Wandel demokratischer Parteiensysteme durch die Entstehung neuer Parteien am Beispiel Deutschlands und der Niederlande

June 14, 2017 | Author: Matthias Recklies | Category: Political Science, Politikwissenschaft, Hausarbeit, Party System, Parteisysteme
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FernUniversität in Hagen

Wintersemester 2014/2015

Hausarbeit im Modul P2 des Bachelorstudiengangs „Politik-, Verwaltungswissenschaften und Soziologie“

Wandel demokratischer Parteiensysteme durch die Entstehung neuer Parteien am Beispiel Deutschlands und der Niederlande

Dozent: Prof. Dr. Michael Stoiber Abgabedatum: 24.03.2015

vorgelegt von: Matthias Recklies Paracelsusstr. 22 41564 Kaarst Tel.: 0151/20012911 Matrikel-Nr.: 8522979

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ......................................................................................................................... 3 2. Theoretische Grundlagen ............................................................................................... 4 2.1. Konfliktlinien und Cleavage-Modell ............................................................................. 4 2.2. Wahlsystem .................................................................................................................... 7 2.2.1. Definition .................................................................................................................... 7 2.2.2. Typologie .................................................................................................................... 7 2.3. Parteiensystem ................................................................................................................ 8 2.3.1. Definition .................................................................................................................... 8 2.3.2. Typologie .................................................................................................................... 9 2.4. Wechselwirkungen ....................................................................................................... 10 3. Länderanalyse................................................................................................................ 10 3.1. Niederlande .................................................................................................................. 10 3.1.1. Wahlsystem ............................................................................................................... 10 3.1.2. Parteiensystem ........................................................................................................... 11 3.2. Deutschland .................................................................................................................. 14 3.2.1. Wahlsystem ............................................................................................................... 14 3.2.2. Parteiensystem ........................................................................................................... 14 4. Vergleichende Auswertung der Länderanalyse ......................................................... 16 5. Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 19 Eidesstattliche Versicherung

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1. Einleitung Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Frage, warum durch die Entstehung neuer Parteien das niederländische Parteiensystem einem stärkeren Wandel unterliegt als das deutsche Parteiensystem. Zum Wandel des Parteiensystems lässt sich seit Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre nicht nur in Deutschland und den Niederlanden, sondern auch in anderen europäischen Ländern ein Dekonzentrationsprozess feststellen, durch den immer mehr Parteien am Parteienwettbewerb teilnehmen. Dadurch haben sich auch die Art des Parteienwettbewerbs und die Interaktionsmuster verändert. Die etablierten Volksparteien haben Wählerverluste hinnehmen müssen und so anderen Parteien den Aufstieg ermöglicht (Onken 2013, S. 83; Probst 2010, S. 2 f.). Anhand dieser Entwicklung wird die Hypothese aufgestellt, dass durch eine Sperrklausel in Höhe von 5 % im deutschen Wahlsystem sich das Parteiensystem in Deutschland weniger stark wandelt als das niederländische Parteiensystem, dass eine Sperrklausel von 0,67 % im Wahlsystem verankert hat. Zur Klärung dieser Hypothese dient der Wandel des niederländischen und deutschen Parteiensystems als abhängige Variable, die gesellschaftlichen Konfliktlinien und das Wahlsystem der beiden zu untersuchenden Länder als unabhängige Variablen. Diese Arbeit wird sich auf die Untersuchung des Wahlsystems beschränken und lässt andere Faktoren, wie beispielsweise die Parteienfinanzierung, unberücksichtigt. Denn die Parteienfinanzierung spielt in Deutschland und auch in den Niederlanden erst eine Rolle, wenn neu entstandene Parteien den Einzug in ein Parlament geschafft haben und dann in den vollen Genuss von Subventionen aus dem Staatshaushalt kommen (Arnim 2011, S. 37; Lepszy u. Wilp 2009, S. 418 f.). Hierzu sei noch angemerkt, dass neue Parteien erst dann den Wandel eines Parteiensystems erfolgreich beeinflussen, wenn sie im nationalen Parlament eines Landes vertreten sind. Das gewählte Untersuchungsdesign ist das Most Similar Case Design. Damit ist es möglich, einen Ländervergleich zwischen den Niederlanden und Deutschland zu konstruieren, da viele Systemvariablen übereinstimmen: Zum Beispiel ist das Regierungssystem beider Länder eine parlamentarische Demokratie; beide Staaten sind Gründungsmitglieder der Europäischen Union und Bündnispartner in der NATO; die beiden Länder haben 1958 den deutsch-niederländischen Kommunalverband Euregio gegründet, der die Zusammenarbeit zwischen Bürgern, Unternehmen und Organisationen fördert; außerdem haben beide Staaten das gleiche Demokratieverständnis. Allerdings variieren die abhängige Variable (Parteiensystem) und die unabhängige Variable (Wahlsystem) voneinander, so dass die unter3

schiedlichen Bedingungen für die Entstehung neuer Parteien im niederländischen und deutschen Parteiensystem herausgearbeitet werden können. Die zentralen Begriffe in dieser Arbeit sind das Parteiensystem, das Wahlsystem und die gesellschaftlichen Konfliktlinien. Das Parteiensystem ist in den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen eines Landes eingebettet und steht in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Konfliktlinien. Das hier verwendete Analysekonzept ist die Cleavage-Theorie von Seymour M. Lipset und Stein Rokkan: Diese Theorie erklärt aus konflikttheoretischer Sicht die Konfiguration von Parteiensystemen aus den gesellschaftlichen Konfliktlinien und den daraus entstehenden Lagerbildungen (Wiesendahl 2006, S. 77). Die Analyse des Wahlsystems erfolgt anhand der Typologie nach Dieter Nohlen. Der Untersuchungszeitraum orientiert sich an der Einteilung der Dekompositionsphase in den Niederlanden und Deutschland nach Holger Onken. Dies wäre für die Niederlande der Zeitraum von 1994 bis heute (Onken 2013, S. 267), für Deutschland von 1983 bis heute (ebd., S. 171). Bei der Operationalisierung der Variablen wird beim Ländervergleich auf die folgenden Indikatoren zurückgegriffen: Die Wahlausgänge der Bundestagswahlen in Deutschland beziehungsweise der Parlamentswahlen in den Niederlanden; die Zusammensetzung des deutschen und des niederländischen Parlaments sowie die gesellschaftlichen Konfliktlinien in den beiden Ländern. Somit ist es möglich, die Entstehung neuer Parteien durch die Cleavage-Theorie zu erklären. Die Untersuchung des Wahlsystems zeigt auf, wie der Zugang neuer Parteien in die nationalen Parlamente geregelt wird, was dann zum Wandel des Parteiensystems eines Landes führt.

2. Theoretische Grundlagen 2.1. Konfliktlinien und Cleavage-Modell Der theoretische Analyserahmen ist das von Seymour M. Lipset und Stein Rokkan in den 1960er Jahren entwickelte Cleavage-Modell: Denn die in diesem Modell verwendeten modernisierungstheoretischen Aspekte eignen sich „als Analyseinstrument für den Wandel von Parteiensystemen“ (Onken 2013, S. 33). Die Grundlage für die Entstehung von Parteien findet sich in der gesellschaftlichen Sozialstruktur und den damit verbundenen Konfliktlinien (Cleavages). Die Konfliktlinien entstanden zu bestimmten historischen Zeitpunkten und verfestigten sich dann in den jeweiligen sozialen Gruppierungen (Lauth u.a. 2014, S. 276 f.), wie beispielsweise gesellschaftliche Klassen, Konfessionsgruppen oder ethnische Minderheiten. Damit trennen die Kon4

fliktlinien Befürworter oder Gegner bei politischen Streitfragen (Pappi 2011, S. 319). Doch erst mit der Herausbildung von Parteien, die sich einer oder mehrerer Konfliktlinien annehmen, werden diese in die politische Ebene transformiert und daraus entwickelt sich eine Interessenkoalition zwischen Parteien und Bürgern. Eine dauerhafte Koalition entsteht dann, wenn die Bürger die Partei wählen, die ihre Konfliktlinie im politischen Prozess vertritt. Nach Jan-Erik Lane und Svante O. Ersson muss eine soziale Spannung innerhalb einer Gesellschaft sechs Grundsätze erfüllen, bevor sie als Konfliktlinie angesehen werden kann: 1) der Konflikt muss in der gesellschaftlichen Sozialstruktur verankert sein; 2) er muss dauerhaft auftreten; 3) von dem Konflikt betroffene Gesellschaftsgruppen müssen klar erkennbar sein; 4) kollektive Akteure, beispielsweise Verbände, müssen den Konflikt in die Öffentlichkeit transportieren; 5) es muss sich eine Koalition zwischen Gesellschaftsgruppen, kollektiven Akteuren und politischen Parteien bilden; 6) die beteiligten Akteure müssen sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise im weiteren politischen und gesellschaftlichen Handeln einigen (Lauth u.a. 2014, S. 277). Allerdings kann sich nach Lipset und Rokkan eine Konfliktlinie nur dann erfolgreich etablieren, wenn vier wesentliche Hindernisse  Legitimation, Inkorporation, Repräsentation und Mehrheitsmacht  überwunden worden sind: Unter Legitimation ist zu verstehen, dass die Bürger ihre Proteste gegen die Regierenden öffentlich artikulieren können, also grundlegende Rechte wie beispielsweise Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit müssen gegeben sein. Inkorporation meint, dass die Mitglieder sich widerstreitender Konfliktgruppen im Besitz der vollen Bürgerrechte sein müssen, von den politischen Repräsentanten anerkannt werden und darüber hinaus über die Möglichkeit verfügen eigene Interessensvertretungen gründen zu können. Repräsentation bedeutet, das Konfliktgruppen zwar einer schon etablierten Partei beitreten können, dies jedoch zu einer Abschwächung ihrer eigentlichen Anliegen führen kann, so dass Konfliktgruppen auch die Chance zur Bildung einer eigenen politischen Vertretung haben müssen und dabei berücksichtigen, in welcher Weise zum Beispiel Sperrklauseln des Wahlsystems den Einzug neuer Parteien in nationale Parlamente reglementieren. Unter Mehrheitsmacht versteht man, dass eine neu gegründete Partei die Möglichkeit haben muss, durch einen Wahlsieg oder die Beteiligung an einer Regierungskoalition ihre Anliegen endgültig umzusetzen, um so eine dauerhafte strukturelle Veränderung in der nationalen Politik herbeizuführen (ebd., S. 278). Lipset und Rokkan gehen in ihrem makrosoziologischen Cleavage-Modell (Schreyer u. Schwarzmeier 2005, S. 95) davon aus, dass die Entstehung und Entwicklung der europäischen Parteiensysteme von vier zentralen sozialen gesellschaftlichen Spannungs- bezie5

hungsweise Konfliktlinien geprägt wurde. Diese Spannungslinien lassen sich auf die Folgen zweier Prozesse zurückführen: Die nationale und die industrielle Revolution (Detterbeck 2011, S. 41). Zum Prozess der nationalen Revolution zählen die Autoren die beiden Konfliktlinien Zentrum versus Peripherie, also die Spannung zwischen der dominanten und der unterworfenen Kultur, und die Spannungslinie Staat versus Kirche. Der Prozess der industriellen Revolution wird von den Konfliktlinien Stadt versus Land, also den Spannungen zwischen Industrie- und Agrarinteressen, und dem Spannungsverhältnis Kapital versus Arbeit, also den Interessensgegensätzen zwischen Produktionsmittelbesitzern und Arbeitnehmern, geprägt. Lipset und Rokkan gehen zum einen davon aus, dass die Struktur der unterschiedlichen Parteiensysteme in Westeuropa das Ergebnis der jeweiligen Entwicklung dieser gesellschaftlichen Konfliktlinien ist (Nohlen 2014, S. 85). Das heißt, dass Konfliktlinien von Land zu Land variieren und auch nicht immer alle Konfliktlinien in einem Land vorhanden sind (Caramani 2014, S. 221). Dies führt dann auch zu unterschiedlichen Parteiensystemen in den westeuropäischen Staaten. So haben die Wahlmöglichkeiten der herrschenden Eliten bestimmte soziale Gruppierungen zu bilden, die Konfiguration der Parteiensysteme in den westeuropäischen Staaten wesentlich geprägt. Dadurch sind die Parteiensysteme in den westeuropäischen Demokratien nach dem 1. Weltkrieg bis in die 1960er Jahre hinein „eingefroren“, da die durch die Konfliktlinien entstandenen politischen und gesellschaftlichen Koalitionen dauerhaft angelegt wurden. Die Parteiensysteme wurden in der gesellschaftlichen Sozialstruktur fest verankert und Institutionen wie die Wahlsysteme sind im Rahmen der bestehenden Konfliktsysteme ebenfalls fest eingefügt. Die Struktur des westeuropäischen Parteiensystems ist somit von den jeweils länderspezifischen Konfliktlinien abhängig und die daraus entstandenen Institutionen entsprechen größtenteils den sozialstrukturellen Parteiensystemen (Nohlen 2014, S. 85 f.). Anfang der 1970er Jahre entwickelte Ronald Inglehart die Theorie des postmaterialistischen Wertewandels (Decker 2011, S. 50) auf die einige Wahlforscher wie beispielsweise Russell Dalton aufbauten und den vier Konfliktlinien von Lipset und Rokkan eine weitere hinzufügten: Dalton erweiterte die historischen Perioden nationaler und industrieller Revolution um die postindustrielle Revolution mit der Konfliktlinie materialistische versus postmaterialistische Wertorientierungen (Saalfeld 2007, S. 70 f.). Dadurch kann mit dieser neuen Spannungslinie nicht nur die Entstehung von linken Bürgerrechts- und Umweltschutzparteien (Lauth u.a. 2014, S. 281) in den 1970er Jahren sondern nach Frank Decker auch das Aufkommen neuer Rechtsparteien in den 1980er Jahren analysiert werden (Decker 2011, S. 51). 6

2.2. Wahlsystem 2.2.1. Definition Nach der Definition von Manfred G. Schmidt versteht man unter einem Wahlsystem Institutionen und Verfahren die Wählerpräferenzen in Stimmen und dann die Wählerstimmen in Mandate umsetzt. Dabei unterscheiden sich die Wahlsysteme von Land zu Land. Außerdem gibt es innerhalb eines Staates große Unterschiede zwischen den Wahlsystemen auf lokaler, gliedstaatlicher und bundesstaatlicher Ebene. Die wichtigsten Elemente eines Wahlsystems sind die Einteilung der Wahlkreise, die Wahlbewerbung und die Verfahren von Stimmgebung und Stimmverrechnung. Anhand dieser Merkmale können Wahlsysteme unterteilt werden. Jedoch ist die Unterscheidung zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl weiter verbreitet (Schmidt 2010, S. 885).

2.2.2. Typologie Nach Dieter Nohlen erfolgt die „grundlegende klassifikatorische Unterscheidung […] in Mehrheitswahl und Verhältniswahl“ (Nohlen 2011, S. 674). Grundsätzlich kann dazu festgehalten werden, dass bei der Mehrheitswahl Zweiparteiensysteme herausgebildet werden. Dies führt zu stabilen Einparteienregierungen. Die Wähler verfügen hier über einen direkten Einfluss auf die Regierungsbildung und nach der Wahl sind Koalitionsverhandlungen zumeist nicht erforderlich (Saalfeld 2007, S. 65). Bei der Mehrheitswahl konkurrieren die Wahlkreiskandidaten um die Wählerstimmen. Der Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereinen kann, erhält ein Direktmandat und ist somit der Vertreter seines Wahlkreises im Parlament (Schubert u. Klein 2011, S. 322). Bei Verhältniswahlsystemen werden „die Wählerpräferenzen im Parlament im Verhältnis zu ihrer Stärke unter der Wählerschaft abgebildet“ (Saalfeld 2007, S. 65). Somit werden auf der Parlamentsebene künstliche Mehrheiten vermieden, die der wirklichen Mehrheit in der Wahlbevölkerung nicht entsprechen. Dadurch werden das Aushandeln und die Kompromissbildung von vereinbarten Mehrheiten gefördert, an denen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen beteiligt sind (ebd., S. 65). Bei einer Verhältniswahl stellen Parteien auf einer Liste ihre Kandidaten zur Wahl. Die Wählerschaft kann dann zwischen verschiedenen Parteien auswählen. Nach der Wahl bekommen die Parteien nach ihrem erreichten Stimmanteil und aufgrund besonderer Berechnungsverfahren eine bestimmte Anzahl an Mandaten zugewiesen. Außerdem erhalten bei Verhältniswahlen die parteiinternen Bewerbungs- und Auswahlverfahren der Kandidaten einen großen Einfluss (Schubert u. Klein 2011, S. 322).

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Hierzu muss noch ergänzt werden, dass Nohlen das Wahlsystem in jeweils fünf Mehrheitsund Verhältniswahlsysteme einteilt. In der hier vorliegenden Arbeit ist allerdings nur das Verhältniswahlsystem von Interesse: Nohlen unterscheidet zwischen 1) Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen; 2) kompensatorische Verhältniswahl mit Sperrklausel; 3) personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel; 4) übertragbare Einzelstimmgebung und 5) reine Verhältniswahl (Nohlen 2014, S. 214). Hierbei können wir uns ausschließlich auf die personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel und die reine Verhältniswahl konzentrieren: Die personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel „kombiniert die Vergabe einer bestimmten Zahl von (Direkt-)Mandaten in Einerwahlkreisen und nach der Mehrheit mit dem Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl. Der Mandatsanteil jeder Partei richtet sich […] ausschließlich nach dem proportionalen Stimmenanteil auf nationaler Ebene. […] Die Proportionalität zwischen Stimmen und Mandaten ist  nach Ausscheiden derjenigen Kleinparteien, die aufgrund einer Sperrklausel bei der Mandatsverteilung nicht berücksichtigt werden  sehr hoch“ (ebd., S. 211 f.). Als Beispiel für eine personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel nennt Nohlen die Bundesrepublik Deutschland (ebd., S. 212). Bei der reinen Verhältniswahl „handelt es sich um Wahlsysteme, die keine oder nur extrem niedrige natürliche (Wahlkreisgröße) oder künstliche Hürden (Sperrklausel) enthalten und eine möglichst hohe Stimmen-Mandate-Proportionalität anstreben“ (ebd., S. 206). Als Beispiel für eine reine Verhältniswahl nennt Nohlen die Niederlande (ebd., S. 206). Abschließend kann also festgestellt werden, dass die länderspezifischen Wahlsysteme eine direkte Auswirkung auf die jeweiligen Parteiensysteme in ihren Ländern haben.

2.3. Parteiensystem 2.3.1. Definition Gemäß der Definition von Uwe Jun ist das Parteiensystem die Gesamtheit von agierenden Parteien und deren Wechselbeziehungen in einem politischen System. Interaktionen werden bestimmt durch die Anzahl, die jeweilige Größenordnung vom Wähler- beziehungsweise Mandatsanteil im Parlament, der Binnenstruktur und der programmatischideologischen Differenzen. Das Parteiensystem stellt ein Subsystem des gesamten politischen Systems dar und seine Strukturen sind durch das institutionelle Gesamtgefüge des politischen Systems bestimmt. Darüber hinaus nehmen das Wahlsystem und die Form des Parlamentarismus direkten Einfluss auf die Struktur des Parteiensystems (Jun 2011, S. 431 f.).

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2.3.2. Typologie Vorliegend wird auf die Typologie der Parteiensysteme von Hanspeter Kriesi zurückgegriffen. In Anlehnung an die Modelle von Stein Rokkan und Stefano Bartolini unterscheidet Kriesi bei seiner Typologie der europäischen Parteiensysteme grundsätzlich zwischen einer religiösen Dimension und einer Klassendimension. Die religiöse Dimension unterscheidet zwischen Parteiensystemen mit und ohne einer bedeutenden christlichdemokratischen Partei. Bei der Klassendimension wird zwischen Parteiensystemen mit einer gespaltenen Linken, in der eine kommunistische Partei dominiert und Parteiensystemen, in denen kommunistische Parteien bedeutungslos blieben (Kriesi 2007, S. 240). Durch die Kombination dieser beiden Dimensionen ergeben sich nach Kriesi vier Typen von Parteiensystemen: Der erste Typ ist durch eine bedeutende oder dominierende kommunistische Partei und einer bedeutenden beziehungsweise dominierenden christlichdemokratischen Partei gekennzeichnet. Der zweite Typ ist durch die Präsenz einer bedeutenden kommunistischen Partei und der Abwesenheit einer bedeutenden christlichdemokratischen Partei gekennzeichnet. Der dritte Typ ist durch die Präsenz einer bedeutenden, aber nicht zwingend dominierenden christlich-demokratischen Partei und der Abwesenheit einer bedeutenden kommunistischen Partei gekennzeichnet. Beispiele hierfür sind die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande. Der vierte Typ ist von der Abwesenheit sowohl einer bedeutenden kommunistischen Partei wie auch einer christlichdemokratischen Partei gekennzeichnet (ebd., S. 241 f.). Zwei Typen von Parteien werden von Kriesi in seiner Typologie nicht berücksichtigt: Liberale und sozialdemokratische beziehungsweise sozialistische Parteien. In allen europäischen Parteiensystemen existieren liberale Parteien, die allerdings überall eine Minderheitenposition einnehmen. Ebenso existieren in allen Parteiensystemen Europas sozialdemokratische Parteien, die entweder eine bedeutende oder gar dominierende Position eingenommen haben. Nach Kriesi hat diese Typologie den Vorteil, dass sie die besondere Situation sozialdemokratischer Parteien in den westeuropäischen Ländern deutlich macht. Gibt es beispielsweise keine bedeutenden christlich-demokratischen und kommunistischen Parteien in einem Land, dann hatte eine sozialdemokratische Partei keine Konkurrenz bezüglich der Wählerstimmen aus der Arbeiterklasse und minimierte das Risiko, Wählerstimmen aus religiösen Gründen oder wegen fehlender Radikalität zu verlieren. Dies führte nicht nur zu großen Stimmgewinnen aus der Arbeiterklasse, auch konnten die sozialdemokratischen Parteien an die Mittelklasse appellieren, ohne Stimmverluste aus der Arbeiterklasse befürchten zu müssen (ebd., S. 242 f.). 9

2.4. Wechselwirkungen Um in der vorliegenden Arbeit das Entstehen neuer Parteien und den dadurch ausgelösten Wandel von Parteiensystemen erklären zu können, müssen die Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Konfliktlinien, dem Wahlsystem und dem Parteiensystem betrachtet werden. Wie bereits in Kapitel 2.1. dargestellt, sind es die Konfliktlinien innerhalb einer Gesellschaft, die sich auf die Entstehung neuer Parteien auswirken. Kann sich eine Konfliktlinie erfolgreich etablieren, kann diese entweder von einer etablierten Partei aufgegriffen werden oder zur Neugründung einer Partei führen. Wie in Kapitel 2.2.2. dargestellt wurde, kommt es dann auf die Organisation des Wahlsystems an, ob sich neue Parteien bei einer Wahl dursetzen können und den Einzug in ein nationales Parlament schaffen. Hier spielt das eigentliche Wahlverfahren und etwaig vorhandene Sperrklauseln eine bedeutende Rolle, ob es zu einem Wandel des Parteiensystems kommt. Abschließend kann also festgehalten werden, dass die gesellschaftlichen Konfliktlinien und das Wahlsystem als unabhängige Variablen auf das Parteiensystem als abhängige Variable einwirken. Durch die Wechselwirkungen der Variablen untereinander lassen sich also der Wandel von Parteiensystemen und das Entstehen neuer Parteien erklären.

3. Länderanalyse 3.1. Niederlande 3.1.1. Wahlsystem Nach der Typologie von Dieter Nohlen ist das Wahlsystem der Niederlande seit 1917 (Lepszy u. Wilp 2009, S. 417) ein reines Verhältniswahlrecht (Nohlen 2014, S. 206). 150 Abgeordnete werden für 4 Jahre in das nationale Parlament, der Zweiten Kammer, gewählt. Die Sperrklausel liegt bei 0,67 %. Das aktive und passive Wahlrecht erhalten die Bürger ab ihrem 18. Lebensjahr (Lepszy u. Wilp 2009, S. 417). Die Wahlberechtigten geben ihre Stimme, die sogenannte Präferenzstimme, für einen beliebigen Kandidaten einer Listenverbindung beziehungsweise Partei ab (Bauer 2014, S. 47). Im Ergebnis zählt das gesamte Land als ein Wahlkreis, der aber in 19 Kammerwahlkreise aufgeteilt ist. Die Parteien können in diesen Kammerwahlkreisen unterschiedliche Kandidatenlisten vorlegen. Nach einer Wahl werden die Gesamtergebnisse der Kammerwahlkreise landesweit summiert und proportional auf die Parteien verteilt (Lepszy u. Wilp 2009, S. 417). Weiterhin ist auszuführen, dass politische Parteien in den Niederlanden keinen besonderen Verfassungsrang haben und als freie Vereinigungen gelten. Sie unterliegen den geltenden Bestimmungen des bürgerlichen Gesetzbuches für Vereine und Verbände. Dies bedeutet 10

auch, dass keine Regelungen für die Kandidatenauswahl und die innere demokratische Parteienstruktur existieren (ebd., S. 418).

3.1.2. Parteiensystem Traditionell waren die Niederlande ein Land von Minderheiten, die jeweils eindeutig identifizierbare Bevölkerungsgruppen mit eigenen sozialen und politischen Organisationen darstellten. Für die Charakterisierung des politischen Systems und der Gesellschaft wurde der Begriff „Versäulung“ verwendet. Durch die Vermittlung zwischen dem politischen System und der Gesellschaft entwickelte sich das Land zu einem Prototyp der Konkordanzdemokratie (Onken 2013, S. 239). Die „Versäulung“ war für das niederländische Parteiensystem konstitutiv und wurde von den Parteien repräsentiert, die den klassischen politischen Richtungen zugeordnet werden können. Die konfessionellen Parteien hatten ihren Ursprung im Katholizismus und Protestantismus, die liberalen Parteien im säkularisierten Bürgertum und die sozialistischen Parteien im säkularisierten Proletariat (ebd., S. 239). Dabei waren die beiden Konfliktlinien Religionsfragen und Klassenfrage für die gesellschaftliche und politische Entwicklung des Landes wichtig. Insbesondere kam den Religionsfragen eine besondere Bedeutung zu: Es gab eine Trennung zwischen der protestantischen und katholischen Lebenswelt, die aber gemeinsam lange Zeit dem säkularen Staat gegenüberstanden. Darüber hinaus trennte sich der konfessionelle Teil der Gesellschaft vom säkularisierten Teil (ebd., S. 239 f.). Daraus entstand eine Gesellschaft die zwar getrennt, aber miteinander lebte und zum Kernelement der politischen Entwicklung wurde (ebd., S. 240). Mit der Einführung des Verhältniswahlrechts im Jahre 1917 begann die Fraktionalisierung des Parteiensystems. Aufgrund der niedrigen Speerklausel haben seitdem bei jeder Wahl durchschnittlich bis zu zehn Parteien den Einzug ins Parlament geschafft. Dies hatte auch zur Folge, dass keine Partei mehr eine absolute Mehrheit erreichen konnte. Bis in die 1960er Jahre hinein blieb das auf der „Versäulung“ beruhende Parteiensystem stabil (Lepszy u. Wilp 2009, S. 420) und durchlief danach mehrere Phasen mit entscheidenden Veränderungen (Onken 2013, S. 240). Politische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse brachen die „Versäulung“ immer weiter auf und die Vermittlung zwischen Gesellschaft und Parteiensystem ruht seitdem auf einer unbeständigen Grundlage (ebd., S. 240). Die Parlamentswahlen von 1994 beendeten endgültig die „Versäulung“ des Parteiensystems (Wielenga 2008, S. 349) und die bis heute andauernde Dekompositionsphase setzte 11

ein (Onken 2013, S. 267). Mit dieser Wahl löste sich die als selbstverständlich angesehene dauerhafte Bindung zwischen den Parteien und ihren Wählern auf (Wielenga 2008, S. 349). Die beiden großen Versäulungsparteien – die christlich-demokratische Christen Democratisch Appèl (CDA) und die sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA) – wurden zu mittelgroßen Parteien degradiert und die CDA war seit 1917 erstmalig nicht mehr in der Regierung vertreten. Sie verlor zumindest vorübergehend ihre Schlüsselstellung im Parteiensystem und somit ihren bedeutenden Einfluss auf die politische Gestaltung. Es bildete sich eine sozialdemokratisch-liberale Koalition aus PvdA, der liberal-konservativen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) und den sozialliberalen Democraten 66 (D66) die von 1994 bis 2002 die Regierung stellte. Der D66 kam in dieser Koalition durch die große politisch-ideologische Spannweite zwischen PvdA und VVD eine wichtige Ausgleichs- und Scharnierfunktion zu (Lepszy u. Wilp 2009, S. 422). Mit der Parlamentswahl von 2002 kam es zu einer „Zäsur historischen Ausmaßes in der politischen Geschichte der Niederlande“ (Lepszy u. Wilp 2009, S. 424). Der Publizist und Soziologe Pim Fortuyn war zunächst aktives Mitglied in der PvdA, wechselte dann zur VVD und von dort zur Leefbar Nederland, mit der er einen sensationellen Erfolg bei der Rotterdamer Stadtratswahl errang. Fortuyn avancierte in kürzester Zeit zum Medienstar und gründete darauf die nach ihm benannte rechtspopulistische Partei Lijst Pim Fortuyn (LPF) (ebd., S. 424). Er „provozierte und forderte das geschlossene System der etablierten Mächtigen […] heraus, indem er ihnen vorwarf, weit entfernt vom Volk nicht zu wissen, was dieses wirklich denke und welche Probleme es wirklich bewegten“ (ebd., S. 424). Fortuyn thematisierte die bereits in der Bevölkerung vorhandene Unzufriedenheit in den Bereichen Bildungssystem, Gesundheitswesen, innere Sicherheit und Verkehrswesen, aber sein Hauptthema war die Zuwanderung und Integration von Ausländern. Mit der LPF und mit den von ihm persönlich ausgewählten, aber politisch unerfahrenen Kandidaten trat er zur Parlamentswahl an (ebd., S. 424). In den Wahlprognosen zeichnete sich ab, dass die etablierten Parteien hohe Stimmverluste erleiden würden und die LPF gute Chancen hatte, die Wahl als stärkste Partei zu gewinnen (Wielenga 2008, S. 358). Rund eine Woche vor dem Urnengang „wurde Fortuyn von einem radikalen Umweltaktivisten ermordet“ (ebd., S. 358). Wie es die Prognosen schon vorhergesagt hatten, musste die Regierungskoalition von PvdA, VVD und D66 dramatische Stimmverluste hinnehmen und sie verloren fast die Hälfte ihrer Mandate. Ganz überraschend wurde die CDA mit 27,9 % der Stimmen die stärkste Partei in der Zweiten Kammer und die LPF wurde mit 17,1 % die zweitstärkste Partei (Lepszy u. Wilp 2009, S. 424 f.; Wielenga 2008, S. 111). Doch die neue Regie12

rungskoalition aus CDA, LPF und VVD hielt nur drei Monate und bei der folgenden Neuwahl 2003 verlor die LPF zwei Drittel ihrer Wähler. Die PvdA konnte zwar ihre Stimmverluste von 2002 wieder wettmachen und war klarer Wahlsieger, aber scheiterte in den Koalitionsverhandlungen mit der CDA. Somit bildete sich eine Regierungskoalition aus CDA, VVD und D66 (Lepszy u. Wilp 2009, S. 425). Doch auch diese Koalition überstand die Legislaturperiode nicht und es kam 2006 zu einer weiteren Neuwahl. Die gesellschaftlichen Konflikte, die der mittlerweile bedeutungslosen LPF 2002 zum Wahlsieg verholfen hatten, bestanden weiterhin und wurden von der kurz vor der Wahl neu gegründeten rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV) aufgegriffen (Lepszy u. Wilp 2009, S. 427; Onken 2013, S. 275 f.). Die PVV erreichte 5,9 % der Wählerstimmen, aber eindeutiger Wahlsieger wurde die linksgerichtete Socialistische Partij (SP) die 16,6 % an den Wahlurnen holte. Fristete die SP seit ihrer Gründung in den 1970er Jahren ein Schattendasein auf der nationalen Ebene, baute sie nach ihrem Einzug in die Zweite Kammer 1994 ihren Wähleranteil kontinuierlich aus. Darüber hinaus schaffte die Tierschutzpartei Partij voor de Dieren (PvdD) mit 1,8 % den Einzug ins Parlament (Lepszy u. Wilp 2009, S. 426 f.). Somit zeigen die vorangegangenen Ausführungen, dass in den Niederlanden neue Parteien auf Zustimmung bei den Wählern stoßen. Die Wähler haben sich seit der Dekompositionsphase von 1994 (Onken 2013, S. 267) nicht nur zu politisch unbeständigen, sondern auch zu unruhigen und ungeduldigen Wählern entwickelt, die sich durch ihre Stimmungen leiten lassen. Unverbrauchte politische Parteien gewinnen schnell an Popularität, büßen sie aber auch ebenso leicht wieder ein (Wielenga 2008, S. 377). Das Parteiensystem ist mittlerweile durch Instabilität und Diskontinuität geprägt. Die religiösen und sozialen Trennungslinien, die konstitutiv für die „Versäulung“ und die darauf aufbauende Konkordanzdemokratie waren, haben ihre Bedeutung verloren. Dies führte zu einer Lockerung der Wähler von der Bindung und Identifikation an die Parteien (Lepszy u. Wilp 2009, S. 427). In der Dekompositionsphase ist die Anfälligkeit des Parteiensystems durch die Schwäche der traditionellen Parteien im Zusammenspiel mit einer hohen Volatilität deutlich gestiegen. Der in den 1960er Jahren einsetzende Konflikt alte gegen neue Politik wurde wiederbelebt, allerdings waren es nicht linke sondern rechtspopulistische Parteien, die die etablierten Parteien seit 2002 herausgefordert haben. Die LPF war 2002 direkt an einer Regierungskoalition mit der CDA und VVD beteiligt, 2010 wurde die Minderheitsregierung von CDA und VVD von der PVV toleriert. Dabei orientiert sich der politische Wettbewerb an zwei großen Konfliktlinien: eine sozioökonomische Konfliktlinie, hervorgegangen aus der historischen 13

Spannungslinie Kapital versus Arbeit und unterschiedlichen kulturell-ideologischen Wertekonflikten. Darunter fällt der Konflikt zwischen materialistischen versus postmaterialistischen Wertorientierungen, der sich auf den Konflikt alte gegen neue Politik aus den 1960er Jahren zurückverfolgen lässt. Dieser Materialismus-Postmaterialismus Gegensatz weist bezogen auf die Repräsentation durch die politischen Parteien große Übereinstimmungen zu dem Konflikt autoritäre versus libertäre Wertorientierungen auf (Onken 2013, S. 347). Dies führt abschließend zu der Feststellung, dass durch die gesellschaftlichen Konfliktlinien in den Niederlanden neue Parteien den Sprung ins Parlament mühelos schaffen, dies aber auch durch die im Wahlsystem verankerte niedrige Sperrklausel begünstigt wird.

3.2. Deutschland 3.2.1. Wahlsystem Bei der Wahl zum Deutschen Bundestag werden 598 Mandate vergeben (Becker 2011, S. 167). Nach der Typologie Dieter Nohlens handelt es sich dabei um eine personalisierte Verhältniswahl (Nohlen 2014, S. 212). Die Mandatszahl stellt jedoch nur eine Ausgangsgröße dar und kann sich durch Überhangmandate erhöhen (ebd., S. 368). Dabei verfügen die Wähler über zwei Stimmen: Die Erststimme erhält der Wahlkreiskandidat in einem der 299 Einerwahlkreisen. Der Kandidat, der die meisten Erststimmen in seinem Wahlkreis erzielt, erhält ein Direktmandat. Mit der Zweitstimme wird eine Parteiliste gewählt. Über diese Listen werden wiederum 299 Mandate den Parteien zugeteilt. Dabei erhalten die Parteien im Verhältnis zu den von ihnen gewonnen Stimmen Sitze im Bundestag (Becker 2011, S. 167). Erzielt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, werden Überhangmandate vergeben (Ismayr 2009, S. 536). Darüber hinaus besteht in Deutschland eine Sperrklausel in Höhe von 5 % als Absicherung gegen zu große Zersplitterungen des Parlaments (Lauth u.a. 2014, S. 252). Dies ist von Bedeutung, da sie den Konzentrationsprozess auf die großen Parteien stärkt und die Repräsentationschancen kleiner Parteien sowie die Chancen neuer Parteien zur Erzielung eines politischen Durchbruchs verringert (Nohlen 2014, S. 122).

3.2.2. Parteiensystem Die politischen Parteien sind in der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich anerkannt. Nach Artikel 21 des Grundgesetzes wirken sie bei der politischen Willensbildung der Bevölkerung mit und nehmen nach dem Parteiengesetz eine öffentliche Aufgabe wahr. Parteien können sich frei bilden und sind zwischen Bevölkerung und Staatsorganen vermit14

telnde Organisationen. Den Parteien kommen außerdem unverzichtbare Funktionen wie beispielsweise die Regierungsbildung, die Rekrutierung von politischem Personal sowie die Artikulation und Aggregation von Interessen und Meinungen zu (Ismayr 2009, S. 538). Mit dem Einsetzen der Dekompositionsphase ab 1983 (Onken 2013, S. 171) veränderten drei Faktoren das bundesdeutsche Parteiensystem: „der Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag 1983, die Vereinigung 1990 und die Schwächung der großen Volksparteien“ (Rudzio 2011, S. 122). Dies führte zu einer Zunahme von Fragmentierung sowie Volatilität im Parteiensystem und die Volksparteien mussten durch einen Anstieg der effektiven Parteienzahl Stimmverluste hinnehmen (Onken 2013, S. 183). Bis zur Wiedervereinigung prägen zwei Konfliktlinien das deutsche Parteiensystem: 1) eine religiöse Konfliktlinie, die die laizistischen von den religiös orientierten Wählern trennt, die ihre parteipolitische Verankerung hauptsächlich bei der CDU/CSU haben; 2) eine ökonomisch-klassenpolitische Konfliktlinie, die die eher an bürgerlichen Parteien orientierten Selbständigen von zumeist gewerkschaftlich organisierten und SPD-orientierten Arbeitnehmern trennt. 1990 kam eine dritte Konfliktlinie hinzu, die die alten Bundesländer von den neuen trennt und sich in der Wahl von PDS beziehungsweise Linkspartei äußert (Schmidt 2007, S. 99 f.). In der Dekompositionsphase gingen die Veränderungen des Parteiensystems von einem gesellschaftlichen Wandel aus, der seine Ursache zum einen in der Wiedervereinigung hatte und zum anderen davon unabhängig verlief. Der soziale Wandel wurde zusätzlich durch politische Entscheidungen in Verbindung mit Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen verstärkt (Onken 2013, S. 171). Basis für den Erfolg der Grünen war der Konflikt zwischen materialistischen und postmaterialistischen Wertorientierungen. Die gesellschaftlichen Veränderungen wurden in Teilen der Bevölkerung durch einen Mentalitätswandel ausgelöst, der seine Grundlage in der Bildungsexpansion und in der zunehmenden sozialen Unabhängigkeit hatte (ebd., S. 336). Charakteristisch ließ sich dieser Wertewandel an Lebensstil- und Einstellungsmerkmalen festmachen (Decker 2013, S. 27). Die aus unterschiedlichen sozialen Bewegungen hervorgegangene linksliberale und ökologisch orientierte Partei Die Grünen wandelte das Parteiensystem und erweiterte das politische Themenspektrum um eine ökologisch-ökonomische Konfliktdimension. Die Grünen waren im Deutschen Bundestag die parlamentarische Vertretung für die Anliegen der Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung in der deutschen Wahlbevölkerung (Ismayr 2009, S. 540). Mit der Wiedervereinigung 1990 wurde das Parteiensystem um eine regionale Konfliktlinie erweitert (Schmidt 2007, S. 100). Der Einzug der PDS in den Bundestag war durch 15

ökonomische und kulturelle Konflikte unterfüttert und führte zu einem Auseinanderdriften in der Parteienlandschaft. Zwar konnte die PDS in den neuen Bundesländern zu CDU und SPD aufschließen, aber in den alten Bundesländern war der Zuspruch der Wähler gering. Mit der Verschmelzung der ostdeutschen PDS und der westdeutschen WASG in 2007 zu einer gesamtdeutschen Linkspartei ist der Wandel des Parteiensystems in seine vorerst letzte Phase getreten (Decker 2013, S. 29). Trotz der Etablierung neuer Parteien ist die Entwicklung des Parteiensystems ein typbeibehaltender Wandel, da sich am System mit einer Zweiparteiendominanz bis 2005 nichts geändert hat (Niedermayer 2013, S. 124). Bei der Bundestagwahl 2009 trugen die Positionen von CDU und SPD im Bereich des Sozialstaatskonflikts wesentlich dazu bei, dass die beiden Volksparteien nicht nur die schlechtesten Wahlergebnisse in ihrer Geschichte erzielten, sondern auch erstmals die Zweidrittelmehrheit im Bundestag verloren. Dies kam vor allem der FDP zugute, die durch den Zustrom ehemaliger CDU-Wähler ein sehr gutes Wahlergebnis erzielen konnte und die Grünen sowie die Linkspartei hinter sich gelassen hatte. Zum ersten Mal erfüllte das Parteiensystem nicht mehr die Kriterien für ein Zweiparteiensystem. Der Typwechsel zu einem pluralistischen System war vollzogen (ebd., S. 126). Doch nach der Bundestagswahl 2013 zeigte sich, dass das „Parteiensystem durch eine gelockerte Bindung an die Parteien charakterisiert“ (Rudzio 2011, S. 124) ist. CDU und SPD konnten ihre Zweidrittelmehrheit wieder zurückgewinnen. Die FDP konnte die Erwartungen, die ihre Wähler noch 2009 in die Partei gesetzt hatten, nicht erfüllen. Mit einem Verlust von fast vier Fünftel ihrer Wählerklientel scheiterte sie erstmalig an der Fünf-ProzentHürde (Niedermayer 2014, S. 78). Die Grünen und die Linkspartei mussten ebenfalls Stimmverluste hinnehmen, schafften aber den Einzug in den Bundestag. Somit ist nach einer Legislaturperiode das Parteiensystem zum System mit einer Zweiparteiendominanz zurückgekehrt.

4. Vergleichende Auswertung der Länderanalyse Abschließend wird in diesem Kapitel dargestellt, wie das niederländische Parteiensystem als abhängige Variable einem stärkeren Wandel als das deutsche ausgesetzt ist. Grund für den Wandel ist das Wahlsystem als unabhängige Variable. Zunächst erfolgt eine Typologisierung der beiden Parteiensysteme nach Hanspeter Kriesi. Dafür werden die folgenden Kriterien herangezogen: Beide Systeme sind durch die Präsenz einer bedeutenden, aber nicht zwingend dominierenden christlich-demokratischen Partei und der Abwesenheit einer 16

bedeutenden kommunistischen Partei gekennzeichnet (Kriesi 2007, S. 243). In beiden Systemen existieren liberale Parteien die eine Minderheitenposition einnehmen und ebenso sozialdemokratische beziehungsweise sozialistische Parteien, die entweder eine bedeutende oder gar dominierende Position einnehmen (ebd., S. 242 f.). In den Niederlanden beherrschten bis zur Parlamentswahl 1994 die christlichdemokratische CDA und die sozialdemokratische PvdA mit einem gemeinsamen Mandatsanteil von 67,2 % die Parteienlandschaft. Drittstärkste Kraft war die liberal-konservative VVD mit 14,6 % (Wielenga 2008, S. 111). Nach der Wahl 1994 waren die Christ- und die Sozialdemokraten zu mittelgroßen Parteien degradiert worden und erreichten nur noch 46,2 % der Wähler. Erstmals übernahm eine sozialdemokratisch-liberale Koalition aus PvdA, VVD und der sozialliberalen D66 ohne Beteiligung der CDA die Regierungsgeschäfte (Lepszy u. Wilp 2009, S. 422; Wielenga 2008, S. 111). Mit den Parlamentswahlen 2002 kam es zu einer Zäsur in der politischen Geschichte der Niederlande. Die kurz vor der Wahl gegründete rechtspopulistische LPF wurde zweitstärkste Kraft und es kam zu einer kurzlebigen Koalition aus CDA, LPF und VVD. Die LPF konnte sich nicht auf Dauer im Parteiensystem etablieren und die zur Parlamentswahl 2006 neu gegründete rechtspopulistische PVV trat ihre Nachfolge an. Nach der Wahl setzte sich die Regierung aus einer Koalition von CDA, PvdA und der christlich-demokratischen Kleinpartei ChristenUnie (CU) zusammen (Lepszy u. Wilp 2009, S. 425 ff.). Nach der Parlamentswahl 2010 wurde eine Minderheitsregierung von CDA und VVD von der PVV toleriert (Onken 2013, S. 347). Die Neuwahlen von 2012 brachten dann eine Regierungskoalition von PvdA und VVD hervor. Dies zeigt, dass das niederländische Parteiensystem seit 1994 durch „Instabilität und Diskontinuität geprägt ist“ (Lepszy u. Wilp 2009, S. 427). Christ- und Sozialdemokraten mussten zwar einen Verlust in der Wählergunst hinnehmen und stehen, durch die niedrige Sperrklausel im Wahlsystem begünstigt, einer Vielzahl von Mitbewerbern gegenüber. Trotzdem gehören beide Parteien noch immer zu den bedeutendsten in dem stark polarisierten Parteiensystem der Niederlande. In Deutschland herrschte bis zur Bundestagswahl 1983 ein Zweieinhalb-Parteiensystem, das von ständig im Bundestag vertretenen Parteien geprägt war und zwar von einer bedeutenden christlich-demokratischen Parteienkoalition aus CDU/CSU, der bedeutenden sozialdemokratischen SPD und der liberalen Kleinpartei FDP (Rudzio 2011, S. 120). Nach der Wahl zog mit den Grünen eine weitere liberale Kleinpartei in den Bundestag und wandelte das Parteiensystem zu einem Zwei-Parteigruppensystem. Damit standen sich nun auf der einen Seite CDU/CSU und FDP und auf der anderen SPD und Grüne als alternative Regie17

rungskoalitionen gegenüber (ebd., S. 123). Bei der Bundestagswahl 2009 erzielten die beiden Großparteien CDU/CSU und SPD ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis und mit dem Verlust ihrer Zweidrittelmehrheit wandelte sich das Zweiparteiensystem zu einem pluralistischen System (Niedermayer 2013, S. 126). CDU/CSU und SPD kamen auf einen gemeinsamen Mandatsanteil von 56,8 %, die FDP wurde mit 14,6 % drittstärkste Kraft (Bundeswahlleiter 2015a). Nach der Bundestagswahl 2013 konnten CDU/CSU und SPD mit einem gemeinsamen Mandatsanteil von 67,2 % die verlorene Zweidrittelmehrheit wieder zurückgewinnen. Auch die Grünen und die Linkspartei schafften den Einzug in den Bundestag, nur die FDP scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde (Bundeswahlleiter 2015b). Damit sind im bundesdeutschen Parteiensystem noch immer eine christlich-demokratische und eine sozialdemokratische Partei die bedeutendsten politischen Kräfte. Die liberalen Grünen und die sozialistische Linkspartei nehmen eine Minderheitsposition ein. Wie in der Länderanalyse von den Niederlanden und Deutschland aufgezeigt wurde, führen die durch gesellschaftliche Veränderungsprozesse entstandenen und auch mit der Zeit gewandelten Konfliktlinien zur Herausbildung neuer Parteien. Doch die in den jeweiligen Ländern vorliegenden Sperrklauseln der Wahlsysteme bestimmen, ob neue Parteien das Parteiensystem dauerhaft wandeln können. Mit der in den Niederlanden geltenden Sperrklausel von 0,67 % schaffen auch Kleinparteien den Sprung ins Parlament. Dies wird in Deutschland durch die Fünf-Prozent-Hürde erschwert. Abschließend kann festgestellt werden, dass sich in beiden Ländern die Wähler nicht mehr fest an eine Partei binden lassen und neuen Parteien eine Chance auf die politische Gestaltung einräumen. Doch auschlaggebend ist die Höhe der Sperrklausel im Wahlsystem, die den Zugang ins Parlament regelt und somit einen Wandel des Parteiensystems zulässt.

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