Brno/Brünn. Fronleichnam in Brno/Brünn: zu Kaisers Zeiten ein schönes Schaufest und Sinnbild der göttlichen wie menschlichen Ordnung. Heil und schier unzerstörbar. Auf dem Bild von František Vavřinec Korompay (1748) paradieren die Vertreter der Stadt, wohlgeordnet nach Rang und Stand, unter den Augen des aus Wien ange reisten Kaiserpaares Maria Theresia und Franz von Lothringen. Der Bibliothekar vom A ugustinerstift in Brünn, wohl selbst ein Au genzeuge, hält das Gesche hen in Wort und Schrift für die Nachwelt fest. Keine zwei Jahrhunderte später bietet sich ein völlig anderes Bild dar: Kriegswir ren, allgemeine Auflösung und Versuche, die Ordnung wiederherzustellen. Fronar beit der deutschen (männli chen) Zivilbevölkerung und am Vorabend ebendesselben hohen K irchenfests die Vertreibung der anderen üb riggebliebenen D eutschen aus der Stadt. Richtung Süden, bis nach Wien. Was wurde hier begangen? Eine Antwort darauf ver sucht nun der historische Rom an Vyhnání Gerty Schnirch (Die Vertreibung der Gerta Schnirch) von Kateřina Tučkové zu geben, Die Protagonistin wächst in tschechisch-deutscher Familie in Brünn heran, erlebt dort den sich verschärfenden nationalen Konflikt, den Krieg und schließlich samt ihrem Kleinkind - die Ausweisung aus der Stadt. Erschöpft, verzweifelt, vergewaltigt und m ehrfach Zeuge von Totschlag und Gewalt, gelangt sie in den Ort Perná/B ergen, wo sie Zwangsarbeit leisten muss. Als unabkömmlich kann sie nach einiger Zeit nach Brünn zurückkehren, allerdings nicht in ihre alte Bleibe, findet Arbeit als Arbeite rin an der W erkbank auswärts und kümmert sich um ihre T ochter Barbora. Ein kurzes Glück verbotener Liebe wird ihr beschieden, bis ihr mittlerweile verheira teter tschechischer Jugend freund Karel Němec für immer in den Schlünden der stalinistischen Prozesse ver schwindet und mit ihm die schützende Hand eines ver
Kateřina Tučková - Vyhnání Gerty Schnirch. Brno: Host, 2009. (Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung, Proben im Internet) dienten Parteigenossen. In die Wände der Privatwoh nung eingezwängt, unterhält sie nur noch K ontakt zu ihren Marschkameradinnen und zu der Altösterreicherin Zipfel, bei der sie in Bergen Obdach und für Barbora eine Oma fand. Nestwärme erfährt das Kind allein bei dem griechischen Emigranten-Ehepaar, das in die W ohnung der alleinerzie henden Mutter zwangseingewiesen wird. In der Schule als Deutsche (und vaterlos) verspottet und diskriminiert, ohne Freundinnen, von der M utter lieblos behandelt, versucht Barbora aus diesem Milieu auszubrechen. Im w eiteren Verlauf geht das Buch dem Auf und Nieder des Schicksals der beiden Frauen nach. Eine Annähe rung an Barbora wird Gerta erst durch die Enkeltochter Blanka zuteil. Diese ist zu sammen mit Freunden von der „Jugend für interkultu
relle V erständigung“ in Brünn 2000 bem üht, die Stadtväter zu einer E n t schuldigungsgeste den Brün ner Deutschen gegenüber zu bewegen. Doch aus Barboras Sicht erscheint das Leben der verscheidenden Mutter, von der kurzen Liebesaffäre abgesehen, leer und sinnlos. Kateřina Tučková gelang es, den Kampf „einer klei nen Frau“ um die Behaup tung in der „großen Ge schichte“ wirklichkeitsnah und detailgenau zu schil dern. Doch die „große Ge schichte“ erscheint aller Ambitionen ungeachtet eher als ein Bilderbuch. Mit Stra ßennam en bis zum Miss fallen bestückt, versteht der Rom an den Genius Loci doch nicht aufleben zu las sen wie etwa die Texte des Brünners Jiří Kratochvil. Zum „Brünner Roman“ wird sich das Buch wohl nur schwer zuordnen lassen, wiewohl der W ohnort der
Autorin, die heutzutage ver wahrloste Sterngasse (Hvěz dová) und die anliegende Preßburgergasse (Bratislav ská), „das Brünner Bronx“ mit Roma-Bevölkerung, bei ihr die Frage nach den ver schwundenen deutschen Nachbarn aufgeworfen und einen ersten Schreib-Impuls gebracht haben mag. Die schematische Figurenzeich nung trifft am ärgsten die m ännlichen Fam ilienm it glieder. Gertas Vater, ein fa natischer Nationalsozialist, der sich an ihr vergreift und allem Anschein nach Barbo ras V ater ist, geistert als Karikatur durch das Buch. Noch schlimmer der Bruder Friedrich, dem Vater ganz nachgeraten, der G ertas Freundin sexuell belästigt und als ein von Gewissens bissen gejagter Kriegsverbre cher nicht überzeugend in die Handlung zurückgeholt wird. Die Hauptfigur selbst kann beim Erleben ihrer Geschichte sicherlich einen Mangel an Ironie ohne Fol gen für die Q ualität des Werkes feststellen, aber der Leser, geschult an der Lek türe der Brünner R obert Musil, Milan Kundera und Jiří Kratochvil, wird die Di stanz zum Erzählten doch vermissen. Um so mehr, als er weiß, dass „Br(ünn) nur ein Bild“ sei und dass sich „aus unzähligen solchen das W eltgeschehen“ integriere (Musil). Ein erstes bündiges Beispiel für allerdings unge wollt ironische M anier in der Darstellung des Gesche henen liefert die politisch korrekte Sprachregelung Brněnský pochod mancher tschechischer Historiker, w ortgetreu ins D eutsche übersetzt. „Brünner M arsch“ wird nämlich manchmal der bie d er m ei er lic h -id y M ische Brünner N ational-G ardeM arsch op. 58 (1848) des Walzerkönigs Johann Strauß d. J. genannt. Im Repertoire der deutschen Wehrmacht. Allein diese Kleinigkeit hät te genügt, dem Schreibpro zess eine völlig andere, hin tergründigere Richtung zu geben. Ohne Ironie bleibt Tučkovás Opus ein gut re cherchiertes und nützliches Aufklärungsbuch. Vor allem für ihre Generation. Roman Kopřiva
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