“Wie es uneigentlich gewesen: Zum Gebrauch der Fußnote bei Julius Wellhausen”, Zeitschrift für Germanistik, N.F. 23 (2013), no. 2, pp. 329-42

July 5, 2017 | Author: Henning Trüper | Category: Historiography, Orientalism, Julius Wellhausen, Footnotes
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Wie es uneigentlich gewesen. Zum Gebrauch der Fußnote bei Julius Wellhausen (1844–1918)* I. Abschied von der Rhetorik. Über die Geschichte der Fußnote ist manches geschrieben worden, am vornehmsten in Anthony Graftons majestätisch-ironischer Studie über das verwickelte neuzeitliche Itinerar dieser Textsorte.1 Grafton nahm dabei eine Debatte verschiedener Autoren auf – er nennt insbesondere Leon Goldstein und Lionel Gossman2 –, die in Auseinandersetzung mit der „narratologischen“ Richtung der Geschichtstheorie seit den 1970er Jahren im „Unterbau“ (Goldstein) der Forschung das Proprium der Geschichtswissenschaft erkennen wollte, im Gegensatz zum literarischen Allgemeingut des „Überbaus der Erzählung“. Hier kam die doppelte Textualität der Historie mit ihrem graphisch markierten Bruch zwischen Haupt- und Anmerkungstext gerade recht, um einen Unterschied des epistemologischen Status zu diagnostizieren: oben die assertorische Darstellung, unten die Begründung. Gossman, der wie Goldstein den eigenständigen Status der Forschung betont sehen wollte, verschob den Gegensatz wieder vom erkenntnistheoretischen Terrain in den Bereich der Textualität. Bei ihm sind auch die Fußnoten und die „Fakten“ immer schon „small narratives“.3 Oftmals – wie etwa bei Pierre Bayle – handle es sich um kleine Gegenerzählungen des Misstrauens gegenüber der einsträngigen Großerzählung. Auf diese Weise lässt sich die Fußnote allerdings in der Tradition einer rhetorischen Textgestaltung halten, die sich, so Gossman, von der experimentell-poetologischen der modernen Literatur deutlich unterscheide. Die historische Darstellung bleibe trotz mancher Wandlungen einem Regime der Vermittlung, Klarheit, Einfachheit, Aufmerksamkeitssteuerung und Bezugnahme auf einen „substantiellen“ Inhalt unterworfen, während sich die Literatur in den Bereich der Autonomie der textuellen Form verfügt habe.4 Grafton nimmt Elemente beider Positionen auf. Auch er sieht den Fußnotenapparat als Bereich „sekundärer Erzählungen“5. Gegen Goldstein lokalisiert er die „Modernität“ der Geschichte in ihrem Bemühen, beiden Teilbereichen der historischen Arbeit, Forschung und Darstellung, eine „kohärente literarische Form“ zu geben.6 Er betont die Bedeutung einer noch zu leistenden Rhetorik der Annotation neben der bestehenden der historischen Großerzählung. Diese Anmerkungsrhetorik jedoch hätte in Richtung *

Für kritische Anmerkungen und Kommentare danke ich Matthias Roick und Ralph Weber, für finanzielle Förderung der Gerda-Henkel-Stiftung.

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Anthony Grafton: The Footnote. A Curious History, London 1997. Leon J. Goldstein: Historical Knowing, Austin 1976; Lionel Gossman: The Rationality of History [1988]. In: Ders.: Between History and Literature, Cambridge, Ma. 1990, S. 285–324. Gossman (wie Anm. 2), S. 292. So in einiger Vergröberung das Argument in ders.: History and Literature: Reproduction or Signification [1978]. In: Gossmann (wie Anm. 2), S. 227–256. Grafton (wie Anm. 1), Anm. S. 23. Ebenda, S. 232.

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des Goldstein’schen Programms zu zielen. Grafton sieht die Funktion der Fußnote in der Hauptsache – und mit bemerkenswerter Subtilität – wie folgt: In documenting the thought and research that underpin the narrative above them, footnotes prove that it is a historically contingent product, dependent on the forms of research, opportunities, and states of particular questions that existed when the historian went to work.7

Grafton betont, die Anmerkungen könnten niemals – wie ihnen in Zeiten der szientistischen Überforderung durch die historische Methodologie im späten 19. Jahrhundert aufgebürdet worden sei – die vollständige Dokumentation eines Forschungsvorgangs leisten. Gerade im Verweis auf das Kontinuum der sich stets erneuernden Forschung und die eigene Vorläufigkeit liegt jedoch für Grafton der Nachweis der Rationalität des wissenschaftlichen Verfahrens. Allein kraft dieser Rationalität kann die wissenschaftliche Autorschaft mittels ihrer Annotationen Kompetenz beweisen und Autorität beanspruchen. An dieser Möglichkeit hängt auch die Auffassung der „Moderne“ als „Rationalisierung“,8 in der gelehrten Literatur markiert durch das Auftreten der entsprechenden Art von Fußnote bei Bayle als Antwort auf den Forderungskatalog der cartesianischen wissenschaftlichen Methode. Grafton zufolge verlangt die Rationalität des wissenschaftlichen Diskurses allerdings die Anerkennung der Unvermeidbarkeit der Rhetorik, also letztlich die Versöhnung von antiqui und moderni. Jenseits Rankes – dessen Beitrag zur Geschichte der Fußnote vor allem in der Aufwertung des Fußnotenapparats zum Gegenstand affektiver Zuneigung liege – findet die Moderne daher bei Grafton nur noch im Rahmen weiterer illustrativer Fälle des bereits um 1800 voll etablierten Schemas statt. Dem entspricht ein wenig detaillierter Zugriff auf die jeweils lokal gegebenen Funktionsweisen der modernen Fußnote als „little tool of knowledge“9. Im Signum der überhistorischen Einheitspartei der Rationalisiert-Rhetorisierten schwindet die Varianz. Gegen diese vereinheitlichende Sicht verfolgt der vorliegende Aufsatz anhand einer Fallstudie die lokale Bindung, die Diversität, die historische Konkretion und Idiosynkrasie des Fußnotengebrauchs auch im späteren 19. Jahrhundert. Der von Grafton mehrfach zitierte Michael Bernays war in der Diagnose der Eigenheiten annotierter Texte radikaler als ein Großteil der späteren Literatur. Die mögliche Wirkung von Fußnoten beschreibt er am Beispiel Gibbons: Sie schließen sich nicht dem Texte dienend an. In freierer Bewegung, scheinbar selbständig, gehen sie neben der Darstellung her, manchmal scheinen sie sogar unsre Gedanken in andere Richtungen nach entlegeneren Gebieten lenken zu sollen; und dennoch tragen sie wesentlich zu dem Gesamteindruck bei, mit dem uns das Werk entläßt und der sich erneuert, so oft wir zu ihm zurückkehren.10

7 Ebenda, S. 23. 8 So etwa ebenda, S. 4. 9 Peter Becker, William Clark (Hrsg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor 2001. 10 Michael Bernays: Zur Lehre von den Citaten und Noten [1892]. In: Ders.: Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte, Bd. IV, Berlin 1899, S. 255–347, hier S. 306.

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„Bewegung“ und ein sich potentiell erneuernder „Eindruck“ – Bernays temporalisiert die Gegebenheit des Textes und nähert sie damit einem Verfahren der darstellenden Nachahmung an. Die Figur des Autors nimmt eine zentrale Stellung ein, aber nicht als Sitz der ratio der Darstellung, sondern als Darsteller: „In den Anmerkungen erholt [Gibbon] sich von dem Zwange“ seines zur prägnanten Bewältigung übermäßiger Komplexität gezwungenen Stils im Haupttext; und „da wandelt sich auch sein Ausdruck, – fast möchte man sagen: der Ausdruck seiner Miene [. . .] sobald er sich in eine vertrauliche Zwiesprache mit dem Leser einläßt.“11 Bei Barthold Georg Niebuhr erlauben nach Bernays die Anmerkungen sogar die Teilhabe des Lesers an einem im gestrengen Haupttext ganz verborgenen „reichen und vielbeweglichen Gemüthsleben“12. Generell werden die Fußnoten mit Hilfe eines „künstlerischen Blicks“13 gesetzt, eines Blicks, der um eine Erklärung für seine Wahrnehmungsweise verlegen bleibt. Die Konstellation von Bewegung (die zeitliche und unstete, daher problematische Gegebenheit) und Auge (das ebenso problematische Erfassen des unsteten Gegebenen) setzt Autor und Leser in eins; von daher die Möglichkeit der „vertraulichen Zwiesprache“ – und ebenso die Möglichkeit, die bei der Lektüre des annotierten Textes maßgebliche Wahrnehmungsweise auf das Abfassen ebendieses Textes bruchlos zu übertragen. Doch der zeittypische hermeneutische Optimismus kann nicht verhehlen, dass Bernays eher die Ästhetik als die Rhetorik der Fußnote thematisiert; will sagen: Er interessiert sich dafür, wie die „Wahrnehmung“ des Gegenstands konstituiert ist, wie dieser Gegenstand also für den gelehrten, annotierten Text gegeben ist. Dieses Gegebensein selbst ist bei Bernays ein Problem, das er anhand der Fußnoten verfolgt. Dagegen nimmt eine rhetorische Analyse die Gegebenheit des Gegenstands hin und interessiert sich dafür, welche Darstellungsweise ihm am meisten dient. Gewiss eine feine Distinktion, aber von einiger Bedeutung, insofern sie jene Verbindung von Rhetorik und Rationalisierung – die Rationalisierung handelt schließlich vom zunehmend unverstellten Zugriff auf den Gegenstand – ermöglicht, die in der neueren Forschungsliteratur so einengend wirkt. Daher wird im vorliegenden Beitrag die Rhetorik – mindestens zeitweilig und jedenfalls höflich, vielleicht sogar freundlich, aber doch bestimmt – verabschiedet. II. Wellhausen und die Fußnote, noch eine Einleitung. Als Gegenstand der folgenden Untersuchung dienen einige der diversen opera magna des Theologen, Bibelphilologen und Orientalisten Julius Wellhausen, insbesondere die Prolegomena zur Geschichte Israels, die Israelitische und jüdische Geschichte sowie Das arabische Reich und sein Sturz.14 Teils historische Darstellung, teils disziplinäre Polemik, teils Diskussion linguistischer Details, teils Textkommentar, sind Wellhausens Arbeiten ein reiches Reservoir an unterschiedlichen pragmatischen Kontexten für den Gebrauch der Annotation. Die charakteristische thematische Breite der Philologien und der Historie in jener Epoche bündelt sich in Well11 12 13 14

Ebenda, S. 310. Ebenda, S. 336. Ebenda, S. 326. Julius Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 1883 (2., überarb. Aufl. von Geschichte Israels I, Berlin 1878); ders.: Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 1894; ders.: Das arabische Reich und sein Sturz, Berlin 1902.

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hausens Werk wie in nur wenigen anderen Einträgen des historisch-philologischen Kanons des 19. Jahrhunderts. In der vorliegenden Arbeit wird es um die ästhetische Anlage gehen, die Wellhausens verschiedene Arbeiten teilen und in der die Fußnote zu ihrer lokalen Spezifität gelangt. Vorab ferner noch einige kleinere methodische und thematische Vorbehalte: Noch Mitte des 19. Jahrhunderts waren die graphischen Konventionen der Fußnotensetzung im Fluss. Heinrich Ewald, Wellhausens Lehrer, begann z. B. in seiner Geschichte des Volkes Israel den Fußnotentext noch in Kleinschreibung.15 Die neuzeitliche Fußnote war aus medialer Sicht – aus der sich die Geschichte ihres „Ursprunges“ wohl auch erzählen ließe – abhängig von bestimmten technischen Möglichkeiten der Drucklegung. Die Anmerkungspraxis zwang die Gelehrten, bei der Abfassung ihrer Manuskripte die Seitengestaltung im Druck zu antizipieren. So griff hier das eine Medium auf das andere über, allerdings in einem zeitlich sehr ausgedehnten Prozess, vielleicht wegen der lokalen Diversität und Widerständigkeit handschriftlicher Schreibverfahren. Bekanntlich waren die klassischen Repräsentanten der Philologien und der Historie im 19. Jahrhundert zumeist keine exzessiven Anmerkungsschreiber – anders als Bayle und Gibbon, die Grafton als wichtigste Pioniere des Fußnotenapparats und zugleich unerreichte Meister von dessen Entgrenzung ausmacht. Keineswegs jedoch bedeutete die relative Beschränkung der Fußnotenapparate des 19. Jahrhunderts eine Rationalisierung im Sinn einer Reduktion der Anmerkungen auf eine präzise bestimmte formaltextlinguistische Funktion, etwa als eine Art Hypertext, der den zugrundeliegenden Text mit anderen verknüpft. Anmerkungen waren stets mehr als einfache Anweisungen, in welchem Text nachzulesen oder zu „vergleichen“ sei. Aus der Praxis des wissenschaftlichen Belegs und den gegebenen technischen Lösungen zur Erfassung von Intertextualität heraus ist daher nicht unmittelbar einsichtig, warum die Gelehrten der Periode sich überhaupt der Fußnote bedienten. In ihren Texten wirken die Fußnoten häufig ornamental. Wie jedes Ornament hatten sie eine Funktion. Aber diese Funktion lag nicht darin, ein umfassendes Netz von Verweisen zu spinnen, die schließlich etwa die umfassende Lesbarkeit eines Gegenstands – oder gar der Welt – im Verbund aller Texte jenseits des einzelnen Textes hergestellt hätten. Die Anmerkungen weisen eine größere Selbstständigkeit auf, deren Erfassung sich in einer medientheoretischen Analyse nicht erschöpft. Die Philologen neigten zur Verwendung von verknappenden Anmerkungssystemen, insbesondere wenn sie mit einem spezifischen Referenztext arbeiteten. In der Theologie waren die biblischen Belegstellen, mittels der seit dem 16. Jahrhundert etablierten Verseinteilung erfasst, selbstverständlich Teil des Haupttextes. In den Grammatiken des 19. Jahrhunderts war es üblich, in intern hierarchischen Paragraphensystemen nach juristischem Vorbild zu arbeiten. In der Kommentarpraxis bestanden ähnliche Strukturen, die sich am Fortgang der Vorlage orientierten. In Wellhausens Evangelienkommentaren z. B. wurde je eine Partie des biblischen Textes gegeben, dann in einem optisch abgesetzten nachgestellten Kommentar stückweise erläutert.16 Fußnoten verwendete er hier 15 Und zwar durchgehend: Heinrich Ewald: Geschichte des Volkes Israel, Göttingen 21851–1859. 16 Julius Wellhausen: Evangelienkommentare, Berlin u. a. 1987 [Nachdruck].

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selten. In seinen Kommentaren zum Text der Bücher Samuelis,17 einer wichtigen Vorarbeit zur Gesamtschau des Alten Testaments, die er mit der Geschichte Israels I bzw. deren zweiter Auflage, den Prolegomena, vorlegte, waren jedoch die Fußnoten weit zahlreicher. In den historischen Werken variierte ihre Häufigkeit. Auch bei anderen Autoren schwankt der Gebrauch. Der Werkkontext ist unabdingbar, ebenso der disziplinäre Zusammenhang. Dass die Forschungsliteratur die gelehrte Fußnote vor allem im Bereich der Geschichtsschreibung untersucht hat, ist als problematische Vorentscheidung zu werten. Nur aufgrund dieser Vorentscheidung konnte der Quellenbeleg – und somit die Evidenz – zur idealtypischen Funktion der Anmerkung werden. Selbst eine nur oberflächliche Untersuchung philologischer Arbeiten hätte wohl eher die Textvariante an diese Stelle gesetzt, und gar im juristischen Kontext, wo möglicherweise der Präzedenzfall – oder aber die Rezension der Forschungsliteratur – das bestimmende Modell hätten sein müssen. III. Diegese und Uneigentlichkeit. Im Arabischen Reich versuchte sich Wellhausen an einer erzählenden Geschichtsdarstellung im Stil der ikonischen Großhistoriker des 19. Jahrhunderts. Insbesondere den offen urteilenden, parteilichen Mommsen hatte er sich zum Vorbild genommen.18 Die Methode der Ermittlung von Parteikonflikten und politischen Interessen innerhalb des Korpus der Quellentexte, die Wellhausen anhand des Alten Testaments entwickelt hatte, übertrug er auf die frühe Geschichte des Islam. Das erste Kapitel des Buchs bietet eine Art vogelperspektivischer Gesamtschau der allgemeinen Entwicklungslinie des Kalifats von der Zeit Muhammads bis zur ersten Aufspaltung des Einheitsreiches beim Wechsel von den Umayyaden zu den Abbasiden um 750 n. Chr. Die weiteren Kapitel breiten dann die einzelnen Episoden dieses großen Plots in ereignisgeschichtlicher Detailfülle aus. Was die Quellenangaben betrifft, neigt Wellhausens Darstellung eher zur Verknappung. Er arbeitet häufig mit einer Hauptquelle. Am wichtigsten war für ihn das Geschichtswerk des Tabari (9. Jh.), das seit 1879 unter Leitung Michael Jan de Goejes als erstes großes kollektives Editionsprojekt europäischer Arabisten erschienen war.19 Wellhausens Verweise betreffen meist dieses und die anderen Quellenwerke allgemein, ohne Rekurs auf die genaue Textstelle zu nehmen; entsprechend gering fällt die Zahl der Anmerkungen aus, in denen solche Stellen angegeben werden. Zugleich reichen die im Haupttext beiläufig eingestreuten Verweise jedoch aus, um auch diejenigen Passagen der Darstellung, die scheinbar von unerschütterlicher erzählerischer Selbstgewissheit getragen sind, unter den Vorbehalt der bloßen Plausibilität, der nur mutmaßlich zuverlässigsten Quelle zu stellen. In den Prolegomena wirft er seinen Gegnern einmal vor, mit zweierlei Maß Kritik zu üben: 17 Julius Wellhausen: Der Text der Bücher Samuelis, Göttingen 1871. 18 Die treffendste Darstellung des historiographischen Programms und der Referenzgrößen Wellhausens gibt wohl immer noch Lothar Perlitt: Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen, Berlin 1965. 19 Vgl. Arnoud Vrolijk: The Leiden Edition of Tabari’s Annals. The Search for the Istanbul Manuscripts as Reflected in Michael Jan de Goeje’s Correspondence. In: Quaderni di studi arabi 19 (2001), S. 71–86.

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Henning Trüper [. . .] das selbe Verfahren, welches auf das Deuteronomium angewandt historisch-kritische Methode heisst, heisst auf den Priestercodex übertragen Geschichtsconstruction. Construieren muss man bekanntlich die Geschichte immer; die Reihe Priestercodex Jehovist Deuteronomium [nach Wellhausen ist der Priestercodex von diesen die späteste Textstufe] ist auch nichts durch die Überlieferung oder durch die Natur der Dinge Gegebenes, sondern eine nur wenige Decennien alte Hypothese, von der man jedoch die freilich etwas unfassbaren Gründe vergessen hat und die dadurch in den Augen ihrer Anhänger den Schein des Objectiven, d. h. den Charakter des Dogmas, bekommt. Der Unterschied ist nur, ob man gut oder schlecht construiert.20

Die Anmerkungen in Wellhausens historischen Darstellungen dienen dazu, die gute, die zuverlässige von der zweifelhaften „Construction“ (mit „unfassbaren“ Gründen) zu scheiden. Sie sind insofern unabdingbar. Die Darstellung nimmt einen forensischen Charakter an – soll heißen, den Charakter einer öffentlichen Verhandlung über das tatsächlich Geschehene –, gerade auch dadurch, dass sie das Unsichere in den Fußnoten mit einschließt. Der Text ist aber Urteilsbegründung und nicht Plädoyer, insofern gerade nicht im Zuständigkeitsbereich der klassischen anwaltlichen Rhetorik gelegen. Wellhausens Gegenstand bleibt Zweifeln unterworfen. Die historische Zeit – als Chiffre für die Diegese der historischen Erzählung – steht auf diese Weise insgesamt im Zeichen einer Skepsis, das durch die ständige, sowohl explizite wie implizite Urteilsfindung des Historikers gesetzt wird. Wellhausen will nur zeigen, wie es uneigentlich gewesen. Diese Skepsis gehört zu den methodologischen Topoi der Philologie des 19. Jahrhunderts.21 Die meisten von Wellhausens Fußnoten im Arabischen Reich lassen sich auf die folgenden Funktionen verteilen: Sie bieten Varianten, Einschränkungen, Unsicherheiten der im Haupttext wiedergegebenen Ereignisse, die aus den für minder zuverlässig erklärten Konkurrenzquellen oder aus der Forschungsliteratur gezogen werden. Dazu kommen noch semantische und etymologische Erläuterungen; ferner in Einzelfällen präzise Belegstellen in den Quellen oder in der Forschungsliteratur; Lokalisierungen von Ortsnamen und genauere Bestimmungen von Daten; thematische Vergleiche; und zu einem geringen Teil Zusatzinformationen zum Haupttext. Verbindend wirkt für alle diese Funktionen der Bezug auf die nur indirekt gegebene, die uneigentliche Geschichte im Haupttext. Die Fußnoten dienen als Depot von Unklarheiten und Unsicherheiten, von denen der Haupttext gereinigt werden soll. Die Anmerkungen rechtfertigen solchermaßen das auktoriale Urteil, von dem aus die Erzählung konstruiert wird; sie haben den Zweck, den Historiker als bekennend unzuverlässigen Erzähler zusätzlich zu entlasten – zusätzlich, weil eine erste Entlastung schon durch die Anführung der Quellentexte – und zwar häufig als Quellen der Unzuverlässigkeit22 – geleistet wird. Der Historiker als Er20 Wellhausen (wie Anm. 14), S. 389. 21 Vgl. Christian Benne: Philologie und Skepsis. In: J. P. Schwindt (Hrsg.): Was ist eine philologische Frage? Beiträge zur Erkundung einer theoretischen Einstellung, Frankfurt a. M. 2009, S. 192–210. 22 Wellhausen zählt, wie man beiläufig zu bemerken nicht versäumen sollte, zu jenen Gelehrten, die den älteren Gemeinplatz der prinzipiellen Unzuverlässigkeit der orientalischen Geschichtsquellen, der aus der älteren Religionspolemik gegen den Islam übrig geblieben war, endgültig überwanden. Theodor Nöldekes historisch-kritische Arbeit zum Koran (Geschichte des Qorâns, Göttingen 1860) gilt hierbei, freilich in der Nachfolge der jüdischen Philologen Abraham Geiger und Gustav Weil, als bahnbrechend; vgl. Suzanne Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Race, Religion, Scholarship, Cambridge 2009, hier S. 121 f., 175 f.

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zähler lässt also gelegentlich anderen, noch unzuverlässigeren Erzählern das noch zweifelhaftere Wort. Die Geschichtsdarstellung changiert zwischen zwei diegetischen Ebenen; dem Inneren der geschichtlichen Ereignisse (soweit man sie „gut construieren“ kann); und deren Äußerem, den mehr oder weniger zeitgenössischen, mehr oder weniger vertrauenswürdigen Zeugnissen in den arabischen Quellen. Dazu kommt als dritte Ebene die Wellhausens und seiner (gelegentlich) zitierten zeitgenössischen Kollegen. In den regelmäßigen Verweisen auf diesen Ebenenwechsel konstituiert sich die Uneigentlichkeit der Darstellung. Die Fußnote aber gehört zu den Werkzeugen, mit denen der Ebenwechsel bewerkstelligt wird. Ihre Setzung ist eine Geste der epistemischen Dürftigkeit der Historie, die an ihren Gegenstand „eigentlich“ nie herankommt. Diese ästhetische Konstellation – die historische Zeit setzt eine Bestimmung über die möglichen Akteure, Gegenstände und Ereignisse, die der Geschichte überhaupt gegeben sein können, und für Wellhausen sind alle diese Entitäten uneigentlich und damit problematisch – ist keineswegs aller modernen Geschichtsschreibung gemein.23 Wellhausen ist als Autor in seinen historischen Arbeiten vielmehr ungewöhnlich präsent, weil er durch auktoriale Eingriffe den Ebenenwechsel koordiniert. IV. Das Komische als Gegenästhetik. Der Modus der Uneigentlichkeit bietet viel Raum für den Einsatz von Ironie und ist möglicherweise sogar ohne diese Trope undenkbar. Wellhausen jedenfalls ist Ironiker. Zum Beispiel bei der Beschreibung der Schlacht von Çiffîn 657, zu der er bemerkt: „Ueber den Verlauf der Schlacht gewinnen wir kein deutliches Bild. Sie ist mit ebenso grosser Confusion beschrieben wie gefochten.“24 Hier wird mit Hilfe der „Confusion“ der diegetische Ebenenwechsel vollzogen, und zwar als komischer Effekt. Dieser komische Effekt ist nicht zufällig, sondern entspricht einer ästhetischen Wahl. Im zentralen Kapitel über die „jüdische Frömmigkeit“ in der „Israelitischen und jüdischen Geschichte“ schimpft Wellhausen einmal über die Chronik als Produkt einer verknöcherten, didaktisch-repetitiven Kanonisierung in der nachexilischen Epoche. Dieses spezielle, die Bücher der Könige bloß aufbereitende Midrasch sei eine wahre Travestie der Geschichte, die geistliche moralisirende Tendenz vernichtet den ästhetischen Wahrheitssinn, hat kein Interesse für die Dinge wie sie sind, sondern verwendet sie nur als Beispiele für ein paar dürftige Ideen und dichtet sie nötigenfalls mit grosser Dreistigkeit darnach um.25

Am letzten Satz dieses Zitats hängt auch eine Fußnote, zugleich Selbstverweis und subtil selbstironische Einschränkung des absichtlich grobianisch vorgetragenen Urteils: „Prolegomena Kap. 6. Anziehendere Proben des historischen Midrasch sind das Buch Jona und das Buch Ruth.“ Wellhausen nimmt gegen die historische Quelle Partei, in der die geschichtliche Vergangenheit nur die Bühne bereitet für die dreiste Travestie „dürftiger Ideen“. Dagegen nimmt er für die rechte Historie einen „ästhetischen Wahrheits23 Vgl. hierzu meine Studie: History Takes Time, and Writing Takes Time, Too. A Case Study of Temporal Notions in Historical Text. In: Storia della Storiografia 53 (2008), S. 73–96. 24 Wellhausen: Arabisches Reich (wie Anm. 14), S. 51. Ich benutze bei den kursivierten Ausdrücken im Folgenden Wellhausens – nicht mehr zeitgemäße – Transkriptionen. 25 Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte (wie Anm. 14), S. 192.

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sinn“ in Anspruch, der sich an die Dinge halte, „wie sie sind“. Dieses Eben-So-Sein der historischen Dinge, das diegetische Innerste, ist für die epistemische Unternehmung Wellhausens grundlegend. Es beansprucht die unverstellte Wahrnehmung des Gegenstands, die eben das vorgängige Beiseiteräumen des Verstellenden voraussetzt. Der Blick, der die Dinge ihrer Travestien entkleidet, ist demaskierend. Eine verbreitete Göttinger Anekdote erzählte, Wellhausen habe die Gewohnheit gepflegt, sonntagsmorgens in der Leine schwimmen zu gehen, um nachher den heimkehrenden Gottesdienstbesuchern im Badekostüm begegnen zu können. Rudolf Smend dementiert;26 aber dass hier die Wellhausen’sche Ästhetik hübsch auf einen übrigens bemerkenswert körpergeschichtlichen Punkt gebracht ist – Theologie im Badeanzug –, lässt sich schwer leugnen. Die Rede von der „Natürlichkeit“ dominiert Wellhausens Darstellung des vorexilischen Israels; diese älteren „Hebräer“ setzt er – wie die gesamte historisch-kritische Tradition seit de Wette – von den nachexilischen „Juden“ ab. Doch die Natürlichkeit bleibt ebenfalls der Inszenierung bedürftig; und sie benötigt ihren Gegner. Wellhausens Natur ist primär Negation einer Tradition verstellender Abstraktionen. Aus dem Akt dieser Negation bezieht sie ihre Bedeutung; in diesem Sinn bietet sie eine Gegenästhetik, die das, was sie bekämpft, voraussetzt. Über seine Verwendung von „ästhetisch“ und über die Rolle des Sinnlichen beim Erfassen der „Wahrheit“ gibt Wellhausen keine theoretische Auskunft – wenig verwunderlich, wenn der Gegner der angestrebten Geschichtsdarstellung gerade die „Abstraktion“ ist. Was Wellhausen in der besagten Passage skizziert, ist das Modell einer Gegenästhetik, mit deren Hilfe die abstrahierende Verkleidung der Sachen abgelegt wird. Diese Verkleidung war die zugrundeliegende erste ästhetische Leistung. Die „Dinge wie sie sind“ bezeichnen daher gerade keinen unproblematisch zu Tage liegenden Gegenstand. Die Fußnote, just an das Ende dieser Passage gesetzt, verdeutlicht dies. Denn das Urteil, das von den vorgeblichen Eigenschaften der Chronik auf deren historische Epoche abstrahiert, wird durch die derselben Epoche angehörenden Bücher Jona und Ruth sogleich konterkariert. Wellhausen differenziert und ironisiert gerade dort, wo er vordergründig die einfachsten Urteile verkündet. Die „Dinge wie sie sind“ sind gar nicht so. Eine naiv-realistische Erkenntnistheorie verknüpft sich mit seiner Betonung des Natürlichen also gerade nicht. Die Verwendung der Fußnote-in-Gegnerschaft ist bei Wellhausen prominent. Die allererste Anmerkung in den Prolegomena findet sich in einer Polemik gegen die zögerliche Übernahme der historisch-kritischen Forschungen in die orthodoxe Theologie: Die kirchliche Wissenschaft scheint im Alten Testamente die Aufgabe zu haben, funfzig Jahre lang eine neue Entdeckung zu widerlegen, darnach aber einen mehr oder minder geistreichen Gesichtspunkt aufzufinden, unter welchem dieselbe ins Credo aufgenommen werden kann.27

Die Fußnote ist gleich zu Anfang an die „kirchliche Wissenschaft“ angehängt. Sie bietet eine weitere polemische Spitze, gleichsam einen Widerhaken: „Gegen die Polemik, 26 Rudolf Smend: Julius Wellhausen und seine Prolegomena zur Geschichte Israels. In: Ders.: Epochen der Bibelkritik, München 1991, S. 168–185, hier S. 171. 27 Wellhausen: Prolegomena (wie Anm. 14), S. VII.

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die vom Boden der kirchlichen Praxis aus gegen mich geführt wird, habe ich an sich nichts einzuwenden.“ Dann folgen natürlich gegen mehrere Artikel in der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung schneidend formulierte Einwände, deren abschließender lautet: Drittens erkenne ich der N. Ev. KZ. nicht das Recht zu, zu sagen, es leuchte ein, dass mein Buch von unhistorischer Auffassung diktiert sei. Ich habe nichts dagegen, dass sie David sich lieber nach der Chronik und nach den Psalmen vorstellt als nach den Büchern Samuelis, ebenso wie sie Calvin lieber im Lichte der Legende sieht als in dem der Urkunden (1869, S. 526, Kampschulte S. 485 ff.), aber der kirchliche Standpunkt ist nicht der historische.28

In die Polemik gegen die Theologen schiebt Wellhausen noch eine als weniger wichtig markierte Unterpolemik gegen die „Praxis“ ein. Dieser Einschub bedingt eine Unterbrechung des Satzflusses. Die wissenschaftliche Theologie wird durch die hierarchische Struktur von der gemeindlichen Glaubensvermittlung scharf getrennt. Das „Recht“ auf den Gebrauch des Adjektivs „historisch“ zur Beschreibung des eigenen Standpunkts wird im Haupttext ausgeübt und im Fußnotentext nur noch einmal definiert – Andeutung von Wiederholung und Redundanz dieser Definition, übliches Demarkationsverhalten, das die gesamte Aufstellung der endlosen Polemiken um die Historisierung des Alten Testaments im 19. Jahrhundert andeutet. Das Vorwort der Prolegomena in der Auflage von 1883, in späteren Ausgaben wieder gestrichen, ist die abschließende Stellungnahme Wellhauses zu den zahlreichen Angriffen, denen seine Arbeit ausgesetzt war. Für die hier genutzten Dar-, Ent- und Bloßstellungsverfahren war die Fußnote ko-konstitutiv. Sie ermöglicht den Abstieg von der Haupt- zur Nebenpolemik, der aber zugleich ebenfalls ein polemisches Verfahren ist. Das Hässliche des abgebrochenen Gedankengangs und sogar des in der Mitte unterbrochenen Satzes wird hier genutzt, um einen ästhetischen Mangel der gegnerischen Angriffe selbst anzudeuten. Auf Seite VII der Prolegomena begegnet man in Haupttext und Annotationstext derselben, selbstbewusst als „ich“ auftretenden auktorialen Stimme, die im Präsens sprechend ihre Gegner attackiert; Gegnerschaft impliziert Standpunkt. Die Fußnote markiert den Willen dieser Stimme, sich selbst zu unterbrechen, gegebenenfalls auch als ihre eigene Antagonistin. Dafür bedient sie sich graphischer Mittel, nämlich der Platzierung der Fußnote am Seitenende und ihres kleineren und linksseitig eingerückten Satzes. In dieser Mittelwahl ist ein Zug ins Komische angelegt: die geschriebene Stimme – eine ironische Konstruktion – ist nicht in der Lage, sich selbst zu unterbrechen, es sei denn, sie greift zu einem nicht-stimmlichen Werkzeug. Die Tendenz der Annotation zum Komischen – auch schon bei Bayle oder Gibbon höchst präsent, wie Grafton und Bernays betonen – ist allgemein überwältigend. So auch bei Wellhausen. In der Situation auf Seite VII der Prolegomena ist diese Tendenz mindestens zum Teil aus der polemischen Absicht erklärbar, die braven Praktiker der N. Ev. KZ. für ihren biederen Argumentationsstil zu verspotten. Aber bereits in einer Anmerkung auf der folgenden Seite scherzt Wellhausen ganz ohne direkten Gegner, und zwar anlässlich einer Erörterung des altarabischen Kalenders:

28 Ebenda.

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Henning Trüper Als Semesteranfänge kommen Safar und Ragab noch vor in dem Vertrage Muhammeds mit den Christen von Nagran [. . .]. Das Semester scheint bei den alten Arabern fast wie bei den deutschen Studenten eine ähnlich wichtige Einheit gewesen zu sein wie das Jahr, wie schon Ewald bemerkt hat.29

Die polemische, auf Kollegen oder andere öffentliche Akteure zielende Gegnerschaft – also überhaupt die öffentliche Wirkung – ist nicht der Kern der Wellhausenschen Gegenästhetik. Das Lachen der Philologen ist ein merkwürdig vernachlässigtes Thema; vielleicht deswegen, weil es in einer rhetorischen Analyse, die sich auf die Angemessenheit der gelehrten Darstellung an ihren Gegenstand konzentriert, keinen rechten Platz hat. Das Komische, mindestens bei Wellhausen, ist eine unabdingbare ästhetische Qualität, prägend für seine Sicht sowohl auf die arabische als auch die israelitische und jüdische Geschichte. Auf letzterem Gebiet nutzt er besonders den Kontrast zwischen dem rigiden postexilischen Zeitalter und der „Natürlichkeit“ der vorexilischen Religion, um komische Effekte zu erzielen. Das Komische aber liegt in gewisser Weise auf beiden Seiten. In der postexilischen Zeit zeigt es sich in Form einer raideur, einer gewissen, von außen herbeigeführten Versteifung der Gebräuche, deren tiefe, unentrinnbare Ironie darin liegt, dass sie die Fremdherrschaft voraussetzt, während sie doch die Gemeinschaft rigoros nach außen abschließt und auf Kosten des „Lebens“ konserviert.30 In Wellhausens Beschreibung der vorexilischen Zeit jedoch ist das Komische weniger einfach zu greifen. In Wahrheit ist Mose etwa in dem gleichen Sinne der Urheber der ‚mosaischen Verfassung‘, wie Petrus der Stifter der Römischen Hierarchie. [. . .] Wollte man aber auch zugeben, dass eine Verfassung des Altertums so ausser allem Verhältnis zu dem eigenen inneren Leben des Volks entstanden sein könne, so tritt doch an der Geschichte des alten Israels nichts mehr hervor als die ungemeine Frische und Natürlichkeit ihrer Triebe. Die handelnden Personen treten durchweg mit so einem Muss ihrer Natur auf, die Männer Gottes nicht minder wie die Mörder und Ehebrecher; es sind Gestalten, die nur in freier Luft geraten.31

Die Passage atmet jene eigentümliche Heiterkeit des Kreatürlichen, die für Wellhausens Sicht auf die „Völker“ und ihr jeweils „eigenes inneres Leben“ kennzeichnend ist. Das Verfahren ist das eines Besuchs im Geschichtszoo. Die Betonung der Natürlichkeit der Israeliten ist eine Geste der Normalisierung. Der hebräischen Antike wird als Referenzepoche die Legitimität entzogen, indem ihr die Erhabenheit aberkannt wird. Von der heroisch-tragischen Domäne wird sie in den plein-air Bereich der Komödie transferiert. Sie wird provinzielles Anhängsel eines Kulturgebiets von ziemlicher Weitläufigkeit, in der die einzelne „Nation“ zu einer von vielen wird, eingehegt wie diese oder jene Spezies im Tierpark, deren Verschwinden gegebenenfalls nicht weiter auffiele. Die hebräische Antike repräsentiert nichts mehr außer der menschlichen Natur, 29 Ebenda, S. VIII. 30 In grober Anlehnung an Henri Bergsons Analyse des Komischen in: Le rire. Essai sur la signification du comique [1889 –1900], Paris 2007. 31 Wellhausen: Prolegomena (wie Anm. 14), S. 436 f.

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der Notwendigkeit, deren Wirken Wellhausen mit unerschütterlicher Serenität betrachtet. Dennoch ist diese Haltung nicht allein einfache Heiterkeit – entsprechend den „Dingen wie sie sind“ –, sondern verhohlene Gegnerschaft, die ohne die traditionelle Assoziation des hebräischen Altertums mit dem Erhabenen des Zeitalters der Propheten nicht auskommt. Die Uneigentlichkeit der historischen Zeit ist daher nicht einfach Ergebnis einer gemeinphilologischen epistemologischen Skepsis; sie ist vielmehr Teil eines ästhetischen Verfahrens zur Herstellung eines Mangels an Erhabenheit. V. Philologische Nachfolge Christi. Das Natürlich-Individuelle – von daher die zahlreichen Körpermetaphern – ist für Wellhausen das einzig denkbare Ziel der Geschichte. Nietzsches Rezeption seiner Arbeiten ist bekannt.32 Aber diese Position ist kaum abtrennbar von der spezifischen ästhetischen Anlage seiner Texte. Das Ineinandergreifen von textueller Form und abstrakt-philosophischem Standpunkt, in dem auch die Fußnote ihre Funktion gewinnt, zeigt sich in einer längeren Passage über das Evangelium und die Gestalt Jesu im vorletzten Kapitel der Israelitischen und jüdischen Geschichte: Die Evangelien machen den Versuch, nicht bloss seine Lehre, sondern sein Wesen in der Erinnerung festzuhalten. Er lebt sorglos in den einfachen und offenen Verhältnissen, in der Poesie des Südens, nicht in Not und niedriger Armut. Seine Milde ist mit Ernst gepaart, er kann auch zürnen; die Gegner lässt er ironisch seine Überlegenheit fühlen [. . .] Alles lehrt ihn, er sieht in der Natur die Geheimnisse des Himmelreichs [. . .] Studirt hat er nicht [. . .] Er gibt nur dem Ausdruck, was jede aufrichtige Seele fühlen muss. Was er sagt, ist nicht absonderlich, sondern evident, nach seiner Überzeugung nichts anderes als bei Moses und den Propheten steht1). Aber die hinreissende Einfachheit unterscheidet ihn von Moses und den Propheten, und himmelweit von den Rabbinen. Die historische Belastung, unter der die Juden erliegen, hat ihm nichts an; er erstickt nicht in dem Geruch ihrer alten Kleider. [. . .] Er stösst das Zufällige, Karikirte, Abgestorbene ab und sammelt das Ewiggiltige, das Menschlich-Göttliche, in dem Brennspiegel seiner Individualität. ‚Ecce homo‘ – ein göttliches Wunder in dieser Zeit und in dieser Umgebung2). Das sind gewiss Züge, die ein richtiges Bild ergeben.33

Und die beiden Fußnoten in dieser Passage: 1)

Alles was zur Seligkeit nütz und nötig ist, haben Moses und die Propheten gesagt. ‚Glauben sie denen nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob einer von den Toten auferstünde‘. In Mich. 6, 6–8. Ps. 73, 23–28 steht in der Tat das Evangelium. 2) Jüdische Gelehrte wünschen den Unterschied, richtiger ausgedrückt, den zornigen Gegensatz, in dem Jesus zu den Pharisäern stand, aus der Welt zu schaffen; sie meinen, Alles was er gesagt habe, stehe auch im Talmud. Ja, Alles und noch viel mehr. ¦¼²”¾j½WÂuÀ8¾ÃÉÁ [Die Hälfte ist mehr als das Ganze]. Jesu Originalität besteht darin, dass er aus chaotischem Wuste das Wahre und Ewige heraus empfunden und mit grösstem Nachdruck hervorgehoben hat. Wie nahe und wie fern das Judentum ihm stand, zeigt einerseits Marc. 12, 28–34, andererseits das Buch Esther.

Wellhausens Haupttext koppelt die Vorstellung eines Zugriffs auf die „Dinge wie sie sind“ mit der Gestalt Jesu, der in heiterer Armut und schöner Deckung mit einigen 32 Und gründlich dargelegt in Andreas Urs Sommer: Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophischhistorischer Kommentar, Basel 2000, bes. S. 245–266. 33 Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte (wie Anm. 14), S. 350 f.

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allbekannten deutschen Idealisierungen des Mediterranen lebend nicht die Lehren der Schrift, sondern der Natur selbst empfängt. Aber sowohl zu Anfang der Passage als auch an ihrem Ende wird der quellenkritische Vorbehalt deutlich herausgestellt, das Ungefähre, die Abhängigkeit vom Bild der Evangelien, das allerdings „gewiss“ zutrifft, wobei die Gewissheit hier die des Bekenntnisses ist. Dieses Bekenntnis wendet sich gegen die Gegner; bei Jesus gegen die Pharisäer (so in der angeführten Stelle im Markusevangelium) und im Fall Wellhausens gegen die zeitgenössischen jüdischen Gelehrten, die, so der Vorwurf, in den Evangelien nur den Fortsatz des Talmud sähen.34 Jesus selbst sperrt sich gegen das Gewicht (die Erhabenheit?) des Historischen – keineswegs zufällig ist das Auftreten des „Ewiggültigen“ in dieser Passage –, und natürlich darf auch die Kleidungsmetapher nicht fehlen. Die erste Fußnote mit ihren Verweisen auf die „evangelischen“ Lehren bei Micha und im 73. Psalm präzisiert den Bezug des Evangeliums auf die mosaische und prophetische Texttradition und erlaubt Wellhausen das direkte eigene Bekenntnis. Die Fußnote bietet an dieser Stelle eine Möglichkeit auktorialen Sprechens, die im Haupttext nicht besteht, weil Wellhausen der Quelle, nämlich den Evangelien, die Stimme überlassen hat. Zugleich verlässt die Anmerkung aber damit auch das Feld wissenschaftlicher Rede über die Geschichte. Das pastorale, in der Fußnote eingeschlossene Bibelzitat (natürlich ohne Stellenangabe – Luk. 16,31) unterstreicht noch zusätzlich den Wechsel des Diskurses. Die zweite Fußnote antwortet auf dieses Unterfangen der ersten; mit ihr kehrt Wellhausen zum Abschluss des Absatzes über den Umweg der Religionspolemik in die Rede über die geschichtlichen Ereignisse, nämlich die historische Opposition Jesu gegen die Pharisäer, zurück. Auch die Position, gegen die Wellhausen als gelehrter Autor polemisiert – die Behauptung von Entsprechungen und Verbindungen zwischen Evangelium und Talmud –, betrifft den historischen Kontext. Diese zweite Fußnote ist eine nicht unwichtige Passage in der lange schon bestehenden Diskussion über Antijudaismus und Antisemitismus in der historisch-kritischen Forschung des 19. Jahrhunderts zum Alten Testament.35 In der Tat ist die Betonung der Gegnerschaft hier akut; sie ist allerdings auch Erfordernis der ästhetischen Konstellation. Die Polemik gegen die „jüdischen Gelehrten“ hängt nämlich dort am Haupttext, wo Wellhausen zum Abschluss des Absatzes vermittels seines „Ecce homo“ in den unhistorischen, bekenntnishaften Diskursmodus übergegangen ist. Die erste Fußnote, die diesen Modus aus dem Haupttext herausgenommen hatte, dient dazu, diese Grenze innerhalb der Passage insgesamt zu markieren und dadurch die Möglichkeit einer Transgression zu eröffnen, die dann zu Ende des Absatzes im Haupttext begangen und in der zweiten Fußnote zurückgenommen wird. Zugleich antwortet aber die zweite Fußnote auch auf die vorangegangene Charakterisierung der Ironie Jesu gegenüber seinen Gegnern. In diesem Sinn ist das gegen den Talmud geschleuderte „Alles und noch viel mehr“ zu verstehen. Indem er die Gegner „ironisch seine Überlegenheit fühlen“ lässt (natürlich gehört dazu ein geflügeltes Wort aus dem Griechischen, zumal 34 Genauer gesagt war das Ziel dieser Polemik, ungenannt, vielleicht weil schon verstorben, Abraham Geiger; vgl. hierzu Susannah Heschel: Abraham Geiger and the Jewish Jesus, Chicago 1998, bes. S. 209–213. 35 Vgl. Rudolf Smend: Wellhausen und das Judentum. In: Ders. (wie Anm. 26), S. 186–215.

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wenn es gegen jüdische Apologeten der Pharisäer geht), spielt Wellhausen mit der eigenen philologischen Praxis als imitatio Christi. Kein Wunder, dass er vom Motiv der Travestie – auch das Badekostüm ist eben: Kostüm – nicht lassen kann. Ohne die formale Anlage des Textes im Allgemeinen und den Fußnotengebrauch im Besonderen wäre diese unlösbare Verschränkung von Ironie und Bekenntnis nicht möglich. Denn erst die Fußnote erlaubt die Markierung der komischen Bruchlinien der Diskursmodi, die das Bekenntnishafte innerhalb des unaufhebbar uneigentlichen wissenschaftlichen Textes erst ermöglichen. Einige Seiten nach der Passage über das „Bild“ Jesu in den Evangelien folgt ein noch deutlicheres theologisches Bekenntnis, das zugleich als eine bei Wellhausen eher seltene methodologische Stellungnahme gelten kann: Die Geschichte ist Geschichte der Gesellschaft, der Verfassung und des Rechtes, der Wirtschaft, der herrschenden Ideen, der Moralität, der Kunst und Wissenschaft. Ganz erklärlich; denn nur dies Gebiet unterliegt der Entwicklung, nur da lässt sich ein Fortschritt und eine gewisse Gesetzmässigkeit erkennen, nur da kann man einigermaassen berechnen und sogar die Statistik anwenden. Es ist ja auch nicht zu verkennen, dass nur auf dem Boden der Cultur das Individuum gedeiht. [. . .] Das Höhere wird zum Stein, wenn man es statt des Brodes bietet. Aber der Mensch lebt nicht vom Brod allein, die Mittel sind nicht der Zweck. Alle Cultur ist unausstehlich, wenn sie das Individuum und sein Geheimnis nicht anerkennt. Der Fortschritt ist, über eine gewisse Grenze hinaus, kein Fortschritt des Individuums, glücklicher Weise nicht. Ich bin nicht bloss ein Teil der Masse, ein Erzeugnis meiner Zeit und meiner Umgebung, wie die Wissenschaft in einem Tone verkündet als ob Grund wäre darüber zu triumphiren.36

Dieses – im 19. Jahrhundert topische37 – Bekenntnis zum Individuum bezeichnet im weiteren eine spezifische theologische Position, natürlich recht heterodox, doch deutlich geprägt von einer unabweisbar lutherisch ausgerichteten Vorstellung vom Verhältnis des Einzelnen zu Gott: In meinem Kern berühre ich mich mit der Ewigkeit. Freilich muss ich diesen Kern mir selber gewinnen und ausgestalten. Vor allem muss ich daran glauben; glauben dass ich nicht aufgehe in der Mühle in der ich umgetrieben und zermalmt werde; glauben das Gott hinter und über dem Mechanismus der Welt steht, dass er auf meine Seele wirken, sie zu sich hinaufziehen und ihr zu einem eigenen Selbst verhelfen kann, dass er das Band einer unsichtbaren und ewigen Gemeinschaft der Geister ist.38

Interessant ist hier die Betonung des letztlich untergeordneten Verhältnisses dessen, was als geschichtlich angesehen wird. Geschichte ist Angelegenheit einer herrschenden Meinung und einer Wissenschaft, die zum bloßen Ärgernis wird, wo sie das „Geheimnis“ des Individuums leugnet. Schon deswegen muss bei Wellhausen die Darstellung des Gewesenen uneigentlich bleiben, um auf das in ihr zur Sprache kommende tiefe Un36 Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte (wie Anm. 14), S. 355. 37 Marchand (wie Anm. 22), S. 178–188 sieht in Wellhausens Individualismus bloßen kulturprotestantischen Mainstream-Liberalismus der Bismarckzeit; möglicherweise ist damit die Frage nach der Priorität von Theologie oder Politik in Wellhausens Position gerade falschherum beantwortet. 38 Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte (wie Anm. 14), S. 355 f.

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wissen hinzuweisen. Denn das Geheimnis bleibt unwiderruflich beim deus absconditus, der als das Band der „ewigen Gemeinschaft der Geister“ das Individuum als solches erst schafft. Die Skepsis ist also bei Wellhausen insgesamt anders akzentuiert als bei anderen Philologen. Im Grunde sieht er seine Arbeit weniger als epistemologische „Approximation“ einer historischen Kultur, eine der berühmten Formeln in Boeckhs Encyclopädie für die Aufgabe einer „Sachphilologie“, die, und wenn nur als regulative Idee, die Gesamtheit der menschlichen Geschichte zu erfassen anstreben sollte.39 Für Wellhausen scheint ein solches Unterfangen die Mühe nicht wert, die Geschichtswissenschaft bloß Studium des Mechanismus jener zermalmenden Mühle, während es letztlich doch auf das Mehl ankommt, das die Mühle nicht noch feiner mahlen kann. Wenn aber im Zentrum des vergangenen Geschehens letztlich das Individuum gestanden hat und wenn dieses nur in der Ewigkeit der transzendenten Gemeinschaft der Geister, der Menschlichkeit der Menschheit, geschaffen durch Gott, zu einem „eigenen Selbst“ erhoben werden kann, dann kann die historische Zeit selbst immer nur uneigentlich – flüchtig, brüchig, komisch – sein. In dieser höchst merkwürdigen und eigentümlichen theologisch-methodologischen Mischposition – und nicht in einer Übung wissenschaftlicher ratio nach Maßgabe einer Fußnotenrhetorik in Graftons Sinn – liegt das Proprium des Wellhausen’schen Fußnotengebrauchs. Und dieses Proprium erstreckt sich auf die Texte insgesamt. Die zitierte Passage ist fraglos der überhaupt bekenntnishafteste Abschnitt in der Israelitschen und jüdischen Geschichte; aber selbst hier erhält sich im Duktus noch der polemische Gestus, die Gegnerschaft und der damit verbundene Hang zur spöttischen Formulierung, etwa wenn Wellhausen die „Cultur“ ohne Individualismus für „unausstehlich“ hält; wenn er überhaupt sein Bekenntnis gegen die Albernheit einer soziologisch triumphalistischen Geisteswissenschaft richtet, der er mit Hohn und Verachtung begegnet. Obgleich die Bekenntnispassage auf Fußnoten verzichtet, hätte der Haupttext auch hier die Möglichkeit dazu gelassen. Auch die bekenntnishafte Rede ist von der Uneigentlichkeit, der Ironie, dem Komischen affiziert. Das Gelächter der Philologie ist so gesehen nur schwaches Imitat des Gelächters der Gottheit selbst, die den Historiker und Philologen, der vor dem Geheimnis des Individuellen resigniert, ironisch ihre Überlegenheit spüren lässt. Anschrift des Verfassers: Dr. Henning Trüper, EHESS-Centre de Recherches Historiques, 190–198 Avenue de France, 75244 Paris cedex 13, Frankreich,

39 August Boeckh: Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hrsg. v. Ernst Bartuscheck, Leipzig 1877, S. 16.



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