Z Betriebswirtsch (2012) 82:1367–1387 DOI 10.1007/s11573-012-0637-1 FORSCHUNG
Vorsichtige Rechnungslegung und Informationsgehalt
Alfred Wagenhofer
Zusammenfassung: Vor- und Nachteile vorsichtiger Rechnungslegung werden aktuell und kontrovers diskutiert. Dieser Beitrag formalisiert Vorsicht in einem Informationssystem. Es wird gezeigt, dass eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Eintretens ungünstiger Signale bei gleichbleibender Präzision deren Informationsgehalt verringert. Dadurch wird die Interpretation als vorsichtige und unvorsichtige Rechnungslegung z. T. ambivalent. Dies hat auch Konsequenzen für den Zusammenhang von Marktrenditen und Ergebnissen, die für eine empirische Schätzung herangezogen werden. Weiter wird anhand der Darstellung mehrerer ökonomischer Modelle aufgezeigt, warum verzerrte Rechnungslegung aus vielen Gründen vorteilhaft sein kann. Schlüsselwörter: Vorsichtsprinzip · Neutralität · Rechnungslegung · Rahmenkonzept · Zwecke der Rechnungslegung JEL Classification: M41 · M48 · G14
Eingegangen: 15.08.2010 / Online publiziert: 30.10.2012 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012 Prof. Dr. A. Wagenhofer () Institut für Unternehmensrechnung und Controlling und Center for Accounting Research, Universität Graz, Universitätsstraße 15, 8010 Graz, Österreich E-Mail:
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A. Wagenhofer
1 Einleitung Das Vorsichtsprinzip nimmt im deutschsprachigen Raum im Rahmen der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung traditionell einen hohen Stellenwert ein. So wird es z. B. im § 252 (1) Nr. 4 HGB explizit genannt, und es fand sich im alten Rahmenkonzept des International Accounting Standards Board (IASB) aus dem Jahr 1989 und des US-amerikanischen Financial Accounting Standards Board (FASB) aus dem Jahr 1980.1 Beide Rahmenkonzepte nannten aber auch die Neutralität als weitere qualitative Anforderung, womit ein gegenseitiges Abwägen zwischen diesen Prinzipien erforderlich war. Seither hat sich die Einstellung von Standardsettern zur Vorsicht deutlich gewandelt.2 Vor allem das IASB und das FASB wenden sich zunehmend gegen eine vorsichtige Rechnungslegung, was insbesondere im gemeinsamen Projekt zur Entwicklung eines neuen Rahmenkonzepts erkennbar ist. In dem im September 2010 verabschiedeten ersten Teil des neuen Rahmenkonzepts wird die Neutralität der Rechnungslegung als wesentliche Anforderung einer glaubwürdigen Darstellung (faithful representation) der Rechnungslegung hervorgehoben. Vorsicht wird bewusst nicht mehr im Rahmenkonzept genannt, weil es der Neutralität widerspricht (IASB 2010, QC14 und BC3.27). Die Diskussion der Für und Wider einer vorsichtigen Rechnungslegung wird – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Finanzkrise der letzten Jahre – heftig geführt. In der wissenschaftlichen Diskussion wird auf empirische Studien verwiesen, die anhand verschiedener Maße belegen, dass Vorsicht in der Rechnungslegung weitverbreitet ist.3 Dieser Befund wird allerdings unterschiedlich interpretiert. Die Verfechter einer neutralen Rechnungslegung – und dazu zählen das IASB und das FASB – argumentieren, dass dies eine Konsequenz der Anwendung der derzeit geltenden, aber nicht mehr zeitgemäßen Rechnungslegungsstandards ist.4 So haben sich das wirtschaftliche Umfeld, die Geschäftsfälle der Unternehmen und auch das Informationsumfeld in den letzten Jahren geändert, womit die Rechnungslegungsstandards nicht Schritt gehalten haben. Eine moderne Rechnungslegung müsse daher das Vorsichtsprinzip eliminieren. Dem wird entgegengehalten, dass Unternehmen innerhalb der geltenden Rechnungslegungsstandards einen gewissen Spielraum für mehr oder weniger vorsichtige Rechnungslegung haben. Wenn Vorsicht tatsächlich nachteilig ist, wäre zu erwarten, dass die Unternehmen zu einer weniger vorsichtigen Rechnungslegung tendieren. Die Ergebnisse der empirischen Studien zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Vorsicht besteht weiterhin und wird nicht geringer, und dies wird als Indikator gesehen, dass Vorsicht eine ökonomisch nützliche Eigenschaft der Rechnungslegung ist. Verfechter der Vorsicht argumentieren deshalb, dass sich Vorsicht im Wettbewerb der Regulierung offenbar als transaktionskostengünstige Lösung durchgesetzt hat und eine Beseitigung durch Standardsetter nachteilig wäre.5 Die Forderung der Standardsetter nach einer neutralen Rechnungslegung erscheint auf den ersten Blick schlüssig und überzeugend. Es ist nicht unmittelbar offensichtlich, worin ökonomische Vorteile einer verzerrten, und insbesondere einer vorsichtigen, Rechnungslegung liegen, wenn die Alternative eine neutrale Rechnungslegung ist. Der vorliegende Beitrag geht ökonomischen Vorteilen einer verzerrten Rechnungslegung nach, indem er Vorsicht und Informationsgehalt untersucht. Zunächst wird vorsichtige Rechnungslegung in einem einfachen Informationssystem formalisiert und definiert. Es wird gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintretens
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ungünstiger und günstiger Signale gegenläufig zum Informationsgehalt der betreffenden Signale verläuft. So hat z. B. ein Bericht über ein ungünstiges Ereignis eine größere Erwartungsänderung zur Folge, wenn er größere Präzision aufweist, was allerdings mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit eines solchen Berichts einhergeht. Nach einer kurzen Darstellung von Rechnungslegungsregeln, die mit Vorsicht in Verbindung gebracht werden, werden auch Konsequenzen für empirische Studien auf Basis des bekannten Verfahrens von Basu (1997) abgeleitet. Es wird gezeigt, dass Vorsicht je nach Berichterstattung zu unterschiedlichen Zusammenhängen von Marktrenditen und Ergebnisgrößen führen kann. In einem weiteren Abschnitt werden mehrere ökonomische Modelle dargestellt, die aufzeigen, warum verzerrte Rechnungslegung vorteilhaft sein kann. Diese Ergebnisse werden am Ende des Beitrags den Begründungen des IASB und FASB für die Forderung nach einer neutralen Rechnungslegung gegenübergestellt. Die Bedeutung des Verständnisses von Vor- und Nachteilen einer vorsichtigen Rechnungslegung hat eine unmittelbare Konsequenz für die künftige Ausrichtung internationaler Rechnungslegungsstandards. Denn aus der Forderung nach einer neutralen Rechnungslegung wird ein Aufweichen der Bilanzansatzkriterien, die derzeit für Aktiva und Passiva asymmetrisch gestaltet sind, sowie eine möglichst umfassende Bewertung zum Fair Value abgeleitet. Probleme mit dem Fair Value, wie die geringe Verlässlichkeit seiner Ermittlung in vielen Fällen, die Nichterfassung von Synergien oder die Prozyklizität, werden dem untergeordnet. Der vorliegende Beitrag beabsichtigt nicht, einen umfassenden Literaturüberblick zu geben; dazu gibt es etliche andere Arbeiten, wie z. B. Watts (2003a, 2003b), Ryan (2006) und Fülbier et al. (2008). Die hier zitierte Literatur ist selektiv und dient als Beispiel für dahinterstehende grundsätzliche Ideen. Insbesondere werden nur einige Erklärungen auf Basis ökonomischer Modelle betrachtet, nicht aber andere mögliche Gründe für Vorsicht.6
2 Formale Repräsentation von Vorsicht 2.1 Ausgangssituation Die folgendeAnalyse basiert auf einem bewusst einfach gehaltenen stochastischen Modell.7 Es gibt zwei mögliche Ereignisse, welche die Realisation eines unsicheren Ergebnisses x ∈ { xL , xH } bestimmen. Dabei bezeichnet xL das Ergebnis, z. B. den Gewinn, Cashflow oder Unternehmenswert, bei Eintritt des ungünstigen Ereignisses und xH (xH > xL ) das Ergebnis bei Eintritt des günstigen Ereignisses. Das günstige Ereignis, und damit das Ergebnis xH , tritt mit Wahrscheinlichkeit q ∈ (0, 1) ein. Der Erwartungswert des Ergebnisses x beträgt E[x] = (1 − q)xL + qxH
(1)
Das Rechnungslegungssystem liefert vor der Realisation des Ergebnisses mit einer Wahrscheinlichkeit p ∈ (0, 1) ein Signal y ∈ {yL , yH }, das Informationen über den Eintritt der Ereignisse enthält. Mit Wahrscheinlichkeit 1 − p wird kein Signal beobachtet. Je höher p ist, desto eher ist das Rechnungslegungssystem informativ.
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Abb. 1: Struktur des Rechnungslegungssystems
f1
p xL 1−q
1−p
yL
1 – f1 kein Signal
1−p
q xH
p
1 – f2 f2
yH
Die Eigenschaften des Informationssystems werden durch zwei Parameter festgelegt, f1 und f2 , welche die Wahrscheinlichkeit einer zutreffenden Information symbolisieren. Um die Interpretation von yL als ungünstiges und yH als günstiges Signal beizubehalten, wird ohne Verlust der Allgemeinheit f1 > 1 − f2 angenommen (dies impliziert auch f2 > 1 − f1 ). Definiert man die Präzision des Informationssystems mit F ≡ f1 + f2 − 1, dann wird ein perfektes Informationssystem durch F = 1 charakterisiert, ein uninformatives System durch F → 0; im Folgenden wird idR von einem imperfekten Informationssystem mit F ∈ (0, 1) ausgegangen. Abbildung 1 gibt die Situation grafisch wieder. Das Rechnungslegungssystem kann neben der Präzision der jeweiligen Signale auch noch darin unterschieden werden, welche Signale in der Rechnungslegung erfasst und somit berichtet werden. Bei vollständiger Berichterstattung werden alle drei Zustände {yL , yH , φ} berichtet. Häufig ist es jedoch so, dass der Zustand, in dem keine Information vorliegt (symbolisiert durch φ), nicht gesondert erfasst wird, sondern mit einem der anderen Zustände zusammengefasst wird. Damit wird der Informationsgehalt der berichteten Signale entsprechend verändert. Vorausgesetzt wird im Folgenden immer, dass keine Falschberichterstattung möglich ist. 2.2 Unverzerrte Rechnungslegung Wenn vorsichtige Rechnungslegung dadurch charakterisiert wird, dass sie verzerrte Informationen liefert, ist es zunächst sinnvoll, eine unverzerrte Rechnungslegung als Ausgangspunkt festzulegen. Im Rahmen des binären Modells erscheint es naheliegend, den Grad der Verzerrung durch das Verhältnis der Fehler zu erfassen, die bei den beiden Signalen auftreten. Die Rechnungslegung ist demnach unverzerrt, wenn ein Fehler bei der Messung eines günstigen Ereignisses (1 − f1 ) gleich wahrscheinlich ist wie ein Fehler bei der Messung eines ungünstigen Ereignisses (1 − f2 ), so dass f1 = f2 . Eine unverzerrte Rechnungslegung führt idR nicht dazu, dass auch die Wahrscheinlichkeiten für das Beobachten von günstigen und ungünstigen Signalen den Wahrscheinlichkeiten der zugrunde liegenden Ereignisse entsprechen. Die Eintrittswahrscheinlichkeiten der beiden Signale lauten: Pr(yL ) = (1 − q)f1 + q(1 − f2 )
(2)
Pr(yH ) = (1 − q)(1 − f1 ) + qf2
(3)
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Daraus ist ersichtlich, dass die Eintrittswahrscheinlichkeiten der beiden Signale im Normalfall nicht nur von den Eigenschaften des Rechnungslegungssystems, sondern auch von der operativen Situation bestimmt werden. Soll daher Pr(yL ) = (1−q) und Pr(yH ) = q gelten, folgt 1 − f1 q = 1−q 1 − f2 oder, alternativ, f1 = (1 − q) + qF und f2 = q + (1 − q)F. Für bestimmte Werte von F ∈ (0, 1) ist diese Bedingung nur für ganz bestimmte (f1 , f2 )-Kombinationen erfüllt. 2.3 Verzerrte Rechnungslegung Eine verzerrte Rechnungslegung besitzt in diesem Sinne die Eigenschaft, dass die Wahrscheinlichkeiten für fehlerhafte Signale bei Vorliegen der jeweiligen Ergebnisse ungleich hoch sind, d. h. f1 = f2 . Eine Verzerrung hat sowohl Konsequenzen für die Eintrittswahrscheinlichkeiten der Signale als auch für deren Informationsgehalt. Der Fall f1 > f2 wird im Folgenden als Verzerrung nach unten bezeichnet. Wenn man die Präzision F konstant belässt, führt eine Erhöhung von f1 zu einer höheren Wahrscheinlichkeit, dass die Rechnungslegung ein ungünstiges Signal liefert. Gleichzeitig sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers bei tatsächlichem Vorliegen eines ungünstigen Ergebnisses. Somit signalisiert eine nach unten verzerrende Rechnungslegung ungünstige Ereignisse mit höherer Präzision an als günstige Ereignisse. Je größer die Differenz (f1 − f2 ) ist, desto stärker sind diese Effekte. Umgekehrtes gilt für eine Verzerrung nach oben, die durch f1 < f2 charakterisiert ist. Eine weitere Eigenschaft des Rechnungslegungssystems ist der Informationsgehalt der Signale, der deshalb von Bedeutung ist, weil die Signale zuerst beobachtet werden und daraus auf die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Ergebnisse geschlossen wird. Im vorliegenden einfachen Modell kann der Informationsgehalt über dasAusmaß der Revision des Erwartungswertes infolge der Beobachtung des Signals yL bzw yH , ausgehend vom ursprünglichen Erwartungswert E[x], gemessen werden. Die Erwartungsänderung hängt davon ab, ob und wie über den Zustand berichtet wird, dass kein Signal vorliegt. Angenommen, es wird vollständig berichtet, d. h. dieser Zustand (φ) ist aus der Rechnungslegung ersichtlich, dann ergeben sich die Erwartungswerte wie folgt:8 E[x|φ] = E[x]
(4)
E[x|yL ] =
q(1 − q)(xH − xL )F (1 − q)f1 xL + q(1 − f2 )xH = E[x] − < E[x] (5) Pr(yL ) Pr(yL )
E[x|yH ] =
(1 − q)(1 − f1 )xL + qf2 xH q(1 − q)(xH − xL )F = E[x] + > E[x] (6) Pr(yH ) Pr(yH )
Ist bekannt, dass kein Signal vorhanden ist, kommt es zu keinerÄnderung der Erwartungen. Wird ein ungünstiges Signal (yL ) berichtet, deutet das mit höherer Wahrscheinlichkeit auf ein ungünstiges Ergebnis hin, so dass der bedingte Erwartungswert nach unten revidiert
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wird. Für gegebene Präzision F hängt die Erwartungsrevision nur von der Wahrscheinlichkeit des Erhalts eines ungünstigen Signals Pr(yL ) ab (s. Gl. (5)). Da Pr(yL ) in f1 steigt, fällt die Erwartungsrevision mit höherem f1 immer geringer aus. Ein gegenläufiger Effekt besteht für die Erwartungsänderung bei Beobachtung von yH . Die Wahrscheinlichkeit p spielt für die Erwartungsrevision keine Rolle, weil ein Bericht von yL oder yH die Information enthält, dass ein Signal angekommen ist. Werden nur ungünstige Signale (yL ) in der Rechnungslegung erfasst, so ergibt sich der bedingte Erwartungswert E[x|yL ] weiterhin gemäß Gl. (5). Das Nichtberichten des Signals yL (symbolisiert durch N L) fasst nun jedoch zwei Zustände zusammen: den Nichterhalt eines Signals und den Erhalt eines günstigen Signals. Dadurch ergibt sich der bedingte Erwartungswert bei Nichtberichten eines Signals wie folgt: (1 − p)E[x] + p [(1 − q)(1 − f1 )xL + qf2 xH ] (1 − p) + p · Pr(yH ) pq(1 − q)(xH − xL )F = E[x] + (1 − p) + p · Pr(yH )
E[x|N L] =
(7)
Analog ergibt sich für ein Rechnungslegungssystem, das nur günstige Signale (yH ) erfasst, eine Änderung des Erwartungswertes auf E[x|yH ] gemäß Gl. (6) und bei Nichtberichten eines Signals, das nun durch NH symbolisiert wird, von (1 − p)E[x] + p [(1 − q)f1 xL + q(1 − f2 )xH ] (1 − p) + p · Pr(yL ) pq(1 − q)(xH − xL )F = E[x] − (1 − p) + p · Pr(yL )
E[x|N H ] =
(8)
Aus den Gl. (7) und (8) ist ersichtlich, dass bei gleicher Präzision F eine Erhöhung der a priori Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Signals mit einer geringeren Änderung des Erwartungswertes und damit einem geringeren Informationsgehalt des Signals einhergeht, und umgekehrt.9 Die Erwartungsänderung hängt nur über Pr(yH ) bzw Pr(yL ) von der Art der Verzerrung der Rechnungslegung ab. In beiden Fällen erfolgt trotz Nichtberichtens eines Signals eine Erwartungsänderung. Dessen Stärke wird von der Wahrscheinlichkeit p beeinflusst; je größer p, desto stärker ist die Änderung, weil es relativ wahrscheinlicher ist, dass das günstige bzw. ungünstige Signal aufgetreten ist. Für eine nach unten verzerrte Rechnungslegung (f1 > f2 ) führt eine stärkere Verzerrung (f1 − f2 steigt) also zu einer Verminderung des Informationsgehalts eines ungünstigen Signals, weil die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens Pr(yL ) steigt. Gleichzeitig steigt der Informationsgehalt eines günstigen Signals, weil Pr(yH ) in f1 sinkt. Die Auswirkung auf den Informationsgehalt ist stärker, wenn beide Signale berichtet werden; ansonsten ist er für das Signal, das nicht berichtet wird (und mit dem Zustand, dass kein Signal vorliegt, gebündelt ist), abhängig von p entsprechend geringer. Dieses für ein einfaches binäres Modell gezeigte Ergebnis lässt sich auch in Modellerweiterungen zeigen, wobei allerdings bestimmte Regularitätsbedingungen eingehalten werden müssen. Gigler et al. (2009) betrachten kontinuierliche Signale y und Ergebnisse x. Die Eigenschaften des Rechnungslegungssystems werden durch die bedingte Dichtefunktion ϕ(y|x, δ) definiert, wobei δ ein Vorsichtsparameter ist, der umso geringer wird,
Vorsichtige Rechnungslegung und Informationsgehalt Abb. 2: Maximal vorsichtiges Rechnungslegungssystem (f1 = 1, f2 = F )
1373 f1 = 1
p xL 1−q
yL
1− p kein Signal
1− p
q
1–F
xH
yH p
f2 = F
je stärker die Rechnungslegung nach unten verzerrt. Eine Verzerrung nach unten wird wie folgt definiert: ∞ (i) ϕ(y|x, δ)dy steigt strikt in δ für jedes x und a; a
ϕx (y|x, δ) sinkt strikt in δ für gegebenes y. (ii) ϕ(y|x, δ) Die erste der beiden Bedingungen besagt, dass sich mit sinkendem δ (stärkere Verzerrung nach unten) die Wahrscheinlichkeitsmasse stärker in Richtung ungünstigerer Signale y verschiebt. Die zweite Bedingung betrifft die Likelihood Ratio des Rechnungslegungssystems und impliziert, dass die Wahrscheinlichkeit hoher Ergebnisse x für gegebenes y in δ sinkt, was genau die gegenläufige Verbindung zwischen Wahrscheinlichkeit eines Signals und dessen Informationsgehalt herstellt.10 Eine andere Definition von vorsichtiger Rechnungslegung geht von einem höheren Grad an Verifizierbarkeit für günstige als für ungünstige Ereignisse aus, die für eine Erfassung erforderlich ist.11 Guay und Verrecchia (2006) nehmen an, dass Signale mehr oder weniger einfach verifizierbar sind. Während einfach verifizierbare Signale immer berichtet werden, erfasst eine vorsichtige Rechnungslegung auch die schwer verifizierbaren Signale, wenn diese auf ungünstige Ereignisse hindeuten, nicht jedoch solche, die auf günstige Ereignisse hindeuten. Daraus ergibt sich eine verzerrte Berichterstattung, die bei ungünstiger Berichterstattung relativ informativ ist, bei günstiger Berichterstattung jedoch weniger informativ ist, weil darin weniger Signale einfließen.
3 Interpretation als vorsichtige Rechnungslegung Es ist intuitiv, eine Verzerrung nach unten als Eigenschaft einer vorsichtigen Rechnungslegung zu interpretieren.12 Argumente dafür sind die höhere Eintrittswahrscheinlichkeit ungünstiger Signale sowie die höhere Präzision, mit der eine nach unten verzerrende Rechnungslegung ungünstige Ergebnisse durch Erhalt eines ungünstigen Signals berichtet. Dies entspricht der ursprünglichen Vorstellung von vorsichtiger Rechnungslegung, dass sich der Kaufmann im Zweifel eher zu arm als zu reich rechnet.13 Das Maximum an Vorsicht ergibt sich bei f1 = 1 (s. Abb. 2). Damit wird bei Eintritt eines ungünstigen Ereignisses xL niemals das günstige Signal yH berichtet. Hingegen
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werden günstige Ereignisse xH je nach Präzision der Rechnungslegung z. T. ebenfalls als ungünstig berichtet. Die Kehrseite ist, dass günstige Signale einen extrem hohen Informationsgehalt aufweisen: Wird ein günstiges Signal berichtet, weiß man mit Sicherheit, dass ein günstiges Ergebnis vorliegt. Wenn ein ungünstiges Signal berichtet wird, besteht hingegen (je nach F ) große Unsicherheit, ob das Ergebnis wirklich ungünstig ist oder nicht. Im Grenzfall, dass F gegen null geht, wird ein ungünstiges Signal praktisch informationslos. Wenn man die Berichte auf zwei Signale einschränkt und damit zwei Zustände bündelt, ist mit vorsichtiger Rechnungslegung die Zusammenfassung von ungünstigem Signal und keinem Signal {yL , φ} vereinbar, weil der Zustand ohne Information (φ) pessimistisch berichtet wird. Aber auch in diesem Fall gilt, dass Vorsicht den Informationsgehalt ungünstiger Signale verringert, weil deren Eintrittswahrscheinlichkeit erhöht wird. Vergleicht man die formale Repräsentation von Vorsicht mit Rechnungslegungsregeln, die zu einer vorsichtigen Rechnungslegung führen, zeigt sich ein heterogenes Bild. Die Definition des Vorsichtsprinzips in § 252 (1) Nr. 4 HGB spricht das Realisationsprinzip und das Imparitätsprinzip an. Im engeren Sinne ist das Vorsichtsprinzip eine Bewertungsregel für Bilanzpositionen bei unsicheren Erwartungen. Und obwohl das IASB ein Vorsichtsprinzip aus dem neuen Rahmenkonzept eliminierte, bewirken viele IFRS-Regeln weiterhin eine vorsichtige Rechnungslegung.14 Aus Sicht des Informationsgehalts einer vorsichtigen Rechnungslegung wird in unbedingte und bedingte Vorsicht unterschieden.15 Unbedingte Vorsicht entsteht durch Bilanzierungs- und Bewertungsregeln, die unabhängig vom Eintritt bestimmter Ereignisse eine Unterbewertung von Vermögenswerten oder Überbewertung von Schulden bewirken. Ein Beispiel für unbedingte Vorsicht ist das Aktivierungsverbot von Forschungskosten und bestimmten anderen immateriellen Werten. Eine solche nicht ereignisgetriebene Unterbewertung kann auch bei einer planmäßigen Abschreibung von Vermögenswerten über einen deutlich unter der Nutzungsdauer liegenden Zeitraum oder mit einem degressiven Abschreibungsverfahren entstehen, wenn der Wertverlust nicht degressiv erfolgt. Bei unbedingter Vorsicht liefert die Rechnungslegung damit keine Informationen über Ereignisse, die den Wert dieser Posten beeinflussen. Insofern lässt sich unbedingt vorsichtige Rechnungslegung durch Signale repräsentieren, die entweder völlig uninformativ sind (F = 0), oder durch informative Signale, die jedoch nicht in der Rechnungslegung erfasst werden (dh weder yL noch yH wird berichtet, sondern nur φ).16 Dadurch kommt es zu keiner Änderung der Erwartungen E[x] über das Ergebnis. Bedingte Vorsicht entsteht bei asymmetrischer Erfassung von Ereignissen. Dies kann sowohl durch die Verzerrung der Signalpräzision als auch durch Berichterstattung mehr ungünstiger Signale erfolgen. Bedingte Vorsicht ist ereignisgetrieben und weist daher Informationsgehalt auf, wenngleich die Information verzerrt ist. Einige Regeln, die bedingte Vorsicht bewirken, basieren auf einer Verzerrung der Wertansätze. Ein Beispiel ist die Bewertung von Rückstellungen, wenn gemäß HGB bei hoher Unsicherheit ein pessimistisch gefärbter Wert über dem Erwartungswert angesetzt wird. Solche Regeln können durch ein Rechnungslegungssystem mit f1 > f2 repräsentiert werden. Häufiger sind Regeln, die eine asymmetrische Berichterstattung von Signalen bewirken. So gibt es Regeln, die nur ungünstige Signale (yL ) in der Rechnungslegung erfassen, nicht hingegen günstige Signale oder die Tatsache, dass kein Signal vorliegt. Beispie-
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le dafür sind außerplanmäßige Abschreibungen bei Wertminderungen, der Ansatz einer Rückstellung bei einem erwarteten Verlust aus schwebenden Geschäften oder die sofortige Verlustantizipation bei Teilgewinnrealisierung von Fertigungsaufträgen. Alle diese Regeln erfordern den Eintritt eines ungünstigen Signals, das dann erfasst wird. Da damit jedoch {yH , φ} gebündelt werden, wären sie im Lichte der obigen Definition als unvorsichtig zu beurteilen. Umgekehrt kann es sein, dass nur günstige Signale (yH ) in der Rechnungslegung erfasst und somit ungünstige Signale mit der Situation, dass kein Signal vorliegt, gebündelt werden. Beispiele dafür sind Wertaufholungen bei Wegfall der Gründe für eine früher vorgenommene außerplanmäßige Abschreibung, die Aktivierung von Entwicklungskosten oder der Ansatz aktiver latenter Steuern, die jeweils an enge Voraussetzungen gebunden sind. Liegen diese nicht vor, erfolgt kein Ansatz. Dies kann daraus resultieren, dass (weiterhin) ungünstige Signale vorliegen oder dass kein Signal vorliegt.
4 Empirische Schätzung vorsichtiger Rechnungslegung In der empirischen Rechnungslegungsliteratur wird meist bedingte Vorsicht analysiert, weil sie relevante Information vermittelt. Dafür wurde eine Reihe von verschiedenen Messverfahren entwickelt.17 Das bekannteste stammt von Basu (1997) und geht davon aus, dass die Marktrendite ein exogener Indikator für günstige und ungünstige Ereignisse ist, an denen die Rechnungslegung gemessen wird. Bei einer vorsichtigen Rechnungslegung werden negative Ereignisse eher (bzw. früher) im Ergebnis erfasst als positive. Dadurch ergibt sich ein stärkerer Zusammenhang der Renditen mit den Ergebnissen im Fall negativer Renditen als im Fall positiver Renditen. Dies wird i. d. R. über folgende (umgekehrte) Regressionsgleichung geschätzt: Xit = α0 + α1 · Dit + β1 · Rit + β2 · Dit · Rit + εit Pit−1
(9)
Dabei bezeichnet X die Ergebnisgröße, P den Marktpreis und R die (unerwartete) Marktrendite in der Periode; D ist eine Indikatorvariable mit D = 1 bei negativer Rendite und D = 0 bei positiver Rendite. Der Koeffizient β1 misst den Zusammenhang von Rendite und Ergebnis allgemein und der Koeffizient β2 die bedingte Vorsicht als inkrementellen Zusammenhang bei negativer Rendite. Beide Koeffizienten sind i. d. R. positiv. Steigendes β2 wird mit höherer bedingter Vorsicht gleichgesetzt. Die Annahme, dass die Marktrenditen die wertbegründenden Ereignisse erfassen, ohne dafür die Rechnungslegung zu nutzen, ist durchaus kritisch zu sehen.18 Es stellen sich dann nämlich die Fragen, wie der Markt zu den Informationen kommt, sowie auch, welche Funktion die Rechnungslegung dann noch gegenüber dem Marktpreis hätte.19 Insofern ist es naheliegend, davon auszugehen, dass die Rechnungslegung für die Preisbildung relevant ist.20 Diese geänderte kausale Beziehung kann in dem obigen formalen Modell strukturell dargestellt werden.21 Bei vorsichtiger Rechnungslegung ist f1 > f2 , und im Maximum f1 = 1 und f2 = F . Damit wird die Eintrittswahrscheinlichkeit für ungünstige Signale yL hoch und gleichzeitig die Erwartungsrevision von E[x] auf E[x|yL ] gering, während sie
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Abb. 3: Marktpreise und Signale bei einer Rechnungslegung mit (f1 = 1, f2 = F )
Signal yH
xL
E[x|yL]
E[x| yH] = xH
E[x]
Marktpreisänderung
yL
wegen E[x|yH ] = xH für günstige Signale maximal wird. Bei Bericht von φ kommt es zu keiner Marktpreisänderung. Abbildung 3 gibt diesen Zusammenhang mit der Anordnung der beiden Achsen wie bei Basu (1997) wieder (wobei die Verbindungslinien zwischen den Punkten im Modell nicht definiert sind und nur zur besseren Sichtbarkeit eingetragen sind). Da sich der Marktpreis bei einem ungünstigen Signal geringer ändert als bei einem günstigen Signal, kommt es zu dem charakteristischen konkaven Knick im funktionalen Zusammenhang von Marktrenditen und Ergebnisgrößen.22 Für unvorsichtige Rechnungslegung (f1 < f2 ) ergibt sich ein konvexer Verlauf. In vielen empirischen Studien zur Qualität der Finanzberichterstattung wird ein Mehr an bedingter Vorsicht (größeres β2 ) als positive Eigenschaft der Rechnungslegung interpretiert.23 Formal ergibt sich ein positives β2 hier allerdings durch eine Senkung des Informationsgehalts ungünstiger Signale, was der Intuition zuwiderläuft, dass dies eine Verbesserung der Qualität der Rechnungslegung ist. Das Modell liefert dazu ein weiteres Resultat: Gegeben f1 = 1, erhöht eine Erhöhung von F die Präzision und damit generell den Informationsgehalt der Signale. Dadurch steigen f2 und die Erwartungsrevision bei Auftreten von yL mit der Folge, dass der Knick geringer wird und damit empirisch eine geringere Vorsicht gemessen wird. Bei einem perfekten Informationssystem (F = 1) verschwindet der Knick überhaupt.24 Dies bedeutet aber nun, dass die bedingte Vorsicht – und damit auch die Qualität der Finanzberichterstattung, wenn man sie als solche interpretiert – steigt, wenn die Präzision bzw der Informationsgehalt der Rechnungslegung sinkt. Wenn nur eines der beiden Signale berichtet wird, hängt der Zusammenhang von Marktrenditen und Ergebnisgrößen davon ab, wie die Berichterstattung über das andere Signal und den Zustand ohne Signal erfolgt. Abbildung 4 zeigt zunächst den Fall, dass ungünstige Signale gesondert berichtet werden. Dann bleibt die Erwartungsänderung dafür mit E[x]−E[x|yL ] unverändert. Wird andernfalls φ berichtet, ergibt sich nun eine positive Erwartungsänderung E[x|N L]−E[x], weil das Nichtberichten eines ungünstigen Signals Information enthält, dass entweder kein oder ein positives Signal erhalten wurde. Die empirische Konsequenz ist eine Erhöhung von β2 und damit der gemessenen bedingten Vorsicht. Wird hingegen für beide Zustände yH berichtet, ergibt sich ein konvexer Zusammenhang (in der Abbildung im rechten oberen Quadranten gestrichelt dargestellt),
Vorsichtige Rechnungslegung und Informationsgehalt Abb. 4: Marktpreise und Signale bei nach unten verzerrender Rechnungslegung (f1 = 1, f2 = F ) und Bericht von nur ungünstigen Signalen
1377 Signal yH
xL
E[x|yL]
E[x|NL]
E[x]
Marktpreisänderung
yL
Abb. 5: Marktpreise und Signale bei nach unten verzerrender Rechnungslegung (f1 = 1, f2 = F ) und Bericht nur von günstigen Signalen
Signal yH
xL
E [ x|NH ]
E [x|yH] =xH
E [x]
Marktpreisänderung
yL
was eine unvorsichtige Rechnungslegung bedeutet. Informationsökonomisch sind beide Varianten jedoch identisch, da der Informationsgehalt der beiden Varianten gleich hoch ist. Werden nur günstige Signale in der Rechnungslegung gesondert berichtet, dann bleibt die Erwartungsänderung für günstige Signale in vollem Umfang bestehen. Wird kein günstiges Signal berichtet (NH ), kommt es zu einer geringeren Erwartungsrevision, weil entweder kein oder ein ungünstiges Signal vorliegt. Wie in Abb. 5 gezeigt, führt dies jedoch zu einer Umkehrung des funktionalen Zusammenhangs, wenn sonst φ berichtet wird, obwohl dies dennoch Ausfluss einer vorsichtigen Rechnungslegung sein kann, wenn man an außerplanmäßige Abschreibungen denkt. Wird alternativ yL statt φ berichtet (gestrichelte Linie), kommt es dagegen wieder zu einem konkaven Knick. Diese Ergebnisse sind strukturell unabhängig davon, wie vorsichtig oder unvorsichtig die Rechnungslegung im Sinne einer Verzerrung durch f1 = f2 tatsächlich ist. Die Verzerrung führt nur zu einer Veränderung der Stärke des jeweiligen Knicks im Zusammenhang von Marktrenditen und Ergebnisgrößen, wie dies oben gezeigt wurde. Die asymmetrische Berichterstattung der Signale bestimmt die empirischen Eigenschaften der Rechnungslegung stärker als eine Verzerrung des Informationssystems. Auch eine Veränderung der Wahrscheinlichkeit p, dass ein informatives Signal vorliegt, verschiebt nur E[x|NL] bzw. E[x|NH ], ändert aber nicht die Richtung, weil es immer zu einer Erwartungsänderung kommt, obwohl die Rechnungslegung kein informatives Signal enthält. Die Marktteilneh-
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mer haben rationale Erwartungen und deuten ein Nichtberichten eines Signals strategisch richtig als informativ. Empirisch reduziert eine steigende Wahrscheinlichkeit, dass kein Signal vorliegt, in einer Querschnittsanalyse das Bestimmtheitsmaß R 2 der Regression und wirkt gegen ein Finden signifikanter Koeffizienten. 5 Ökonomische Gründe für verzerrende Rechnungslegung 5.1 Grundsätzliches Das IASB und das FASB sehen in einer neutralen Rechnungslegung ein wesentliches Element einer entscheidungsnützlichen Finanzberichterstattung. Im Lichte der obigen Repräsentation von Vorsicht ist eine neutrale Rechnungslegung ein Spezialfall eines Informationssystems, bei dem die Fehler für günstige und ungünstige Ergebnisse gleich hoch sind (f1 = f2 ). Eine unverzerrte Rechnungslegung bewirkt gleich viele Fehler vom Typ I und II für die Berichterstattung über Ereignisse. Nun haben Fehler vom Typ I und Typ II vermutlich in den meisten ökonomischen Situationen unterschiedliche Konsequenzen. Berücksichtigt man diese Konsequenzen, erscheint die Forderung nach neutraler Rechnungslegung wenig begründbar. Es stellt sich eher die Frage, warum und unter welchen Bedingungen eine verzerrte Rechnungslegung einer neutralen überlegen ist. Und im Fall, dass Vorsicht durch die asymmetrische Berichterstattung nur eines Teils der Signale (unabhängig von deren Verzerrung) entsteht, ist die Frage etwas anders gelagert, aber materiell ähnlich: Warum sollen nur ungünstige Signale (zeitnah) berichtet werden, günstige Signale hingegen nicht?25 Im Folgenden werden beispielhaft einige Modelle diskutiert, die Antworten auf diese Fragen geben. Eine Richtung basiert auf folgender Grundidee: Wenn Nutzer von Rechnungslegungsinformationen beliebige Verträge über deren Verwendung kostenlos vereinbaren und durchsetzen können, ist unverzerrte Information vorteilhaft. Denn jegliche Verzerrung, die von der Rechnungslegung erzeugt wird, kann durch den Vertrag nachgebildet werden. In der Realität sind Verträge allerdings nicht völlig frei vereinbar:26 • Standardisierte Verträge: Beispiele sind Aktien, bei denen die Standardisierung Vorteile für den anonymen Handel auf dem Kapitalmarkt bringt, oder Kreditverträge mit bestimmten einfachen Zahlungsverläufen, die Transaktionskostenvorteile bewirken. • Institutionelle Restriktionen: Beispielsweise können Vorstandsverträge nur befristet abgeschlossen werden. • Beschränkte Haftung der Vertragsparteien: Die existiert z. B. bei Kapitalgesellschaften und bei Managern, weshalb ungünstige Informationen nicht in vollem Umfang genutzt werden können. • Beschränkte Verpflichtungsmöglichkeiten: So lässt sich eine Nachverhandlung oder Auflösung von Verträgen durch die Parteien praktisch nicht ausschließen oder durchsetzen. In solchen Fällen kann eine verzerrte Rechnungslegung einen Freiheitsgrad für die Vertragsgestaltung eröffnen, der die fehlende Flexibilität ganz oder z. T. substituiert. Eine andere Richtung von Erklärungen basiert auf der Identifikation von Situationen, in denen zuviel oder zu präzise Information nachteilig ist. Durch eine Verzerrung kann die
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Information begrenzt oder kanalisiert werden, ebenso kann ihr relativer Informationsgehalt angepasst werden. In einem Marktgleichgewicht wird dies von Kapitalgebern richtig antizipiert und eingepreist, so dass sie im Durchschnitt keinen Nachteil daraus erleiden. 5.2 Managementverträge Informationen aus der Rechnungslegung werden häufig für die Beurteilung von Managern und für deren variable Entlohnung verwendet. Eine verzerrte Rechnungslegung kann hier Vorteile bewirken, weil sie den Informationsgehalt von günstigen und ungünstigen Signalen verändert. Kwon et al. (2001) modellieren einen haftungsbeschränkten Manager, der Anreize für einen hohen Arbeitseinsatz erhalten soll. Die Rechnungslegung liefert eine (ungenaue) Information über den Output, die für die Entlohnung verwendet werden kann. Es wird gezeigt, dass die optimale Rechnungslegung ungünstige Signale mit höherer Wahrscheinlichkeit liefert als es der Wahrscheinlichkeit für einen ungünstigen Output tatsächlich entspricht (im binären Modell wäre dies äquivalent mit f1 = 1). Der Grund liegt in der Haftungsbeschränkung des Managers, die eine Mindestentlohnung definiert. Obwohl ungünstige Signale an sich sehr informativ über die Arbeitsleistung wären, können sie deshalb nicht im gewünschten Umfang für eine (entsprechend niedrige) Entlohnung genutzt werden. Eine vorsichtige Rechnungslegung macht günstige Signale informativer. Diese können somit besser vertraglich genutzt werden, ohne dass ein Nachteil des geringeren Informationsgehalts bei ungünstigen Signalen entsteht. Damit erhöht Vorsicht die Wohlfahrt. Chen et al. (2010) erweitern dieses Modell um die Nutzung der Information auch für unternehmerische Entscheidungen. Dabei sollen dem Manager auch Anreize zur Einholung von möglichst präzisen Informationen gegeben werden. Dies erfordert, dass eher mittlere Signale und nicht Ausreißer auf beiden Seiten belohnt werden. Kombiniert man dies mit den Anreizen zu Arbeitsleistung, ergibt sich nun, dass das Informationssystem unvorsichtig sein muss, wenn es Anreize für beide Aktivitäten liefern soll. Wagenhofer (1996) analysiert ein Agency-Modell mit zwei Aktivitäten des Managers, wobei der Output einer Aktivität weniger präzise messbar ist als der Output der anderen (z. B. Investitionen in materielle und immaterielle Werte). Es zeigt sich, dass es günstig ist, das stärker unsichere Ergebnis „unterzubewerten“, d. h. einen geringeren Gewinn auszuweisen, als es dem Erwartungswert entspricht. Die Unterbewertung hängt vom relativen Risiko der Erfolgsbeiträge und der Risikoeinstellung des Managers ab. Sie entspricht im Ergebnis einem Vorsichtsprinzip, wonach z. B. stärker unsichere Verpflichtungen durch eine über dem Erwartungswert liegende Rückstellung erfasst werden. Mit dieser Verzerrung wird die Allokation der Arbeitsleistung des Managers auf die einzelnen Aktivitäten verbessert. Eine andere Begründung für vorsichtige Rechnungslegung geht davon aus, dass Manager Anreize haben, die Unternehmenslage zu günstig darzustellen, wenn ihre Entlohnung daran gebunden ist. Chen et al. (2007) zeigen, dass eine vorsichtige Rechnungslegung gerade deshalb günstig ist, weil sie den Informationsgehalt ungünstiger Signale reduziert. Obwohl sich dadurch der Informationsgehalt insgesamt vermindert, verringert sich gleich-
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zeitig der Vorteil von Bilanzpolitik, so dass diese in geringerem Umfang erfolgt. Dadurch kann insgesamt ein Vorteil entstehen. Vorsicht wirkt hier gewissermaßen als Ausgleich von Anreizen des Managements, die Unternehmenslage zu günstig darzustellen. Auch wenn rationale Vertragspartner wie auch Kapitalmarktteilnehmer dies berücksichtigen, kann es passieren, dass die Rechnungslegung prima facie ein zu gutes Bild der Unternehmenssituation zeichnet. Möchte ein Standardsetter erreichen, dass trotz solcher Anreize die resultierende Finanzberichterstattung neutral ist, dann wirkt eine nach unten verzerrende, vorsichtige Rechnungslegung in die gewünschte Richtung.27 Eine resultierende neutrale Rechnungslegung wäre z. B. für „naive“ Kapitalmarktteilnehmer wichtig, die funktional fixiert reagieren und Rechnungslegungsinformation gewissermaßen wörtlich interpretieren. Wenn im Prozess der Erstellung der Rechnungslegung und deren Durchsetzung Personengruppen mitwirken, die asymmetrische Nutzenfunktionen aufweisen, ergibt sich ebenfalls eine bestimmte Verzerrung. Beispielsweise kann man davon ausgehen, dass Abschlussprüfer und Enforcement-Institutionen eine asymmetrische Verlustfunktion bei Fehlern der Rechnungslegung aufweisen. Solange nichts Negatives passiert, wird ihre Arbeit als selbstverständlich angenommen und sie haben keinen besonderen Nutzenvorteil. Kommt es aber zu einem „Bilanzskandal“, stehen diese Institutionen auf dem Prüfstand und ihr Nutzen sinkt markant. Daher liegt es im Interesse solcher Gruppen, eine vorsichtige Rechnungslegung zu induzieren.28 Ähnliches gilt für die Durchsetzung von vertraglichen Rechten. So kann im Aktienhandel der Schaden leichter festgestellt und gerichtlich durchgesetzt werden, wenn jemand Aktien zu einem „zu hohen“ Preis gekauft hat, als wenn jemand Aktien zu einem „zu niedrigen“ Preis nicht gekauft hat. Möchte ein Standardsetter Auswirkungen dieser Art korrigieren, müsste er eine unvorsichtige Rechnungslegung vorgeben, um die Tendenz zu mehr Vorsicht auszugleichen. 5.3 Kreditverträge Ein typischer Kreditvertrag beteiligt Gläubiger asymmetrisch am Erfolg des Unternehmens: Bei Erfolg ist die Rückzahlung nach oben begrenzt, bei Misserfolg partizipieren sie jedoch voll am Insolvenzrisiko des Unternehmens. Man könnte deshalb argumentieren, dass Gläubiger ein besonderes Informationsinteresse an negativen Ereignissen haben, weil diese für sie unmittelbar anspruchsrelevant sind.29 Außerdem könnten sie an Wertuntergrenzen von Vermögenswerten stärker interessiert sein als an Durchschnittswerten, weil sie das Verwertungsrisiko von Sicherheiten damit geringer halten. Bei dieser Argumentation ist allerdings unklar, ob Gläubiger dann eher an präzisen Informationen über ungünstige Ergebnisse interessiert sind (dann ist eine Verzerrung nach unten nützlich) oder einen möglichst hohen Informationsgehalt ungünstiger Signale möchten (dann ist eine Verzerrung nach oben nützlich). Einsichten in diese Frage erhält man durch die Spezifizierung der Situation, in der die Information genutzt wird. Gigler et al. (2009) betrachten ein Unternehmen, das in ein riskantes Projekt investiert, welches kreditfinanziert wird. Dabei wird von einem Standardkreditvertrag ausgegangen. Der Kreditgeber hat grundsätzlich Anspruch auf den vereinbarten Rückzahlungsbetrag (einschließlich Zinsen); wenn das Projekt so ungünstig verläuft, dass das Unternehmen diesen Betrag nicht bezahlen kann, wird es insolvent und der Kreditgeber erhält den Ge-
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genstand zur Verwertung. Der Kreditgeber hält rationale Erwartungen und preist diese Unsicherheit entsprechend ein, um im Erwartungswert seine Mindestrendite zu erzielen. Im Laufe der Projektdurchführung erhält das Unternehmen bessere Informationen über den Fortführungswert des Projekts. Das Projekt kann danach abgebrochen und zu einem bestimmten Betrag liquidiert werden. Eine effiziente Liquidationsentscheidung liegt vor, wenn der bedingte Erwartungswert der Weiterverwendung nach Erhalt des Signals niedriger ist als der Liquidationswert. Allerdings besteht diesbezüglich ein Interessenkonflikt zwischen dem Eigentümer und dem Kreditgeber. Der Eigentümer möchte das Projekt unabhängig von der Information immer weiterführen, weil er nur an den Chancen, nicht aber an den Risiken beteiligt ist. Der Kreditgeber möchte das Projekt hingegen zu häufig liquidieren, weil er an den Chancen nur bis zur Höhe des vereinbarten Rückzahlungsbetrags beteiligt ist. Im Kreditvertrag kann neben dem Rückzahlungsbetrag (samt Zinsen) ein Covenant in Abhängigkeit des Rechnungslegungssignals vereinbart werden, der die Liquidationsentscheidung bei Unterschreiten eines Grenzwertes dem Kreditgeber zuweist. Damit kann die effiziente Liquidationsentscheidung induziert werden. Sie hängt aber von den anderen Kreditkonditionen ab, die wiederum von der Verteilung der Überschüsse, aber auch der Signale der Rechnungslegung abhängen. Die Eigenschaften der Rechnungslegung sind von Bedeutung, weil sie die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten günstiger und ungünstiger Signale und damit deren Informationsgehalt verändern. Gigler et al. (2009) zeigen zunächst, dass der optimale Grenzwert des Covenant bei mehr Vorsicht sinkt. Weiter betrachten sie die Kosten von fehlerhaften Liquidationsentscheidungen. Diese entstehen, wenn ein an sich erfolgreiches Projekt dennoch liquidiert wird (Fehler Typ I) oder wenn ein erfolgloses Projekt nicht liquidiert wird (Fehler Typ II). Sie finden, dass die Gesamtkosten bei einer unvorsichtigen Rechnungslegung am geringsten sind. In dieser Situation bedeutet dies, dass es günstig ist, den Informationsgehalt ungünstiger Signale zu erhöhen und nicht zu senken. Dies entspricht der üblichen Argumentation für Vorsicht, wonach Gläubiger eher an ungünstigen Informationen interessiert sind als an günstigen. Es geht hier v. a. um den Informationsgehalt der Signale und weniger um deren Eintrittswahrscheinlichkeit. Dennoch ist das Resultat, dass in Gläubigerbeziehungen vorsichtige Rechnungslegung ungünstig ist, in gewissem Grad überraschend. Daher gibt es einige Folgestudien, die unter etwas geänderten Annahmen Vorteile einer vorsichtigen Rechnungslegung zeigen. Caskey und Hughes (2008) betrachten unsichere Liquidationswerte und führen zusätzliche Entscheidungen des Managers nach Genehmigung des Projekts ein. Dadurch kann vorsichtige Rechnungslegung wieder vorteilhaft werden, weil sie ineffiziente Folgeentscheidungen des Managers vermeidet. Li (2009) führt Kosten von Nachverhandlungen des Kreditvertrags ein und findet, dass vorsichtige Rechnungslegung dann vorteilhaft ist, wenn die Kosten von Nachverhandlungen niedrig sind. 5.4 Kapitalaufnahme Die bisher dargestellten Erklärungen für eine verzerrte Rechnungslegung gehen von nachvertraglicher Nutzung der erhaltenen Informationen aus. Diese werden bei Vertragsab-
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schluss zwar antizipiert, aber die Verwendung der Informationen erfolgt nicht bei der Entscheidung über den Vertragsabschluss selbst, sondern erst nachher. Standardsetter argumentieren jedoch mit der Entscheidungsnützlichkeit von Information für Kapitalgeber, die damit effizientere Ressourcenentscheidungen treffen sollen, und damit mit vorvertraglicher Information.30 Vorvertragliche Informationen analysieren Göx und Wagenhofer (2010). Ein Unternehmen möchte in ein riskantes Investitionsprojekt investieren und benötigt zur Finanzierung externes Kapital. Das Projekt selbst erfordert in der Folge Arbeitseinsatz des Managers und bringt nur bei entsprechendem Arbeitseinsatz einen positiven erwarteten Kapitalwert. Diese Annahme stellt sicher, dass zwischen Manager (als Eigentümer) und Fremdkapitalgeber hinsichtlich der Investition ein Interessenkonflikt besteht. Das Projekt ist nicht so profitabel, dass der Fremdkapitalgeber aus dem Zahlungsüberschuss bei erfolgreichem Projektabschluss alleine seine erforderliche Rendite erwirtschaften könnte. Deshalb verlangt der Fremdkapitalgeber Sicherheiten durch die Verpfändung von Vermögenswerten, die das Unternehmen in seinem Besitz hat. Die Frage ist nun, ob diese Vermögenswerte neutral oder verzerrt bewertet werden sollen. Dabei wird davon ausgegangen, dass nicht a priori hinreichend hohe Sicherheiten vorliegen, weil dann Rechnungslegungsinformationen unnötig wären. Bei einem binären Rechnungslegungssystem, das nur Signale yL und yH berichtet, ist es in dieser Situation optimal, eine möglichst unvorsichtige Rechnungslegung zu verwenden (f1 = F , f2 = 1). Damit werden niedrige Signale maximal informativ, hohe Signale dagegen nur relativ wenig informativ. Der Grund liegt darin, dass mit der Verzerrung der Rechnungslegung der Informationsgehalt des guten Signals gerade so eingestellt wird, dass das Projekt finanziert wird. Gegeben die dafür notwendige Erwartungsänderung wird die Wahrscheinlichkeit maximiert, dass das hohe Signal berichtet wird. Damit wird automatisch der Informationsgehalt des niedrigen Signals maximal gestaltet. Göx und Wagenhofer (2009) betrachten eine ähnliche Situation, gehen jedoch davon aus, dass das Rechnungswesen intern ein Kontinuum an unverzerrten Signalen liefert, dass aber die Rechnungslegung festlegt, welche Signale tatsächlich berichtet werden und welche unbekannt bleiben. Wird das Signal berichtet, kann ein bedingter Erwartungswert des Ergebnisses präzise ermittelt werden. Wird nichts berichtet, verwendet der Kapitalgeber das Wissen, dass es sich offenbar um ein Signal handelt, das nicht direkt berichtet wird, um den Erwartungswert entsprechend – und wegen der niedrigeren Präzision in geringerem Umfang – anzupassen und damit seine Finanzierungsentscheidung zu treffen. Göx und Wagenhofer zeigen, dass das optimale Rechnungslegungssystem nur besonders ungünstige Signale berichtet. Dies ist konsistent mit einer Bewertung zu Anschaffungswerten und außerplanmäßiger Abschreibung bei Vorliegen dauernder Wertminderung (HGB) oder eines Indikators für eine Wertminderung (IFRS). Wiederum zeigt sich, dass eine außerplanmäßige Abschreibung eigentlich Ausfluss einer unvorsichtigen Rechnungslegung ist. Das Ergebnis in Göx und Wagenhofer (2009) widerspricht der ersten Intuition, wonach das Unternehmen einen Anreiz hat, ein Rechnungslegungssystem zu implementieren, das möglichst günstige Signale berichtet. Der Grund liegt darin, dass die Bündelung günstiger Signale durch Nichtberichten die Wahrscheinlichkeit einer Finanzierung maximiert. Die Grenze der Erfassung ungünstiger Signale ergibt sich gerade so, dass der bedingte Erwartungswert bei Nichtberichten so hoch ist, dass das Projekt finanziert wird. Da
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der Kapitalgeber diese Situation kennt und sie einpreist, hat er keinen Nachteil, ganz im Gegenteil: Er maximiert damit sein erwartetes Geschäftsvolumen. Dieses Modell zeigt einen Vorteil aus einer Rechnungslegung auf, die asymmetrisch Signale berichtet.31 Interessant dabei ist, dass der Informationsgehalt ungünstiger Signale sehr hoch ist und deren Eintrittswahrscheinlichkeit – abhängig von der Finanzierungsrestriktion – möglichst gering gehalten wird. Insofern spielen Informationsgehalt und Eintrittswahrscheinlichkeiten zusammen. Im Vergleich mit dem zuvor dargestellten binären Rechnungslegungssystem ist dies eigentlich ein Kennzeichen unvorsichtiger Rechnungslegung, die hier vorsichtig im Sinne der empirischen Konsequenzen wird.
6 Schlussfolgerungen In diesem Beitrag wird vorsichtige Rechnungslegung anhand eines einfachen binären Modells repräsentiert, und es werden ihre Eigenschaften hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Eintretens ungünstiger und günstiger Signale sowie des Informationsgehalts der betreffenden Signale gezeigt. Diese beiden Eigenschaften sind gegenläufig, und dies macht eine Interpretation von Vorsicht, die häufig auf beide Eigenschaften abstellt, z. T. ambivalent. Die Beispiele mit Analysen ökonomischer Wirkungen verzerrter Rechnungslegung ergeben zunächst, dass verzerrte Rechnungslegung praktisch immer günstiger ist als unverzerrte Rechnungslegung. Dies widerspricht der Forderung von IASB und FASB, dass die Rechnungslegung neutral sein soll, um möglichst entscheidungsnützliche Informationen für Kapitalgeber (Investoren, Kreditgeber) zu liefern (IASB 2010, OB2). Des Weiteren sei neutrale Information auch für andere Zwecke der Rechnungslegung sinnvoll. Es wird anerkannt, dass verschiedene Nutzer unterschiedlichen Informationsbedarf haben, doch fokussiert das Framework auf einen gemeinsamen Informationsbedarf (IASB 2010, OB8-10). Hinter dieser Sichtweise steht folgende ökonomische Überlegung: Wenn bestimmte Nutzer eine verzerrte Rechnungslegung für besser geeignet halten, so könnten sie ja die Rechnungslegung in Verträgen entsprechend anpassen. Beispiele für solche Anpassungen gibt es in vielen Bereichen: Gesetzliche Regeln schaffen Anpassungen, z. B. bei Ausschüttungssperren, regulativem Kapital und der Ertragsteuerbemessung; Kreditverträge definieren oft Kennzahlen, welche auf angepassten Jahresabschlussdaten basieren; und die Managementverträge basieren auf internen Leistungsbeurteilungsgrößen, die bestimmte Sachverhalte zusätzlich oder nicht berücksichtigen. Freilich nehmen auch Finanzanalysten oftmals Anpassungen der Jahresabschlüsse vor, wenn sie ihre Beurteilungen und Prognosen vornehmen, wie z. B. indem sie bestimmte ungewöhnliche Posten herausrechnen. In der Kreditanalyse werden bestimmte immaterielle Vermögenswerte (insbesondere Firmenwerte) gegen Eigenkapital eliminiert, was mit einer vorsichtigen Rechnungslegung konsistent ist. Die Anpassung der Rechnungslegung an den jeweiligen spezifischen Zweck im Rahmen von gesetzlichen Regelungen oder Verträgen ist zwar möglich, es bleibt aber die Frage offen, ob die Vertragskosten nicht so hoch sind, dass sie die möglichen Vorteile einer neutralen Rechnungslegung übersteigen.32 Dies ist eine empirische Frage, die bisher noch wenig untersucht wurde.33 Die formalen Studien zeigen zwar, dass neutrale Rechnungslegung oft nicht optimal ist, sie zeigen aber gleichzeitig, dass die Richtung und die Stärke der Verzerrung je nach
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Entscheidungskontext unterschiedlich sind. Insofern lässt sich eine generelle Aussage über die Nützlichkeit vorsichtiger Rechnungslegung nicht treffen. Auch dies ist letztlich eine empirische Frage. Ob man, wie das IASB und das FASB, die nicht eindeutigen Ergebnisse faktisch zur Begründung einer neutralen Rechnungslegung heranziehen kann (IASB 2010, BC3.29), ist jedenfalls zu bezweifeln. Die internationalen Standardsetter IASB und FASB scheinen in vielen Überlegungen einem Bild der Rechnungslegung zu folgen, das auf einer neutralen (richtigen) Abbildung der Lage des Unternehmens beruht, wobei die Konsequenzen der Rechnungslegung auf realwirtschaftliche Entscheidungen ausgeblendet werden. Rechnungslegung hat jedoch nicht nur die Funktion, die realen Vorgänge im Unternehmen im Nachhinein abzubilden, sondern sie beeinflusst Entscheidungen sowohl im Unternehmen als auch von Kapitalgebern. Diese wiederum ändern die realen Werte, die dann in der Rechnungslegung (in bestimmter Weise) abgebildet werden. Eine neutrale Rechnungslegung führt bei Vorliegen von Interessenkonflikten und asymmetrischer Information selten zu besseren Entscheidungen als eine verzerrte Rechnungslegung. Die Forschung kann hier einen Beitrag liefern, indem sie Bedingungen für die Vorteilhaftigkeit verzerrter Rechnungslegung und deren Eigenschaften liefert, die im Standardsetting-Prozess Eingang finden können. Danksagung: Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag an der NRW Akademie der Wissenschaften und der Künste. Für wertvolle Hinweise danke ich zwei Gutachtern, Mag. Marina Ebner, Prof. Dr. Ralf Ewert, Prof. Dr. Robert Göx und Mag. David Windisch.
Anmerkungen 1 IASB Framework, F.37; FASB Conceptual Framework, CON 2.91 ff. 2 Auch das BilMoG reduzierte die Vorsicht in der deutschen Rechnungslegung. 3 Vgl. z. B. Givoly und Hayn (2000); Giner und Rees (2001); García Lara und Mora (2004); Gassen et al. (2006). Siehe auch die Überblicksbeiträge in Ryan (2006); Fülbier et al. (2008). 4 So etwa Barth (2008, S. 1167). 5 Vgl. z. B. Watts (2003a). 6 Beispielsweise sehen Dickhaut et al. (2010), insbes. S. 243 f., eine Parallele von Vorsicht und Gehirnprozessen bei Menschen, weil psychologische und neuerdings auch neuroökonomische Forschung zeigt, dass das Gehirn Gewinne und Verluste in unterschiedlichen Gehirnregionen verarbeitet. 7 Das Basismodell findet sich z. B. in Gigler und Hemmer (2001) oder in Göx und Wagenhofer (2010). Dieses Modell wird hier um das zusätzliche Ereignis erweitert, dass keine Information vorhanden ist. 8 Die Ungleichheitsrelationen gelten nur für Pr(yL ) = 0 bzw Pr(yH ) = 0. Pr(yL ) = 0 oder Pr(yH ) = 0 können nur bei F = 1 auftreten. 9 Vgl. auch Gigler et al. (2009). 10 Gigler et al. (2009, S. 780), nehmen weiter an, dass die Monotone Likelihood Ratio Property gilt, dh ϕx /ϕ steigt in y für gegebenes δ. 11 Vgl. Watts (2003a).
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12 Vgl. z. B. Gigler und Hemmer (2001), Gigler et al. (2009). 13 Vgl. Schneider (1997, S. 105). 14 Vgl. z. B. Wagenhofer (2005). 15 Vgl. bereits Basu (1997), Beaver und Ryan (2005). Bei manchen Bilanzierungs- und Bewertungsregeln können beide Arten von Vorsicht auftreten. Vgl. auch Fülbier et al. (2008, S. 1324 f.) 16 In der kontinuierlichen Struktur mit der Definition von Gigler et al. (2009, S. 785 f.), kann unbedingte Vorsicht jedoch einen gewissen Informationsgehalt haben. 17 Vgl. z. B. Watts (2003b), Fülbier et al. (2008). 18 Vgl. z. B. Dietrich et al. (2007); Givoly et al. (2007); Ryan (2006). Callen et al. (2010) nehmen an, dass die Rechnungslegung wie auch weitere Informationen für die Bildung der Marktpreise Verwendung finden und dass erst beide gemeinsam zu der beobachteten Nichtlinearität des Zusammenhangs von Ergebnissen und Marktrenditen führen. 19 Ball und Shivakumar (2008) finden allerdings, dass Ergebnisinformationen keinen großen Effekt auf Marktrenditen haben. 20 Interessanterweise verwendet Basu (1997, S. 10), wie viele andere nachfolgende Studien, zur Ermittlung der Marktrendite die Preise von neun Monaten vor und drei Monaten nach dem Bilanzstichtag. Der Grund dafür ist, dass die Veröffentlichung des Jahresabschlusses für das Vorjahr nicht in den Zeitraum für die Marktrenditeberechnung fällt. Allerdings fällt damit der Jahresabschluss des betreffenden Untersuchungsjahres in den Zeitraum, und dies ist mit der Annahme, dass sich der Marktpreis ohne die Information der Rechnungslegung bildet, nicht konsistent. Des Weiteren können in den drei ersten Monaten des nächsten Geschäftsjahres wertbegründende Ereignisse stattfinden, die in der Rechnungslegung noch gar nicht berücksichtigt werden dürfen. Die empirischen Ergebnisse sind aber i. d. R. robust gegenüber dem genauen Zeitraum. 21 Gigler et al. (2009), S. 793–796, geben ein ähnliches Beispiel für drei Signale. 22 Guay und Verrecchia (2006) geben ein Beispiel für einen ähnlichen geknickten Verlauf bei Zulassung von Bilanzpolitik. 23 Ein Beispiel ist Ball und Shivakumar (2005). Vgl. zur Messung von Ergebnisqualität z. B. Wagenhofer und Dücker (2007, S. 278 f.). 24 Der Knick verschwindet allgemein dann, wenn die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines ungünstigen Signals derjenigen eines günstigen Signals entspricht, dh Pr(yL ) = Pr(yH ). Dies ist dann der Fall, wenn f1 = 1/2 + qF und f2 = 1/2 + (1 − q)F eine zulässige Lösung ergibt. 25 Vgl. Guay und Verrecchia (2006, S. 151). 26 Vgl. dazu Arya et al. (1998). 27 In den Diskussionen um das Conceptual Framework gewann man öfter den Eindruck, dass das IASB und das FASB solche Aspekte nicht berücksichtigten. Denn dieses berücksichtigt Anreize und deren Gegensteuerung nicht. 28 Vgl. z. B. Antle und Nalebuff (1991). 29 Diese Begründung erfordert die Annahme, dass die Erfassung von Information Kosten verursacht; sonst wäre schwer begründbar, warum nur Verluste, nicht aber auch Gewinne erfasst werden. Vgl. Guay und Verrecchia (2006, S. 156 f.). 30 Eine öfter benutzte Differenzierung in Situationen mit und ohne Vertrag ist nicht zielführend, da alle Ressourcenallokationsentscheidungen letztlich Verträge umfassen.
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31 Demski et al. (2009) zeigen in einem Modell mit adverser Selektion am Markt für Investitionsgüter, dass außerplanmäßige Abschreibungen unter bestimmten Umständen optimal sein können. 32 Ball et al. (2008) zeigen, dass der Grad der Vorsicht mit der Größe des Fremdkapitalmarkts steigt, aber von der Größe des Eigenkapitalmarkts unabhängig ist. Daraus schließen sie, dass Vorsicht eine nachgefragte Eigenschaft der Rechnungslegung für Kreditverträge ist. Dies impliziert, dass die Vertragskosten hoch sind. 33 Beatty et al. (2008) finden, dass Covenants in Kreditverträgen, die bestimmte vorsichtige Anpassungen (sogenannte income escalators) vornehmen, und vorsichtige Rechnungslegung positiv korreliert sind. Daraus ist zu schließen, dass vertragliche Anpassungen alleine nicht effizient sind. Vgl. auch Armstrong et al. (2010) mit einem Überblick.
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Conservative accounting and information content Abstract: This paper contributes to the current and controversial debate about costs and benefits of conservatism in financial reporting. It presents a formalization of conservatism of an information system and shows that, holding precision constant, an increase of the probability of bad signals reduces their information content. This can make the interpretation of bias as conservative or aggressive ambiguous. It has also consequences for the association of market returns and earnings, which is used in empirical estimates of accounting conservatism. The paper discusses several models that show economic benefits of conservatism. Keywords: Conservatism · Neutrality · Financial accounting · Conceptual framework · Objectives of accounting