Wie arbiträr sind Zahlwörter? Zahlwortsysteme romanischer und anderer Sprachen von ULRICH DETGES
1.
Das Problem: Arbitrarität, Markiertheit, Frequenz
Eines der Axiome der modernen Linguistik, das Ferdinand de Saussure zugeschrieben wird, besagt: die Zuordnung von Form und Inhalt sprachlicher Zeichens ist arbiträr. Die Geltung dieses Prinzips wird bereits bei Saussure selbst durch den Verweis auf die Motivation komplexer Zeichen relativiert.1 Kohärente Aussagen über die nicht-arbiträren Prinzipien, welche der Zusammensetzung komplexer Zeichen zugrunde liegen, hat allerdings erst die so genannte Markiertheitstheorie vorgelegt. Wegweisend für die Theorie der morphologischen Markiertheit sind dabei Überlegungen von Jakobson (1971 [1932]) zur Verteilung von Nullmorphemen, die typischerweise mit bestimmten inhaltlichen Gegebenheiten korreliert. 2 In einem Paar wie dt. klein: kleiner (vgl. (1))3 wird der Positiv klein morphologisch nicht eigens ausgedrückt – das Adjektiv als solches ist gleichzeitig immer schon ein Adjektiv im Positiv. Im Gegensatz dazu wird der Komparativ durch ein eigenes Zeichen markiert (vgl. dt. klein-er in (1)), und zwar derart, dass er aus der Positivform abgeleitet ist. (1)
Positiv Komparativ
klein–ø klein–er
Diese formalen Verhältnisse lassen sich als direkter Reflex der Tatsache deuten, dass die Inhalts-Kategorie ‚Positiv’ grundlegender ist als die Kategorie ‚Komparativ’. Dies ist auch daran ersichtlich, dass die Kategorie ‚Komparativ’ die Kategorie ‚Positiv’ logisch voraussetzt, während die umgekehrte Relation nicht gilt. Dies wiederum bedeutet: In morphologischen Systemen ist das Verhältnis von Form und Inhalt keineswegs völlig arbiträr. Vielmehr werden grundlegende (merkmallose, umarkierte) Inhaltskategorien, z.B. der Positiv des Adjektivs, häufig formal als Null repräsentiert, abgeleitete (merkmalhafte, markierte) Inhaltskategorien wie z.B. der Komparativ dagegen auch formal abgeleitet. Aus dieser Beobachtung folgt ein Prinzip, das in der Sprachwissenschaft des 20. Jh. als konstruktioneller Ikonismus4 bekannt geworden ist, und das eine grundlegende Isomorphie von Form und Inhalt grammatischer Kategorien postuliert (vgl. (2)):
-2-
(2)
Verteilung von Nullmorphemen nach dem Prinzip des konstruktionellen Ikonismus
Kategorien, die inhaltlich abgeleitet sind, werden auch formal abgeleitet, Kategorien, die inhaltlich nicht-abgeleitet (d.h. grundlegend) sind, werden auch formal nicht abgeleitet (d.h. als Null realisiert).
Die bis hierhin skizzierten Überlegungen weisen zwei grundlegende Mängel auf. Ein Problem von theoretischem Rang besteht darin, dass das Prinzip (2) zirkulär ist, denn unmarkierte Kategorien erkennt man ja im Zweifelsfall allein daran, dass sie morphologisch als Null realisiert
sind.
Es
fehlt
mit
anderen
Worten
an
einer
echten
Begründung des
Markiertheitskonzeptes. Der zweite Mangel des Prinzips (2): Es gibt in jeder Sprache wichtige Fälle, in denen es nicht greift. Unser Prinzip (2) setzt nämlich voraus, dass komplexe Bedeutungen transparent kodiert werden, wie in (3a) bei klein-er. Für Paare wie dt. (3b) viel – mehr dagegen, wo der Komparativ durch eine autonome Form repräsentiert wird, ist es dagegen nicht zuständig. 5 (3)
a. unproblematisch: b. problematisch:
klein vs. viel vs.
klein-er mehr
transparent opak
In (3b) ist die inhaltliche Ableitungsbeziehungen zwischen den Formen eines Paradigmas durch fehlende Transparenz auf der Ausdrucksseite verdunkelt. In Fällen wie diesem möchte ich im folgenden von morphologischer Opazität sprechen. Opazität ist ein graduelles Phänomen (vgl. Wurzel 1990), eine ihrer häufigstes Erscheinungsformen ist die Suppletion (vgl. auch Anm. 8). Den Versuch einer Lösung des Zirkularitäts-Problems unternimmt Mayerthaler (1981: 11-21) mit seiner Theorie der morphologischen Natürlichkeit. Dieser Auffassung zufolge ist morphologische Markiertheit in den natürlichen Gegebenheiten des Sprechens verankert. Unmarkierte (also ausdrucksseitig übereinzelsprachlich häufig als Null realisierte) Kategorien korrelieren dabei mit „prototypischen Sprechereigenschaften“. Mit dieser Grundüberlegung lassen sich nach Mayerthalers Auffassung u.a. folgende Markiertheitsrelationen begründen:
-3(4)
unmarkiert
markiert
a. Singular b. Maskulinum c. Präsens d. Indikativ
Plural andere Genera andere Tempora andere Modi
Der Sprecher redet normalerweise einzeln und nicht im Chor; deshalb ist die sprachliche Kategorie Singular in den meisten Sprachen normalerweise gegenüber dem Plural unmarkiert. 6 Der prototypische Sprecher ist männlich; aus diesem Grund ist das grammatische Genus Maskulinum normalerweise unmarkiert gegenüber den anderen Genera. Der prototypische Sprecher spricht stets in der Gegenwart; aus diesem Grund ist das Tempus zur Bezeichnung der Gegenwart, das Präsens, unmarkiert gegenüber den restlichen Tempora der Sprache. Der prototypische Sprecher bezieht sich normalerweise auf die reale Welt; aus diesem Grund ist der Indikativ unmarkiert gegenüber den übrigen Modi. Prototypische Sprecherkategorien werden im kindlichen Spracherwerb vor den weniger typischen erworben, ikonische Repräsentationen werden früher erlernt als nicht-ikonische;7 dem diachronen Wandel gegenüber verhalten sie sich resistenter (Mayerthaler 1981: 63). Das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus ist laut Mayerthaler (1981: 62) in der Perzeption begründet: prototypische Sprecherkategorien sind perzeptiv leicht zu verarbeiten, wenn sie „einfach“ (d.h. als Null) kodiert sind. Eine wesentlich einfachere Begründung des Markiertheitskonzeptes hat vor Mayerthaler bereits Greenberg (1966) vorgelegt. Unmarkiert sind laut Greenberg immer diejenigen sprachlichen Kategorien, die frequent verwendet werden. Für die meisten der in (4) skizzierten Markiertheitsverhältnisse ist dieses Argument unmittelbar einsichtig: Der Singular ist normalerweise wesentlich frequenter als der Plural – deshalb ist es ökonomischer, den Plural aus dem Singular abzuleiten als umgekehrt. Das Präsens ist (zumindest in der gesprochenen Alltagssprache) das am weitaus häufigsten verwendete Tempus. Aus diesem Grund wird es in vielen Sprachen nicht eigens markiert, während die übrigen Tempora in der Regel durch eigene morphologische Markierungen symbolisiert werden. Der Indikativ als „Normalmodus“ tritt wesentlich häufiger auf als Konjunktiv, Konditional oder andere Modi, und der Positiv des Adjektivs ist weitaus frequenter als der Komparativ (Greenberg 1966: 25-55). Auf der Grundlage von Greenbergs These ist es nun auch möglich, das oben angesprochene Problem der Opazität theoretisch zu integrieren (vgl. Greenberg 1966: 68). Abb. (5) gibt einen Überblick über die Adjektivkomparation in mehreren Sprachen. Diejenigen
-4Komparativformen, die in keinem transparenten Verhältnis zum Positiv stehen, sind mit dem Symbol F markiert.
(5)
a. Lateinisch
F F F F F
b. Deutsch
Positiv
Komparativ
Positiv
Komparativ
grand-is ‚groß‘
grand-ior
dick
dick-er
senex ‚alt‘
sen-ior
schlecht
schlecht-er
PARVUS ,klein‘
MINOR
MALUS ‚schlecht‘
PEIOR
jung groß
jüng-er größ-er
MAGNUS ‚groß‘
MAIOR
alt
ält-er
BONUS ‚gut‘
MELIOR
GUT
BESSER
MULTUM ‚viel‘
MAGIS, PLUS
VIEL
MEHR
F F
c. Altfranzösisch
F F F F
d. Englisch
Positiv
Komparativ
Positiv
Komparativ
hault ‚hoch‘
plus hault
complicated
more complicated
froid ‚kalt‘
plus froid
intelligent
more intelligent
petit ‚klein‘
plus petit
great
great-er
GRAIGNOR
strong
strong-er
GOOD
BETTER
BAD
WORSE
MUCH
MORE
GRANT
‚groß‘
‚schlecht‘ BON ‚gut‘ MOULT ‚viel‘ MAL
PEIOR MEILLOR PLUS
F F F
Mehr oder weniger stark ausgeprägte Opazität8 liegt, wie (5) zeigt, beispielsweise vor bei lat. bonus – melior, multum – magis / plus, dt. gut – besser, viel –mehr, afrz. bon – meillour ‚ moult – plus, engl. good – better, much – more. Schon dieser oberflächliche Vergleich zeigt: Es sind in den verglichenen Sprachen zwar nicht immer genau dieselben Konzepte, bei denen die Komparativformen nicht aus den Positivformen abgeleitet und damit opak realisiert sind – stets jedoch sind die opak realisierten Komparative eine Teilmenge der besonders häufig gebrauchten Formen. Dazu gehören in jeder der untersuchten Sprachen die Formen zur Bezeichnung der Konzepte BESSER und MEHR. Dies bedeutet nun aber, dass nicht nur Ikonizität, sondern auch Opazität, also die Abwesenheit von Ikonizität, mit hoher Frequenz korreliert werden kann (Greenberg 1966: 68-69). Der gemeinsame Nenner beider Phänomen lautet:
(6)
Ebenso wie frequente Kategorien (Singular, Präsens, Indikativ, Positiv usw.) sind frequente Unterkategorien und Einzelfunktionen9 (beispielsweise BESSER oder MEHR) prinzipiell zu einer autonomen, d.h. nicht-abgeleiteten Symbolisierung befähigt. 10
-5-
Dieses Prinzip ist eine elegante, einfache Formel, die 1966 ihrer Zeit weit voraus war. Die moderne Sprachwissenschaft ist erst jetzt dabei, Greenberg einzuholen (Bybee 1985: 50-53, Bybee & Hopper 2001). Trotzdem birgt (6) ein Problem: Frequenz besitzt keine echte Erklärungskraft für sprachliche Verhältnisse.11 Vielmehr ist sie etwas, das selbst erklärt werden muss. 12 Dies möchte ich exemplarisch an einem einfachen Gegenstand belegen, nämlich der Morphologie von Zahlwörtern in romanischen und anderen Sprachen.
2.
Grundtypen von Zahlausdrücken und zwei Prinzipien ihrer Versprachlichung
Zahlwörter verhalten sich insofern wie normale Wörter, als es komplexe – also abgeleitete – und atomare,13 d.h. einfache Zahlwörter gibt (Greenberg 1978: 256).
(7)
a. Komplex (abgeleitet):
dt. dreiundvierzig, frz. vingt-cinq
b. Atomar (nicht-abgeleitet): dt. drei, vier, zehn, frz. vingt, cinq
Eine zentrale Rolle unter den atomaren Zahlwörtern spielen Ausdrücke für die sog. Basiszahlen, also für Zahlen, die im jeweiligen System als Grundlage zur Ableitung von Ausdrücken für höherer Werte dienen (vgl. (8)).
(8)
Ausdrücke für Basiszahlen a. dt. zehn, -zig b. frz. dix, -ante c. engl. ten, -teen, -ty
Abgeleitete komplexe Zahlausdrücke sind Kombinationen aus Basiszahlen und anderen atomaren Zahlen. Als Ableitungsoperationen stehen theoretisch die vier Grundrechenarten zur Verfügung. Eine erste Merkwürdigkeit besteht nun darin, dass nur Addition und Multiplikation (vgl. (9a, b)) universell häufig genutzt werden. Subtraktion (s. (9c)) ist ein seltener Fall, Division (vgl. Beispiel (9d) aus dem Untersorbischen) ein noch seltenerer (Stampe 1977: 602). Dieser Befund verlangt eine Erklärung.
-6(9)
Ableitungsoperationen
häufig: a. Addition
16
sp. dieciseis (diez y seis)
(6 + 10)
b. Multiplikation
80
frz. quatre-vingt
(4 × 20)
c. Subtraktion
18
lat. duodeviginti
(20 – 2)
d. Division
50
usorb. pol sta
(½ 100)
seltener:
Mathematisch gesehen bilden Zahlenwerte kontinuale Reihen. Für die Frage einer atomaren oder komplexen Symbolisierung bieten solche Kontinua keinerlei „natürliche“ Anhaltspunkte. Trotzdem variiert die atomare oder komplexe Repräsentation von Zahlenwerten in den verschiedenen Sprachen nicht in chaotischer Weise, sondern unterliegt klaren Prinzipien. Das erste und wichtigste dieser Prinzipien lautet (Greenberg 1978: 281, Hurford 1987: 86):
(10)
Ausdrücke für niedrige Zahlen werden in der Regel atomar, Ausdrücke für hohe Zahlen dagegen komplex kodiert.
Eines von vielen Beispielen, die diese Regel belegen, ist das Lateinische (vgl. (11)), wo alle Zahlen bis einschließlich 10 atomar, alle Zahlen über zehn dagegen komplex versprachlicht sind. (11)
Lateinisch F F F F F F F F F
F
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
UNUS , UNA, UNUM DUO, DUAE, DUO TRES, TRES , TRIA QUATTUOR QUINQUE SEX SEPTEM OCTO NOUEM
Um die Regel (10) auf die Fragestellung zuzuspitzen, die in Abschnitt 1 entwickelt wurde, könnte man auch sagen: In (11) sind alle Zahlen bis einschließlich 10 opak realisiert
-7(dementsprechend werden sie hier, genau wie die nicht-abgeleiteten Komparative in (5), durch das Zeichen F markiert). Dies wird klar, wenn man bedenkt, dass es prinzipiell möglich ist, jeden Zahlausdruck aus einem anderen abzuleiten, also beispielsweise die Zahl 6 als 5 + 1 zu symbolisieren. Dass dies keine müßigen Gedankenspiele sind, zeigt ein Blick auf das Indoeuropäische (vgl. (12)), wo Ausdrücke für Zahlen über 5 komplex, d.h. abgeleitet waren. *Okto ‚acht’ ist ein alter Dual und bedeutet ursprünglich wahrscheinlich den metonymisch aus der Figur ZWEI REIHEN FINGER (ohne Daumen) abgeleiteten Zahlausdruck 2 x 4 (Menninger 21979a: 159); *dekm8 ‚zehn’ ist wahrscheinlich ein abgeleiteter Zahlausdruck der Art 2 x 5, motiviert durch die Figur ZWEI HÄNDE (Szemerényi 1960: 69, Menninger 21979a: 142).14
(12)
Indoeuropäisch Motivation 6 *sweks
h 5 + 1 *weks ‚wachsen, dazukommen‘,*g (e)s-weks ‚Zuwachs im Bezug auf die
8 *okto
4×2
10 *dekm8
2×5
fünf Finger der anderen Hand.‘ 15 Dual von *oketom ‚Reihe der Fingerspitzen, d.h. Finger der Hand ohne Daumen‘. *d(u)wo ‚ zwei‘, *komt- ‚Hand.‘
Der Vergleich von (11) und (12) zeigt: Was genau als niedrige Zahl behandelt und deswegen atomar/opak realisiert wird, variiert von Sprachgemeinschaft zu Sprachgemeinschaft. Trotzdem sind innerhalb der Einzelsprachen atomare/opake Zahlausdrücke nicht chaotisch verteilt, sondern folgen häufig einer implikativen Regel der folgenden Art (s. (13)):
(13)
Wird in einer Sprache ein bestimmter Zahlenwert atomar realisiert, so werden in aller Regel auch alle Ausdrücke für die jeweils niedrigeren Zahlenwerte atomar realisiert.
Diese Regel wird durch einen Vergleich des Italienischen, Portugiesischen und Französischen bestätigt (s. (14)): Das Italienische verhält sich insofern wie das Lateinische, als hier alle Zahlausdrücke ab 11 formal komplex sind. 16 Das Portugiesische dagegen besitzt eine lückenlose atomare Reihe bis zur Zahl 15. Im Französischen schließlich reichen die atomaren Ausdrücke bis zum Wert 16 hinauf. Einzelsprachlichen Schwankungen ist also nur die Obergrenze unterworfen, welche die atomar realisierten Zahlausdrücke von den abgeleiteten Zahlwörtern trennt.
Wörter für Basiszahlen und Ausdrücke für ihr Vielfaches, also z.B. 10, 20, 30, 40 usw., bilden eigene Reihen, die gesondert betrachtet werden müssen. Zunächst einmal besteht zwischen der einfachen Basis und ihrer Repräsentation bei Vielfachen häufig Basis-Allomorphie (engl. ten versus –teen, –ty) oder Basis-Suppletion (frz. dix versus –ante, lat. decem versus –ginti / –ginta, dt. zehn versus –zig usw).17 Hurford (1987) zufolge liegt der eigentliche Grund für diese Eigentümlichkeit darin, dass in der Regel das einfache Vielfache der Basiszahl niemals ausdrücklich als einfach markiert wird. Das einfache Vielfache beispielsweise der Basiszahl 10 wird, mit anderen Worten, üblicherweise nicht als 1 × 10 abgeleitet, sondern einfach als 10 (Greenberg 1978: 278), ein Phänomen, das Hurford (1987: 55) als „one-deletion“ bezeichnet. Darin unterscheidet es sich grundlegend von den abgeleiteten Ausdrücken für Vielfache, bei denen der Ableitungsfaktor normalerweise explizit angegeben wird: 50 wird als 5 × 10 abgeleitet, 60 als 6 × 10 usw. Zudem lassen sich Bezeichnungen für das Vielfache von Basisformen diachronisch häufig auf pluralische Formen zurückführen, Ausdrücke für die einfache Basiszahl dagegen nicht. 18 Basis-Allomorphie bzw. Basis-Suppletion sind die lautlichen Resultate unterschiedlicher prosodischer Verhältnisse, die ihrerseits aus solchen divergenten Kodierungspräferenzen resultieren. 19 Opazität, die über die „normale“ Basissuppletion hinausgeht, ist bei Ausdrücken für ein geringes Vielfaches der Basiszahl wahrscheinlicher als bei Ausdrücken für ein höheres. Besonders deutlich ist dies bei frz. vingt, wo weder der normale Ausdruck für ‚zwei’, deux, noch der für ‚zehn’, dix oder, besser noch, -ante aufzufinden sind. Wesentlich durchsichtiger ist demgegenüber frz. trente, wo einerseits trois im Segment tr- gerade noch identifizierbar ist, während andererseits –ente [ãt] dem normalen französischen Ausdruck für die Vielfachen von
-910 entspricht. Allerdings sind beide Bestandteile in trente deutlich stärker verschliffen als dies bei den höheren Vielfachen, beispielsweise cinquante oder soixante der Fall ist (solche Fälle „leichterer“ Undurchsichtigkeit werden im folgenden mit dem Symbol ! markiert). (15)
10 a. frz. dix b. ir. deich c. dt. zehn d. dän. ti
20 F VINGT F FICHE ! ZWAN -zig F TYVE
30 ! TRente
[tyve urspr. ‚10: plur.‘]
Irisch fiche ‚zwanzig’ ist nicht als das zweifache Vielfache von deich ‚zehn’ und da ‚zwei’ transparent. 20 Im Deutschen und Englischen weisen die Ausdrücke für die Vielfachen der Basiszahl generell einen hohen Grad an Transparenz auf, doch unterscheiden sich gerade dt. zwan– und engl. twen– stark vom jeweiligen Wort für 2 (dt. zwei und engl. two). Ein interessanter Fall ist Dänisch, wo ein eigener Typ der Opazität vorliegt: Hier entspricht das Wort für 20, tyve, morphologisch dem einfachen Plural von ti 10. Tyve, wörtl. ‚Zehne‘, ist also insofern nicht-transparent, als im Wort nicht ausdrücklich markiert ist, dass es sich um das Zweifache von 10 handelt. Die Tatsache, dass die Zahl 20 hier per „two-deletion“ als das unmarkierte Vielfache von 10 versprachlicht wird, korreliert, wie wir später sehen werden, mit bestimmten weitergehenden Besonderheiten im Zahlwortsystem des Dänischen (s. Abschn. 6).
4.
Frequenz und Opazität bei Zahlwörtern
Diachronisch betrachtet ist Opazität das Resultat von Ausspracheerleichterung. So entwickelte sich beispielsweise lat. duodecim über den Zwischenschritt vlat. dodece zu afrz. duze bzw. asp. doze (Price 1992: 455). Beim letzten Schritt dieser Entwicklung, also vlat. dodece > afrz. duze, asp. doze, scheint es sich um die Generalisierung von Formen zu handeln, die ursprünglich reine Allegro- (d.h. Schnellsprech-) Varianten des transparenten dodece waren. Interessant ist, dass sich bei der lautlichen Verschleifung von dodece zu afrz. duze, asp. doze die Einerstelle duo > do/du als wesentlich resistenter erweist als der Zehner dece(m) > ze (Price 1992: 456). Auf diesen Befund werden wir später zurückkommen. Ausspracheerleichterung ist erwartbar bei Wörtern, die häufig gebraucht werden. Solche Wörter brauchen von den Sprechern nicht jeweils neu gebildet werden, sondern können als ganze im Gedächtnis gespeichert und bei Bedarf wieder abgerufen werden (Hurford 1987: 83).
- 10 Nur bei nicht-generierten, en bloc reproduzierten Wörtern sind transparente Morphemgrenzen verzichtbar und können entsprechend beim schnellen Sprechen verschliffen werden. Diese Überlegung erklärt, weshalb frequentere Formen eher Opazität aufweisen als weniger frequente. Sie erklärt aber keineswegs eine Schlussfolgerung, die sich logisch aus dem bisher Gesagten ergibt: Aus irgendeinem Grund scheinen Ausdrücke für niedrige Zahlen frequenter zu sein als Ausdrücke für hohe (Greenberg 1966: 42-43, Dressler 1985b: 107).
5.
Frequenz und Transparenz bei Zahlwörtern
Das oben Gesagte gilt umgekehrt auch für morphologische Transparenz: Selten gebrauchte Ausdrücke werden nicht als ganze im Gedächtnis gespeichert, sondern beim Sprechen nach bestimmten Regeln jeweils neu erzeugt (vgl. Greenberg 1978: 291). In Zahlwortsystemen lässt sich beobachten, dass Ausdrücke für hohe Zahlen diachronisch eher durch transparente neue Ausdrücke ersetzt werden als Ausdrücke für niedrigere Zahlen. Solche Ersetzungen sind wiederum implikativ geregelt:
(16)
Wird in einer Sprache ein Wort für eine bestimmte Zahl durch einen neuen transparenten Ausdruck ersetzt, so werden in aller Regel auch die Ausdrücke für die jeweils höheren Zahlen durch transparente Formen ersetzt.
Eine komplette Ersetzung der alten lateinischen Formen für die Zahlen zwischen 10 und 20 durch transparente neue Ausdrücke finden wir beispielsweise im Rumänischen (vgl. (17)). Das Wortmaterial, aus dem diese Ausdrücke gebildet sind, ist zwar genuin romanisch (rum. spre ‚über, auf’ < lat. super), doch ist die Ableitungstechnik, die ihnen zugrunde liegt, für die slawischen Sprachen typisch (Price 1992: 460, Comrie 1992: 762-763). Der Pfeil in (17) gibt die diachrone Ersetzungsrichtung an.
- 11 (17) 10 11 12 13 14 14 16 17 18 19
Rumänisch ZECE (< lat. DECEM ) un-spre-zece ‚eins auf zehn‘ doi-spre-zece ‚zwei auf zehn‘ trei-spre-zece pai-spre-zece cinci-spre-zece sai-spre-zece sapte-spre-zece opt-spre-zece noua-spre-zece
Eine vollständige Erneuerung dieser Art ist häufig das Symptom einer Unsicherheit im Umgang mit Zahlen einer bestimmten Höhe. Dagegen führen Sprechergruppen, die den Umgang mit solchen Zahlen gewohnt sind, alte Zahlworttraditionen fort. Unterschiedliche Kompromisse zwischen der Tendenz zur Opazität bei niedrigen Zahlen und der Tendenz zur Transparenz bei höheren können sich deshalb auch in verschiedenen Varietäten ein- und derselben Sprache manifestieren. Im Altspanischen (vgl. (18a)) ist die Ersetzung der alten lateinischen Zahlwörter durch neue, transparente Ausdrücke bis hinunter zu 12 (diz e dos) belegt (Menéndez Pidal 17
1982 [1904]: 243).21 Andererseits wurden in anderen, konservativeren Varietäten (s. (18b))
Zahlen bis einschließlich 16 atomar realisiert – hier wurden die alten lat. Etyma weitergeführt und zu opaken Ausdrücken verschliffen. Das heutige Standardspanisch (Bsp. (18c)), wo die atomare Symbolisierung nur bis einschließlich 15 reicht, repräsentiert einen Kompromiss zwischen beiden Tendenzen.
(18)
a. Altspanisch I F 11 12 13 14 15 16 17 18 19
ONZE
diz e dos diz e trés diz e quatro – diz e seis diz e siete diz e ocho diz e nueve
b. Altspanisch II F F F F F F
11 12 13 14 15 16 17 18 19
ONZE DOZE TREZE CATORZE QUINZE SEZE
diz e siete diz e ocho diz e nueve
c. Spanisch F F F F F
11 12 13 14 15 16 17 18 19
ONCE DOCE TRECE CATORCE QUINCE
dieciséis diecisiete dieciocho diecinueve
Aufschlussreich ist ein Blick auf die Reihe der italienischen Zahlwörter zwischen 10 und 20 (vgl. (19)). Hier wurde in den höheren Werten das Ableitungsschema un-dici, das direkt auf das lateinische un-decim zurückgeht, durch ein neues Verfahren der Art decem-ad-septem ersetzt.
- 12 Die Tatsache, dass die Ausdrücke bis einschließlich 17 nicht nach dem neuen Verfahren ersetzt wurden, lässt sich sinnvoll nur damit erklären, dass sie trotz ihrer formalen Transparenz zum Zeitpunkt der Durchsetzung des neuen Schemas nicht mehr jeweils neu generiert, sondern bereits en bloc gespeichert und reproduziert wurden. Dieses Beispiel zeigt, mit anderen Worten, dass Reproduktion en
Die implikative Regel (16) wird durch einen Blick auf die Basiszahl und ihre Vielfachen bestätigt. Im Lateinischen (vgl. (19)) sind alle Vielfachen von 10 transparent, wenn man von der Basissuppletion zwischen decem versus –ginti/ –ginta absieht. Selbst viginti, mit vi-/bi- ‚zwei-, zwie-’, ist ein transparenter Ausdruck. Eine leichte Abweichung findet sich bei septuaginta (anstelle eines regelmäßigen *septumaginta). Ein wenig problematisch ist auch der Status des -a in quadra-, quinqua-, sexta- etc., das auf eine ie. Pluralendung zurückgeht (vgl. auch Anm. 18). Sofern diese Funktion in den lat. Zahlwörtern noch transparent war, fallen triginta (im Gegensatz zu gr. t??????ta) und octoginta (letzteres anstatt einer erwartbaren Form *octuaginta) aus dem Rahmen, ohne jedoch deswegen opak zu sein. Eine wirklich auffällige Unregelmäßigkeit weist allerdings die Wortform für 90 auf, die nicht *nouemaginta oder *nouenaginta lautet (vgl. dazu Kieckers 1965: 110), sondern, verkürzt um eine ganze Silbe, nonaginta.
- 13 -
(20)
Lateinisch F
10 20 30 40 50 60 70 80 90
(!) !
1-10
DECEM
uiginti triginta quadraginta quinquaginta sexaginta septuaginta octoginta nonaginta
2 3 4 5 6 7 8 9
DUO / BIS, BI22
TRES, TRIA, TRI23 QUATTUOR / QUADRI-, QUADRUQUINQUE SEX SEPTEM OCTO NOUEM
Das lateinische System ist im Rumänischen komplett erneuert worden (vgl. (21a)) – lediglich zece führt lat. decem weiter. Im Aromunischen (s. (21b)), einem isolierten Dialekt des Rumänischen, wird dagegen zwar lat. viginti als opaker Ausdruck für den Wert 20 weitergeführt, jedoch sind hier alle Ausdrücke für höhere Vielfache von 10 gegen transparente Formen ausgetauscht worden (Reichenkron 1952: 179).
Die große Mehrzahl der romanischen Sprachen verhält sich wesentlich konservativer als das Rumänische. In einer ersten Gruppe, die u.a. durch das Italienische, das Sardische und das Spanische repräsentiert wird (vgl. (22)), ist allein das Wort für 90 (das, wie gesehen, im klassischen Latein eine leichte Unregelmä ßigkeit aufweist) dem jeweiligen Wort für ‚neun’ angepasst. Bei den niedrigen Vielfachen von 10 (it. venti, trenta, quaranta) wird dagegen ein z.T. erhebliches Maß an Opazität geduldet.
Noch konservativer verhält sich ein zweiter Typ, den heute noch bestimmte Dialekte des Französischen repräsentieren (vgl. Französisch I in (23)):24 hier sind alle lateinischen Ausdrücke weitergeführt worden, wodurch sich teilweise erhebliche Diskrepanzen im Zahlwortsystem ergeben, beispielsweise zwischen dem Wort für den Wert 90, nonante und dem für ‚neun’, neuf. Diesen Typ repräsentieren außer dem Frz. das Okzitanische und das Katalanische, wo 90 nonanta bzw. noranta heißt, ‚neun’ dagegen nou.
Im Gegensatz zu den französischen Dialekten sind im Standardfranzösischen die hohen Vielfachen von 10 durch transparente Ausdrücke ersetzt worden, in denen jeweils die Zahl 20 oder ein Vielfaches der 20 eine Rolle spielen (soixante-dix, quatre vingts, quatre-vingt-dix).
Diese neuen Zahlausdrücke, welche die älteren Ausdrücke der höheren Vielfachen des standardfranzösischen Zahlwortsystems verdrängt haben, sind das Relikt eines volkstümlichen Systems, das zwischen dem 13. und dem 16. Jh. verbreitet war (vgl. (25)) und dessen Basiszahl 20, also das kleinste Vielfache der alten Basiszahl 10, war.27
(25)
F
20 30 40 50 60 70 80 90 100 120 140 ... 360
(Alt)Französisch III (bis ins 17. Jh.) VINT 20 vint e dis ‚20 und 10’ deus vins ‚2 20er’’ – trois vins ‚3 20er’ trois vins e dis ‚3 20er und 10’ quatre vins ‚4 20er’ quatre vins e dis ‚4 20er und 10’ – sis vins ‚6 20er’ set vins ‚7 20er’ ... dis huit vins ‚18 20er’
Auffällig ist, dass in diesem System bestimmte „Eckwerte“, also 50, 100, 150, 200, 250 und 300, weiterhin mit den alten, auf dem Dezimalsystem beruhenden Ausdrücken cinquante, cent usw. versprachlicht wurden. Dabei handelt es sich um die dezimale Basiszahl der nächst höheren Stufe (100) und ihre Vielfachen, deren Versprachlichung eigenen Regelmäßigkeiten folgt (so, wie die sprachliche Ausgestaltung der Basiszahlen grundsätzlich unabhängig von derjenigen der einfachen Zahlen ist, s.o., Abschnitt 3). Die Werte 50, 150 und 250 sind sekundäre, mit den nicht-natürlichen Faktorenwerten ½, 1½, 2½ usw. abgeleite Vielfache von 100, die oft (aber nicht immer 28) dezimal ausgedrückt wurden. Dagegen mussten in diesem System alle Zahlenwerte, die über 360 hinausgingen, generell dezimal ausgedrückt werden.
- 16 Das
zuletzt
diskutierte
Problem
hängt
mit
einer
Besonderheit
natürlicher
Zahlwortssysteme zusammen, die Hurford (1987: 242) als packing-strategy charakterisiert:29 Normalerweise ist der Faktor für das Vielfache der Basiszahl niemals höher als diese selbst. Es ist also kein Zufall, dass der höchste vigesimal ausgedrückte Wert des Systems in (25) bei 18 × 20 = 360 liegt. In den uns geläufigeren Dezimalsystemen liegt er bei 9 × 10 = 90. Für Vielfache der Basiszahl, die diesen Wert überschreiten (bzw. für alle komplexen Zahlen, die von solchen Vielfachen abgleitet sind), sind deshalb Basiszahlen einer höheren Ordnung erforderlich. In Dezimalsystemen betrifft dies alle Vielfachen ab dem Wert 100. Vigesimalsysteme sind keine Besonderheit des Französischen. Seit dem Mittelalter sind sie in ganz Europa belegt. Das Altirische beispielsweise besaß ein dezimales System, welches im Neuirischen, im Walisischen, im Kornischen und im Bretonischen durch vigesimale Systeme abgelöst wurde.30 Eine Mischung aus Dezimal- und Vigesimalsystem besitzt das Dänische (vgl. (26)), wo die niedrigen Vielfachen von 10 (30, 40) dezimal abgeleitet sind, die höheren Vielfachen jedoch (in Einklang mit Regel (16)) durch transparente vigesimale Ausdrücke ersetzt wurden.
Vigesimale Zahlausdrücke sind für die gesamte Romania mit Ausnahme des Rumänischen belegt. 32 Unter (27) finden sich Ausdrücke aus dem älteren Wallonisch, dem Okzitanischen, dem Süditalienischen und dem Leonesischen (vgl. dazu auch Price 1992: 464-469). (27)
a. Älteres Wallon. b. Okzitan. c. Südital. d. Leones.
cwète vint-et-doze 92 trés-bints 60, cinq bints 100 du vintini e ddèci 50, cincu vintini 100, quínnici vintini 300 dous veintes 40, cuatro veintes 80
- 17 Der Vergleich zwischen (25), (26) und (27) legt nahe, dass es sich bei der Verbreitung vigesimaler Systeme nicht um ein primär sprachliches, sondern um ein kulturelles Phänomen handelt. Aufschlussreich ist ein Blick auf das Englische. Der vigesimale Basisausdruck engl. score, der sich bis heute in Ausdrücken wie twoscore ‚vierzig’, threescore ‚sechzig’ usw. erhalten hat, ist bereits um etwa 1100 im kirchlateinischen Inventar des Klosters Bury St. Edmund belegt, wo volkssprachliche Ausdrücke wie u.a. V scorae scaep ‚fünf 20er Schafe’ verzeichnet und als quinquies viginti oves übersetzt werden (zit. n. Rösler 1929: 283). Etymologisch geht engl. score zurück auf skandinavisch skor ‚Schnitt, Kerbe’ (Rohlfs 1952: 239) – wir können uns leicht vorstellen, wie beim Zählen (beispielsweise von Schafen) eine Kerbe in ein Stück Holz geschlagen wird,33 sobald die Zahl 20 erreicht ist, und wie nach Abschluss des Zählvorganges alle Kerben auf dem Holz addiert werden, so dass eine Gesamtzahl von 100 Schafen als fivescore sheep angegeben wird. Aus dieser Überlegung lässt sich eine Konsequenz ableiten, die grundlegend für alle weiteren Überlegungen ist: engl. score ist genaugenommen kein Zahlwort, sondern ein Zählausdruck. Noch deutlicher ist dies bei den Ausdrücken unter (27), die, im Gegensatz zu echten Zahlwörtern, nicht generell zur Quantifizierung beliebiger Referentenmengen verwendet werden können, sondern immer nur in ganz bestimmten (häufig landwirtschaftlich-fachsprachlichen) Registern Anwendung finden und auch dort nur bei bestimmten Klassen von Referenten (Reichenkron 1952: 171).34 Verglichen damit war das (alt-)französischen Vigesimalsystem unter (25) bereits ein stark generalisiertes Zählsystem, dem freilich weiterhin der Makel anhaftete, dass es vor allem für das Zählen und Rechnen auf dem Markt verwendet wurde. Noch im 16. Jh. merkt J. Palsgrave an, dass es in Frankreich die „voulgar people” und „merchaunte men“ seien, die vigesimal soixante dix, quatre vingts, quatre vingts dix, six vingts, sept vingts usw. zählen, während die traditionellen dezimalen Zahlwörter septante, octante und nonante eher von den „lerned men“ verwendet werden (vgl. Reichenkron 1952: 168). Das heutige standardfranzösische Zahlwortsystem, bei dem sich vigesimale Zahlwörter nur für die hohen Vielfachen der Basiszahl(en) bis 99 finden, geht auf das 17. Jh. zurück. Es stellt einen Kompromiss zwischen Dezimal- und Vigesimalsystem dar, in dem die dezimalen Anteile klar dominieren, und dessen nächste Schwelle mit der dezimalen Stufenzahl 100 beginnt. 35 Aus der Entwicklung dieses Systems lässt sich jedoch ein wichtiger Befund ableiten: offenbar erneuern sich Zahlwortsysteme diachronisch aus Elementen von Zählsystemen.
- 18 7.
Funktion und Form
Zählen ist eine zentrale außersprachliche Funktion von Zahlwörtern. Zwar verwenden moderne Gesellschaften Zahlwörter für vielerlei Zwecke und Rechenoperationen, doch erlernen wir die niedrigen, nicht-abgeleiteten Zahlwörter immer noch dadurch, dass wir sie uns als Zählreihen aufsagen (Stampe 1977: 596). Im Alltag vormoderner Gesellschaften ist das Zählen die mit Abstand wichtigste Funktion von Zahlwörtern (Menninger 21979a: 51). Diese Funktion erklärt nun alle der im Laufe unserer Überlegungen herausgearbeiteten ausdrucksseitigen Besonderheiten von Zahlwortsystemen. Zählen erfolgt in der Regel von den niedrigen Werten zu den höheren. 36 Dies erklärt, warum Addition und Multiplikation bei Zahlwörtern universell eine weit wichtigere Rolle spielen als Subtraktion oder Division (vgl. oben, Abschnitt 2). Eine häufige Technik des Zählens ist die Bildung von „Bündeln“ (Menninger 21979a: 49). Anstatt eine Menge von beispielsweise 1211 Individuen linear von 1 bis 1211 durchzuzählen, bilden die Sprecher gleich große „Bündel“ von beispielsweise 10, 20, 50 oder 100 Individuen und ermitteln die Gesamtzahl in einem zweiten Schritt durch das Zusammenzählen dieser Bündel. Dieser Zwischenschritt erklärt, warum niedrige Zahlen frequenter sind als höhere: zum Abzählen eines „Bündels“ werden immer wieder dieselben niedrigen Zahlausdrücke verwendet. Außerdem wird nun auch verständlich, warum Basiszahlen bzw. sekundäre Basiszahlen und die Reihen ihrer Vielfachen relativ autonom von den übrigen Zahlwörtern sind: signifikant häufig kommen sie erst in einem eigenen Zählschritt, dem Abzählen der „Bündel“, ins Spiel.37 Auch die prosodische Struktur von Zahlwörter lässt sich über das Zählen erklären. Schon Stampe (1977) weist darauf hin, dass bei Zahlwörtern der Hauptton universell normalerweise auf den Einerstellen liegt, also dt. SIEB-zehn, frz. vingt-DEUX, sp. cuarenta y CINCO etc. Dies ist bemerkenswert in Sprachen, in denen ein Teil die komplexen Zahlausdrücke linksläufig, ein anderer Teil dagegen rechtsläufig konstruiert wird. Auch hier liegt der Hauptton stets auf den Einerstellen, gleichgültig, ob sich diese vor oder hinter den Zehnerstellen befinden, vgl. engl. NINE-teen vs. twenty-ONE, it. SE-dici vs. dici-a-SSETTE oder dt. SIEB-zehn vs. hundert-(und-) EINS. Offensichtlich folgt in solchen Fällen die prosodische Struktur von Zahlwörtern Prinzipien, die weniger in den einzelsprachlichen Akzentregeln begründet sind als vielmehr in fundamentalen Gegebenheiten des Zählens (Stampe 1977: 603): in monoton ansteigenden Zählreihen (vgl. etwa (28)) geben nur die Einerstellen jeweils neue, kontrastwürdige Information an, während die Zehnerstellen, die sich ja immer erst bei jedem zehnten Zählschritt wandeln, normalerweise alte, nicht-kontrastwürdige
- 19 Hintergrundinformation enthalten. Diese Informationsstruktur wird in der Prosodie der Zahlwörter mit dem Akzent auf den Einerstellen abgebildet. (28)
vingt -DEUX, alt neu
vingt -TROIS, vingt -QUATRE, alt neu alt neu
vingt -CINQ … alt neu
Dasselbe Prinzip erklärt, warum diachronisch bei der lautlichen Verschleifung von transparenten zu opaken Formen die Zehnerstellen stärker vom Schwund betroffen sind als Einerstellen (s.o. zu lat. duodecim > asp. doze): beim Zählen denotieren die Zehnerstellen redundante Hintergrundinformation und können deswegen nachlässiger artikuliert werden. Besonders augenfällig ist dies im Rumänischen, wo für die Zahlen von 10 bis einschließlich 19 Allegroformen existieren, bei denen die Zehnerstellen von enormer lautlicher Erosion betroffen sind (sprezece > spe, vgl. auch (29)). Trotz der Tatsache, dass sie Träger des Haupttons sind, werden mitunter auch die Einerstellen lautlich modifiziert. So wird im Deutschen der Wert 17 nicht voll transparent als sieben-zehn versprachlicht, sondern, verkürzt um eine Silbe, als sieb-zehn. Auch solche Besonderheiten können durch das Zählen erklärt werden. Monoton ansteigende Zählreihen lassen sich umso leichter artikulieren, je ähnlicher die lautliche Gestalt ihrer Elemente ist. Im Falle von dt. sieb-zehn entspricht die verkürzte Silbenzahl der Einerstelle derjenigen der übrigen komplexen Ausdrücke für die Werte zwischen 13 und 19. Eine sehr weitgehende Angleichung der Ausdrücke für benachbarte Einerstellen finden wir im Rumänischen. Schon im geschriebenen Rumänisch existieren als Varianten der voll transparenten älteren Ausdrücke patrusprezece 14 und sasesprezece 16 die Formen paisprezece und saisprezece, deren Einerstellen nicht nur jeweils um eine Silbe verkürzt sind, sondern darüber hinaus eine Lautfolge /V + j/ erhalten und dadurch den niedrigeren Ausdrücken doisprezece 12 und treisprezece 13 extrem ähnlich sind (Price 1992: 459). In den Allegroformen des gesprochenen Rumänisch wird die Angleichung konsequent weiter geführt. Hier ist die Silbenzahl aller Ausdrücke zwischen 11 und 16 auf zwei verkürzt, und die einsilbigen Einerstellen dieser Ausdrücke unterscheiden sich zum großen Teil nur mehr durch minimale Kontraste (vgl. (29)). Im gesprochenen Rumänisch lässt sich auch bei den Zahlen über 16 eine – wenn auch weit schwächere – Nivellierung beobachten, die zudem nicht auf Reduktion, sondern auf Expansion basiert. Hier wird die Einerstelle des Ausdrucks für die Zahl 18 durch Anfügen eines schwachtonigen [?] um eine Silbe erweitert und damit der entsprechenden Form für 17, also ihrer unmittelbaren Vorgängerin in der Zählreihe, angeglichen.
- 20 -
(29)
Syntagmatische Angleichung der Einerstellen im Rumänischen
1-10 1 UNU, UN, O 2 DOI, DOUA 3 TREI 4 PATRU 5 CINCI 6 SASE 7 SAPTE 8 OPT 9 NOUA 10 ZECE
Solche Nivellierungseffekte, die auf die syntagmatische Abfolge der Zahlwörter beim Zählen zurückzuführen sind, kommen nicht allein bei den Bezeichnungen für Einerstellen vor, sondern können grundsätzlich alle Ausdrücke betreffen, die in Zählreihen unmittelbar nacheinander artikuliert werden. Wie dt. sieb-zehn verhält sich beispielsweise auch dt. sieb-zig, wo der erste Wortteil in seiner Silbenzahl demjenigen der benachbarten Ausdrücke sech-zig, acht-zig usw. angeglichen ist. Auch hier gilt jedoch: solche Effekte können eintreten und konventionalisiert werden (wie in den bisher diskutierten Beispielen) – dies geschieht jedoch nicht mit zwingender Notwendigkeit (vgl. engl. seven-teen, seven-ty deren Silbenzahl sich von derjenigen der benachbarten Ausdrücke six-teen bzw. six-ty oder eigh-teen bzw. eight-ty unterscheidet). Das explicans der morphologischen und lautlichen Gestalt von Zahlwörtern ist, wenn die bisherigen
Überlegungen
zutreffen,
nicht
deren
Gebrauchsfrequenz,
sondern
ihre
außersprachliche Funktion, in erster Linie das Zählen. Diese außersprachliche Funktion ist nicht nur geeignet, die relativ hohe Gebrauchsfrequenz niedriger Zahlausdrücke zu erklären, sondern sie macht darüber hinaus auch viele andere Gegebenheiten verständlich, die ihrerseits von der Gebrauchsfrequenz relativ unabhängig sind.
- 21 8.
Wie arbiträr sind Basiszahlen?
Im letzten Abschnitt dieser Ausführungen möchte ich einer Frage nachgehen, die mit den vorangegangenen Überlegungen zunächst nichts zu tun hat. Es geht um die Frage, wie arbiträr Basiszahlen sind. Auch diese Frage lässt sich plausibel über das Zählen beantworten. Zunächst einmal ist zu klären, wozu Basiszahlen überhaupt benötigt werden. Im Prinzip könnte man durch einfaches Addieren jeden beliebigen Wert erreichen, also beispielsweise den Wert 5 durch Addieren von 1 + 1 + 1 + 1 + 1.38 Der Nachteil dieser Lösung liegt auf der Hand: die syntagmatische Folge von Zählschritten stellt schon bei relativ niedrigen Zahlen eine extreme Belastung für das Kurzzeitgedächtnis dar. Eine denkbare Alternative zu diesem Verfahren bestünde darin, für jeden individuellen Zahl- oder Zählwert einen eigenen atomaren Ausdruck zu verwenden. 39 Der Nachteil dieser Lösung: die Sprecher müssen sich eine ungeheure Menge von Ausdrücken merken – in diesem Fall wäre es das Paradigma der Zahlausdrücke insgesamt, welches schnell das Langzeitgedächtnis überfordern würde. Die Antwort auf dieses Problem sind die Basiszahlen. Basiszahlen erlauben es, aus kleinen Inventaren atomarer Zahlausdrücken große Mengen komplexer Zahlausdrücke abzuleiten. Mathematisch betrachtet bilden die Basiszahlen das eigentlich arbiträre Element der Zahlwortsysteme, denn Zahlen wie 7, 11 oder 13 sind prinzipiell weder bessere noch schlechtere Basiswerte als 10 oder 20.40 Eine Ausnahme bildet vielleicht der Wert 12, bei dem es sich um eine Zahl mit besonderen mathematischen Eigenschaften handelt: Der Wert 12 lässt sich sowohl durch 2 als auch durch 3 und durch 4 teilen – jede Teilungsoperation mit einem Divisor 2, 3 oder 4 hat, mit anderen Worten, eine natürliche Zahl zum Ergebnis (Menninger 2
1979a: 168). Diese Eigenschaft erklärt möglicherweise, warum das Dutzend der Basiswert so
vieler volkstümlicher Zähl- und Maßsysteme ist. 41
(30)
¼ 3
? 4
½ 6
? 8
¾ 9
× 12
In anderen Fällen ergeben sich Basiswerte einfach aus sachlichen Zusammenhängen, die schwer systematisierbar sind. So entspricht das engl. Gewichtsmaß stone ‚Stein’ der Wolle von 11 Schafen. Als Basiswert wurde hier die Zahl 11 gewählt, weil der Marktpreis dieser Menge Wolle gleichzeitig in etwa dem Münzwert eines Pfundes entsprach (Menninger 21979a: 50-51). Menninger spricht in solchen Fällen von „wirtschaftlichen“ Basismengen.
- 22 Die Tatsache, dass in vielen Sprachen ausgerechnet der Wert 10 als Basiszahl fungiert, hängt mit der Anzahl der Finger der menschlichen Hand zusammen. Die Finger der menschlichen Hand sind eine „gute“ natürliche Hilfsmenge beim Zählen. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, müssen wir uns klar machen, was genau der Vorgang des Zählens eigentlich beinhaltet. Beim Zählen von Gegenständen, z.B. von Streichhölzern in einer Schachtel, werden zwei Mengen schrittweise miteinander verglichen, nämlich einerseits die zunächst unbekannte und deshalb ungeordnete Menge von Streichhölzern und andererseits die Werte der intrinsisch geordneten Zahlenreihe, die prinzipiell unabhängig von den konkreten Streichhölzern in der Schachtel sind. Das Resultat der Zählung ist ein Vergleichswert, der es erlaubt, die gezählten Streichhölzer mit beliebigen anderen geordneten Mengen zu vergleichen, z.B. mit bekannten Mengen von anderen Streichhölzern oder mit abgezählten Mengen von Zigarren usw. (Hurford 1987: 141). Menninger (21979a: 43) berichtet, wie in Gesellschaften gezählt wird, die keine Zahlwörter kennen: Bei den Wedda auf Ceylon beispielsweise werden Nüsse gezählt, indem auf jede Nuss ein Holzstäbchen gelegt wird. Anschließend werden die Stäbchen eingesammelt und bei Seite gelegt. Soll zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt werden, ob die Anzahl an Nüssen immer noch der ursprünglich gezählten Menge entspricht (es könnten ja inzwischen Nüsse verloren gegangen sein), so genügt es, die Stäbchen noch einmal den Nüssen zuzuordnen. In solchen Fällen sprechen wir von konkreten Vergleichsmengen. Demgegenüber sind Zahlwortsysteme im Kern Ketten abstrakter Vergleichswerte. Im Gegensatz zu anderen Wörtern erlernen wir Zahlwörter stets als Elemente kompletter, intrinsisch geordneter Reihen. Der Wert jedes einzelnen Zahlwortes wird allein durch seine Position innerhalb der Reihe bestimmt. 42 Reihen von Zahlwörtern erlauben es prinzipiell, intransitiv zu zählen: die Sprecher haben die Möglichkeit, die Zahlwortreihe herzusagen, ohne dabei konkrete Dinge zu zählen (Hurford 1987: 105). Zahlwortreihen sind abstrakte tertia comparationis für den Vergleich beliebiger konkreter Mengen. Darüber hinaus sind sie konventionell – alle Sprecher einer gegebenen Sprachgemeinschaft bedienen sich beim Zählen desselben tertium comparationis. Fragt man nun nach konkreten Vergleichsmengen mit vergleichbaren Eigenschaften, so stößt man unweigerlich auf den menschlichen Körper. Die Einteilung des Körpers in Gliedmaßen ist bei allen Angehörigen der Spezies Mensch im Großen und Ganzen dieselbe; aus diesem Grund bilden die sichtbaren Bestandteile des Körpers ein situations-unabhängiges Reservoir potenzieller Vergleichsmengen. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, werden in verschiedenen Kulturen in unterschiedlicher Weise genutzt. Ein in der Forschung häufig beschriebenes Zählverfahren, dessen Einzelschritte sich an der Struktur
- 23 des Körpers orientieren, beruht auf den sog. Körperzahlen (Hurford 1987: 81). Bei diesem Zählverfahren, das bei verschiedenen Papuastämmen in Neuguinea verwendet wird, weist der Sprecher jedem zu zählenden Objekt einen Körperteil zu, indem er beim Daumen einer Hand beginnt und dann in genau festgelegten Einzelschritten über die übrigen Finger der Hand, das Handgelenk, die verschiedenen Partien des Arms hinauf über Schulter, Hals und Kopf usw. fortfährt, bis er schließlich am Daumen der anderen Hand angelangt ist (vgl. (31)). In diesem System entspricht also das Wort für das Konzept HANDGELENK gleichzeitig dem numerischen Wert 6 (vgl. Menninger
2
1979a: 45). Zahlwörter entstehen aus solchen
Zählverfahren in dem Moment, wo die Bezeichnungen für die einzelnen Zählschritte sich verselbständigen und ihre ursprüngliche assoziative Verbindung zum Körper verlieren.
(31)
Körperzahlen
aus Hurford 1987: 81
Eine wesentlich überschaubarere körperbasierte Vergleichsmenge, die sich freilich zunächst nur zum Zählen extrem kleiner Mengen eignet, sind die Finger der menschlichen Hand. In vielen Sprachgemeinschaften der Welt repräsentiert das Wort für das Konzept MENSCH gleichzeitig den Zahlwert 20 (d.h. 10 Finger + 10 Zehen). 43 Zählen und Rechnen mit den Fingern sind menschliche Universalien, die in vielen Kulturen zur Konventionalisierung von Fingerzahlen und Techniken des Fingerrechnens geführt haben (Menninger 21979b: 3-22). Im europäischen Mittelalter waren die digiti die übliche Bezeichnung für die Einerstellen, ein Gebrauch, der sich bis heute in engl. digits gehalten hat. Ausdrücke für niedrige Zahlen leiten sich in vielen Sprachen aus Bezeichnungen der Finger ab; Brugmann (1892: 464) zufolge geht ie. *ter-, tri
- 24 ‚drei’ auf ein Wort für MITTELFINGER zurück, 44 Schmidt (1989: 92) führt ie. kwet-wr8 ‚vier’ auf einen Ausdruck für GROSSER SPANN zurück, 45 ie. *penkwe ‚fünf’ steht einer verbreiteten Meinung zufolge in Beziehung mit *pn8k wsti-‚Faust‘ (Szemerényi 1960: 113-114, vgl. auch Blažek 1999: 225-229).46 Schmidl (1915) zeigt, dass in afrikanischen Urgesellschaften Fünfersysteme die am meisten verbreiteten Zahlwortsysteme sind. Nicht nur Quinar-, Dezimal- und Vigesimalsysteme sind durch die menschliche Hand motiviert, sondern auch Systeme, die auf der Zahl 4 oder einem ihrer Vielfachen basieren. So bestand beispielsweise die ägypt. Elle aus sechs Handbreiten zu je vier Fingern, d.h. aus insgesamt 6 × 4 = 24 Fingern, der römische Fuß (pes) aus vier palmae zu je 4 digiti (Menninger 2
1979a: 33). In (12) haben wir gesehen, dass wahrscheinlich auch ie. okto ‚acht’ aus der HAND
OHNE DAUMEN abgeleitet ist. Daraus ist verschiedentlich der Schluss gezogen worden, dass im frühen Indoeuropäisch die Zahl 4 zeitweise eine Basiszahl war.47 Zahlwortsysteme mit den Basiszahlen 5, 10 oder 20 sind universell gesehen wahrscheinlich die am meisten verbreiteten. Der historische Ausgangspunkt solcher Systeme ist die menschliche Hand als universelles tertium comparationis des Zählens. Dies bedeutet nun aber, dass die These Mayerthalers, der zufolge Eigenschaften des prototypischen Sprechers einen wichtigen Platz in der Sprachstruktur einnehmen, in diesem Fall voll und ganz zutrifft: Die Wahl der Basiszahl ist zwar, systematisch betrachtet arbiträr, aber aus Gründen, die mit der natürlichen Ausstattung der Sprecher zu tun haben, fällt sie häufiger auf 5 oder ein Vielfaches von 5 als auf andere Zahlen.
9.
Literatur
Blažek, Václav (1999): Numerals. Comparative-etymological analyses of numeral systems and their implications. Brno: Masarykova Univerzita (= Opera Universitatis Masarykianae Brunensis Facultas Philosophica). Brugmann, Karl (1892): Grundriss der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen, Bd. 2.2., Straßburg: Trübner. Bybee, Joan (1985): Morphology. A study on the relation between meaning and form. Amsterdam & Philadelphia: Benjamins (= Typological studies in language. 9). Bybee, Joan & Paul Hopper (eds.) (2001): Frequency and the Emergence of Linguistic Structure. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins (= Typological Studies in Language. 45).
- 25 Comrie, Bernard (1992): „Balto-Slavonic“, in: Jadranka Gvozdanovic (ed.): Indo-European Numerals. Berlin, New York: Mouton de Gruyter (= Trends in linguistics. Studies and monographs 57), 717-833. Dressler, Wolfgang U. (1985a): „Sur le statut de la suppléance dans la morphologie naturelle“, in: Langages 78, 41-56. Dressler, Wolfgang U. (1985b): „Suppletion in word-formation“, in: Jacek Fisiak (ed.): Historical Semantics, Historical Word-Formation. Berlin & New York: Mouton (= Trends in linguistics; Studies and monographs. 29), 97-112. Fenk-Oczklon, Gertraud (1990): „Ökonomieprinzipien in Kognition und Kommunikation“, in: Boretzky, Norbert & al. (eds.): Spielarten der Natürlichkeit – Spielarten der Ökonomie. Beiträge zum 5. Essener Kolloquium über „Grammatikalisierung: Natürlichkeit und Systemökonomie“ vom 6.10.-8.10. 1988. 2. Band, 1. Halbband. Bochum: Brockmeyer (= Bochum-Essener Beiträge zur Sprachwandelforschung. 8), 37-51. Greenberg, Joseph (1966): Language Universals. With special reference to feature hierarchies. The Hague: Mouton. Greenberg, Joseph (1978): „Generalization about numeral systems“, in: Joseph Greenberg (ed.): Universals of Human Language. Bd. 3, Word Structure. Stanford: University Press, 24995. Hamel, Elisabeth & Theo Vennemann (2002): „Die Ursprache der Alteuropäer“, in: Spektrum der Wissenschaft, Mai 2002, 32-40. Hurford, James (1975): The Linguistic Theory of Numerals. Cambridge: University Press (= Cambridge studies in linguistics. 16). Hurford, James (1987): Language and Number. The Emergence of a Cognitive System. London: Blackwell. Jakobson, Roman (1962 [1939]): „Les lois phoniques du langage enfantin et leur place dans la phonologie générale“, in: ders.: Selected Writings I. Phonological Studies. ’S Gravenhage: Mouton, 317-327. Jakobson, Roma n (1971 [1932]): „Zur Struktur des russischen Verbums“, in: ders.: Selected Writings. II. Word and Language. Mouton: La Hague & Paris, 3-15. Kieckers, Ernst (1965): Historische lateinische Grammatik. Mit Berücksichtigung des Vulgärlateins und der romanischen Sprachen. Zweiter Teil, Formenlehre. München Hueber.
- 26 Koch, Harold (1994): „The creation of morphological zeroes”, in: Booij, Geert & Jaap van Marle (eds.): Yearbook of Morphology 1994. Dordrecht, Boston & London: Kluwer, 3171. Lehmann, Winfred P. (1991): „Residues in the Early Slavic numeral system that clarify the development of the Indo-European system“, in: General Linguistics 31, 131-140. Manczak, Witold (2000): „Criticism of naturalness: naturalness or frequency of occurrence?“, in: Folia Linguistica Historica 21, 149-154. Mayerthaler, Willi (1980): „Ikonismus in der Morphologie“, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 2, 19-37. Mayerthaler, Willi (1981): Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden: Athenaion (= Linguistische Forschungen. 28). Menéndez Pidal, Ramón (171982 [1904]): Manual de gramática histórica española. Madrid: Espasa-Calpe. Menninger, Karl (21979a): Zahlwort und Ziffer. Eine Kulturgeschichte der Zahl. Bd. I, Zählreihe und Zahlsprache. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Menninger, Karl (21979b): Zahlwort und Ziffer. Eine Kulturgeschichte der Zahl. Bd. II, Zahlschrift und Rechnen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Price, Glanville (1992): „Romance“, in: Jadranka Gvozdanovic (ed.): Indo-European Numerals. Berlin, New York: Mouton de Gruyter (= Trends in linguistics. Studies and monographs 57), 447-496. Reichenkron, Günter (1952): „Einige grundsätzliche Bemerkungen zum Vigesimalsystem“, in: Festgabe Ernst Gamillscheg. Tübingen: Niemeyer, 164-184. Rohlfs, Gerhard (1952): „Die Zählung nach Zwanzigern im Romanischen“, in: Rohlfs, Gerhard: An den Quellen der romanischen Sprachen. Halle (Saale): Niemeyer, 238-144. Rohlfs, Gerhard (1971): Romanische Sprachgeographie. München: Beck’sche Verlagsbuchhandlung. Rösler, Margarete (1910): „Das Vigesimalsystem im Romanischen“, in: Prinzipienfragen der romanischen Sprachwissenschaft. Fs. für Wilhelm Meyer-Lübke. Bd. 1. Halle: Niemeyer (=Zeitschrift für Romanische Philologie, Beiheft 26), 187-205. Rösler, Margarete (1929): „Auf welchem Wege kam das Vigesimalsystem nach Frankreich?“, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 49, 273-286. Saussure, Ferdinand de (21972 [1915]) : Cours de linguistique générale. Publié par Charles Bally et Albert Sechehaye, avec la collaboration de Albert Riedlinger. Paris : Payot.
- 27 Schmidl, Marianne (1915): „Zahl und Zählen in Afrika“, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 45, 165-209. Schmid, Wolfgang P. (1989): Wort und Zahl. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen der Kardinalzahlwörter. Stuttgart: Steiner (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1989. 8). Schuppener, Georg (1996): Germanische Zahlwörter. Sprach- und kulturgeschichtliche Untersuchungen insbesondere zur Zahl 12. Leipzig: Universitätsverlag. Spitzer, Leo (1925): „Urtümliches bei romanischen Zahlen“, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 45, 1-27. Stampe, David (1977): „Cardinal number systems“, in: Salikoko Mufwene & al. (eds.): Papers from the Twelfth Regional Meeting, Chicago Linguistic Society, 594-609. Szemerényi, Oswald (1990): Studies in the Indo-European System of Numerals. Heidelberg: Winter. Werner, Otmar (1987): „Natürlichkeit und Nutzen Morphologischer Irregularität“, in: Norbert Boretzky & al. (eds.): Beiträge zum 3. Essener Kolloquium über Sprachwandel und seine bestimmenden Faktoren. Bochum: Brockmeyer (= Bochum-Essener Beiträge zur Sprachwandelforschung. 4), 289-316. Werner, Ottmar (1989): „Sprachökonomie und Natürlichkeit im Bereich der Morphologie“, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung (ZPSK) 42, 34-47. Wiese, Heike (1997): Zahl und Numerale. Eine Untersuchung zur Korrelation konzeptueller und sprachlicher Strukturen. Berlin: Akademie Verlag (= Studia grammatica. 44). Wurzel, Wolfgang Ulrich (1990): „Gedanken zu Suppletion und Natürlichkeit“, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung (ZPSK) 43, 86-91. Anmerkungen 1
Saussure (21972 [1915]: 180-184) spricht in diesem Zusammenhang vom „arbitraire relatif“
bzw. von der „motivation relative“. 2
Zur Diskussion des Zusammenhangs von Nullformen und Markiertheit in neuerer Zeit vgl.
Bybee (1985, bes. 52-57) und Koch (1994). 3
Dieses Beispiel stammt von mir, U.D.
4
Vgl. Mayerthaler (1980) und (1981: 25).
- 28 5
Stellvertretend für die Probleme der Markiertheits- und Natürlichkeitstheorie mit nicht-
transparenten morphologischen Verhältnissen vgl. Dressler (1985a, b), der solche Fällen als „de scandaleux contre-exemples à toute théorie du naturel morphologique“ (1985a: 41) bzw. als „’the most unnatural’ morphological phenomena“ (1985b: 97) qualifiziert. 6
Bei solchen Aussagen handelt es sich um Verallgemeinerungen, gegen die sich nicht selten
Verstöße feststellen lassen. So ist beispielsweise im Lateinischen der Plural verschiedener Deklinationsklassen keineswegs formal aus dem Singular abgeleitet, sondern beide Kategorien werden
gleichwertig durch eigene Suffixe markiert: amic-us (sg.) vs. amic-i (pl.). Die
inhaltliche Markiertheit der Kategorie Singular gegenüber der Kategorie Plural äußert sich hier allerdings indirekt darin, dass der Singular formal nicht aus dem Plural abgeleitet ist. Seltene Fälle einer „anti-ikonischen“ Symbolisierung lassen sich zwar finden, wie z.B. die afrz. Zweikasusdeklination, wo der Rektus Singular des Maskulinums mit einem –s, der Rektus Plural dagegen dagegen nullmarkiert ist (murs (sg.) vs. mur (pl.)), doch zeichnen sich diese Fälle, die das Produkt zufälligen Lautwandels sind, durch ihre diachrone Instabilität aus (Mayerthaler 1981: 80, 82). 7
Solche Überlegungen finden sich bei bereits Jakobson (etwa 1962 [1939]) zu Problemen
phonologischer Markiertheit); auf Jakobson geht auch die Vorstellung zurück, dass markierte Kategorien bei Aphasie-Störungen früherer und stärker in Mitleidenschaft gezogen werden als unmarkierte. 8
Beispiele für extrem stark ausgeprägte Opazität sind dt. viel : mehr oder engl. bad : worse.
Demgegenüber sind dt. bess-er, engl. bett-er bereits relativ weniger opak, da beide ein Suffix enthalten, das ihre Komparativfunktion explizit anzeigt. Opazität liegt hier dennoch insofern vor, als in beiden Fällen der Stamm des Komparativs nicht auf den Positiv zurückführbar ist. Gerade umgekehrt verhält es sich bei afrz. grant – graignor, die einen weiteren, noch schwächeren Typ der Opazität repräsentieren – hier weisen die Stämme der Wortformen von Positiv und Komparativ noch eine gewisse Affinität auf, doch ist das Verfahren zu Bildung des Komparativs nicht mehr transparent. Vergleicht man afrz. graignor, maior, minor, peior und meillor mit allen anderen Fällen der afrz. Adjektivkomparation, so wird ein Muster deutlich, dass beim Abbau älterer grammatischer Strukturen (hier: der älteren lateinischen synthetischen Komparativbildung mit dem Suffix –ior) zugunsten von neuen (hier: der analytischen Komparativbildung mit dem präfigierten Adverb plus) häufig beobachtbar ist: am längsten halten sich Residuen des alten Verfahrens in den Ausdrücken mit der höchsten token-Frequenz,.
- 29 9
Diese Formulierung des Prinzips (6) erlaubt es beispielsweise, bestimmte Verhältnisse in
verbalen Paradigmata zu erfassen. Autonom, d.h. nicht aus anderen Formen abgeleitet, sind im Spanischen beispielsweise die hochfrequente erste Person Singular des Indikativ Präsens Indikativ (canto) sowie die noch frequentere dritte Person Singular des Präsens Indikativ (canta). Beide Formen sind ihrerseits die Grundlage zur Ableitung weniger frequenter Unterkategorien: von der ersten Person Singular Präsens sind die Formen des Subjuntivo abgeleitet (hago > haga, consco > conosca etc.), von der dritten Person Singular des Präsens sind sämtliche anderen Formen des Präsens außer der ersten Person deriviert (canta > canta-s, canta-mos, canta-is, canta-n, vgl. Bybee 1985: 60). Einen besonders hohen Grad an Autonomie, der in diesem Fall gleichbedeutend ist mit Opazität, genauer gesagt mit Suppletion, besitzen in vielen Sprachen die Formen hochfrequenter Einzelverben. Dies gilt insbesondere für Bezeichnungen der Konzepte GEHEN (sp. voy, iba, fui frz. vais, allons, irai etc.), HABEN (frz. ai, a, av-ons, ont, eus etc.) und SEIN (frz. suis, est, sommes, serais, fus, dt. bin, ist, sind, war, gewesen, egl. am, are, is, was, were, been etc.). Die Formel (6) besagt wohlgemerkt nicht, dass es bei solchen Einzelkategorien und Einzelformen zu Autonomie bzw. zu Suppletion kommen muss – sie besagt lediglich, dass diese Erscheinungen hier am ehesten erwartbar sind. 10
Vgl. dazu Tiersma (1978) zum Begriff der „lokalen“ Markiertheit und dem Zusammenhang
dieses Phänomens mit der Gebrauchsfrequenz. 11
Greenberg (1966) vertritt hier eine eher unklare Position: Nachdem er zunächst explizit die
hohe Erklärungskraft der token-Frequenz insbesondere mit Blick auf lexikalische und grammatische Phänomene herausstellt (Greenberg 1966: 65-66, 69), kommt er schließlich, ein wenig überraschend, zu dem vorsichtigen Schluss „frequency is itself but a symptom“. In neuerer Zeit plädieren Werner (1987 und 1989) und Fenk-Oczklon (1990) für die Aufgabe des Natürlichkeitskonzeptes zugunsten eines frequenzbasierten Modells der Sprachökonomie. Eine radikal „frequentistische“ Position vertritt Manczak (2000). 12
Diese Kritik formuliert bereits Mayerthaler (1981: 137), wenn er „Frequenz als Epiphänomen
von Natürlichkeit“ (und nicht etwa umgekehrt) charakterisiert. 13
Ich verwende diesen Ausdruck im Anschluss an Greenberg (1978: 256).
14
In ähnlicher Weise lässt sich Menninger (21979a: 142) zufolge auch dt. zehn < ahd. zehan
motivieren durch ze-han ‚Zwei-Hand’. 15
Vgl. Blažek (1999: 239, 242), zur Motivation dieser Etymologie s. auch Szemerényi (1960:
79, Anm. 55).
- 30 16
Allerdings weist im Italienischen das Ableitungsschema zwischen sedici (< SEX -DECEM) und
diciasette (<
DECEM-AD-SEPTEM )
einen Bruch auf, der erklärt werden muss. Dazu weiter unten,
Abschnitt 5. 17
Eine Systematisierung der verschiedenen Formen von Basis-Allomorphie und Basis-
Suppletion findet sich in Greenberg (1978: 279). 18
Lat. -ginta und gr. –???ta gehen höchstwahrscheinlich auf Pluralformen von ie. *dekm8t
zurück, das seinerseits eine Kollektivbildung von ie. *dekm8 ‚zehn’ ist und ‘Gezehnt, Zehner’ bedeutet (Szemerényi 1960: 68). Lat. tri-ginta, gr. t??????ta lassen sich entsprechend auf ie. Konstruktionen mit der Bedeutung ‚drei Gezehnte’ zurückführen (Menninger 21979a: 58). Die Allomorphie zwischen lat. -ginti und -ginta wird allgemein darauf zurückgeführt, dass in der ersten Variante ein alter Dual, in der zweiten ein echter Plural (des Neutrums) vorliegt (vgl. Szemerényi 1960: 115, der in dieser Frage jedoch eine abweichende Meinung vertritt). Zu dt. – zig < ahd. –zug < germ *tigum (plur.) (got. *tigjus (plur.)) vgl. Menninger (21979a: 162) und Schuppener (1996: 28). 19
Zur Entstehung der Suppletion zwischen lat. decem und -gint- (beide < ie. *dekm8(t)) vgl.
Szemrényi (1960: 165-169). 20
Zur Etymologie dieses Wortes s. Szemerényi (1960: 117).
21
Die Lücke bei der Zahl 15 im System Altspanisch I deutet an, dass hier das atomare Zahlwort
quinze verwendet wurde. Dieser Umstand widerspricht dem implikativen Prinzip (15) nicht, wenn man annimmt, dass in diesem System die Zahl 15 eine Art sekundäres Vielfaches der Basiszahl 10 darstellte, und deswegen gesondert betrachtet werden muss. Solche Verhältnisse sind keine Besonderheit des Spanischen, vgl. dazu unten, Abschnitt 6, Bsp. (25). 22
Als Vorderglied von Komposita tritt tri- auch außerhalb von Zahlwörtern auf, etwa in
trisulcus ‚dreizackig’, triangulum ‚Dreieck’, triduum ‚Zeitraum von drei Tagen’ usw. 23
Die Formen quadri-, quadru-, die nicht nur in Zahlwörtren auftreten, sondern auch in
Komposita wie quadriiugis ‚vierspännig’, quadrigae ‚Viergespann’, quadrupedans ‚auf allen Vieren gehend, galoppierend’, sind ursprünglich keine allomorphischen Varianten von quattuor, sondern leiten sich von quadra/quadrum ‚Viereck, Kreuz’ ab (Menninger 21979a: 159). 24
Hierzu gehören insbesondere die östlichen und südöstlichen Dialekte Frankreichs vom
Wallonischen über das Lothringische, das Burgundische, das Savoyardische, außerdem das Provenzalische, das Languedoc und das Rousillon (vgl. Rohlfs 1952: 241-242).
- 31 25
In Belgien und der Schweiz wird diese Form [septã:t] , d.h. mit einem [p] ausgesprochen, das
nicht in sept [set] ‚sieben’ enthalten ist, und wohl als spelling pronunciation betrachtet werden muss. 26
Bei octante handelt es sich um eine archaische, latinisierende Form, die heute aus dem
Gebrauch verschwunden ist. Die an das Wort für huit angepasste Form huitante ist heute die einzig geläufige (Price 1992: 464). Bis ins 16. Jh. war octante im Pariser Französisch die Prestigeform (s.u. Abschnitt 6, Anm. 35). Auch in kat. vuitanta und okz. oitanta
liegen
Anpassungen an das jeweilige Wort für ‚acht’ (kat. vuit, okz. uèit [wejt]) vor. 27
Vgl. dazu Reichenkron (1952: 168), Price (1992: 464).
28
J. Palsgrave erwähnt in seiner Beschreibung des französischen Vigesimalsystems nur cent,
deux cens, trois cens und quatre cens (Reichenkron 1952: 168). 29
Verschiedene Prinzipien, die solchen Strategien zugrunde liegen, werden bei Greenberg
(1978: 258-263) diskutiert. 30
Im Bretonischen werden, entsprechend Regel (16), die älteren dezimalen Ausdrücke für 10
(dek), 20 (uigent) und 30 (tregont) weitergeführt, während die Ausdrücke für Werte ab 40 auf dem Vigesimalsystem basieren (40 deu-uigent, 60 tri-uigent, 80 pear-uigent usw., vgl. Rohlfs 1952: 239). 31
Zur historischen Grundlage dieser Bildungsweise, der sog. Oberzählung, vgl. Menninger
2
( 1979a: 88-92, bes. 90). 32
Neben der Romania besitzen der angelsäschsische und der irisch-keltische Raum vigesimale
Systeme in nennenswertem Umfang. Der Ursprung dieser Systeme ist in der Vergangenheit Anlass für ideologisch aufgeladene Debatten gewesen. Einer älteren These zufolge, die u.a. von Rösler (1910), Rohlfs (1952) und Menninger (21979a: 79) vertreten wird, gehen die vigesimalen Systeme Europas auf skandinavischen Einfluss zurück. Lt. Rohlfs sind Zwanziger-Systeme überall dort zu finden, wo normannischer Einfluss nachweisbar ist (Großritannien, Nordfrankreich, Sizilien). Argumente gegen diese These werden schon bei Spitzer (1926: 1-3), vor allem aber bei Reichenkron (1952) vorgebracht, etwa die Tatsache, dass sie nicht erklären kann, warum ausgerechnet auf den normannischen Kanalinseln heute noch ausschließlich dezimale Zahlwortsysteme verwendet werden (Reichenkron 1952: 164). Eine neuere These von Theo Vennemann (dargelegt in Hamel & Vennemann 2002: 39) besagt, dass die europäischen Vigesimalsysteme vaskonischem/baskischem Substrateinfluss geschuldet seien (zum baskischen Vigesimalsystem vgl. schon Rohlfs 1952: 244). Diese These erklärt jedoch nicht, wieso das vigesimale Zähglen sich erst im Mittelalter verbreitet. Unklar bleibt außerdem, wieso gerade im
- 32 -
iberoromanischen
Raum,
d.h.
in
unmittelbarer
Nähe
des
heutigen
baskischen
Verbreitungsgebietes vigesimale Systeme vergleichsweise unbedeutend sind (obwohl sie auch dort sporadisch auftreten, vgl. Rohlfs 1971: 132-133, der, anders als noch 1952, diesen Umstand freilich nicht auf baskischen Substrateinfluss, sondern auf Polygenese zurückführt). 33 34
Zu Kerbhölzern und Kerbzahlen vgl. Meninnger (31979b: 26-55). In Sizilien ist beispielsweise die Zählung nach Zwanzigern im Wesentlichen auf
Altersanganben und bestimmte landwirtschaftliche Produkte beschränkt (Rohlfs 1952: 243). Kat. douro, ursprünglich eigentlich eine vigesimale Münzgeldeinheit (ein duro entsprach 20 reales), wurde zusätzlich nur für Altersangaben genutzt: cuento ya más de tres douros y medio, d.h. 70 Jahre (Rohlfs 1971: 132). Generell gilt auch für die iberische Halbinsel, dass hier vor allem Korn, Mehl und Vieh vigesimal gezählt wurden (Reichenkron 1952: 178), etwa tres vent medidas de farina (Berceo, Vida de Santo Domingo, zit. n. Reichenkron 1952), 5 vintados de ovelhas ou de cabras (Bragança, vgl. Reichenkron 1952). In Zentralfrankreich wird eine von 6 × 20 bis 18 × 20 durchgehende Vigesimalzählung ausschließlich für das Schlachtgewicht von Schweinen verwendet (Spitzer 1925: 4). Eine im deutschen Raum verbreitete vigesimale Zählund Maßeinheit war die Stiege, ursprünglich wohl ein altes Raummaß, das zum Zählen verschiedener Referententypen, beispielsweise von Schafen, verwendet wurde (Menninger 2
1979a: 62). Diese Maßeinheit wurde in Formen wie štãga, *štyga oder stig in verschiedene
Daraus ergibt sich, dass im 17. Jh. eine partielle soziolinguistische Markiertheitsumkehrung
eingetreten ist, in deren Folge die ehemaligen Prestigeformen septante, octante und nonante zu dialektal markierten Varianten abgesunken sind (vgl. Reichenkron 1952: 172). 36
Allerdings gibt es Zähltechniken, bei denen dieses Prinzip ganz oder teilweise außer Kraft
gesetzt ist, namentlich Rückzählung und Oberzählung (Menninger 21979a: 86-92). Auf diese Techniken wiederum lassen sich subtraktive Zahlwörter zurückführen, ebenso Ausdrücke, die auf Division basieren. 37
Zum Zusammenhang von Basiszahlen, Zahlenstufen und Bündelung vgl. bereits Menninger
(21979a: 137). 38
Stampe (1977: 604) diskutiert die Verhältnisse in Aranda, einer australischen Sprache, in der
in dieser Weise gezählt wird. 39
Zählverfahren dieser Art kommen in der Tat vor. So gibt es afrikanische Hirtenvölker, bei
denen der Hirte jedes Tier seiner Herde mit Namen kennt, gleich, wie groß diese sein mag (vgl. Stampe 1977: 596).
- 33 40
In vielen europäischen Sprachen werden einzelne Zahlenwerte idiosynkratisch von anderen
Basiswerten als 10 abgeleitet; Walisisch und Bretonisch beispielsweise leiten den Wert 18 als 2 × 9 ab (Hurford 1987: 241), das Béarnais versprachlicht 18 als tres-cheys, d.h. als 3 × 6 (Rohlfs 1971:
Anm.
415),
im
Lettischen
ist,
insbesondere
im
Märchen,
der
Ausdruck
trejdevini/trîsdevini (wörtlich ‚dreimal neun’) als expressive Umschreibung für ‚viele’ geläufig (ähnliche Ausdrücke finden sich in verschiedenen ostslawischen Sprachen), ein Umstand, den Comrie (1992: 722) als Indiz für die Existenz eines inzwischen verschwundenen NeunerSystems wertet. 41
Allerdings basieren Stampe (1977: 601) zufolge in bestimmten Regionen Indiens Systeme mit
der Basiszahl 12 auf dem Zählen der drei Glieder der vier Finger der Hand. 42
Diesen Aspekt hebt Hurford (1987: 92) hervor: jede Zahl ist eineindeutig dadurch definiert,
dass sie um genau einen Wert höher ist als ihr Vorgänger und um einen Wert geringer als ihr Nachfolger. Bei niedrigen Zahlwerten gelten jedoch insofern andere Verhältnisse, als hier die Zahlenwerte nicht relational, also durch ihre Position in der Zahlenreihe, bestimmt sind, sondern konzeptuell (zur Diskussion über die konzeptuelle oder relationale Natur der Zahlen s. Wiese 1997: 48ff.): Werte bis 4 kann sich normalerweise sogar ein ungeübter Rechner vorstellen, für den Wert 2 besitzen Sprachen sogar häufig Wörter, die nicht Bestandteil der jeweiligen Zahlwortreihe sind, im Deutschen etwa das Nomen Paar und das Adjektiv beide. Werte für Zahlen bis 4 sind mit anderen Worten abstrakte Eigenschaften von Mengen, welche in der Welt „vorgefunden“ werden und sich der unmittelbaren Wahrnehmung erschließen. (Ein Säugetier beispielsweise hat 4 Beine, ein Viereck vier Seiten usw.)
Hurford (1987: 114)
zufolge erklärt dieser Umstand, wieso Zahlwörter für Werte bis maximal 4 sich in vielen Sprachen wie echte Adjektive verhalten (insofern als sie in Numerus und Genus mit Bezugssubstantiven kongruieren können, vgl. etwa Menninger 21979a: 33), während Zahlwörter für höhere Werte, die ja nicht konzeptuell bestimmt sind, sondern allein durch ihre relative Position in der Reihe, sich wie nicht-flektierbare Eigennamen verhalten (s. dazu auch Wiese 1997, bes. 65). 43
Für afrikanische, asiatische und amerindische Sprachen vgl. Rohlfs (1971, Anm. 415).
44
Vgl. dazu auch die Diskussion bei Blažek (1999: 193-195).
45
Lehmann (1991: 137) zufolge ist dagegen dieses Wort nicht indoeuropäischen Ursprungs.
Nach seiner Auffassung ist das urprüngliche ie. Wort für 4 ein Vorläufer von anatolisch *meyu‚die kleine(re)’ Hand. S. dazu auch Blažek (1999: 209-215).
- 34 46
Allerdings sind all diese Etymologien nicht unumstritten. Abweichende Erklärungen (die
teilweise ebenfalls auf der menschlichen Hand basieren) finden sich bei Menninger (21979a: 160). 47
Menninger (21979a: 33-37) diskutiert weitere Indizien, die für diese Hypothese sprechen, vgl.
aber Szemerényi (1960: 102 Anm. 155).
Comments
Report "Wie arbiträr sind Zahlwörter? Zahlwortsysteme romanischer und anderer Sprachen "