der Ehrenfelder Gruppe.80 Eine dritte Gruppe von Personen war wiederum der Auffassung, dass die Edelweißpiraten selbst als Fortsetzung der Bündischen Jugend und somit sehr wohl als Gegner des Nationalsozialismus angesehen werden sollten. Allerdings hätte es sich bei den Mitgliedern der Ehrenfelder Gruppe eben nicht um Edelweißpiraten, sondern um Kleinkriminelle gehandelt.81 Diese These wird von durch die Edelweißpiraten verteilten zeitgenössischen Flugblättern gestützt, in welchen sie sich ausdrücklich von Schink und der Ehrenfelder Gruppe distanzieren.82 Da es sich bei jener Diskussion nicht um eine Diskussion auf 74

Ebd., S. 17. Eine Auswahl von Vertretern jener Ansicht: Focke, Reimer 1980; Hellfeld 1983, Goeb 1981, Karalus 1980. 76 Laut Jovy blieb der Widerstand der Edelweißpiraten aus „Mangel an intellektuellen Fähigkeiten“ und der nicht vorhandenen Führungsebene „im Primitiven“ (S. 178). 77 Peukert: Edelweisspiraten, S. 10. 78 Hellfeld: Edelweißpiraten, S. 85. 79 Peukert: Edelweisspiraten, S. 32. 80 Rusinek: Desintegration, S. 271. 81 Rusinek: Gesellschaft, S. 15f.; Rusinek: Desintegration, S. 272. 82 Rusinek: Gesellschaft, S. 36. 75

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reiner Faktenebene, sondern vielmehr um eine „Grundsatzdebatte über weltanschaulich-politische Werte“83 handelte, polarisierte sie stark und konnte nicht einfach durch eine Einigung beendet werden.84 Folglich ließ das nordrheinwestfälische Forschungsministerium Nachforschungen anstellen, mit dem Ergebnis, dass man nicht den Widerstand einer vermeintlich einheitlichen Edelweißpiratengruppierung per se untersuchen könne, stattdessen müssten einzelne Aktionen individuell überprüft werden. 85 Des Weiteren kam man zu dem Schluss, dass jene Aktionen, die der vierten Stufe des Widerstandsmodells zuzuordnen wären (z.B. einige der Aktivitäten der so genannten Ehrenfelder Gruppe), zwar von jugendlichen Edelweißpiraten ausgeführt, aber nicht unbedingt von ihnen ausgegangen waren.86 Gleichzeitig könne aber auch nicht von kriminellen Aktivitäten gesprochen werden, da damals eben keine freiheitlich-demokratische Grundordnung gegeben war und somit keine regulären gesellschaftlichen Bedingungen vorherrschten. 87 Dieser Meinung wird sich in dieser Arbeit angeschlossen, d.h. dass zwar von einzelnen Jugendlichen, die zuvor in enger Verbindung mit den Edelweißpiraten standen, Widerstand im engeren Sinne geleistet wurde, diese Einschätzung aber nicht auf das Gesamtphänomen der Edelweißpiraten übertragbar ist. 88

Die einen hielten es für eine Diffamierung der „wahren“ Widerstandskämpfer, die Edelweißpiraten in diesen Kreis aufzunehmen, während die anderen davon ausgingen, es handele sich dabei um eine Abwertung des jugendlichen Widerstands von unten im Gegensatz zum Widerstand von oben. 84 Rusinek: Desintegration, S. 272. 85 Rusinek: Desintegration, S. 272. 86 Ebd., S. 272. 87 Ebd., S. 272. 88 Viebahn/Kuchta, S. 340; Rusinek: Gesellschaft, S. 21. 83

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5. Schlussbetrachtung

Bei

der

Untersuchung

von

jugendlicher

Opposition

während

des

Nationalsozialismus wurde bereits festgestellt, dass deren Aktion nicht selten ein „buntes Spektrum jugendlicher Widerstandsformen“, von Nonkonformität über Verweigerung und öffentlichem Protest bis hin zu Widerstand im engeren Sinne, umfassen.89 Bei dieser näheren Betrachtung des Widerstands im Ruhrgebiet lässt sich abschließend festhalten, dass auch die Protestformen der Edelweißpiraten jede Phase des Modells von Gotto, Hockert & Repgen miteinschließen.90 Allerdings darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei den Edelweißpiraten keinesfalls um eine geschlossene Organisation Gleichgesinnter, sondern vielmehr um

eine

äußerst heterogene

Bewegung

handelte.

Dementsprechend finden sich einige Edelweißpiraten, die durchaus dem Widerstand zugerechnet werden sollten, aber genauso auch viele nominell der Gruppe Zugehörige, die ihr eigenes Verhalten nicht unbedingt als oppositionell auffassten,

sondern

lediglich

Freizeitgestaltung auslebten.

91

ihr

Bedürfnis

nach

einer

alternativen

Dementsprechend lässt sich auch eine

Konzentrierung auf die ersten beiden Widerstandsformen, die Nonkonformität und die Verweigerung, feststellen. Aber auch der öffentliche Protest wurde von einem nicht zu verachtenden Teil der Edelweißpiraten gelebt. Der aktive Widerstand wurde dahingegen in der Regel nur von oppositionellen Individuen, nicht aber von der Gesamtheit der Edelweißpiraten geleistet. Folglich muss die am Anfang aufgeworfene Frage „Wo dat Blömsche jeblöht hat, do wor Widerstand?“ zwar eindeutig mit „Ja“ beantwortet werden, aber eben nicht ohne die hier aufgeführten Einschränkungen.

89

Breyvogel. S. 9 u. 11. Zu einer vergleichbaren Schlussfolgerung kam auch Detlev Peukert, der die Aktivitäten der Edelweißpiraten in den frühen Achtziger Jahren in ein auf den Widerstand im Arbeitermilieu ausgerichteten Phasenmodell einordnete (Jugendsubkulturen, S. 317). 91 Rusinek: Gesellschaft, S. 90f. 90

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