Wider den homme moyen. Zur Soziologie des Einzelfalls

October 9, 2017 | Author: Johannes Scheu | Category: 19th Century (History), Epistemology of the Social Sciences
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Wider den homme moyen. Zur Soziologie des Einzelfalls Von Johannes Scheu

I. Am 31. Oktober 1845 veröffentlicht die Allgemeine Preußische Zeitung eine umfangreiche Rezension zu Friedrich Engels' einige Monate zuvor erschienenem Frühwerk über Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Dass die revolutionäre Stoßrichtung, die Engels in seinem Text einschlägt, der politisch reaktionären Gesinnung dieser Tageszeitung - als halboffizielles und, wie Karl Marx einmal abschätzig bemerkte, "greisenhafte[s] Preßkind" 1 der preußischen Staatsregierung - gänzlich zuwiderlaufen musste, überrascht kaum. Engels' "ganze [... ] Sozialtheorie,,2, so leitet die Buchbesprechung ein, basiere auf "falschen Voraussetzungen und Schlüssen, welche die bekannten krankhaften sozialistischen Grundsätze unserer Zeit durchblicken lassen und denen der Verfasser mit anscheinend jugendlicher Hast die Zustände Englands mit ihren zukünftigen Folgen gern dienstbar machen möchte" 3. Indes, für die theoretische Untermauerung von Engels' Studie zeigt sich die Preußische Zeitung nur am Rande interessiert. Rezensionswürdig erscheint ihr vielmehr der empirische Gehalt von Engels' Buch, dem - und dieses Urteil überrascht durchaus - jenseits aller sozialistischen Fehlinterpretation die volle Anerkennung entgegengebracht werden müsse. Aufgrund seiner revolutionären Verblendung möge Engels zwar "der Maßstab zur richtigen Beurteilung [... ] der Dinge fehlen,,4. Dafiir werde der Leser aber im Gegenzug "durch eine umso ausführlichere Darstellung des wirklich Bestehenden"s entDer vorliegende Beitrag basiert auf einem Kapitel meiner Dissertationsschrift, die 2014 am Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz eingereicht wurde. 1 Karl Marx: Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen [1842], in: Ders.lFriedrich Engels: Werke, 44 Bde., Berlin (Dietz) 1976, 1. Bd., S. 32. 2 Allgemeine Preußische Zeitung [anonymer Verfasser]: Buchbesprechung von Friedrich Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" [1845], in: Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, hg. v. earl Jantke/Dietrich Hilger, Freiburg i. Br. (Alber) 1965, S. 404. 3 Ebd., S. 407 f. 4 Ebd., S. 411. . 5 Ebd., S. 416.

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schädigt, die in ihrer "Übersichtlichkeit und [... ] Vollständigkeit"6 jede andere zeitgenössische Arbeit über das Wesen der Sozialen Frage in den Schatten stelle. Denn "was das Faktische betrifft", so der lobende Befund des regierungsnahen Presseorgans, habe man vor Engels' Werk "noch kein so [... ] reichhaltiges Buch über diesen Gegenstand zu Gesicht bekommen" 7. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - hierfür sollten die obigen Textauszüge als Beispiel dienen - gewinnt die Evidenzkraft des Empirischen in den Auseinandersetzungen um die Soziale Frage einen Stellenwert, der im selben Maße immun wie auch überlegen gegenüber den Fallstricken jedweder Theoretisierung erscheint. Die Geburtsstunde der Soziologie wird gemeinhin mit Auguste Comtes positivistischem Gesellschaftsentwurf assoziiert, der letztlich - und dies meint: aller gegenteiligen Insistenz auf der Notwendigkeit empirischer Untersuchungen zum Trotz 8 - in die Abstraktionen geschichtsphilosophischer Gesetzmäßigkeiten hineinführt. Entlang der Armutskrise des 19. Jahrhunderts vollzieht sich demgegenüber ein Prozess, den Wolfgang Bonß treffend als die "Einübung des Tatsachenblicks" 9 beschreibt. Selbstverständlich entsteht dieser Tatsachenblick keineswegs aus dem epistemologischen Nichts heraus, sondern geht aus einer Vielzahl historischer Vorläufer - von denen Francis Bacons Empirismus nur einen der bekanntesten Marksteine darstellen dürfte - hervor. Gleichwohl sind es die in der Sozialen Frage sich widerspiegelnden Desintegrationseffekte der bürgerlich-industriellen Gesellschaft, vor deren Hintergrund dieser Tatsachenblick sein volles Potential zu entfalten beginnt. Ab den 1830er-Jahren steht die Erforschung der Armut vermehrt unter dem Ziel, ein direktes Wissen über die Lebensverhältnisse der Armen zu erlangen - ein Wissen, das in den abstrakten Theoriegebäuden der Sozialphilosophen keinen Platz finden kann.

11. Um einen vorläufigen Eindruck davon zu bekommen, in welchen Modi der Wirklichkeitsbeschreibung sich die sozialwissenschaftliche Tatsachenempirie am Ebd., S. 408. 7 Ebd. 8 In ihrem Anspruch als Königsdisziplin, so Comte, müsse die Soziologie zwar auf der empirischen Beobachtung sozialer Erscheinungen gründen. Jedoch sei eine "wahrhafte Beobachtung [... ] nur insoweit möglich, als sie durch irgendeine Theorie zuerst geleitet und schließlich erläutert wird. [... ] Es ist demnach vom wirklich wissenschaftlichen Standpunkt aus klar, daß jede isolierte, völlig empirische Beobachtung [... ] von Grund aus unzuverlässig ist" (Auguste Comte: Soziologie, 3 Bde., Jena (Fischer) 21923, Bd. 1: Der dogmatische Teil der Sozialphilosophie [1830-42], S. 304 f.). - Selbst dieser theoriegeleitete Empiriebegriff bleibt in Comtes Soziologie allerdings methodisch folgenlos. 9 Wolfgang Bonß: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1982. 6

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Gegenstand der Sozialen Frage konkretisiert, bietet sich erneut Engels' Frühschrift an, die in den Kompendien der Soziologiegeschichte nicht umsonst den Status einer Pionierarbeit der empirischen Stadt- und Sozialforschung genießt. Gleich zu Beginn des im Gegensatz zum restlichen Text auf Englisch verfassten Vorworts hebt Engels den exzeptionellen Erkenntniswert hervor, welchen er den aus einer persönlichen Erfahrung des Forschers vor Ort gewonnenen Informationen über die englische Arbeiterklasse beimisst: Working Men! [...) I have lived long enough amidst you to know something ab out your circumstances; I have devoted to their knowledge my most serious attention, I have studied the various official and non-official documents as far as I was able to get hold of them - I have not been satisfied with this, I wanted more than a mere abstract knowledge of my subject, Iwanted to see you in your hornes, to observe you in your everyday live, to chat with you on your condition and grievances, to witness your struggles [... ).10 Auffallend an diesem Zitat ist, dass Engels eine Herangehensweise an die Arbeiter- und Armenproblematik favorisiert, die - wenn auch anders akzentuiert in ihren Grundzügen mit der betont empiristischen Lesart seines Werks auf Seiten der konservativen Preußischen Zeitung korreliert. Ging es dort darum, den empirischen Faktenreichtum der Engel 'sehen Analyse von ihrer theoretischen Einfarbung loszulösen, so steht einem ,abstrakten Wissen' hier nun eine Beobachtung ,aus erster Hand' gegenüber, die genau jenen Faktenreichtum umso vollständiger anzuhäufen verspricht, je unvermittelter sich der Zugang des Sozialforschers zu seinem Analyseobjekt gestaltet. In Engels' während einer fast zweijährigen Forschungsreise durch die Industriezentren Englands verfolgtem Anspruch, das "englische Proletariat, seine Bestrebungen, seine Leiden und Freuden in der Nähe aus persönlicher Anschauung und persönlichem Verkehr kennenzulernen" 11, kommt eine erste Ausformung des empirischen Tatsachenblicks zum Vorschein, die Bernhard Kleeberg jüngst als "Ethnographie des Sozialen" 12 bezeichnet hat. Der Begriff der Ethnographie entsteht als Äquivalent zur Volkskunde bereits gegen Ende des 18 . Jahrhunderts. 13 Allerdings ist es erst die ethnologische Erforschung fremder Kulturzusammenhänge zu Beginn des 20. Jahrhunderts, infolge derer die Ethnographie ihre bis heute charakteristische methodologische Stoßrichtung erhält und sich - vornehm-

Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England [1845], München (DTV) 1973, S. 3, Hv. i. O. 11 Ebd., S. 15. 12 Bernhard Kleeberg: Reisen in den Kontinent der Armut. Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert, in: Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Michael Neumann/Kerstin Stüssel, Konstanz (Konstanz University Press) 2011, S. 29-52. 13 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Einfiihrung in die europäische Ethnologie, München (Beck) 2003, S. 21 ff. 10 'Friedrich

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lich durch die Stadt- und Subkulturstudien der Chicagoer Schule - als festes Analyseinstrumentarium der Soziologie etabliert. Diese "Entlehnungsthese" 14 vom Einfluss der modemen Ethnologie auf die soziologische Ethnographie besitzt eine wissenschaftshistorisch unleugbare Relevanz. Auf den folgenden Seiten gilt es allerdings aufzuzeigen, dass bereits in der frühsoziologischen Armutsdebatte ein im Kern ethnographischer Diskurs an Kontur gewinnt: Ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zeichnet sich in den Sozialwissenschaften eine Tendenz ab, innerhalb derer die direkte Beobachtung vor Ort, der enge Kontakt des Sozialforschers zu den Armen sowie schließlich auch seine aktive Teilnahme an ihrem Lebensalltag zu einer notwendigen Bedingung dafür wird, ein adäquates Wissen über die Soziale Frage zu erlangen. Insbesondere am letztgenannten Aspekt der persönlichen Involviertheit des Sozialforschers in den Untersuchungsgegenstand der Armut - eine Involviertheit, die als epistemischer Vorläufer der von Bronisaw Malinowski entworfenen Methode ,teilnehmender Beobachtung' 15 gelten darf - lässt sich veranschaulichen, auf welche sowohl zögerliche als auch kontinuierliche Weise sich die frühsoziologische Armutsethnographie im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt. So findet sich das Erkenntnispostulat, wonach ein Armutsforscher selbst am eigenen Leib erfahren müsse, was es heißt, als "Armer unter Armen" 16 zu leben, erstmalig durch den britischen Journalisten und Schriftsteller James Greenwood in die empirische Tat umgesetzt. Mit viel Akribie als "casual pauper" 17 verkleidet, verbrachte Greenwood eine - wohlgemerkt: nur eine - Nacht im Armenhaus des Londoner Stadtteils Lambeth, mit dem Ziel "to learn by actual experience how casual paupers are lodged and fed, [... ] and how the night passes with the outcasts whom we have all seen crowding about workhouse doors on cold and rainy evenings" 18. Zwar bilde, so legitimiert Greenwood sein Vorhaben, die Armutsfrage den Gegenstand zahlreicher sowohl politischer als auch wissenschaftlicher Erörterungen. Ein Desiderat in diesen Debatten stelle bislang jedoch der unvoreingenommene Erfahrungsbericht eines Individuums dar, das "with no motive

14 Rolj Lindner: Die Entdeckung der Stadtkultur. Die Geburt der Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1990, S. 11. 15 Das ethnographische Forschungsparadigma der ,teilnehmenden Beobachtung' skizziert Malinowski erstmals im Einleitungskapitel seines im Jahre 1922 erschienenen Pionierwerks Argonauts of the Western Pacific. Der Begriff der "Participant Observation" selbst geht indes auf den Soziologen Eduard C. Lindemann - einem Vertreter der Chicagoer Schule - zurück, der diesen 1924 in die wissenschaftliche Diskussion einführte. 16 Rolj Lindner: Ganz unten. Ein Kapitel aus der Geschichte der Stadtforschung, in: Ganz unten. Die Entdeckung des Elends, hg. v. Wemer M. Schwarz et al., Wien (Brandstätter) 2007, S. 23. 17 James Greenwood: A Night in a Workhouse [1862], in: Into Unknown England 1866-1913. Selections from the Social Explorers, hg. v. Peter J. Keating, Manchester (Manchester University Press) 1976, S. 34. 18 Ebd.

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but to learn and make known the truth, had ventured the experiment of [... ] trying what it actually is to be a ,casual ,,


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