Von Wallerstein nach Bonn: Joseph Reichas Harmoniemusik, Beethovens Bläseroktett op. 103 und die Frage des Stiltransfers (to appear in: \"Beethoven und andere Hofmusiker seiner Generation\")

May 23, 2017 | Author: Markus Neuwirth | Category: Music History, Beethoven, History of music, 18th Century Music History, Ludwig van Beethoven, Wind Band Music
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Von Wallerstein nach Bonn Joseph Reichas Harmoniemusik, Beethovens Bläseroktett op. 103 und die Frage des Stiltransfers Problemstellung* „Was verlorenging, als sich die Beethoven-Tradition etablierte, ist selten bedacht worden. Die für die erste Periode charakteristische Werkgruppe, in der Beethoven an das Divertimento anknüpfte, besonders an die Kammermusik mit Bläsern, ist aus dem musikalischen Repertoire und dem historischen Gedächtnis des späten 19. Jahrhunderts nahezu restlos verschwunden, ohne daß das Verdikt, das damit gefällt wurde, jemals zureichend gerechtfertigt worden wäre. […] Die Ursachen, warum die Werkgruppe – und zwar als ganze – von der ‚Furie des Verschwindens‘ ergriffen wurde, scheinen vielmehr einerseits in der Entwicklung der musikalischen Institutionen, andererseits in der Dominanz des BeethovenMythos zu liegen.“1

Carl Dahlhaus’ Diagnose, obwohl inzwischen vor mehr als 30 Jahren vorgelegt, hat an Aktualität nur wenig eingebüßt. Die in und für Bonn komponierte Musik für Bläser des jungen Ludwig van Beethoven ist nicht nur aus dem kanonischen Repertoire der Aufführungspraxis verschwunden, sondern hat seit jeher auch Verwunderung in der Forschung hervorgerufen.2 Letzteres beruht zum einen auf der enormen Variabilität in der Besetzung, die den Eindruck eines experimentellen Abtastens der klanglichen Möglichkeitsräume erweckt;3 zum anderen darauf, dass, wie Dahlhaus argumentiert, Beethoven als Komponist der „Serenadenzeit“4, der zweckgebundene Gelegenheitsbzw. Gebrauchsmusik schreibt, so schlecht in Einklang gebracht werden konnte mit dem vielbeschworenen Mythos von Beethoven dem Revolutionär, mit dem also, was Dahlhaus das „romantische Beethovenbild“ nennt.5 Zudem schwingt der nach wie vor

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Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen einer Förderung des „Fonds für wissenschaftliche Forschung – Flandern“ (FWO) entstanden. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, 6), Wiesbaden u.a. 1980, S. 64. Eine vergleichbare Geringschätzung erfuhr auch Mozarts Harmoniemusik, so etwa bei Alfred Einstein, Mozart. Sein Charakter – sein Werk, Frankfurt 1968, S. 218f. Armin Raab, Beethoven und die Harmoniemusik, in: Zur Harmoniemusik und ihrer Geschichte, hg. von Christoph-Hellmut Mahling, Kristina Pfarr und Karl Böhmer (Schloß Engers. Colloquia zur Kammermusik, 2), Mainz 1999, S. 113–124, hier S. 113; Egon Voss, Prima e seconda prattica? Beethovens Musik für Bläser und ihre Position im Gesamtwerk, in: Mf 58 (2005), S. 353–360, hier S. 353. Gerhard Nestler, Geschichte der Musik. Die großen Zeiträume der Musik von den Anfängen bis zur elektronischen Musik, München und Mainz 1962, S. 392–411. Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 1), S. 63. Beethoven selbst hat diesem Bild dadurch Vorschub geleistet, dass er die harmoniemusikalischen Werke später gegenüber Verlegern als zweitrangig abqualifizierte. Zu op. 71 etwa schreibt er an Breitkopf & Härtel in Leipzig: „das Sextett ist von meinen Frühen sachen und noch dazu in einer Nacht geschrieben – man kann wircklich nichts anders dazu sagen, daß es von einem Autor geschrieben ist, der wenigstens einige bessere Werke, hervorgebracht – doch für manche Menschen sind d.G. werke die besten“ (BGA 395).

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bestehende und von der Forschung aufrecht erhaltene Gegensatz zwischen dem Bonner und dem Wiener Beethoven mit. Gerne wird dem Bonner die Eigenständigkeit gegenüber dem Wiener Beethoven abgesprochen; Ersterer erscheint lediglich als unvollkommene Vorform des Letzteren. Dementsprechend ist der frühe Beethoven immer noch ein vernachlässigter Gegenstand, obwohl das wesentliche Faktengerüst dazu seit Alexander Wheelock Thayer im Grunde festzustehen scheint und nachfolgende Studien sich mit Blick auf die Bonner Zeit im Kern auf ihn berufen.6 Dabei hat der Wiener Beethoven dem Bonner nicht nur die (wohl bei Christian Gottlob Neefe und Eulogius Schneider erworbene) musikästhetische Grundhaltung zu verdanken, sondern auch wesentliche kompositorisch-handwerkliche Fähigkeiten, die nicht zuletzt in der Kammermusik für Bläser deutlich zu Tage treten. Es ist gerade dieser stiefmütterlich behandelte Ausschnitt aus seinem Œuvre, der uns ins Zentrum des jungen Beethoven führt. In Beethovens Betätigung auf dem Sektor der Harmoniemusik könnte außerdem der Schlüssel zum Verständnis seines späteren Schaffens liegen, wurde ihm doch bereits um 1800 attestiert, seine 1. Symphonie sei „mehr Harmonie, als ganze Orchestermusik“7 – ein Kritikpunkt, der die zunehmend obligate Verwendung von Blasinstrumenten im Kontext von Orchesterwerken widerspiegelt. Zur reinen Harmoniemusik gehören Beethovens posthum im Druck erschienenes Bläseroktett op. 103 (von Beethoven selbst als „Parthia“ bezeichnet; später umgearbeitet in das Streichquintett op. 4), das Rondino WoO 25, das Fragment gebliebene Quintett Hess 19 sowie das Bläsersextett op. 71 (alle in Es-Dur). Allen Stücken dieser Werkgruppe ist gemeinsam, dass bislang nicht bekannt ist, ob es sich dabei um Auftragswerke handelte oder ob sie aus marktstrategischem Antrieb heraus entstanden sind. Doch woher kam Beethovens Interesse an Harmoniemusik? An welchen Vorbildern und Modellen hat er sich orientiert? Für welche Anlässe und Ensembles komponierte er Harmoniemusik? In diesem Beitrag soll es darum gehen, eine mögliche Quelle von Beethovens Harmonie-Stil in den Blick zu nehmen: die Wallersteiner Harmoniemusik und den Komponisten, der unter dem Verdacht steht, diese nach Bonn importiert zu haben: Joseph Reicha.

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TDR 1–5. Als Studien im Anschluss an Thayers Biographie seien exemplarisch genannt: Paul Bekker, Beethoven, Berlin 1911, S. 1–21; Ludwig Schiedermair, Der junge Beethoven, Leipzig 1925; Dieter Rexroth, Beethoven, München 1982, S. 23–54; Konrad Küster, Beethoven, Stuttgart 1994, S. 13–36; Barry Cooper, Beethoven (The Master Musicians Series), New York 22008, S. 1–43; William Kinderman, Beethoven, Oxford 22009, S. 16–31. AmZ 3 (1800/01), Nr. 3 vom 15. Oktober 1800, Sp. 49.

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Joseph Reicha – „ein herrlicher praktischer Musiker“ aus Wallerstein Wer sich wahlweise mit der Geschichte der Bonner Hofkapelle im ausgehenden 18. Jahrhundert oder mit dem frühen Beethoven eingehender befasst, der dürfte nolens volens wenigstens am Rande auch auf den Namen Joseph Reicha stoßen. Vor allem im Kontext der Beethoven-Biographik wird er zumeist in einem Atemzug mit seinem Neffen und späteren Adoptivsohn Anton Reicha genannt. Es war jener Anton, der aufgrund seiner mutmaßlich engen Freundschaft mit Beethoven sowie seines späteren Renommees als Komponist und Musiktheoretiker einen deutlich höheren Bekanntheitsgrad erlangen sollte.8 Hoffnungen auf detaillierte Ausführungen zum Wirken und zur Bedeutung Joseph Reichas werden in der Regel enttäuscht. Somit bleibt Reicha ein gleichsam „gesichtsloser“ Musiker, dessen Biographie in zeitgenössischen Quellen mitunter sogar mit der seines Neffen vermengt wurde und von dem lediglich eine anonyme, aus dem Wallersteiner Archiv stammende Silhouette überliefert ist.9 Der Mangel an aussagekräftigen Quellen zu Joseph Reicha mag überraschen, denn seine Karriere vor allem als ausführender Musiker, etwas weniger als Komponist, kann durchaus als erfolgreich bezeichnet werden. In beiden Betätigungsfeldern, als Cellovirtuose und als schaffender Musiker, wurde Reicha bereits Ende der 1770er Jahre von Leopold Mozart geadelt, als Reicha sich zusammen mit dem Wallersteiner Violinvirtuosen Anton Janitsch auf Konzertreisen befand und dabei auch in Salzburg Station machte.10 Seinem Sohn Wolfgang, seinerseits auf der Reise nach Paris, berichtete Leopold Mozart in einem Brief vom 29. Januar 1778, Reicha habe, ebenso wie Janitsch, eine „erstaunliche fertigkeit und Richtigkeit des Bogens, sichere Intonation, einen schönen Ton und die gröste Expression“; er sei „ein ganzer Kerl“, der auch das kantable Spiel beherrsche.11 Auch als Komponist vermochte Reicha zu überzeugen: Das von ihm selbst vorgetragene Cellokonzert sei „recht gut“, zeige „neue Gedancken“, und „gefiel auch dem Haydn“.12 Den Eindruck, dass Reicha vor allem durch seine Cellokonzerte auf sich aufmerksam gemacht hat, bestätigte auch Johann Friedrich Reichardt in seiner Musikalischen Monatsschrift: Reicha habe „sich durch seine schönen Violoncell-

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Zu den Reichas siehe auch den Beitrag von John D. Wilson im vorliegenden Band. Günter Grünsteudel, Die Mitglieder der Wallersteiner Hofkapelle in Kurzporträts, 3. Folge: Josef Reicha, in: Rosetti-Forum 3 (2002), S. 73–76, hier S. 73. Zu Janitsch siehe Christ.[ian] Fried.[rich] Dan.[iel] Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hg. von Ludwig Schubart, Wien 1806, S. 168f. MBA, Bd. 2, S. 244. Ebenda, S. 245. Leopold Mozarts Bericht wird durch einen Eintrag im Wienerischen Diarium vom 18. März 1778 bestätigt, auch wenn dieser sich auf einen anderen Konzertabend des Duos bezieht: „Montags den 16. dieses war in dem hiesigen Schauspielhause nächst dem Kärntnerthore für die Musikliebhaber ein grosses Koncert, wobey sich zwey fremde erst kürzlich hier angelangte in hochfürstl. Oettingen Wallersteinischen Diensten stehende Virtuosen, nämlich Herr Janisch [sic] auf der Violine, und Herr Reicha auf dem Violoncell in ganz nach neuen Geschmacke gesetzten Concerten, und Duetten, mit der ihnen eigenen Stärke und Annehmlichkeit meisterhaft hören ließen“ (Wienerisches Diarium, Nr. 22 vom 18. März 1778).

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concerte berühmt gemacht“, spiele „dieß Instrument selbst so vortrefflich“, und sei „überhaupt ein herrlicher praktischer Musiker und sehr guter Orchesteranführer“.13 Die Gründe für die Vernachlässigung von Reichas Leben und Werk scheinen indes auf der Hand zu liegen: Reichas aktive Bonner Zeit beläuft sich wohl auf nicht mehr als fünf Jahre. 1785 quittierte er seinen Dienst in der Wallersteiner Hofkapelle, wo er immerhin die Funktion des Kapellmeisters bekleidet hatte (als Vorgänger von Antonio Rosetti), und kam daraufhin nach Bonn, wo er sofort ebenfalls eine führende Position übernahm – nämlich die des Konzertmeisters bzw. -direktors der Bonner Hofkapelle (in der Nachfolge des abgetretenen Gaetano Mattioli). 1789 schließlich erweiterte er seinen Aktionsradius, als er zum Orchesterdirektor am wiedereröffneten Bonner Hoftheater ernannt wurde. Allerdings konnte Reicha diese Tätigkeit wegen seiner schweren Gicht-Erkrankung nur bis zum Beginn der 1790er Jahre ausüben. Bekanntlich wurde die Hofkapelle wenig später – 1794 – in Folge der Besetzung Bonns durch die französischen Revolutionstruppen aufgelöst; Reicha starb ein Jahr danach. Ein weiterer Grund für die Marginalisierung Reichas in der Musikhistoriographie liegt wohl in einem überlieferungsgeschichtlichen Unglücksfall. Zum einen datiert der ausführliche Bericht über das Bonner Musikleben von Neefe, erschienen in Carl Friedrich Cramers Magazin der Musik, auf 1783, also auf die Zeit vor Reichas Ankunft in Bonn.14 Zum zweiten konnte Reicha, ebenso wie Neefe, an einem Gastspiel der Bonner Hofkapelle in Mergentheim (siehe unten) nicht teilnehmen (wohl aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung) und kommt somit ausgerechnet in einem der ausführlichsten Berichte über die Bonner Hofkapelle im Grunde nicht vor.15 Es scheint, als sei Reicha damit etwas unglücklich durch das Raster der zeitgenössischen Berichterstattung gefallen. Abgesehen von diesen rezeptionsgeschichtlichen Schwierigkeiten drängt sich angesichts der bereits geschilderten Faktenlage zudem die Frage auf, ob Reicha in dem äußerst knappen Zeitraum von ca. fünf Jahren überhaupt nachhaltige Wirkung am Bonner Hof, noch dazu auf den jungen Beethoven, entfalten konnte. Die meines Wissens einzige Quelle, die einen solchen Einfluss Reichas auf den jungen Beethoven geltend zu machen versucht, ist Ludwig Schiedermairs verdienstvolle, wenngleich ideologisch nicht unproblematische Studie Der junge Beethoven, erschienen 1925.16

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Johann Friedrich Reichardt, Nachrichten von merkwürdigen Tonkünstlern, in: Musikalische Monatsschrift 1792, S. 56. [Christian Gottlob Neefe], Nachricht von der churfürstlich-cöllnischen Hofcapelle zu Bonn und andern Tonkünstlern daselbst, in: Magazin der Musik, hg. von Carl Friedrich Cramer, 1 (1783), S. 377–396. Junker schreibt hierzu explizit, dass „die Herrn Neefe und Reicha fehlten“ (C.[arl] L.[udwig] Junker, Noch etwas vom Kurköllnischen Orchester. Beschluß, in: Musikalische Korrespondenz der teutschen Filharmonischen Gesellschaft für das Jahr 1791, Nr. 48 vom 30. November 1791, Sp. 379–382, hier Sp. 381). Schiedermair, Der junge Beethoven (wie Anm. 6). Die Anpassungen von Schiedermairs Darstellung in Abhängigkeit von den politischen Umständen verdeutlicht Christine Siegert, Musikhistorische Positionen Ludwig Schiedermairs zwischen 1925 und 1950, in: Musikwissenschaft im Rheinland um 1930. Bericht über die Tagung der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte in Köln, September 2007, hg. von Klaus Pietschmann und Robert von Zahn in Verbindung mit Wolfram Ferber und Norbert Jers (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 171), Kassel 2012, S. 194–207. Schiedermairs Bezugnahme auf Wallerstein

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Schiedermair behauptet insbesondere einen Einfluss von Reichas Parthien und seiner Es-Dur-Symphonie auf Beethovens Bläseroktett op. 103, sowohl auf der Ebene des motivischen Materials und der Form als auch auf der Ebene des Klangkolorits. Er schreibt: „Neben Mozart kommt auch Reicha wieder in Sicht. Das abspringende, durch die verschiedenen Stimmen wandernde Oktavenmotiv in Reichas Es-dur-Sinfonie [gemeint ist die Symphonie Es1, komponiert ca. 1784] stand wohl beim Menuett des Oktetts Pate: […] Vor allem dürften die Viersätzigkeit mit Menuett und Schlußrondo sowie die sinfonische Anlage einzelner Sätze, die für Reicha bezeichnend sind, auf die Gestaltung des Oktetts Einfluß ausgeübt haben. Und für den Bläserklang und die Bläserbehandlung boten Reichas Partiten zudem treffliche Vorlagen.“ 17

Erstaunlicherweise wurde Schiedermairs These in der Folge von der Forschung nicht mehr explizit aufgegriffen, also weder bestätigt noch widerlegt. Im MGG-Artikel sowie im New-Grove-Eintrag zu Reicha etwa, beide verfasst von Claus Reinländer, wird Schiedermairs These lediglich zitiert, nicht aber kritisch gewürdigt.18 Doch auf welche Befunde beruft sich Schiedermair, und wie ist seine Argumentation vor dem Hintergrund neuerer quellenkundlicher Evidenz zu bewerten? Schiedermair ging noch davon aus, Reichas Bläserparthien seien wenigstens zum Teil in Bonn entstanden – eine Annahme, die inzwischen von Reinländer, auch Verfasser des Reicha-Werkverzeichnisses, mit gutem Grund bestritten wird: Von den zwölf im Autograph überlieferten Parthien weisen fünf eine Datierung auf, die in Reichas Wallersteiner Phase fällt. Weitere Datierungen leitet Reinländer aus Gemeinsamkeiten ab, die undatierte und datierte Werke hinsichtlich vergleichsweise ungewöhnlicher Besetzungsvarianten aufweisen. 19 Somit kommt Reinländer zu dem Schluss, dass alle zwölf Bläserparthien wohl mit ziemlicher Sicherheit während Reichas Wallersteiner Zeit geschrieben wurden, nämlich zwischen 1780 und 1785.20

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verdankt sich offenkundig einer intensiven Auseinandersetzung mit der Hofkapelle, dokumentiert in Ludwig Schiedermair, Die Blütezeit der Öttingen-Wallerstein’schen Hofkapelle. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Adelskapellen, in: SIMG 9 (1907–08), S. 83–130. Ludwig Schiedermair, Der junge Beethoven, Bonn 31951, S. 306f. (zu Beethovens Bläseroktett op. 103). Siehe außerdem ebenda, S. 117f.: „Neben seinen in den 90er Jahren und später gedruckten großen sinfonischen Instrumentalwerken und den zahlreichen, ein nicht geringes Maß von Virtuosität verlangenden Cellostücken sichern ihm seine teilweise [sic] schon in Wallerstein geschriebenen ‚Parthien‘, die Quintette, Sextette und Oktette für Bläser, einen Platz in der Divertimento- und Serenadenmusik des 18. Jahrhunderts und lassen schon in ihrer Klangfreudigkeit, den Kontrastbildungen, der gegensätzlichen Verwendung und Verbindung terzverwandter Tonarten eine eigene Wegrichtung erkennen. […] Eine nähere Bekanntschaft mit dem jungen Beethoven wird dann zustande gekommen sein, als sich sein Neffe Anton Reicha und der junge Beethoven enger aneinander anschlossen.“ Claus Reinländer, Reicha, Josef, in: MGG2, P 13, Sp. 1452f.; Ders., Reicha, Josef, in: Grove Music Online, hg. von Laura Macy (http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/23094, 23. Mai 2016). Generell kann die Besetzungsfluktuation als hilfreicher Indikator für Datierungsfragen genutzt werden. Claus Reinländer, Josef Reicha. Thematisch-systematisches Werkverzeichnis, Puchheim 1992, S. 5f.

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Damit bliebe immerhin die Möglichkeit bestehen, Reicha hätte Manuskripte seiner Parthien nach Bonn mitgebracht – wodurch gewissermaßen ein Stiltransfer sowohl über die Person als auch über den materialen Träger erfolgt sein könnte. Dass es zu einem solchen Musikalien-Transfer gekommen ist, hält Reinländer allerdings für unwahrscheinlich, basierend auf dem Argument, dass die Parthien dann wohl bei Nikolaus Simrock im Druck erschienen wären, wie es bei zahlreichen anderen Kompositionen Reichas (etwa den Symphonien, Solokonzerten und Duetten für Violine und Cello) tatsächlich der Fall war.21 Die Tatsache, dass Reichas Harmoniemusik, anders als etwa die Parthien Mozarts oder Leopold Koxeluhs, nicht in Simrocks Catalogue de musique von 1851 aufgelistet ist, scheint der Behauptung eines etwaigen Einflusses Reichas auf Beethoven jegliche quellenkundliche Grundlage zu entziehen. Allerdings relativiert sich Reinländers Argumentation, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Harmoniemusik als nicht-öffentlicher, auf die Bedürfnisse des Adels abgestimmter Musiktypus im 18. Jahrhundert überhaupt nur in seltenen Fällen im Druck erschienen ist. Was Reinländer für Reicha konstatiert, trifft gleichermaßen auf Rosetti, Paul Wineberger und viele andere (Wallersteiner) Komponisten von Harmoniemusik zu. Zudem mutmaßt Günther Grünsteudel für die Wallersteiner Hofbibliothek, manche Lücken im Bestand ließen sich dadurch plausibel erklären, dass Musiker Aufführungsmaterial immer wieder ausgeliehen beziehungsweise bei ihrem Weggang schlicht mitgenommen hätten.22 Wenn auch dies mit Blick auf Reichas Harmoniemusik völlig spekulativ ist, muss es als prinzipielle Möglichkeit dennoch in Betracht gezogen werden.

Die Wallersteiner Harmoniemusik und die Grenzen des Stiltransfers Die Wallersteiner Hofkapelle, der Reicha seit 1774 angehörte, darf dank der verdienstvollen Arbeiten von Sterling Murray und Günther Grünsteudel als relativ gut erforscht gelten.23 Fest steht, dass es sich bei der Wallersteiner Hofkapelle um ein Orchester mitt-

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Ebenda, S. 6. Bei Simrock gedruckt wurden laut dem Verlagskatalog von 1851 folgende Werke Reichas (die Beethoven gekannt haben könnte): Sinphonia ex D, Erstausgabe: op. 5, Nr. 1 (Entstehungszeit: 1784); Sinfonia ex Es, Erstausgabe: op. 5, Nr. 2 (Entstehungszeit: 1784); Simphonie a Grande Orchestre, Erstausgabe: op. 5, Nr. 3 (Erstausgabe: 1784); Solokonzerte (einige 1799 erschienen, eines 1795, eines 1803); Duette für Violine und Cello (einige 1795, einige 1802). Während der französischen Besatzung in Bonn konnte Simrock seine Verlagstätigkeit unvermindert weiterführen. Vgl. Günther Grünsteudel, Wallerstein – Das „Schwäbische Mannheim“. Zur Geschichte der Wallersteiner Hofkapelle, in: Rosetti-Forum 2 (2001), S. 19–28. Sterling E. Murray, „Grande Partitas with passages and minuets“: Antonio Rosetti and Harmoniemusik in the Oettingen-Wallerstein Hofkapelle, in: Zur Harmoniemusik und ihrer Geschichte (wie Anm. 3), S. 31– 72; Ders., The Career of an Eighteenth-Century Kapellmeister: The Life and Music of Antonio Rosetti (ca. 1750–1792), Rochester, NY, 2014; sowie Grünsteudel, Wallerstein – Das „Schwäbische Mannheim“ (wie Anm. 22).

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lerer Größe handelte, das um die Zeit von Reichas Eintritt ca. 20–25 Musiker umfasste, darunter ein hoher Anteil an böhmischen Musikern;24 das Durchschnittsalter lag unter 25 Jahren. Wie die Musikalische Real-Zeitung von 1788 berichtet, sind „[d]ie wenigsten Glieder dieser Kapelle […] eigentlich besoldete Musiker; die meisten sind blos Bediente, dennoch sind sie sehr gut zu einander gewöhnt.“25 Die geringe Anzahl an Berufsmusikern beziehungsweise die Einbeziehung von Bediensteten in die Hofkapelle darf als zeittypisch gelten. Eine Besonderheit des Wallersteiner Orchesters, die die Zeitgenossen nicht müde wurden hervorzuheben, lag in seiner hohen Leistungsfähigkeit, insbesondere bezüglich des sogenannten „musikalische[n] Colorit[s]“. Schubart etwa schreibt: „Zum Ruhme des Wallersteinschen Orchesters verdient noch angemerkt zu werden, dass hier das musikalische Colorit viel genauer bestimmt worden ist, als in irgend einem andern Orchester. Die feinsten und oft unmerklichsten Abstufungen des Tons hat besonders Rosetti oft mit pedantischer Gewissenhaftigkeit angemerkt.“ 26

Als weiterer Beleg für den Leistungsstand der Kapelle mag auch die Präzision angeführt werden, mit der die Symphonien Joseph Haydns vorgetragen wurden: „Nur mit Enthusiasmus pflegte der verstorbene Wineberger von dieser Kapelle zu reden. Joseph Haydn sagte von ihr, sie spiele prima vista seine Symphonieen fester und präciser, als seine eigene Kapelle nach mehrfachen Proben. Nach Wallerstein sandte Haydn im eigenhändigen Manuscript seine unsterblichen Symphonieen gleich nach deren Ausarbeitung.“27

Neben Reicha verdienen hier drei Mitglieder der Hofkapelle besonders hervorgehoben zu werden. Die zentrale Figur der Hofkapelle, das „Haupt dieses Orchesters“,28 war ohne Zweifel Ignaz von Beecke, der international gut vernetzte Intendant der Hofmusik, dessen Kernaufgabe darin bestand, im Zuge einer ausgiebigen Reisetätigkeit führende Sängerinnen und Sänger sowie Instrumentalisten für die Hofkapelle zu gewinnen.29 Friedrich Munter nennt ihn gar den „eigentliche[n] ‚spiritus rector‘ des Wallersteiner Musiklebens“.30 Doch nicht nur als Organisator, sondern auch als Komponist zeigte sich von Beecke außerordentlich produktiv: Er schrieb 17 Streichquartette, 33 Symphonien sowie zahlreiche Werke für Klavier. Schubart bezeichnet von Beecke

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Vgl. Katsuaki Ichikawa, Harmoniemusik am Hof von Oettingen-Wallerstein, in: Zur Geschichte und Aufführungspraxis der Harmoniemusik, hg. von Boje E. Hans Schmuhl und Ute Omonsky (Michaelsteiner Konferenzberichte, 71), Augsburg 2006, S. 219–235, hier S. 219. Nachricht von der Fürstl. Wallersteinischen Hofkapelle, in: Musikalische Real-Zeitung für das Jahr 1788, Nr. 7 vom 13. August 1788, Sp. 52f., hier Sp. 53. Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (wie Anm. 10), S. 169. Allerdings bezieht sich „Colorit“ hier nur auf die Vortragsweise, nicht auf die Instrumentation bzw. Klangfarbe. Paul Wineberger. Eine biographische Skizze. (Nachtrag zu Gerber’s Tonkünstlerlexikon.), in: Abend-Zeitung, Dresden 1822, Nr. 92 vom 17. April 1822, S. 365–367, hier S. 367. Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (wie Anm. 10), S. 166. Friedrich Munter, Ignaz von Beecke (1733–1803) und seine Instrumentalkompositionen, in: ZfMw 4 (1921/22), S. 586–603. Ebenda, S. 587.

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als einen der „besten Flügelspieler“; er habe „im Clavier eine Schule gebildet, die man die Beekische nennt.“31 Der sowohl zu seiner Zeit als auch wirkungsgeschichtlich bedeutendste Komponist, gewissermaßen der Star der Kapelle, war der Böhme Antonio Rosetti, der ab Juli 1774 als Kontrabassist (bzw. Violone-Spieler), ab 1785 als „Kapellmeister“32 geführt wird und auf dem Gebiet der Instrumentalmusik vor allem durch gewichtige Beiträge zur Symphonik auf sich aufmerksam machte.33 Er schrieb zahlreiche (ca. 40) Symphonien, die in den 1780er Jahren unter anderem zusammen mit den Symphonien Haydns auf den Programmen der Pariser und Londoner Konzertreihen standen. Eine mit Blick auf London vorläufige Repertoire-Rekonstruktion zeigt, dass Rosetti im Jahr 1789 – wenigstens quantitativ – der Hauptkonkurrent Haydns war.34 Rosetti war also gleichsam das internationale Aushängeschild, dessen Glanz auch auf den kunstliebenden Fürsten abfärbte. Im Vergleich mit Rosetti weitaus weniger bekannt ist der gebürtige Mergentheimer Paul Win(n)eberger, der nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Mannheim 1780 in die Wallersteiner Hofkapelle eintrat, wo er zunächst als Cellist fungierte. Für unser Erkenntnisinteresse ist er deswegen von besonderem Belang, da er ab ca. 1785 zudem als „Direktor und Kompositeur“ für die „Fürstl.[iche] Jagd- und Tafelmusik“35 verantwortlich zeichnete – also für das 1780 neu gegründete Harmonie-Ensemble.36 Die Tatsache, dass dieses Ereignis der Gründung der „Kaiserlichen Harmonie“ in Wien (1. April 1782) knapp vorausging, die im Übrigen ihrerseits durch die Harmonie des Fürsten Schwarzenberg angeregt wurde, mag als Indiz für den vielbeschworenen avancierten Kunstgeschmack des Wallersteiner Fürsten Kraft Ernst gewertet werden.37 Die Haltung eines eigenen Harmonie-Ensembles war für die Adeligen der Zeit eine Art Statussymbol, das darüber hinaus kostengünstiger ausfiel als die Finanzierung einer vollständigen Kapelle. Worin zeichnete sich nun die Wallersteiner Harmoniemusik mit Blick auf Besetzung, Repertoire und musikalische Form aus?38 Zunächst zur Besetzung. Mit der Verpflichtung von drei exzellenten Hornisten – Gottfried Klier, Joseph Nagel und Franz Zwierzina – im Jahr 1780 ergab sich die folgende Harmoniebesetzung: zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei (zuweilen drei) Hörner, ein Fagott. Speziell für dieses Ensemble schrieb Rosetti umgehend drei Parthien in D-Dur und setzte damit Maßstäbe, an

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Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (wie Anm. 10), S. 166. Nachricht von der Fürstl. Wallersteinischen Hofkapelle (wie Anm. 25), Sp. 53. Schubart nennt ihn einen „der beliebtesten Tonsetzer unserer Zeit“ (Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, wie Anm. 10, S. 167). Rosetti trat 1789 mit 16 Aufführungen symphonischer Werke in Erscheinung, Haydn mit 33. Die Daten beruhen auf dem unter Simon McVeigh durchgeführten Forschungsprojekt „Calendar of London Concerts 1750-1800“, zugänglich unter http://research.gold.ac.uk/10342/ (24. Dezember 2016). Nachricht von der Fürstl. Wallersteinischen Hofkapelle (wie Anm. 25), Sp. 53. Dieses Ensemble war nach einer ca. vierjährigen Krise der Wallersteiner Hofmusik, die nach dem Tod der Gemahlin von Kraft Ernst entstanden war, ins Leben gerufen worden. Vor 1782 spielte die Harmoniemusik in Wien eine sehr geringe Rolle. In Wallerstein wurde die Harmoniemusik fast ausnahmslos mit „Parthia“ bezeichnet (wie auch Beethovens op. 103).

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denen sich nachfolgende Kompositionsversuche zu orientieren und zu messen hatten. Insgesamt hat Rosetti rund 20 Werke für Bläserensembles mit wechselnder Besetzung komponiert; etwas mehr als die Hälfte davon ist im Manuskript in der Wallersteiner Bibliothek bewahrt. Vor allem zu Beginn der 1780er Jahre, also zu der Zeit, als Rosetti sich anlässlich der Aufführung einiger seiner Symphonien in Paris aufhielt, steuerten Wineberger und Reicha die Harmoniemusik bei. Wineberger, der ab 1785 schon von Amts wegen verpflichtet war, sich verstärkt um die Harmoniemusik zu bemühen, erbrachte mit mehr als 20 Parthien den Löwenanteil, gefolgt von Rosetti und Johann Georg Feldmayr (ebenfalls 2039), und schließlich Reicha mit den besagten zwölf Parthien; Intendant von Beecke lieferte zwei Beiträge (einer davon ein Arrangement). Es ist hier der Ort, um auf einige Spezifika der Wallersteiner Harmoniemusik aufmerksam zu machen, die im Vergleich zu Harmoniemusiken an anderen Höfen ins Auge stechen. Einige dieser Spezifika dürften eine simple Übertragung auf andere lokale Kontexte und damit überhaupt einen wie auch immer gearteten Stiltransfer erschwert haben. Mit Blick auf die Besetzung wäre zunächst zu nennen, dass die allgemein für Harmoniemusik notorische strukturelle Schwäche des Basses umso mehr für das Wallersteiner Ensemble galt, das bis 1785 nur einen einzigen Fagottisten in seinen Reihen hatte. Dass dieser Zustand durchaus als defizitär empfunden worden sein mag, geht unter anderem aus einem Brief Anton Stadlers an Ignaz von Beecke vom 6. November 1781 hervor. Darin schreibt Stadler: „Wir haben vernohmen, dass in Wallerstein ein guter Fagottist gesucht wird, die ganze Palfysche Musik [gemeint ist die Kapelle des Fürsten Karl Josef Hieronymus Pálffy von Erdöd] ist nu mehro abgedankt, und der Grüssbacher welcher eben da der erste war, wird, wenn er Ihnen anders anständig wäre mit Vergnügen hinauf gehen, die zwey Waldhornisten kennen Ihn genau, und er könnte auch allenfals bey einem von Euer Wohlgebohren hiesigen Freunden wegen seiner Virtu geprüfet werden.“ 40

Dieser Brief, den Stadler auch im Namen seines jüngeren Bruders Johann und des Fagottisten Johann Griessbacher verfasste, wirbt für den nach Auflösung der Kapelle von Fürst Pálffy arbeitslos gewordenen Fagottisten Griessbacher als geeigneten Kandidaten für die vakante Fagottisten-Stelle in Wallerstein. Stadlers Gesuch wurde, warum auch immer, nicht entsprochen. Zunächst versuchte man, die Bass-Funktion gemäß einer auch an anderen Höfen verbreiteten Konvention von dem Violone ausüben zu lassen – ein Part, den wohl Rosetti übernommen haben dürfte. Erst 1784 stand mit der Anstellung von Franz Meisriemel auch ein zweites Fagott zu Verfügung, was nun dem ersten Fagott die Freiheit einräumte, mitunter konzertant in Erscheinung zu treten. Der Violone wurde dabei allerdings weiterhin verwendet, zur Verdoppelung des zweiten Fagotts.

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Mindestens acht Parthien hat Feldmayr nach Rosettis Weggang aus Wallerstein komponiert. Zitiert nach Pamela L. Poulin, A Little-Known Letter of Anton Stadler, in: ML 69 (1988), S. 49–56, hier S. 52, Anm. 18.

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Neben dem Kuriosum eines einzelnen Fagotts sticht auch die Einbeziehung von Flöten in das Harmonie-Ensemble als geradezu einzigartig ins Auge. In Harmonien anderer europäischer Höfe wurden Flöten, die als Liebhaberinstrumente verstanden wurden, weitestgehend gemieden.41 Die Verwendung von Flöten, die in Wallerstein von den Gebrüdern Ernst gespielt wurden, bot die Möglichkeit einer weiteren Melodiestimme und zugleich der klanglichen Schattierung, wovon Reicha und Rosetti in ihren Parthien zur Genüge Gebrauch machten. Eine weitere Auffälligkeit liegt in der Verwendung von A-Klarinetten – ebenfalls eine Praxis, die für eine Übertragung des Wallersteiner Repertoires auf andere Musikzentren, wo B-Klarinetten ungleich gängiger waren, keineswegs förderlich gewesen sein kann (die modellbildende Kaiserliche Harmonie etwa mied die Verwendung von A-Klarinetten; man präferierte B-Tonarten). Die gemessen am Wiener Oktett-Standard außergewöhnlichen Besetzungsvarianten, die in Wallerstein ebenso wie andernorts stark von der zum Teil zufälligen Verfügbarkeit von geeigneten Musikern abhing, bezogen also neben zwei Flöten zuweilen drei statt der üblichen zwei Hörner sowie eines statt der üblichen zwei Fagotte mit ein. 42 Nach 1784 umfasste das Wallersteiner Harmonie-Ensemble in aller Regel nicht weniger als elf bis zwölf Musiker. Dies macht deutlich, dass die berühmte, immer wieder gerne abgedruckte Silhouette der Wallersteiner Harmonie von ca. 1783 mit ihren neun Bläsern plus Streichbass eben gerade nicht als repräsentativ für eine allgemein (das heißt auch andernorts) verbreitete Musizierpraxis angesehen werden kann.43 Mit anderen Worten, die Wallersteiner Verhältnisse waren nicht ohne Probleme auf andere Höfe übertragbar, was einen Stiltransfer erheblich erschwert haben mag. Ein weiteres Spezifikum der Wallersteiner Harmoniemusik ist mit Blick auf das gespielte Repertoire zu konstatieren, denn dort folgte man nicht dem allgemeinen, von Wien ausgehenden Trend, sich lediglich auf das Arrangement präexistenter Opernmusik zu beschränken, sondern schuf und spielte fast ausschließlich Originalkompositionen. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass es in Wallerstein – anders als etwa in Mannheim, womit Wallerstein zuweilen verglichen wird44 –

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Dass kammermusikalische Werke für Bläser „nahezu ausschließlich von Berufsmusikern gespielt wurden“, legt Dörte Schmidt nahe (Dörte Schmidt, Kammermusik mit Bläsern und der Umbau des Gattungssystems, in: Beethoven-Handbuch, hg. von Sven Hiemke, Kassel 2009, S. 495–545, hier S. 501; zur sozialen Stellung der Flöte im Besonderen siehe S. 502). Zu den Ausnahmen zählt Joseph Triebensees Harmoniemusik in Wien, vgl. Thomas Krümpelmann, Joseph Triebensees Harmoniemusiken. Überlegungen zu ihrem Funktionszusammenhang, in: Zur Geschichte und Aufführungspraxis der Harmoniemusik (wie Anm. 24), S. 149– 165. Dies zeigt sich etwa auch am Beispiel des Harmonie-Ensembles des Fürsten Schwarzenberg in Wien, das Englischhörner anstelle von Klarinetten aufwies, eine für Wien höchst außergewöhnliche Besetzung. Diese Besonderheit verdankt sich dem Umstand, dass die Brüder Teimer (Johann, Franz und Philipp) Virtuosen sowohl auf dem Englischhorn als auch auf der Oboe waren. Nicht weniger als 14 Trios für zwei Oboen und Englischhorn wurden deswegen komponiert, u.a. auch Beethovens C-Dur-Trio op. 87. Zur Datierung der Silhouette, siehe Murray, „Grande Partitas with passages and minuets“ (wie Anm. 23), S. 44, Anm. 31. So etwa Grünsteudel, Wallerstein – Das „Schwäbische Mannheim“ (wie Anm. 22).

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eben keinen Opernbetrieb gab und offensichtlich bewusst darauf verzichtet wurde, diesen Mangel durch Bearbeitungen populärer Opernmusik zu kompensieren. Lediglich sechs Transkriptionen sind in der Wallersteiner Musikaliensammlung zu finden, nur zwei davon stammen von örtlichen Komponisten. Umgekehrt war Musik von Komponisten anderer Zentren – mit Ausnahme von Haydn – so gut wie nicht präsent. In der Musikalischen Real-Zeitung heißt es treffend, die Kapelle sei „hauptsächlich auf vier Tonsezer eingespielt […], nämlich auf Haydn, Rosetti, der nach Haydn sich bildet, Beeke, und den iezigen Hofkonzertmeister zu Bonn, Reicha.“45 Weiterhin charakteristisch für Wallerstein war mit Blick auf die Form die viersätzige Anlage (obwohl es auch suitenähnliche Harmoniemusik mit mehr als vier Sätzen gab, so etwa drei Parthien Rosettis), wobei sich die formale Anlage nicht grundsätzlich von der in den Wallersteiner Symphonien unterschied. Diese Konvention scheint von Rosetti etabliert und von Reicha in der Folge aufgegriffen worden zu sein. Generell lässt sich in der Wallersteiner Harmoniemusik ein gesteigerter symphonischer Anspruch ausmachen, also das, was Ignaz von Beecke in einem Brief vom 3. August 1790 „grande partita“ nennt.46 Man mag in dieser stilistischen Besonderheit einen Widerspruch sehen zu einem eher anspruchslosen, auf Zerstreuung ausgerichteten Hör-Modus, wie er im Kontext der Tafel für gewöhnlich kultiviert wurde, und somit eine weitere Hürde für einen einfachen Stiltransfer. Eine Art Testfall für die Frage nach einem von Wallerstein ausgehenden Musikalien-Transfer ist die Beziehung zwischen Wallerstein und Donaueschingen. Hierzu existieren – anders als in anderen Fällen – belastbare Befunde. Felix Loy konnte zeigen, dass von den in Donaueschingen vorhandenen Harmoniemusiken (134 Originalwerke und 42 Bearbeitungen) die überwiegende Mehrheit auf Wiener Quellen zurückzuführen ist; deutlich weniger kamen – trotz der örtlichen Nähe – aus Wallerstein.47 Dieser Befund kann als klarer Beleg für die These gewertet werden, dass die Wallersteiner Idiosynkrasien vor allem bezüglich Besetzung und Form für einen Musikalienund Stiltransfer wenig förderlich gewesen sind. Dennoch umfasst die wenige Harmoniemusik, die tatsächlich von Wallerstein an den Fürstenbergischen Hof gelangt ist, u.a. zehn Parthien von Rosetti sowie drei Parthien von Feldmayr.

Die Bonner Harmoniemusik Wir verlassen nun Wallerstein und begleiten Reicha zusammen mit Adoptivsohn Anton auf dem Weg nach Bonn. Über die Gründe, weshalb Reicha die Wallersteiner

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Nachricht von der Fürstl. Wallersteinischen Hofkapelle (wie Anm. 25), Sp. 52. Siehe Murray, „Grande Partitas with passages and minuets“ (wie Anm. 23), S. 36. Felix Loy, Harmoniemusik in der Fürstenbergischen Hofkapelle zu Donaueschingen, Diss. Universität Tübingen 2011, S. 126.

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Hofkapelle im Jahr 1785 verließ, kann lediglich spekuliert werden. Dass dies aus finanziellen Motiven heraus geschah, wie etwa vier Jahre später bei Rosetti, der eine wesentlich höher dotierte Kapellmeisterstelle in Ludwigslust übernahm, darf bezweifelt werden, denn Reicha wurde in Wallerstein weitaus großzügiger entlohnt als viele seiner Kollegen.48 Überliefert ist in jedem Fall, dass sich Maximilian Franz und Reicha bereits zuvor in Wien begegnet waren,49 vermutlich als Reicha im März 1778 im Rahmen eines Konzerts der Tonkünstler-Societät zusammen mit Janitsch einen Konzertabend gestaltete. Als Mattioli abdanken musste, war die Stelle eines Konzertmeisters vakant geworden (Andrea Luchesi blieb weiterhin Kapellmeister).50 Wie wir aus einem vielzitierten Bericht von Reichardt wissen, unterhielt Maximilian Franz 1783, damals noch Erzherzog in Wien, genau wie sein älterer Bruder Joseph II. ein eigenes, wohl neunköpfiges Harmonie-Ensemble,51 eine Praxis, die der Kurfürst Maximilian Franz in Bonn nachweislich weiterpflegte. Auch die Musikalien hat Max Franz aus Wien nach Bonn mitgebracht; die Musiker sicherlich nicht.52 Allerdings sind wir bedauerlicherweise über die Bonner Harmoniemusik weitaus weniger gut unterrichtet als über die Wallersteiner. Die zentrale, immer wieder angeführte Quelle ist Carl Ludwig Junkers Bericht Noch etwas vom Kurköllnischen Orchester anlässlich des Mergentheimer Aufenthalts der Hofkapelle, erschienen 1791 in Boßlers Musikalischer Korrespondenz. Darin hebt Junker, der als ausgesprochener Kenner des Mannheimer Hoforchesters wusste, wovon er sprach, die hohe Qualität der Bonner Hofmusik im Allgemeinen und des Harmonie-Ensembles im Besonderen klar hervor: „Gleich am ersten Tage hörte ich Tafelmusik, die, so lange der Kurfürst in Mergentheim sich aufhält, alle Tage spielt. Sie ist besezt mit 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotts, 2 Hörner. Man kann diese 8 Spieler mit Recht Meister in ihrer Kunst nennen. Selten wird man eine Musik von der Art finden, die so gut zusammenstimmt, so gut sich versteht, und besonders im Tragen des Tons einen so hohen Grad von Wahrheit und Vollkommenheit erreicht hätte, als diese. Auch dadurch schien sie sich mir von ähnlichen Tafelmusiken zu unterscheiden,

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Vgl. Grünsteudel, Die Mitglieder der Wallersteiner Hofkapelle (wie Anm. 9), S. 74. Allerdings bezog Reicha, wie Grünsteudel feststellt, während seiner gesamten Wallersteiner Zeit mit 576 Gulden annähernd dasselbe Gehalt. Generell kann konstatiert werden, dass die angespannte Finanzsituation an einem kleinen Hof wie Wallerstein und die entsprechend niedrigen Gehälter für das Hofpersonal eine hohe Fluktuation in der Personalbesetzung der Hofkapelle zur Folge hatten. Vgl. J.[acques]-G.[abriel] Prod’homme, From the Unpublished Autobiography of Antoine Reicha, in: MQ 22 (1936), S. 339–353, hier S. 341. Bekanntlich hat sich auch Mozart wenige Jahre zuvor Hoffnungen auf den Posten des Bonner Musikdirektors gemacht – Hoffnungen, von denen wir heute nur sehr schwer sagen können, wie berechtigt sie objektiv gewesen sind. Vgl. Bruchstücke aus Reichardts Autobiographie, in: AmZ 15 (1813), Nr. 41 vom 13. Oktober 1813, Sp. 665– 674, hier Sp. 667f. Tatsächlich handelt es sich hier um die einzige heute bekannte Quelle, die diesen Umstand nahelegt. Die neunköpfige Besetzung ergab sich dadurch, dass zum üblichen Oktett noch ein Kontrafagott hinzutrat. Die von Achim Hofer geäußerte Vermutung, Max Franz hätte die Harmonie-Musiker womöglich aus Wien mitgebracht, entbehrt, soweit ich sehe, jeglicher faktischen Grundlage; vgl. Achim Hofer, Harmoniemusik, in: MGG2, S 4, Sp. 153–167.

Von Wallerstein nach Bonn | 265 daß sie auch größere Stüke vorträgt; wie sie denn damals die Ouverture zu M.[ozarts] Don Juan spielte.“53

Wie bereits erwähnt, konnten weder Reicha noch Neefe an der Mergentheimer Reise teilnehmen. Allerdings hielt sich neben den beiden Rombergs, Franz Anton Ries, Simrock und Beethoven auch der ehemalige Leiter der Wallersteiner Harmoniemusik, Paul Wineberger, vor Ort auf, da eine von ihm komponierte Symphonie zur Aufführung gelangen sollte. Über Wineberger heißt es bei Junker: „Aber sie [die Hofkapelle] machte mich auch zum Zeugen ihrer eigenen Vortreflichkeit[.] Hr. Winneberger von Wallerstein legte in dieser Probe eine von ihm gesezte Sinfonie auf, die gewiß nicht leicht war, weil besonders die Blasinstrumente einige konzertirende Solos hatten. Aber sie gieng gleich das erstemal vortreflich, zur Verwunderung des Komponisten.“54 Wenig verwunderlich ist allerdings, dass Wineberger, der die Bonner Hofkapelle wohl in Mergentheim erstmals hörte, sich zu einem Vergleich mit dem ihm wesentlich vertrauteren Wallersteiner Orchester angeregt fühlte. So schreibt erneut Junker: „Besonders wird man nicht leicht ein Orchester finden, wo die Violinen und Bässe so durchaus gut besezt sind, als sie es hier waren. Selbst Hr. Winneberger war vollkommen dieser Meinung, wenn er diese Musik mit der gleichfalls sehr guten Musik in Wallerstein verglich.“55 Zur Frage, welche Orchestermitglieder dem Harmonie-Ensemble angehörten, geben die historischen Quellen nur spärliche Auskunft; das wenige Vorhandene legt allerdings den Schluss nahe, dass die entsprechenden Instrumentalisten der Hofkapelle auch an der Harmoniemusik mitwirkten.56 Demnach ist davon auszugehen, dass es sich bei den acht „Meister[n] ihrer Kunst“ um folgende Musiker handelt: Georg Liebisch und Joseph Welsch (Oboe), Michael Meuser und Joseph Pachmayer (Klarinette), Andreas Bamberger und Nikolaus Simrock (Horn), Theodor Zilecken und Georg Welsch (Fagott).57

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C.[arl] L.[udwig] Junker, Noch etwas vom Kurköllnischen Orchester, in: Musikalische Korrespondenz der teutschen Filharmonischen Gesellschaft für das Jahr 1791, Nr. 47 vom 23. November 1791, Sp. 373–376, hier Sp. 374. Ebenda, Sp. 375f. Ebenda, Sp. 376. Gestützt auf Kurfürstlichköllnische Kabinets- Kapell- und Hofmusik. 1791, in: Musikalische Korrespondenz der teutschen Filharmonischen Gesellschaft für das Jahr 1791, Nr. 28 vom 13. Juni 1791, Sp. 220–222, hier Sp. 221. Diese Personalliste wird gestützt durch Hans Wlach, Die Oboe bei Beethoven, in: StMw 14 (1927), S. 107– 124, hier S. 109. Bei Wlach wird auch deutlich, dass sich die Personalbesetzung des Harmonie-Ensembles in den 1780er Jahren wohl gewandelt haben muss. In jüngerer Zeit diskutiert diesen Aspekt Raab, Beethoven und die Harmoniemusik (wie Anm. 3), S. 113f. Raab, der sich im Wesentlichen auf Thayer stützt, erwähnt weder Joseph noch Georg Welsch, obwohl es wahrscheinlich ist, dass mindestens einer von beiden an der Reise nach Mergentheim teilnahm, vgl. die Nennung von „Hr. Welsch“ bei Junker, Noch etwas vom Kurköllnischen Orchester (wie Anm. 53), Sp. 375. – Erst kürzlich hat Elisabeth Reisinger den wertvollen Hinweis vorgelegt, dass sich in Maximilians Nachlass im Haus-, Hof & Staatsarchiv Wien eine Liste befindet, die die genannten Musiker als Mitglieder des Harmonie-Ensembles ausweist und aus der zudem hervorgeht, dass diese aus der persönlichen Schatulle des Kurfürsten bezahlt wurden (vgl. A-Whh, Habs.-Est. FA, 172, Mappe 5); siehe Reisinger, Erzherzog Maximilian Franz als musikkultureller Akteur in Wien und Bonn. Soziale Verflechtungen und Handlungsräume am Hof des späten 18. Jahrhunderts, Diss., Universität Wien 2016, S. 192f.

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Über die einzelnen Mitglieder sind wir, mit Ausnahme von Simrock, nur spärlich unterrichtet. Zu Simrock wie über Bamberger und Zilecken finden sich im unterthänigsten Pro-memoria, die kurfürstliche Hof musique betreffend lediglich knappe, pauschale Charakterisierungen, die unter anderem ihre musikalischen Fähigkeiten betreffen.58 Pachmayer war vermutlich jener „Bachmeier“, der laut Neefes Bericht von 1783 bereits in der „sehr gute[n] Hauscapelle von blasenden Instrumentalisten“, die Caspar Anton von Belderbusch noch vor Max Franz in Bonn unterhielt, als erster Klarinettist tätig war59 – ein Umstand, der es wenigstens plausibel erscheinen lässt, dass er auch im Ensemble von Max Franz als Klarinettist, nicht als Oboist, mitwirkte.60 Von Liebisch wissen wir, dass Max Franz ihn im Zuge seiner Flucht nach Wien mitgenommen und Beethoven eigens für ihn ein Oboenkonzert (Hess 12) geschrieben hat, was beides für seine herausragenden musikalischen Fähigkeiten spricht.61 Auch das gespielte Repertoire ist weitgehend unbekannt. Die Quelle, die dafür prädestiniert wäre, zu dieser Frage Auskunft zu geben, nämlich der Catalogo Generale aus der Biblioteca Estense Universitaria in Modena, nennt lediglich eine Bläser-Partita, sowie drei Opernbearbeitungen.62 Dies suggeriert, es habe neu komponierte Originalmusik in Bonn gar nicht gegeben, was durchaus denkbar ist, wenn man unterstellt, die Verordnung Josephs II., dass lediglich Bearbeitungen von Opern und Balletten aufzuführen seien, habe sich auch auf die Bonner Harmoniemusik seines Bruders Max Franz ausgewirkt.63 Diese Vermutung untermauert etwa der oben zitierte Bericht von Junker, in dem von einer Aufführung der für Harmoniemusik eingerichteten Don-Giovanni-Ouvertüre Mozarts die Rede ist.

Mutmaßungen über Beethovens Bläseroktett op. 103 und die Frage nach dem „Einfluss“ Das heute wohl bekannteste harmoniemusikalische Werk Beethovens, das sehr wahrscheinlich explizit mit Blick auf das Bonner Harmonie-Ensemble geschrieben wurde, ist das Bläseroktett in Es-Dur op. 103 – und dies ganz unabhängig von der Frage, ob es noch in Bonn oder erst in Wien entstanden ist, oder ob womöglich eine erste Bonner Fassung in Wien, unter der Aufsicht Haydns, optimiert wurde, wie der vielzitierte 58 59 60

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So heißt es etwa im Hofbericht von 1784 über Simrock, er sei ein „guter Waldhornist“; zitiert nach TDR 1, S. 193. [Neefe], Nachricht von der churfürstlich-cöllnischen Hofcapelle zu Bonn (wie Anm. 14), S. 387. Auch wenn Pachmayer ursprünglich als Oboist eingestellt wurde, wie Raab mit Verweis auf ein Dekret vom 14. Januar 1785 nahelegt (Raab, Beethoven und die Harmoniemusik, wie Anm. 3, S. 118), so erscheint die Annahme einer Tätigkeit als Klarinettist dennoch gerechtfertigt, wenn man unterstellt, dass „die Klarinettisten auch Oboe spielen konnten“ (ebenda). Liebisch wird auch erwähnt in Johann Ferdinand von Schönfeld, Jahrbuch der Tonkunst von Wien und Prag, Wien 1796, S. 96. Siehe Juliane Riepe, Eine neue Quelle zum Repertoire der Bonner Hofkapelle im späten 18. Jahrhundert, in: AfMw 60 (2003), S. 97–114. Vgl. Roger Hellyer, The Transcriptions for ‘Harmonie’ of ‘Die Entführung aus dem Serail’, in: PRMA 102 (1975/76), S. 53–66.

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Briefwechsel zwischen Haydn und dem Bonner Kurfürsten nahelegt. 64 Aus dem Brief Beethovens an Simrock, in dem sich Beethoven erkundigt, ob seine „Partie“ denn schon aufgeführt worden sei, geht hervor, dass Beethoven wohl noch im August 1794 konkrete Rückreisepläne hegte und zu diesem Zeitpunkt noch nicht davon ausgehen konnte, den Rest seines Lebens in Wien zu verbringen.65 Die Annahme, Beethoven habe, als er sein Bläseroktett schrieb, dies mit Blick auf die konkret dafür in Frage kommenden Musiker getan, sein Werk also auf die Fähigkeiten seiner Instrumentalisten gleichsam zugeschnitten, erscheint demnach plausibel. Räumliche Nähe mag hier die Interaktion mit den Mitgliedern des Harmonie-Ensembles entschieden begünstigt haben: Der Hornist Simrock lebte in der Bonngasse und somit in der Nähe von Beethovens letztem Bonner Wohnsitz, was dazu geführt haben mag, dass sich die beiden über instrumentaltechnische Belange das Horn betreffend ausgetauscht haben. Hans Wlach spekuliert in seinem Aufsatz Die Oboe bei Beethoven, dass Beethoven womöglich „als Orchesterkollege mit ihnen [den Oboisten Liebisch und Welsch] im Stimmzimmer saß und seine Bratsche nach ihrem a gestimmt haben wird. Wer jemals im Orchester gesessen ist, weiß, daß, von jedem Interesse abgesehen, allein schon die Langweile der Zwischenaktpausen und des Wartens vor Beginn der Aufführungen dazu zwingt, sich nach dieser und jener mechanischen Einrichtung oder Möglichkeit der Instrumente zu erkundigen.“ 66 Schiedermair mutmaßt schließlich, Beethoven sei mit Joseph Reicha dann in engeren Kontakt gekommen, als sich die freundschaftlichen Bande zwischen Beethoven und Anton Reicha zu intensivieren begannen – eine Behauptung, für die in den einschlägigen Quellen keine Belege zu finden sind. In den Aufzeichnungen von Gottfried Fischer etwa werden zahlreiche andere Hofmusiker, darunter auch Mitglieder der Harmoniemusik (neben Simrock Georg und Joseph Welsch), als Besucher der Familie Beethoven gelistet, nur nicht die Reichas. 67 Die geschichtlichen Voraussetzungen und Hintergründe für Beethovens vergleichsweise wenige Kompositionen für Harmoniemusik liegen nach wie vor im Dunkeln. Allerdings wird der Stellenwert eines besseren Verständnisses gerade dann offenkundig, wenn man sich vor Augen führt, dass selbst an Beethovens später entstandener 64

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Vgl. Raab, Beethoven und die Harmoniemusik (wie Anm. 3), S. 120–122, sowie Voss, Prima e seconda prattica? (wie Anm. 3), S. 355, Küster, Beethoven (wie Anm. 6), S. 54f. und Cooper, Beethoven (wie Anm. 6), S. 50–53. Für Raab steht fest, dass es „eine Bonner Fassung des Oktetts gegeben haben [muss], die Beethoven in Wien völlig neu niederschrieb“ (Raab, Beethoven und die Harmoniemusik, S. 121). Dafür, dass das Oktett bereits für Bonn geschrieben wurde, spricht auch, dass „Aufführungsmaterial der Parthia in der Bonner Hofkapelle vorhanden“ war; siehe Armin Raab, Kammermusik mit Bläsern und Eigenbearbeitungen, in: Beethovens Kammermusik, hg. von Friedrich Geiger und Martina Sichardt (Das Beethoven-Handbuch, 3), Laaber 2014, S. 469–499, hier S. 473. Ferner verweist Riepe auf den Eintrag des Oktetts im Bonner Catalogo Generale, vgl. Riepe, Eine neue Quelle zum Repertoire der Bonner Hofkapelle (wie Anm. 62), S. 110. So erkundigt sich Beethoven bei Simrock halb scherzhaft: „sind ihre Töchter schon groß, erziehen sie mir eine zur Braut, denn wenn ich ungeheirathet in Bonn bin, bleibe ich gewiß nicht lange da“ (BGA 17). Der Brief ist datiert auf den 2. August 1794. Wlach, Die Oboe bei Beethoven (wie Anm. 57), S. 109. Des Bonner Bäckermeister Gottfried Fischer Aufzeichnungen über Beethovens Jugend, hg. von Joseph Schmidt-Görg (Schriften zur Beethovenforschung, 6), München und Duisburg 1971, S. 75–77.

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Symphonik moniert wurde, sie wäre zu bläserlastig, bis hin zum Vorwurf, sie wäre zuweilen „mehr Harmonie, als ganze Orchestermusik“.68 Bekannt geworden ist dieses Verdikt vor allem aus einer Rezension anlässlich der Wiener Uraufführung der 1. Symphonie. Wenige Jahre später wird „der allzuhäufige Gebrauch aller Blasinstrumente“ auch an der 2. Symphonie (Leipziger Aufführung) beanstandet; dieser sei „überkünstlich“ und verhindere „die Wirkung vieler schöner Stellen.“69 Ein zu Beginn der 1790er Jahre publizierter Beitrag des Journal des Luxus und der Moden deutet diesen „häufigen Gebrauch der Blasinstrumente“ allgemeiner, das heißt nicht auf Beethoven bezogen, als „ein sicheres Symptom des jetzigen Modegeschmacks“.70 Schließlich sieht Christian Friedrich Michaelis im übermäßigen Gebrauch der Bläser gar eine Signatur der „neuern Musik“, die sich nicht mehr auf die bloße „Zeichnung“ beschränkt sehen möchte: „Während uns die meisten Saiteninstrumente, sobald ihr Ton den Blasinstrumenten nicht zu sehr ähnelt, die blose Form der Musik gleichsam nach ihren Umrissen reiner zeichnen und oft für die Einbildungskraft nur leise andeuten, scheinen die Blasinstrumente bunte Farben auf die musikalische Komposition aufzutragen, und ihr ein lebendiges Kolorit zu geben.“ 71

Eine mögliche Quelle für Beethovens Gebrauch der Bläser ist, wie Schiedermair nahelegt, Reichas Harmoniemusik und Symphonik. Damit komme ich abschließend auf die offensichtlichste Dimension musikalischen Einflusses zu sprechen, die allerdings bislang ausgeklammert wurde: nämlich die Ebene stilistischer Konvergenzen, von denen man erwarten würde, dass sie spezifisch und zugleich salient genug ausfallen, um die Rede von „Einfluss“ zu rechtfertigen. Aus Schiedermairs über die Studie verstreuten Anmerkungen bezüglich eines vermuteten Einflusses Reichas auf Beethoven lassen sich vier Aspekte hervorheben, die mit Blick auf stilistische Ähnlichkeiten von Bedeutung sind: (1) Klangkolorit; (2) satztechnische Verfahren: motivisch-thematische Arbeit beziehungsweise obligates

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Wie Anm. 7. AmZ 7 (1804/05), Nr. 14 vom 2. Januar 1805, Sp. 215f.: „Die neueste Sinfonie von Beethoven (D dur) wurde, ohngeachtet ihrer grossen Schwierigkeiten, zweymal so gegeben, dass man sie ganz geniessen konnte. Auch wir finden, wie man von Wien und Berlin aus bemerkt hat, das Ganze zu lang und Einiges überkünstlich; wir setzen hinzu: der allzuhäufige Gebrauch aller Blasinstrumente verhindert die Wirkung vieler schöner Stellen und das Finale halten wir, auch jetzt, nach genauer Bekanntschaft, für allzu bizarr, wild und grell“. Dort findet sich auch die Kritik einer Symphonie von Franz Danzi (der bekanntlich ein Mitglied der Mannheimer Hofkapelle war): „Eine neue Sinfonie von Danzi […] Nur gegen das Andante ist mit Grund einzuwenden, dass die Blasinstr. zu vieles allein haben – so vieles, dass es fast als sogenannte Harmonie erscheint, und als solche viel zu lang ist“ (ebenda, Sp. 216). Ein bemerkenswertes Beispiel für eine Art Metadiskurs, eine Reflexion über Inhalt und Grenzen der symphonischen Gattung, die angesichts der zeitgleichen Diskussion über einen „häufigen Gebrauch der Blasinstrumente“ an Brisanz gewinnt, bietet der Kopfsatz von Ignaz Pleyels um 1800 komponierter C-Dur-Symphonie Benton 151. Dort finden sich bereits in der Exposition reine Bläserepisoden, die den Sonatenformdiskurs unterbrechen; diese werden in der Reprise derart intensiviert und ausgedehnt, dass es zur Auslotung der Gattungsgrenzen kommt. Ueber die Mode in der Musik, in: Journal des Luxus und der Moden 8 (1793), Nr. 6, S. 337–340, hier S. 340. C.[hristian] F.[riedrich] Michaelis, Einige Bemerkungen über den Misbrauch der Blasinstrumente in der neuern Musik, in: AmZ 8 (1805/06), Nr. 7 vom 13. November 1805, Sp. 97–102, hier Sp. 97f. Vgl. dazu die Diskussion bei Schmidt, Kammermusik mit Bläsern (wie Anm. 41), S. 532–535.

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Akkompagnement; (3) Anleihen im motivischen Material; (4) Übernahme großformaler, symphonietypischer Strategien zur Gestaltung eines Zyklus. Ein Vergleich der Reicha’schen Harmoniemusik mit derjenigen Beethovens zeigt keine nennenswerten Übereinstimmungen in der Verwendung von Klangkolorit und satztechnischen Verfahren. Eine durchbrochene Satzweise, eine Aufteilung der motivischen Substanz auf verschiedene instrumentale Akteure, wie sie für Beethovens op. 103 (sowie für seine spätere Orchestermusik) prägend ist, scheint für Reicha nicht in demselben Maße charakteristisch gewesen zu sein wie für die Kammermusik und Symphonik von Antonio Rosetti (und sie findet sich darüber hinaus auch in zahlreichen Werken Mozarts und Haydns). Auch Anleihen im motivischen Material sind nicht ausfindig zu machen. Der von Schiedermair angeführte Oktavsprung im Menuett von op. 103, dem er eine intertextuelle Verbindung mit einer Es-Dur-Symphonie Reichas unterstellt, ist zu allgemein, als dass eine bewusste Übernahme Beethovens wahrscheinlich erschiene. 72 Bleibt also noch der Aspekt der Übernahme großformaler Strategien zur zyklischen Gestaltung. Wie erwähnt, sieht Schiedermair in der viersätzigen Anlage von Beethovens Oktett ein Merkmal, das auf einen Einfluss Reichas und darüber hinaus einen gesteigerten symphonietypischen Gattungsanspruch schließen lässt, den auch der autographe Titel „Parthia dans un Concert“ unterstreicht. Doch ist dieser Befund mit größter Vorsicht zu genießen, denn es steht keinesfalls fest, dass das Oktett von vornherein viersätzig angelegt war. Raab diskutiert die durchaus plausible Hypothese, der einzeln überlieferte Rondo-Satz WoO 25 sei in seiner ursprünglichen Fassung als vierter Satz eines zunächst fünfsätzig konzipierten Zyklus vorgesehen gewesen. 73 Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf ein zentrales methodisches Problem für die Beurteilung eines potenziellen Einflusses Reichas (oder im Grunde jedes anderen Komponisten): Es ist nur die Wiener Fassung überliefert. Eine negative Antwort mit Blick auf diese Fassung schließt nicht aus, dass eine frühere Bonner Fassung durchaus Spuren des Reicha’schen (oder allgemeiner: des Wallersteiner) Harmoniestils aufgewiesen haben könnte. Zudem war die symphonietypische Viersätzigkeit der Harmoniemusik nicht nur für Reicha kennzeichnend, sondern für die Wallersteiner Harmoniemusik im Allgemeinen. Doch selbst für sie war die viersätzige Anlage keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal. Eine solche zyklische Anlage ist außerdem zuweilen im Wiener Harmoniestil anzutreffen, so etwa in den Werken Joseph Triebensees, Franz Krommers, oder, am prominentesten, bei Mozart im c-Moll-Oktett KV 388. Beethoven hielt sich bekanntlich 1787 zum ersten Mal in Wien auf, in der (nicht realisierten) Absicht, bei Mozart Unterricht zu nehmen. Allerdings belief sich der Aufenthalt lediglich auf knapp drei

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Vgl. allgemein zu diesem Kriterium Jan LaRue, Significant and Coincidental Resemblance Between Classical Themes, in: JAMS 14 (1961), S. 224–234. Raab, Kammermusik mit Bläsern und Eigenbearbeitungen (wie Anm. 64), S. 472. Siehe außerdem Cooper, Beethoven (wie Anm. 6), S. 50. Eine solche fünfsätzige Anlage findet sich etwa in Ignaz Pleyels „Parthia in Dis“, Benton 111 (ein Bläserarrangement der konzertanten Es-Dur-Symphonie Benton 111): Allegro, Andante con variazio (sechs Variationen), Menuetto, Adagio und Rondo Presto.

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Monate (Januar bis März), sodass unklar ist, inwieweit er in diesem Zeitraum entscheidende Impulse empfangen konnte.74 Darf man nun die dargelegten Aspekte zum Anlass nehmen, die Liste potenzieller Lehrer des jungen Beethoven (neben Tobias Pfeiffer, Neefe, Haydn und Johann Georg Albrechtsberger) bzw. Einflüsse (Mozart und Franz Xaver Sterkel) um den Namen Joseph Reicha zu ergänzen? Die im Beitrag diskutierten Befunde scheinen diesen Schluss nicht zu stützen: Die stilistischen Übereinstimmungen, die Schiedermair dingfest gemacht zu haben glaubte, sind so allgemein und unspezifisch, dass es schwer fällt, von einem direkten Einfluss zu sprechen. Auch hat Schiedermair offensichtlich nicht klar genug zwischen Personalstil und regional gebundenem Zeitstil unterschieden. Da sich allerdings, wie ausgeführt, die Eigenheiten der Wallersteiner Harmoniemusik für einen Transfer in andere Musikzentren als nicht besonders förderlich erwiesen, ist die wahrscheinlichere Hypothese, dass die sehr lokale Sphäre der Harmoniemusik das Experimentierfeld auf dem Sektor der Bläsermusik bot, dessen Errungenschaften in den öffentlichen Bereich der Symphonik eingeflossen sind und dann erst über diesen Umweg nachhaltige Wirkung entfalten konnten. Der Bonner Catalogo Generale legt nahe, dass Rosettis und Winebergers Symphonien, die den Wallersteiner Stil repräsentieren, vor Ort verfügbar waren, darunter immerhin 18 Gattungsbeiträge von Rosetti und sechs von Wineberger.75 Und nicht zuletzt Winebergers Symphonie in F-Dur, von der nicht ausgeschlossen ist, dass sie es war, die in Mergentheim erklungen ist,76 zeigt durch ausgiebige Bläserpassagen (insbesondere zu Beginn), wie sehr sich die Gattungen Symphonie und Harmoniemusik zuweilen mischen konnten. Das Anliegen des Beitrags war es, gleichsam als erste Probebohrung mögliche Wechselbeziehungen zwischen Wallerstein und Bonn zu untersuchen. Mit Absicht habe ich darauf verzichtet, ebenfalls plausible Quellen von Beethovens Harmoniestil in den Blick zu nehmen: zu nennen wäre etwa das Wiener Harmonie-Repertoire, das Beethoven auf seiner ersten Wien-Reise wenigstens zur Kenntnis nehmen konnte,77 oder auch die Mannheimer Symphonik, die sich bekanntlich durch einen exzessiven Gebrauch obligater Bläser auszeichnet. Die Frage nach den Quellen der Beethoven’ schen Harmoniemusik ist damit keineswegs abschließend beantwortet, doch dürfte der Rahmen, innerhalb dessen sich zukünftige Forschung wird bewegen müssen, nun klarer abgesteckt sein: Der in diesem Beitrag erbrachte Negativbefund lässt einen eingehenden stilanalytischen Vergleich mit dem Wiener bzw. Mannheimer Repertoire nun als besonders vielversprechend erscheinen.

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In der einschlägigen Beethoven-Forschung gibt es keine Zweifel an einem Mozart’schen Einfluss auf Beethovens Harmoniemusik, insbesondere auf das Oktett op. 103; siehe z.B. Kinderman, Beethoven (wie Anm. 6), S. 47, sowie Cooper, Beethoven (wie Anm. 6), S. 50. Riepe, Eine neue Quelle zum Repertoire der Bonner Hofkapelle (wie Anm. 62), S. 100. Junkers Erwähnung, dass die „Blasinstrumente einige konzertirende Solos hatten“, lässt diese Annahme plausibel erscheinen; siehe Junker, Noch etwas vom Kurköllnischen Orchester (wie Anm. 53), Sp. 376. Siehe Cooper, Beethoven (wie Anm. 6), S. 50: „These two works [Hess 19 und op. 103] were no doubt composed in response to Vienna’s seemingly insatiable demand for wind music.“



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