Wahnhafte Depression als Differenzialdiagnose der Demenz vom Alzheimer-Typ

May 30, 2017 | Author: Markus Gastpar | Category: Clinical Sciences
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Nervenarzt 2002 · 73:468–470 © Springer-Verlag 2002

Ergebnisse & Kasuistik M. Jüptner · H. J. Paulus · M. Gastpar Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,Universitätsklinikum Essen

Wahnhafte Depression als Differenzialdiagnose der Demenz vom Alzheimer-Typ

Zusammenfassung Ein 68-jähriger Patient wurde mehrere Jahre unter der Diagnose einer Demenz vom Alzheimer-Typ behandelt und schließlich aufgrund von Weglauftendenzen in ein geschlossenes gerontopsychiatrisches Heim verlegt.Fremdanamnestisch wurden erste psychotische Symptome 3 Jahre vor der aktuellen stationären Aufnahme eruiert.Erst später entwickelten sich eine deutliche Antriebsminderung, Interessenlosigkeit und mangelnde emotionale Reaktionsfähigkeit. Nach diagnostischer Abklärung (psychiatrische, neurologische und internistische Untersuchung, Liquorpunktion, Laboruntersuchungen, kranielle Computertomographie) begannen wir unter dem Verdacht auf eine psychotische Depression eine Elektrokonvulsionstherapie (EKT).Hierunter besserte sich das Zustandsbild des Patienten rasch und nachhaltig, so dass er nach insgesamt 10-wöchiger stationärer Behandlung wieder zu einer normalen (Teilzeit-)beruflichen Aktivität nachgehen konnte.Die frühe Differenzialdiagnose einer Demenz ist nicht nur für die inzwischen mögliche antidementive Therapie, sondern auch für die Behandlung potenziell heilbarer Erkrankungen zu einem frühen Zeitpunkt unbedingt notwendig. Schlüsselwörter Differenzialdiagnose · Alzheimer-Demenz · Depression

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ie Demenz vom Alzheimer-Typ ist die häufigste Form der Demenz. Ihre Prävalenz steigt exponentiell mit zunehmendem Alter; sie beträgt in der Gruppe der 60–64-Jährigen 1% und steigt auf mehr als 35% in der Gruppe der 85-Jährigen [10, 8, 4]. Für die Diagnose der Demenz ist gemäß ICD10 [5] der Nachweis aller folgenden Bedingungen zu fordern: 1. Abnahme des Gedächtnisses, 2. Abnahme mindestens einer weiteren kognitiven Fähigkeit, 3. Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens, 4. Fehlen einer Bewusstseinstrübung und 5. Verminderung der Affektkontrolle, des Antriebs oder des Sozialverhaltens. Für eine sichere klinische Diagnose sollten die Symptome unter Punkt 1 und 2 durch eine Fremdanamnese und neuropsychologische Untersuchung quantifiziert und objektiviert werden; sie müssen für die Dauer von mindestens 6 Monaten bestehen. Da die Demenz vom Alzheimer-Typ eine fortschreitende Erkrankung ist und in den letzten Jahren effektive Formen der Therapie entwickelt wurden (z. B. Acetylcholinesterase-Hemmer), kommt der Differenzialdiagnose eine besondere Bedeutung zu, nicht zuletzt um schwerwiegende Folgen (wie z. B. Heim-

einweisung) für die Patienten zu vermeiden. Der folgende Bericht beschreibt einen 68-jährigen Patienten – leider kein Einzelfall – bei dem die Differenzialdiagnostik viel zu spät erfolgte.

Kasuistik Der 68-jährige Patient kam in stuporösem Zustand aus einem geschlossenen Altenheim zur stationären Aufnahme. Zum Aufnahmezeitpunkt konnte er keine für die Anamnese verwertbaren Angaben machen. Von der Ehefrau war zu erfahren, dass die Entwicklung klinischer Symptome 3 Jahre zuvor begonnen hatte: der Patient habe extreme Angst gehabt, sich zurückgezogen, nur wenig gesprochen und erklärt, es fließe „Wasser und Sand“ durch ihn hindurch. Später sei er rückwärts die Treppen hinaufgegangen, habe „überall hingekotet“. Er habe wegziehen wollen, habe gesagt, dass er „flüchten müsse“. Irgendetwas würde nicht stimmen, ohne dass er angeben konnte, wovor er fliehen müsste oder was nicht stimmen würde. Lange Zeit habe sich der Patient nicht mehr nach Hause getraut. Er habe „draußen im Gebüsch“ übernachtet. Wegen der

Priv.-Doz. Dr. M. Jüptner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Essen,Rheinische Kliniken, Virchowstraße 174, 45147 Essen, E-Mail: [email protected]

Nervenarzt 2002 · 73:468–470 © Springer-Verlag 2002

M. Jüptner · H. J. Paulus · M. Gastpar Psychotic depression as a differential diagnosis for Alzheimer's disease Summary For several years, a 68-year-old patient had been treated for a dementia of Alzheimer's type and finally admitted to a closed gerontopsychiatric nursing home.According to information from his relatives, he first developed psychotic symptoms 3 years prior to admission in our psychiatric department. Several months later, he developed a lack of drive, lack of interests, and reduced emotional reaction.After a standard diagnostic workup (psychiatric, neurological, and general medical examination, CSF examination, laboratory analyses, cranial computerized tomography), we began electroconvulsive therapy (ECT) with a working hypothesis of major depression with psychotic symptoms. The ECT was able to ameliorate rapidly the psychiatric status of the patient.After 10 weeks of inpatient treatment, he could be discharged from the hospital and was able to take up his usual professional activities on a voluntary basis.This article describes the need for an early differential diagnosis of dementias.Standardized and differential diagnoses of dementias are necessary for an antidementive therapy as well as for the detection of potentially curable diseases. Keywords Differential diagnosis · Alzheimer's disease · Depression

Verhaltensauffälligkeiten sei ihr Mann mehrfach in einer Klinik behandelt worden unter der Diagnose einer Demenz. Man habe ihm Haloperidol-Tropfen verordnet, jedoch ohne Erfolg. Ein halbes Jahr vor der Aufnahme in unserer Klinik sei der Patient in ein erstes Altenheim verlegt worden. Dort habe sich sein Zustand weiter verschlechtert, er sei nur noch selten ansprechbar gewesen, habe auch seine Ehefrau immer seltener erkannt. Wegen Weglauftendenzen wurde der Patient in ein geschlossenes Altenheim eingewiesen. Im Rahmen einer Supervision wurde der Patient einem der Autoren (HJP) vorgestellt. Er war zum Zeitpunkt des Erstkontaktes in der Lage, in einem 40-minütigen Gespräch über seine Biographie zu berichten.Aufgrund einer raschen Verschlechterung des psychopathologischen Zustandsbildes mit stuporösem Bild wurde der Patient in unserer Klinik aufgenommen. Psychopathologischer Aufnahmebefund nach Gabe von 2 mg Lorazepam i.v.: Zunächst wach, im weiteren Verlauf somnolent. Zur Person und zum Ort orientiert. Situativ und zeitlich unscharf orientiert. Auffassung und Konzentration deutlich reduziert (unfähig einfachen Aufforderungen nachzukommen oder einfache Rechenaufgaben zu lösen), Merkfähigkeit fast vollständig aufgehoben, Langzeitgedächtnis zum Aufnahmezeitpunkt nicht beurteilbar. Formale Denkstörungen: verlangsamt, umständlich, vorbeiredend. Wahn, Halluzinationen und Ich-Störungen nicht beurteilbar (Patient schläft im Verlauf der Anamnese wieder ein). Affektiv: affektstarr, affektarm.Antrieb massiv reduziert. Behandlungswilligkeit und Krankheitseinsicht sowie Suizidalität nicht beurteilbar. Aufgrund des psychopathologischen Zustandsbildes sowie der Eigenund Fremdanamnese begannen wir unter dem Verdacht auf eine wahnhafte Depression nach diagnostischer Abklärung (neurologischer und internistischer Untersuchung, Laboruntersuchungen, CCT, Liquorpunktion) mit einer Elektrokonvulsionstherapie (EKT). Bereits nach der 1. EKT war der Patient nicht mehr stuporös, nach der 2. EKT war er wieder in der Lage ruhig im Sessel zu sitzen, nach der 3. EKT konnte er aufstehen und über die Station gehen. Nach der 4. EKT war der Patient in der Lage, wieder Zeitung zu lesen und Radio zu hören. Nach der 5. EKT war der

Patient in der Lage, ein längeres und sinnvolles Gespräch mit Familienangehörigen zu führen, wobei sich der Patient auch an viele Details der vergangenen Wochen erinnern konnte, z. B. welche Medikamente er während vorangegangener stationärer Aufenthalte eingenommen hatte. Die insgesamt 8-malige EKT führte zu einer Normalisierung des psychopathologischen Zustandsbildes. Mit einer Kombination aus Trimipramin, zuletzt 300 mg/Tag (0–0–100–200 mg) sowie Lithium in einer Dosis von 800 mg/Tag konnte der Patient nach einer 10-wöchigen stationären Behandlung nach Hause entlassen werden. Dort war er wieder in der Lage, gewohnten Alltagsaktivitäten nachzugehen, z. B. im Kiosk seiner Tochter mitarbeiten, die günstigsten Einkäufe (Zigaretten, Getränkte etc.) organisieren oder sich mit Freude um seine Enkelkinder kümmern. Im Verlauf der ambulanten Behandlung blieb das psychopathologische Zustandsbild unter Fortführung der medikamentösen Therapie sowie insgesamt 7-malig durchgeführter Erhaltungs-EKT stabil. Fast genau ein Jahr nach der stationären Aufnahme in unserer Klinik wurde der Patient von seiner Ehefrau tot im Badezimmer aufgefunden. Keine der zuvor durchgeführten Untersuchungen (inkl. internistischer Abklärung) hatten bis dato den Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit ergeben. Bei der Obduktion wurde als Ursache des plötzlichen Todes ein Herzinfarkt bei vorbestehender Koronararteriensklerose festgestellt. Die Untersuchung des Gehirns erbrachte keinen pathologischen Befund, insbesondere keine neuritischen Plaques, keine Neurofibrillenbündel, keine AmyloidAngiopathie oder sonstige vaskuläre Veränderungen.

Diskussion Die Kasuistik beschreibt einen Patienten mit schwerer psychotischer Depression, die durch konsequente Elektrokonvulsionstherapie in Kombination mit Pharmakotherapie exzellent behandelbar war. Der Patient konnte nach Abschluss der stationären Therapie gesund nach Hause entlassen werden. Wie eigene Untersuchungen bei Bewohnern eines Altenheimes und zweier gerontopsychiatrischer AltenpflegeFacheinrichtungen zeigen, handelt es Der Nervenarzt 5•2002

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Ergebnisse & Kasuistik Tabelle 1

Die wichtigsten Differenzialdiagnosen der Demenz. (Ergänzt und modifiziert nach [6, 1]) 1. Degenerative ZNS-Erkrankungen 1.1. Alzheimer Demenz (50–60% aller Demenzformen) 1.2. Andere degenerative ZNS-Erkrankungen (M. Parkinson, Chorea Huntington, u. a.) und Sonderformen (Lewy-Body-Demenz, frontotemporale Demenz, u. a.) 2. Zerebrovaskuläre Erkrankungen 2.1. Kortikale und subkortikale ischämische Läsionen 2.2. Blutungen (intrazerebral, epidural, subdural) 3. Psychiatrische Erkrankungen 3.1. Schwere depressive Episode, depressiver Stupor 3.2. Schwere endogene oder exogene Psychose 3.3. Alkohol- oder Substanzabhängigkeit (v. a. Benzodiazepine) 4. Weitere ZNS-Erkrankungen 4.1. Normaldruckhydrozephalus 4.2. Intrakranielle Tumoren 4.3. Multiple Sklerose 4.4. Hypoxischer Hirnschaden 4.5. Infektiöse Erkrankungen (Lues, HIV u. a.) 4.6. Schädel-Hirn-Trauma 5. Internistische Erkrankungen 5.1. Exsikkose, Mangel- und Fehlernährung 5.2. Elektrolytstörungen (Hyperkalzämie, Hypokaliämie) 5.3. Endokrinopathien (Hypothyreose, seltener Hyperthyreose) 5.4. Hypovitaminosen (Vitamin B12, Folsäure, andere B-Vitamine) 5.5. Anämie 6. Überdosierung von Medikamenten 6.1. Neuroleptika, Anticholinergika, Phenytoin 6.2. Herzglykoside, β-Blocker, Antihypertensiva (Clonidin, Prazosin, Reserpin)

sich bei diesem P0atienten nicht um einen Einzelfall.Von 361 untersuchten Patienten litten 237 an einer Demenz, davon 64% an einer Demenz vom Alzheimer-Typ, 30% an einer vaskulären Demenz. Bei 18 Patienten wurde eine Demenz diagnostiziert, obwohl entweder eine Depression oder schizophrene Psychose vorlag (nach den Kriterien der ICD10). Bei 10 dieser 18 Patienten lag eine schwere Depression, z. T. mit psychotischen Symptomen vor, die jahrelang nicht therapiert in den Heimen lebten und nach adäquater Therapie entweder aus den Heimen entlassen oder aber freiwillig im Heim verbleiben konnten. Von insgesamt 237 dementen Patienten waren 10,5% leicht, 31,3% mittelschwer und 58,2% schwer dement. Nur eine Patientin erhielt einen Acetylcholinersterase-Hemmer. Die Behandlung wäre bei 61 Patienten möglich gewesen. Diese Zahlen sowie die geschilderte Kasuistik

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verdeutlichen die Notwendigkeit einer frühen Diagnose [9, 2], differenzialdiagnostischen Klärung (Tabelle 1) sowie die Bedeutung der korrekten Diagnose für die weitere Therapie. Beim hier geschilderten Patienten sprach die fluktuierende Symptomatik und die Fähigkeit sich beim Erstkontakt 40 min lang über die eigene Biographie unterhalten zu können eindeutig gegen das Vorliegen einer Demenz. Die Diagnose der Depression wurde anhand der ICD10-Kriterien [5] gestellt. Richtungsweisend für die Diagnose waren die Antriebsminderung und Interessenlosigkeit sowie die Fähigkeit des Patienten, seine Biographie bis in viele Dateils noch kurze Zeit vor der stationären Aufnahme in unserer Klinik zu schildern. Die psychotischen Symptome zu Beginn der Erkrankung wurden von uns auf die wahnhafte Depression zurückgeführt, auch wenn aus der Literatur bekannt ist,

dass Wahn und Halluzinationen bei älteren Menschen häufig im Rahmen einer Demenz auftreten [11, 3, 7]. Trotzdem sollte – wie dargestellt – die Differenzialdiagnose einer psychotischen Depression bei der Diagnose einer Demenz nicht außer Acht gelassen werden.

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