Von der Kritik der Totalität zum fragmentierten Bewusstsein. Ideologiekritik bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas

July 3, 2017 | Author: Marc Grimm | Category: Critical Theory, Theodor Adorno, Max Horkheimer, Jurgen Habermas, Ideology, Adorno, Habermas, Adorno, Habermas
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Von der Kritik der Totalität zum fragmentierten Bewusstsein Ideologiekritik bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas MARC GRIMM UND MARTIN PROISSL

Die Urteile über die Beziehung der Theorie1 von Jürgen Habermas zur klassischen Kritischen Theorie von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse sind gesprochen: Habermas habe, so die eine Position, spätestens mit der Theorie des kommunikativen Handelns mit jener gebrochen und an der Überwindung des Kapitalismus kein Interesse mehr gehabt. Folglich sei dessen Theoriebildung deshalb wesentlich keine Aktualisierung, sondern eine Depotenzierung der Kritischen Theorie (vgl. Breuer 1985). Diese Kritik aber, so Habermas’ Verteidiger, ziele in die Leere. Habermas habe dem Negativismus der frühen Kritischen Theorie ja absichtlich den Rücken gekehrt und eine bewusste Aussöhnung der Kritischen Theorie mit dem Vernunftpotential der Moderne und des Zivilisationsprozesses überhaupt vertreten (vgl. Fischer/Ottow 2002: 656). Die Entwicklung Kritischer Theorie verläuft nicht stringent. Wenn wahr ist, dass Theorien immer einen Zeitkern haben und einerseits ihre Perspektive, anderseits die Problemstellungen, die sie bearbeiten, gesellschaftlich und historisch bestimmt sind, muss Kritische Theorie sich mit der Gesellschaft ändern. Ob eine Theorie aber eine Kritik der Gesellschaft auf der Höhe der Zeit erlaubt, ist eine Frage, die nicht das Alter, sondern erst der nähere Blick auf die speziische Ausprägung der Theorie

1

Der Terminus „klassische Kritische Theorie“ stammt von Helmut Dubiel (1988). Er bezeichnet mit ihm vor allem die Theorieentwicklung durch Adorno, Horkheimer und Marcuse, die er von der Theorieentwicklung durch Habermas scheidet.

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zu beantworten vermag. Hinsichtlich des Verhältnisses der klassischen Kritischen Theorie zu der habermasscher Prägung ist es wenig sinnvoll zu fragen, ob Habermas der legitime Erbe Adornos und Horkheimers ist. Das Augenmerk muss „nicht auf das Identische und den Wunsch nach Harmonie, sondern auf das Nicht-Identische und den aus ihm resultierenden Anspruch auf Ambivalenz“ gelegt werden (Salzborn 2015: 7). Entgegen der kolportierten Gewissheiten über diese beiden Kritischen Theorien ist deshalb unser Anspruch, Verbindungslinien und Differenzen zu bestimmen und somit die Möglichkeiten und Grenzen beider Theorien auszuweisen. Die folgende Darstellung des Ideologiebegriffs der klassischen Kritischen Theorie erfolgt konstellativ. So wird die Theoriegestalt nachgezeichnet, um die Facetten und (Sinn-)Ebenen dieses Begriffs an wesentlichen Argumentationsmustern auszuweisen. Die Darstellung des Ideologiebegriffs von Jürgen Habermas erfolgt hingegen über die Rekonstruktion der Theoriegeschichte. Sie folgt der Theorieentwicklung, um anhand der Veränderungen der Sinngehalte des Ideologiebegriffs die Veränderung wesentlicher Gehalte der habermasschen Theorie genetisch zu erfassen. Die Analyse fokussiert die (Genese der) kommunikationstheoretische(n) Wende im habermasschen Werk, weil diese wesentlich für die weitere Entwicklung ist und Habermas den lange von ihm verwendeten Begriff von Ideologie hier aufgibt, einen neuen Ideologiebegriff vorschlägt, um ihn später ganz fallen zu lassen. Anhand neuerer Arbeiten zur Kritik der EU und der Globalisierung (vgl. Habermas 2009, 2013a, 2013b) lässt sich jedoch ausweisen, dass Habermas an Diagnosen anschließt und Begriffe wieder aufgreift, die er zuvor ad acta gelegt hatte. Obwohl also eine Divergenz der „klassischen“ und „neueren“ Kritischen Theorie konstatiert werden kann, zeigt sich zugleich, dass die Theorieentwicklung in Habermas’ Werk selbst keineswegs bruchlos und linear erfolgt. Tatsächlich greift er einige der losen Fäden der frühen Ideologiekritik für die aktuelle Kritik von Gesellschaft wieder auf.

1. d Er B Egriff dEr i dEologiE und m ax h orkhEimEr

BEi

t hEodor w. a dorno

Wer von Ideologie spricht, spricht von Wahrheit. Skeptizismus, erkenntnistheoretischen Perspektivismus und ethischen Relativismus lehnten sowohl Theodor W. Adorno als auch Max Horkheimer ihre gesamte theoretische Entwicklung hindurch ab. In Horkheimers Ideologie und Handeln von 1951 zeigt sich diese Haltung. Horkheimer kritisiert darin Karl Mannheims Wissenssoziologie ebenso wie Max

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Schelers absolute Wertlehre und beansprucht diesen gegenüber eine dritte Position: Eine zeitgebundene Wahrheit könnten wir mit „unseren besten Kräften“ erkennen, so dass der „Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit“ nicht hinfällig sei (Horkheimer 1973: 47). Auch Adornos Kritik der Wissenssoziologie erwächst aus dem Festhalten am Begriff der Wahrheit. Die Wissenssoziologie „versagt [...] vor dem Ideologiebegriff, aus dem sie ihre breite Bettelsuppe kocht. Denn der Begriff Ideologie ist sinnvoll nur im Verhältnis zur Wahrheit oder Unwahrheit dessen, worauf er geht; von gesellschaftlich notwendigem Schein kann einzig im Hinblick auf das gesprochen werden, was kein Schein wäre und was freilich im Schein seinen Index hat.“ (Adorno 1975: 197f.)

Der emphatische Anspruch auf Wahrheitserkenntnis führt Horkheimer und Adorno nun aber gerade nicht zum Dogmatismus. Eine positive Verwendung des Begriffs Ideologie, wie im Marxismus-Leninismus, kommt bei ihnen nicht vor. Das entspricht ihrer Distanz zu kommunistischen Parteien und deren Weltanschauungen. Mit der Ablehnung politischer Glaubensbekenntnisse geht die Ablehnung eines vermeintlich privilegierten Erkenntnisstandpunktes einher, den Georg Lukács in seinem einlussreichen Werk Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) dem Proletariat zugesprochen hatte. Lukács’ Bedeutung für die Entwicklung des Denkens von Adorno und Horkheimer kann wohl kaum überschätzt werden. Zentrale theoretische Aussagen – z.B. die Erklärung der Ideologie als Resultat von Verdinglichungserfahrungen in der Warengesellschaft, seine Methode, ideologische Phänomene im Bezug auf die gesellschaftliche Totalität zu kritisieren und schließlich seine Überzeugung, dass Realitätserkenntnis zwar standort- und zeitgebunden sei, es aber dennoch zeit- und standortbedingte Wahrheit im Gegensatz zu falschem Bewusstsein gäbe – werden von den Vertretern der klassischen Kritischen Theorie übernommen. Gleichwohl unterscheidet sich das Ideologieverständnis Adornos und Horkheimers von Lukács’ Konzeption. Während Lukács die Totalitätserkenntnis der Intellektuellen letztlich mit derjenigen des Proletariats identiiziert, formuliert Horkheimer, dass die Einsichten der Intellektuellen sich „im Gegensatz zu Ansichten beinden [können], die beim Proletariat gerade vorherrschen. Ohne die Möglichkeit dieses Konliktes bedürfte es keiner Theorie; denen, die sie brauchen, iele sie unmittelbar zu“ (Horkheimer 1992: 238).

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1.1 Ideologiekritik als immanente Kritik Wenn die Ideologie soziale Realität und Herrschaft verklärt und sich über diese wie ein Schleier legt, dann ist die Aufgabe der Ideologiekritik nicht nur, die Realität sichtbar zu machen. Sie ist mehr: Widerspruch und Eingriff zugleich. Diese orientieren sich am Ziel der Einlösung der bürgerlichen Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die nicht etwa als bürgerlicher Trug verworfen werden sollen. Vielmehr gilt es immer noch, diese vollgültig zu realisieren. So kritisiert Horkheimer Friedrich Nietzsche dafür, dass dieser der Ideologie der Humanität die Inhumanität entgegensetzt habe und damit in einer bloßen Antihaltung verharre. Stattdessen ginge es darum, auf die Verwirklichung der Humanität zu drängen. Sie praktisch zu realisieren setze indes ideologiekritische Aufklärung voraus (vgl. Horkheimer 1973: 46). Adorno nannte diese Aufklärung die „Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit“ (Adorno 1956: 169). Ideologie hat also Wahrheitsgehalt. Sie zeigt eine Möglichkeit gesellschaftlicher Entwicklung auf, die nicht realisiert wurde. Es ist das Grundmotiv der Ideologiekritik der klassischen Kritischen Theorie, dass sie den Widerspruch zwischen den bürgerlichen Idealen und dem Ausbleiben ihrer Realisierung kenntlich macht und damit zu deren Einlösung beitragen will. Diese Art der Ideologiekritik kann auch als immanente Kritik bezeichnet werden, weil sie die Gesellschaft an ihren eigenen Maßstäben misst. Das Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und vernunftgemäßer Möglichkeit soll spürbar werden und zur veränderten politischen Praxis treiben. Historisch entsteht im Verlauf der bürgerlichen Revolutionen die Möglichkeit der Ideologiekritik, als zunehmend erkennbar wurde, dass die im Namen der Menschheit verfochtenen Ideale uneingelöst blieben, da sie eher durch Menschheitspathos verdeckte Interessen des Bürgertums waren. Die fortschrittlichen Ideen der bürgerlichen Aufklärung zerbrachen mit Notwendigkeit durch die Zwänge der neugeschaffenen Wirtschafts- und Gesellschaftsform: „Mit der Inthronisierung des Konkurrenzprinzips seit der Aufhebung der Zunftschranken und dem Beginn der technischen Revolution der Industrie entfaltete die bürgerliche Gesellschaft eine Dynamik, die das einzelne Wirtschaftssubjekt zwingt, seine Erwerbsinteressen rücksichtslos und um das Wohl der Allgemeinheit unbekümmert zu verfolgen [...]. Das antifeudale Ideal der Autonomie des Individuums, das dessen politische Selbstbestimmung meinte, verwandelt sich im Wirtschaftsgefüge zu jener Ideologie, deren es zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Steigerung der Leistung bedurfte.“ (Adorno 1956: 49)

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Im Kampf gegen die feudale Ordnung, so das Argument, hatten die Ideale der bürgerlichen Aufklärung ihr Recht. Aber im Zuge der Etablierung der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft wurden die Ideale zur Ideologie, weil diese gehandelt wurden, als wären sie bereits eingelöst. Die Versprechen der bürgerlichen Revolutionen verloren ihren fortschrittlichen Charakter und dienten stattdessen der Rechtfertigung von Herrschaft: „Als objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein, als Verschränkung des Wahren und Unwahren, die sich von der vollen Wahrheit ebenso scheidet wie von der bloßen Lüge, gehört Ideologie, wenn nicht bloß der modernen, so jedenfalls einer entfalteten städtischen Marktwirtschaft an. Denn Ideologie ist Rechtfertigung. Sie setzt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes voraus, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde und die ihr Modell im Tausch von Vergleichbarem hat.“ (Adorno 1954: 465)

1.2 Dialektik von Vernunft und Aufklärung Der Begriff der Ideologie der klassischen Kritischen Theorie zielt darauf, Geistiges immer auf seine Gesellschaftlichkeit hin zu befragen, ohne dass dabei angenommen wird, dass jenes in diesem aufgeht – es ist „mehr als bloßer Ausdruck des Seienden“ (Adorno 1954: 474). In diesem Mehr verbirgt sich die philosophische Überzeugung und politische Hoffnung auf die Möglichkeit verändernder Erkenntnis und Praxis. Die erkenntnistheoretische Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt wird dementsprechend nicht einseitig aufgelöst. Ihre dialektische Fassung kann ohne Übertreibung als theoretische Grundigur Kritischer Theorie bezeichnet werden. Es mag scheinen, als sei die Dialektik dieses Verhältnisses in den 1940er Jahren zur Seite des Objekts hin aufgelöst worden. Denn in der Dialektik der Aufklärung (erstmals 1944) heißt es, dass „der ganze Mensch zum Subjekt-Objekt der Repression“ (Adorno/Horkheimer 1997: 213) geworden sei. Hier lohnt die nähere Betrachtung: Das theoretische Ziel der Dialektik der Aufklärung ist, die Aufklärung über ihre blinden Flecken aufzuklären, „die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts“ (Adorno/Horkheimer 1997: 3). Das praktische Ziel der Dialektik der Aufklärung ist die soziale Revolution, die als „[u]mwälzende wahre Praxis“ (Adorno/Horkheimer 1997: 48) umschrieben wird. Es stellt sich hier die Frage, was dieser Praxis im Wege steht. Als Hindernis nennen Adorno und Horkheimer den

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gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang: „Der mythische wissenschaftliche Respekt vor dem Gegebenen“ (Adorno/Horkheimer 1997: 48) hindere die Menschen, die verkehrte Welt geradezurücken. Aufklärung schlägt um in Barbarei, so das Argument, weil Aufklärung eine einseitige Form der Rationalität darstellt, die von Anfang an der Selbsterhaltung durch Naturbeherrschung diente und deshalb destruktive, enthumanisierende Folgen hat. Wissenschaft und Technik, der Stolz der Aufklärung, seien nicht nur die Bedingungen möglicher Emanzipation, sondern immer schon die Mittel der Ausweitung der Herrschaft über Mensch und Natur. Statt von Ideologie ist in der Dialektik der Aufklärung überwiegend vom Mythos die Rede. Der Begriff ist historisch weiter gefasst, hat inhaltlich jedoch denselben Sinnkern. Der Mythos dient der Aufrechterhaltung von Herrschaft. Diese Herrschaft hat eine triadische Struktur. Ihre drei Seiten sind: Herrschaft der Menschen über die äußere Natur, Herrschaft von Menschen über Menschen und Selbst-Beherrschung. In der Dialektik der Aufklärung lassen sich zwei Erklärungen der Genese dieser Herrschaftsstruktur identiizieren, was auch die widersprüchliche Rezeption des Werkes erklärt. Ein Argumentationsstrang erweckt den Eindruck, als sei die menschliche Vernunft, weil sie aus der Notwendigkeit der Herrschaft über die äußere Natur im Interesse der Selbsterhaltung hervorgegangen ist, unabänderlich ein Herrschaftsinstrument. Das würde den Schluss nahelegen, eine wahrhaft vernünftige Gesellschaft sei unmöglich, vielmehr müsse die aufklärerische Entwicklung des Herrschaftsinstruments Vernunft in Zukunft noch weiter in die Verstrickung von Vernunft und Herrschaft führen. Folgt man dieser Lesart der Dialektik der Aufklärung, würden Horkheimer und Adorno die Auffassung vertreten, das Subjekt müsse sich immer wieder in den Naturzusammenhang verstricken, weil es durch die Verinnerlichung des Opfers entsteht (vgl. Habermas 1988: 138). Nach dieser durch Habermas geprägten Lesart können Horkheimer und Adorno nicht mehr begründen, von welchem Erkenntnisstandpunkt aus sie selbst die Gesellschaft kritisieren. Übersehen wird dabei allerdings, dass die in der Dialektik der Aufklärung und anderen Werken Horkheimers und Adornos entfaltete Kritik der instrumentellen Vernunft und des identiizierenden Denkens mit einem dialektischen Vernunftbegriff arbeitet. In der Negativen Dialektik formuliert Adorno deutlich: „Daß Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwecken

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der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal aber abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem.“ (Adorno 1975: 284)

Dieser Vernunftbegriff prägt die zweite Leseweise der Dialektik der Aufklärung. Die historische Möglichkeit, Herrschaft zu überwinden, wird dort auf folgende Formel gebracht: Aufklärung muss als Kritik der Aufklärung fortgeführt werden. Rolf Wiggershaus hat treffend bemerkt: „Die Formulierung von der Selbstzerstörung der Aufklärung war [...] eine irreführende Pointe. [...] Ihr Gehalt war vielmehr: Alle bisherige Aufklärung war keine wirkliche Aufklärung, sondern Verhinderung wirklicher Aufklärung“ (Wiggershaus 2001: 372). Diese zweite Lesart folgt also dem zweiten Argumentationsstrang der Dialektik der Aufklärung, in dem der verdinglichte Zugriff auf die Welt an der Abstraktion festgemacht wird (vgl. Adorno/ Horkheimer 1997: 19). Die Genese der Abstraktion wird aber nicht nur durch den Zwang zur Beherrschung der äußeren Natur erklärt, sondern vorrangig über die mit der Naturbeherrschung einhergehende Herrschaft von Menschen über Menschen. Der Diagnose zum Trotz, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen zur Ausbildung eines starken und zur Relexion fähigen Subjekts schwinden, halten Adorno und Horkheimer daran fest, dass Selbstrelexion möglich und nötig ist und die gesellschaftlichen Verhältnisse von den Subjekten gemacht und von diesen geändert werden können (vgl. Adorno/Horkheimer 1997: 48f). Die Ideologiekritik der klassischen Kritischen Theorie ist darauf gerichtet, die speziische Ausprägung des „inneren Vermittlungszusammenhangs der Erkenntnis mit dem Lebensprozess, des gesellschaftlichen Bewusstseins mit dem gesellschaftlichen Sein“ (Ritsert 2014: 79) offen zu legen. Ideologiekritik kann auf diese Weise aufzeigen, dass ideologische Denkiguren, -muster und Mythen, Resultat der Handlungen von Individuen sind, denen in diesen Formen das von ihnen gemeinsam Erzeugte als etwas Fremdes begegnet. Die Aufklärung der Konstitution dieser Denkmuster nimmt diesen den Anschein der Tatsachen und weist diese als menschengemacht und damit veränderbar aus. Dieser Relexionsprozess vollzieht sich eingedenk der Katastrophen der Vergangenheit und der Gegenwart und will deren Ursachen offenlegen. Denn solange die gesellschaftlichen und also auch subjektiven Ursachen, die diese möglich gemacht haben, weiter bestehen, besteht auch die Möglichkeit, dass die Barbarei sich wiederholt. Als Leitstern der Theoriebildung dient die versöhnte Gesellschaft, in der die realen Widersprüche und Unterschiede zwischen Menschen nicht etwa aufgelöst, sondern versöhnt werden, ein gesellschaftlicher Zustand also, in der „man ohne Angst verschieden sein kann“ (Adorno 2003: 116).

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1.3 Ideologiekritik als Aufklärung über Unbewusstes In seiner Antrittsvorlesung als Leiter des Instituts für Sozialforschung formulierte Max Horkheimer 1931, für die künftige Forschung sei „die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten“ (Horkheimer 1972: 32) zentral. Das Handeln der Subjekte sollte nicht (unmittelbar) aus der Ökonomie abgeleitet, sondern (mittelbar) über die Psyche der Subjekte erklärt werden. Um der einseitigen Fixierung auf die Ökonomie zu entkommen, wurden die Erkenntnisse der (Tiefen-)Psychologie von Sigmund Freud integriert. Diese sollten es ermöglichen, die psychischen, triebdynamischen Funktionen von Ideologie zu erklären. Die Tiefenpsychologie war hierzu in besonderer Weise geeignet, weil auch in Freuds Theorie der Bewusstmachung von Unbewusstem und Verdrängtem der (Selbst-)Relexion die entscheidende aufklärerische Funktion zugesprochen wird. Die Herkunft und Ursache der psychischen Konlikte werden von Freud an der Entzweiung von Individuum und Gesellschaft festgemacht, die sich im Individuum – psychoanalytisch gesprochen: in der Vermittlung zwischen dem Ich und den Trieben (Es; Natur), sowie den Anforderungen der Gesellschaft und der internalisierten Autorität (Über-Ich) – wiederindet. Bildlich gesprochen stehen also Sigmund Freud und Karl Marx an der Wiege der klassischen Kritischen Theorie. Marx klärt über das gesellschaftlich Unbewusste auf – über jene Prozesse, die sich hinter dem Rücken der Subjekte abspielen. Freud klärt über das subjektiv Unbewusste auf – über jene Prozesse der Psyche, die sich immer wieder Bahn brechen, aber den Subjekten unmittelbar nicht zugänglich sind.2 Beide Prozesse verweisen aufeinander: Über Gesellschaft kann nur reden, wer deren Reproduktion durch das Handeln der Subjekte zu erklären vermag; und das subjektiv Unbewusste kann nur erklären, wer die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Subjekt formen, in die Betrachtung einbezieht.

2

Die freudsche Theorie übte nachhaltigen Einluss auf die Theoriebildung, aber auch die empirische Forschung des Instituts für Sozialforschung aus. In den großen empirischen Forschungsarbeiten des Instituts, den Studien über Autorität und Familie (1936), den Studies in Prejudice (1950) und dem Gruppenexperiment (1955) spielt die Psychoanalyse eine tragende Rolle.

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1.4 Ideologiekritik zwischen Kritik an bewusstloser Verselbstständigung und Kritik an bewusster Manipulation Trennt man den Begriff der Ideologie analytisch, weist dieser – wie oben dargestellt – verschiedene Ebenen und Facetten auf. Es lassen sich zwei Dimensionen des Begriffs identiizieren, die quer zueinander stehen. So bezeichnet Ideologiekritik (I) zum einen die verkehrte Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Subjekte. Zum anderen zielt der Ideologiebegriff (II) auf die bewusste und intendierte Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse und partikularer Interessen. In ersterem Verständnis fokussiert Ideologiekritik Handlungszwänge und Imperative, die den materiellen Verhältnissen eingeschrieben sind. Begriffe wie Verdinglichung und Naturalisierung betonen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich gegenüber den Subjekten verselbstständigen. Für die historische Epoche des Kapitalismus charakteristische Handlungsmuster werden so zu für Menschen überhaupt typischen Handlungsmustern und -zwängen und damit mit einem „Ewigkeitsschein“ (Adorno) versehen. Auf diese Weise werden die gesellschaftlichen Verhältnisse den Menschen zur zweiten Natur. Besonders deutlich treten solche verkehrten Wahrnehmungen in anthropologischen Vorstellungen des Menschen und der menschlichen Natur hervor, auf deren Grundlage Sozialbeziehungen dann als natürliche Ordnung erscheinen. Ähnlich gelagert ist die mit dem Begriff der Kulturindustrie verbundene Verdopplung und Bestätigung sozialer Verhältnisse. Der Begriff Kulturindustrie zielt weit über den Kulturbetrieb hinaus auf die Kritik der Abstimmung der Produktion auf die Konsumption. Durch die Standardisierung und Normierung der Waren werden die Bedürfnisse der WarenkonsumentInnen standardisiert und damit auch die Grenzen dessen gesetzt, was als denk-, mach- und veränderbar gilt (vgl. Grimm 2009). Diverse kultur- und hegemonietheoretische Analyseansätze schließen an diese Diagnose an. In gewisser Weise nimmt die Kritische Theorie durch das nichtdeterministische Verständnis des Verhältnisses von gesellschaftlichen Produktionsund Herrschaftsverhältnissen auf der einen, Wissens- und Kulturproduktion auf der anderen Seite die kulturtheoretische Wende vorweg. Aber im Festhalten an einer materialistisch-historischen Perspektive und an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis bestehen auch grundlegende Differenzen zu kulturalistischen Sichtweisen auf Geschichte und Gesellschaft. Gleichwohl also der Ideologiebegriff der klassischen Kritischen Theorie auf die verkehrte Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse verweist, die damit der Kritik entzogen werden, „kommt stets die Verschleierung

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von Machtpositionen, Machtstrukturen und Privilegien der jeweiligen Herren als das speciicum von Ideologien“ (Ritsert 2014: 80, Hervorh. im Orig.) hinzu. Dass der Ideologiebegriff einerseits die bewusste und intendierte Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse und partikularer Interessen bezeichnet, anderseits das Verhältnis von Gesellschaft und deren verkehrter Wahrnehmung, macht den Begriff zuweilen unpräzise. Die schrittweise Betrachtung hat gezeigt, dass der Ideologiebegriff der klassischen Kritischen Theorie sich analytisch in verschiedene Ebenen und Momente trennen lässt. Allgemein formuliert ist Ideologiekritik hier Aufklärung über das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft. Sie beinhaltet einmal die Aufklärung über die soziale Herstellung manifester gesellschaftlicher Handlungszwänge. Dann zielt sie auf die Aufklärung der verzerrten, standardisierten oder verdinglichten Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse. Zuletzt will sie die interessengeleitete Verklärung gesellschaftlicher Verhältnisse aufklären. Besonders zu betonen ist, dass die Kritik der Ideologie an der Utopie einer besseren Gesellschaft ausgerichtet ist. So kommen in der Kritik von Ideologie Gesellschafts- und Subjektivitätskritik zusammen – vor dem Hintergrund des utopisch antizipierten Zustands der Versöhnung.

2. d Er B Egriff

dEr i dEologiE BEi

J ürgEn h aBErmas

Die Rekonstruktion des Begriffs der Ideologie bei Jürgen Habermas folgt der schrittweisen kommunikationstheoretischen Wende, deren Anfang wir in Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘ (1968) ausmachen und die wir bis zur Theorie des kommunikativen Handelns (1981) darstellen. Für diesen Zeitraum lässt sich zum einen und zuerst ein Wandel des Ideologiebegriffs diagnostizieren. Zum anderen spielt der Begriff der Ideologie in späteren Arbeiten nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Wie wir dann aber kursorisch zeigen werden, lässt sich für die jüngste Zeit feststellen, dass Habermas begriflich und sachlich die ad acta gelegte Ideologiekritik für die Kritik des europäischen Einigungsprozesses wieder aufgreift. 2.1 Die anthropologische Begründung der Ideologiekritik Der Begriff der Ideologie ist bei Habermas Ende der 1960er Jahre zentral, wie schon am Titel von Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘ deutlich wird. Der Technikbegriff der klassischen Kritischen Theorie ist widersprüchlich und schwankt

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zwischen einer Kritik der Technik als Sündenfall technischer Rationalität und einem Festhalten an der prinzipiellen Neutralität von Technik. Um die „Doppelfunktion des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (als Produktivkraft und Ideologie)“ (Habermas 1969: 60) angemessen erklären zu können, schlägt Habermas deshalb ein neues Interpretationsschema der spätkapitalistischen Gesellschaft vor: die Unterscheidung „zwischen 1. dem institutionellen Rahmen einer Gesellschaft oder der sozialkulturellen Lebenswelt und 2. den Sub-Systemen zweckrationalen Handelns“ (Habermas 1969: 65). Handlungstheoretisch liegt dieser Trennung die Unterscheidung zwischen Interaktion und Arbeit bzw. zweckrationalem Handeln zugrunde (vgl. Habermas 1969: 62). In den Begriffen Arbeit und Interaktion, die später durch die Begriffe teleologisches und kommunikatives Handeln ersetzt werden, wird deutlich, dass Habermas diese Unterscheidung durch die Auseinandersetzung mit dem marxschen Arbeitsbegriff gewinnt. In der Theorie des kommunikativen Handelns wird dies undeutlich, da Habermas den Begriff des kommunikativen Handelns dort vor allem in der Auseinandersetzung mit Max Webers Begriff des zweckrationalen Handelns entwickelt. Die für Habermas so zentrale Trennung zwischen zweckrationalem und kommunikativem Handeln ist 1968 noch anthropologisch fundiert, erst später folgt die Wende zur Sprachphilosophie. Eine qualitativ andere Technik als die herrschaftliche sei nicht möglich, so Habermas, weil die technische Entwicklung einem Interesse entspreche, das in der „Organisation der menschlichen Natur“ (Habermas 1969: 56) angelegt sei. Es zeigt sich, dass er hier schon das Grundmuster der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt: die anthropologische Trennung von Arbeit und Interaktion. Und auch ein eigener Begriff der Rationalisierung wird hier schon formuliert. Habermas fordert, „daß zwei Begriffe von Rationalisierung auseinandergehalten werden müssen“ (Habermas 1969: 98). Im Unterschied zum Totalitätsdenken der klassischen Kritischen Theorie, das Gesellschaft in allen Aspekten als durch die Warenform geprägt versteht, geht Habermas davon aus, dass „der institutionelle Rahmen der Gesellschaft immer noch von den Systemen zweckrationalen Handelns selbst geschieden [ist]. Seine Organisation ist nach wie vor eine Frage der an Kommunikation gebundenen Praxis und nicht nur einer wie immer angeleiteten Technik.“ (Habermas 1969: 78f.)

Während die klassische Kritische Theorie davon ausgeht, dass die Warenform sich in allen gesellschaftlichen Bereichen unter je speziischen historischen Bedingungen durchsetzt und deshalb von einer gesellschaftlichen Totalität gesprochen werden

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kann, gibt Habermas diese Konzeption zugunsten einer zweipoligen Konzeption mit unterschiedlichen Handlungslogiken auf. In Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ verwendet er das Begriffspaar Institution und Arbeit, später wird daraus Lebenswelt und System. Das Problem ist, dass Habermas mit der Trennung des durch Kommunikation bestimmten institutionellen Rahmens auf der einen und der nur technisch verfahrenden Subsysteme auf der anderen Seite deren inneren Zusammenhang kappt. So gelangt er zu einem dualistischen Gesellschaftsverständnis, in dem er die Arbeit in das Subsystem Wirtschaft verweist und diesem bloß technischen Charakter zuspricht, während die durch Kommunikation bestimmte Lebenswelt zum Gegenpol der Produktion wird. Habermas will mit dem Begriff des kommunikativen Handelns eine Möglichkeit aufzeigen, Rationalisierung voranzutreiben und dabei nicht der totalen Verwaltung der Welt zuzuarbeiten, sondern der Emanzipation. Während die Rationalisierung zweckrationaler Systeme zu einer „Steigerung der Produktivkräfte“ und der „Ausdehnung technischer Verfügungsgewalt“ führen könne, wäre eine Rationalisierung des institutionellen Rahmens bzw. der Lebenswelt durch die „Ausdehnung herrschaftsfreier Kommunikation“ im Resultat „Emanzipation, Individuierung“ (Habermas 1969: 64). Was steht nun der Ausdehnung herrschaftsfreier Kommunikation im Weg? Habermas’ Antwort lautet: Ideologie. Allerdings meint er damit nicht die Ideologie des gerechten Tausches, da diese durch die Praxis widerlegt sei (vgl. Habermas 1969: 75). An ihre Stelle trat „eine Ersatzprogrammatik, die an den sozialen Folgen nicht der Institution des Marktes, sondern einer die Dysfunktion des freien Tauschverkehrs kompensierenden Staatstätigkeit orientiert ist“ (Habermas 1969: 76). Im Spätkapitalismus sei das technokratische Bewusstsein das zentrale Ideologem. „Der ideologische Kern dieses Bewusstseins ist die Eliminierung des Unterschieds von Praxis und Technik“ (Habermas 1969: 91). Politische Praxis wäre im Gegensatz zu politischer Technik ein demokratischer Willensbildungsprozess über Fragen des guten Lebens. Diese Praxis wird jedoch durch die „Entpolitisierung der Masse der Bevölkerung“ (Habermas 1969: 78) verhindert. Habermas sieht einen qualitativen Wandel der Ideologie und verweist auf die neue Qualität des technokratischen Bewusstseins: Dieses „ist einerseits ‚weniger ideologisch‘ als alle vorangegangenen Ideologien; denn es hat nicht die opake Gewalt einer Verblendung, welche Erfüllung von Interessen nur vorspiegelt. Andererseits ist die heute dominante, eher gläserne Hintergrundideologie, welche Wissenschaft zum Fetisch macht, unwiderstehlicher und weitreichender als Ideologien alten Typs, weil sie mit der Veränderung praktischer Fragen nicht nur das partielle Herrschaftsinteresse einer

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bestimmten Klasse rechtfertigt und das partielle Bedürfnis der Emanzipation auf Seiten einer anderen Klasse unterdrückt, sondern das emanzipatorische Gattungsinteresse als solches trifft.“ (Habermas 1969: 88f.)

Habermas erklärt die Entstehung erkenntnisleitender Interessen aus der Geschichte der Menschengattung. Weil die Menschen sich durch den Stoffwechselprozess mit der Natur behaupten, ihr Zusammenleben kulturell organisieren und Konlikte um die Befriedigung individueller Triebansprüche entscheiden müssen, lassen sich drei Medien der menschlichen Vergesellschaftung erkennen: Arbeit, Sprache und Herrschaft. Von diesen ausgehend identiiziert Habermas das technische, praktische und emanzipatorische Erkenntnisinteresse. Während das technische die Reproduktion der Menschen fasst, sieht Habermas im praktischen und emanzipatorischen Erkenntnisinteresse die Grundlage dafür, dass sich gesellschaftlicher Wandel nicht in bloßer Selbsterhaltung und Anpassung an das Gegebene erschöpft (vgl. Habermas 1969: 161 ff.). Habermas führt aus, dass ein praktisches Erkenntnisinteresse gegeben sei, weil Menschen auf die Herstellung intersubjektiver Beziehungen angewiesen sind. Als soziale Wesen sind sie gezwungen, den Sinn menschlichen Handelns, allgemein: den Sinn kultureller Objektivationen des menschlichen Geistes, zu verstehen. Die hermeneutisch verfahrende Geisteswissenschaft sei daher auf dem richtigen Weg. Allerdings müsse diese zur Ideologiekritik weitergeführt werden, indem die gesellschaftliche Vermitteltheit geistiger Objektivationen sowie die gesellschaftliche Standortgebundenheit des/der Hermeneutikers/-in selbst relektiert wird. Das emanzipatorische Erkenntnisinteresse an Mündigkeit sieht Habermas einerseits in der Sprache fundiert, weil in der Sprache die Möglichkeit der Aufklärung gesetzt ist. „Das, was uns aus Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen.“ (Habermas 1969: 163)

Neben der Sprache sei diese aber auch in der menschlichen Triebnatur angelegt. Diese Referenz auf die menschliche Natur wird in der Theorie des kommunikativen Handelns nicht mehr aufgegriffen. Zu betonen ist, dass Habermas’ Ideologiebegriff hier noch insofern in der Tradition der klassischen Kritischen Theorie steht, als er diagnostiziert, dass Ideologien weniger unmittelbar legitimatorische Funktion übernehmen. Vielmehr

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würden diese in zunehmend vermittelter Form wirkmächtig, etwa indem Politik und Gesellschaft nur noch unter Machbarkeitskriterien beurteilt und zunehmend als bloß technische Probleme begriffen werden. Dieser technokratische Zugriff wird von Habermas treffend als gläserne Hintergrundideologie beschrieben, da diese gar nicht mehr selbst als Perspektive auftritt, sondern sich als technisches und also unideologisches Wissen über die Funktionsweise von Gesellschaft präsentiert. Diese Diagnose muss vor dem Hintergrund der sozial-ökonomischen Entwicklung der 1960er Jahre interpretiert werden, ist aber zugleich ein Ausweis dafür, dass die habermassche Theorie Gültigkeit nur für Westeuropa und einen sehr überschaubaren historischen Zeitabschnitt beanspruchen kann. Einerseits schien der Kapitalismus in der späten 1960er Jahren gezähmt und die soziale Frage durch den Aufbau sozialer Sicherungssysteme gelöst.3 Die Vorstellung, dass die Wirtschaftsund Gesellschaftsentwicklung durch den Staat gesteuert werden kann, schlägt sich in der Wissenschaft u.a. in der Vorstellung nieder, dass es deren Aufgabe wäre (technische) Modelle für die Lösung gesellschaftlicher Probleme bereitzustellen. Habermas’ Kritik an der Wissenschaft als Fetisch richtet sich gegen diese Vorstellung und er fordert die Relexion der Momente von Herrschaft und Gewalt, die sich in Sprache aufinden lassen. Aufgabe einer kritischen Sozialwissenschaft wäre also Aufklärung und Befähigung zur Selbstrelexion. (vgl. Habermas 1969: 159) 2.2 Die Veränderung des Ideologiebegriffes durch die Rezeption der Sprachphilosophie Habermas hat den Versuch, ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse anthropologisch zu fundieren später aufgegeben und versucht, dieses unter Anlehnung an Karl-Otto Apels Universalpragmatik zu begründen. Diese enthält für Habermas die Möglichkeit, ein Interesse an Emanzipation auszuweisen und über eine bloße Sollens-Behauptung hinauszugehen. Entscheidend ist dabei die Unterstellung einer universalen Sprachgemeinschaft als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt. Damit will Habermas den Nachweis erbringen, dass sich, wer glaubt, von allgemeinen Regeln der Kommunikation absehen zu

3

Die Zahl der Arbeitslosen in der BRD lag 1968 bei 0,3 Millionen, 1970 bei 0,1 Millionen (vgl. Stapelfeldt 2005: 176f.). Dieser Praxis korrespondiert die Durchsetzung der auf John Maynard Keynes zurückgehende Theorie eines staatlichen gesteuerten Kapitalismus (vgl. Stapelfeldt 2005: 173).

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können, im Kommunikationsprozess in einen performativen Widerspruch verstrickt. Rolf Wiggershaus hat Habermas’ Ziel klar benannt. „Die im Rahmen einer Universalpragmatik als Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation aufgezeigten Idealisierungen sollten Normen darstellen, die eine [...] Rechtfertigung der Kritik erlaubten“ (Wiggershaus 2001: 709). Drei Momente sieht Habermas in jeder Sprechsituation immer schon vorausgesetzt, weil Kommunikation ohne sie nicht möglich wäre: „Die gemeinsame Unterstellung einer objektiven Welt, die Rationalität, die sich die handelnden Subjekte gegenseitig unterstellen, und die unbedingte Geltung, die sie in Sprechakten für ihre Aussagen beanspruchen“ (Habermas 2001: 8). In den Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (1984) spricht Habermas nicht von notwendigen „Unterstellungen“, sondern von einem „Vorgriff auf die ideale Sprechsituation“, die „für jede mögliche Kommunikation die Bedeutung eines konstitutiven Scheins [hat,] der zugleich Vorschein einer neuen Lebensform ist“ (Habermas 1984: 181). Der Begriff des utopischen „Vorscheins“ ist der Philosophie Ernst Blochs entlehnt. Er erfährt in der Theorie des kommunikativen Handelns jedoch eine starke Bedeutungsveränderung. Habermas’ Handlungstheorie ist „auf den Entwurf einer idealen Kommunikationsgemeinschaft angelegt. [...] Diese Utopie dient nämlich der Rekonstruktion einer unversehrten Intersubjektivität, die zwanglose Verständigung der Individuen ebenso ermöglicht wie die Identität eines sich zwanglos mit sich selbst verständigenden Individuums.“ (Habermas 1995b: 9)

Wie entscheidend sich die Stellung des utopischen Moments damit verändert, wird sich weiter unten zeigen. Die Veränderungen der Theoriebildung von Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘ bis zur Theorie des kommunikativen Handelns haben enorme Auswirkungen auf den Ideologiebegriff, seine theoretische Stellung und seinen Sinn. Im Folgenden wird sich zeigen, dass Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns sowohl mit zentralen Elementen des Ideologiebegriffs der klassischen Kritischen Theorie als auch mit dem von ihm 1968 noch vertretenen Begriff von Ideologie bricht und diesen neu fasst. Kommunikatives Handeln Habermas schafft mit dem Begriff des kommunikativen Handelns einen neuen Grundbegriff der Handlungstheorie. Er bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die eine interpersonale Beziehung eingehen und Verständigung anstreben mit dem Ziel, ihre Handlungen

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einvernehmlich zu koordinieren (vgl. Habermas 1995a: 143). Habermas begründet den Fokus auf Sprache damit, dass „Sprecher und Hörer sich aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdeinitionen auszuhandeln“ (Habermas 1995a: 142). Wesentlich ist demnach die Bereitschaft zur Verständigung unter Gleichberechtigten, die den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995a: 52f.) zum Zuge kommen lassen wollen. Menschliche Verständigung erfolge durch die Erhebung von Geltungsansprüchen und deren Überprüfung durch die anderen KommunikationsteilnehmerInnen. Diese könnten mit Ja oder Nein Stellung zu erhobenen Geltungsansprüchen nehmen (vgl. Habermas 1995a: 65). Habermas nennt als Rationalitätskriterien die „Kritisierbarkeit und Begründungsfähigkeit“ (Habermas 1995a: 27) von Äußerungen. Er ist überzeugt, dass alle Sprechhandlungen, also sowohl jene, die Anspruch auf die Wahrheit propositionaler Aussagen (konstativer Sprechakt), als auch solche, die Anspruch auf Richtigkeit normativer Aussagen (regulativer Sprechakt), und schließlich diejenigen, die Anspruch auf Wahrhaftigkeit in Bezug auf die eigenen Intentionen (expressiver Sprechakt) erheben, handlungskoordinierende Kraft besitzen, die er illokutionär nennt. „Mit der illokutionären Kraft einer Äußerung kann ein Sprecher einen Hörer motivieren, sein Sprechaktangebot anzunehmen und damit eine rational motivierende Bindung einzugehen“ (Habermas 1995a: 376). Worauf basiert nun diese illokutionäre Bindungswirkung? Darauf, dass einE SprecherIn die Gewähr dafür bieten kann, den Geltungsanspruch, den er/sie durch den eigenen Sprechakt erhebt, auch überzeugend zu begründen (vgl. Habermas 1995a: 406). Das heißt, nicht nur der manifeste Inhalt eines Sprechaktes muss verstanden werden, sondern die Gründe für seine Annahme. „Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht“ (Habermas 1995a: 400). Habermas’ These, dass unverzerrtes kommunikatives Handeln immer illokutionäre Wirkung hat, darf angezweifelt werden. Inhaltlich und begriflich bedient er sich der Sprechakttheorie, stellt diese dabei aber von den Füßen auf den Kopf. Sowohl John Langshaw Austin als auch John Searle betonen mit dem Begriff des illokutionären Aktes, dass Sprache nicht nur der Verständigung dient, sondern dass diese Bindungskraft hat, die maßgeblich aus ihrem (institutionellen) Kontext erklärt werden muss. So hat die Aussage „Ich verurteile Sie zu fünf Jahren Gefängnis“ Bindungskraft, wenn eine Richterin in der Urteilsverkündung diesen Satz spricht, während dieser in anderen Fällen konsequenzlos bleibt. Worte drücken also nicht

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nur etwas aus, sondern diese tun etwas (vgl. Levinson 1983: 229). Denn mit der Sprache ist nicht nur die Möglichkeit der Verständigung gegeben, sondern immer auch die Möglichkeit der Lüge, Manipulation und Machtausübung. Austin und Searle weisen mit der Sprechakttheorie aus, dass Sprache immer vermachtet ist und daraufhin untersucht werden muss. Bei Habermas scheinen Sprechakt und -situation hingegen tendenziell frei von Macht und Herrschaft zu sein. Denn Sprechakte werden nicht nur verstanden, wenn wir wissen, was sie akzeptabel macht (vgl. Habermas 1995a: 400); sie werden auch dann verstanden und befolgt, wenn der/ die SprecherIn in einer Position ist, dass seine/ihre Aussagen bindend sind – und zwar selbst, wenn z.B. einE BefehlsempfängerIn den Sprechakt von Vorgesetzten für nicht sinnig oder zielführend hält. Folglich stellt sich die Frage, warum jemand in einer Machtposition dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments folgen sollte. Eine nur ungenügende Antwort gibt Habermas’ Unterscheidung von verständigungsorientiertem kommunikativem Handeln und erfolgsorientiertem, strategischem sozialem Handeln (vgl. Habermas 1995a: 384f.). Habermas hohe Anspruchshaltung an die KommunikationsteilnehmerInnen wird hier deutlich: Die beiden gegensätzlichen Handlungsorientierungen kommunikativen und strategischen Handelns sollen sich „unter geeigneten Umständen anhand des intuitiven Wissens der Beteiligten selbst identiizieren lassen“ (Habermas 1995a: 386). Habermas fordert demnach von den kommunikativ Handelnden, mit offenen Karten zu spielen und hinter ihren Sprechakten keine strategischen Absichten zu verfolgen. Diese Offenheit unterscheidet kommunikatives von strategischem Handeln. Ob diese Unterscheidung nicht nur theoretisch, sondern praktisch im Alltagshandeln vorgenommen werden kann, ist allerdings äußerst fraglich. Strategische, d.h. nicht verständigungsorientierte Handlungsabsichten lassen sich zwar grundsätzlich erkennen, jedoch meist erst, nachdem diese durchgesetzt wurden. Unter der Hand gerät das Modell der idealen Sprechsituation vom positiven Ideal zur empirischen Realität. Habermas unterstellt, dieses Ideal sei in jeder Sprechsituation immer schon verwirklicht: Sollen und Sein werden nicht klar differenziert – was sein soll wird als schon gegeben objektiviert und Machtverhältnisse werden ausgeblendet. Weil Habermas kommunikatives und strategisches Handeln zwar analytisch unterscheidet, aber aus dem Handeln selbst nicht überzeugend begründen kann, wie dieser Unterschied von den Beteiligten einer Interaktion selbst eingesehen werden kann, verschiebt er die Begründungsleistung seiner Handlungstheorie auf die Lebenswelt und deren Kommunikationsmodus.

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Die Entkoppelung von System und Lebenswelt als Problem und Fortschritt In der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) fasst Habermas die Theoriegeschichte seit Karl Marx als „Entmischung von zwei Paradigmen“ auf, „die nicht mehr zu einem zweistuigen, System und Lebenswelt verknüpfenden Konzept der Gesellschaft integriert werden konnten“ (Habermas 1995b: 303). Dass Handlungsund Systemperspektive nicht mehr integriert werden konnten, hat Folgen für die Ideologiekritik. „Kritische Instrumente, wie beispielsweise der Ideologiebegriff, werden stumpf, weil ein metatheoretischer Rahmen von hinreichender Komplexität innerhalb eines der auseinandergefallenen Paradigmen nicht entwickelt werden kann“ (Habermas 1995b: 303). Konsequenterweise ist die Theorie des kommunikativen Handelns als Verbindung von Handlungs- und Systemtheorie konzipiert. Gesellschaft wird demnach sowohl durch verständigungsorientiertes Handeln innerhalb eines geteilten kulturellen Rahmens (Lebenswelt) als auch vermittels der Medien Macht und Geld (System) integriert. Systemische Integration bedeutet, dass Handlungskoordination nicht mehr normativ, sondern über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen stattindet (vgl. Habermas 1995b: 179). Habermas will zeigen, wie es im Verlauf der Gesellschaftsentwicklung möglich wird, dass Formen systemischer Integration Formen sozialer Integration verdrängen. Wesentlich soll die Theorie des kommunikatives Handelns eine „in System/ Lebensweltbegriffe übersetzte Theorie der Verdinglichung“ (Habermas 1995b: 491) sein. Die Verdinglichungs- und Ideologieproblematik soll nicht mehr über die marxsche Werttheorie oder die geschichtsphilosophische Kritik der zweckrationalen (Max Weber) bzw. instrumentellen Vernunft (Max Horkheimer) erklärt werden, sondern als Folgeerscheinung einer zu weit getriebenen Entkopplung von System und Lebenswelt, die letztlich zu einer inneren Kolonialisierung der Lebenswelt führe. Durch diese Neufassung soll Ideologie und Verdinglichung in allen gesellschaftlichen Bereichen analysiert werden. Die beiden entscheidenden Thesen lauten, dass „die sozialstaatliche Eingrenzung des Klassenkonlikts“ Verdinglichungsprozesse in Gang setzt, die sich „zunehmend klassenunspeziisch“ auswirken (Habermas 1995b: 448). Zudem würden sich ökonomische Krisen nicht mehr im direkten Konlikt von Kapital und Arbeit äußern, sondern wären verschoben und würden in Form von „Störungen der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt“ (Habermas 1995b: 452) auftreten. Die kulturelle Lebenswelt und die funktional ausdifferenzierten Subsysteme Staat und Wirtschaft stehen laut Habermas in folgendem Zusammenhang: In modernen Gesellschaften indet die zweckrational organisierte materielle Reproduktion in den Subsystemen Staat (Medium: Macht) und Wirtschaft (Medium: Geld) statt.

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Diese Subsysteme seien allerdings „in der Lebenswelt verankert“ (Habermas 1995b: 259). Habermas’ zentrale These lautet nun, die Entwicklung der Lebenswelt müsse der Ausdifferenzierung von Staat und Wirtschaft vorausgehen. Prägnant formuliert Habermas: „Jede neue Ebene der Systemdifferenzierung bedarf [...] einer veränderten institutionellen Basis, und in dieser Transformation übernimmt die Evolution von Recht und Moral Schrittmacherfunktionen“ (Habermas 1995b: 232). Mit dieser (idealistischen) Theoriekonstruktion soll die pessimistische Einschätzung der Modernisierung, wie sie von der ersten Generation der Kritischen Theorie vertreten wird, ad acta gelegt werden. Hatten Horkheimer und Adorno den Prozess der Rationalisierung als Prozess der Durchsetzung instrumenteller Vernunft und Entfremdung der Menschen von der Natur interpretiert, so erlaubt die analytische Trennung von System und Lebenswelt, den Rationalisierungsprozess einerseits als Verdinglichungsprozess, andererseits als Fortschritt in der Entwicklung der Lebenswelt zu interpretieren. Denn durch diese Trennung kann unterschieden werden „zwischen einer sozialen, an den Handlungsorientierungen ansetzenden, und der systemischen, durch die Handlungsorientierung hindurchgreifenden Integration der Gesellschaft“ (Habermas 1995b: 179). Die Entwicklung der sozialen Integration deutet Habermas als einen Entwicklungsfortschritt, während die systemische Integration zu einer Kolonisierung der Lebenswelt führe. Allerdings bezieht sich der Zukunftsoptimismus dieser Evolutionstheorie nicht nur auf die Lebenswelt, sondern auch auf die Subsysteme Staat und Wirtschaft (vgl. Habermas 1995b: 499). Geschichte wird als eine schrittweise Entwicklung der menschlichen Vernunft interpretiert, weil der Ausdifferenzierung von Wirtschaft und Staat die Entwicklung von Recht und Moral historisch vorangehen muss. Durch diese kulturtheoretischidealistische Grundannahme unterscheidet sich die Theorie des kommunikativen Handelns wesentlich von der klassischen Kritischen Theorie: Habermas wendet die negative Geschichtsphilosophie der klassischen Kritischen Theorie mit ihren vorsichtigen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in eine Philosophie geschichtlichen Fortschritts.

Die Ersetzung der Gegenständlichkeitsform durch die Verständigungsform Habermas kommt zu einem vernichtenden Urteil über die Ideologiekritik der klassischen Kritischen Theorie. Diese sei unhaltbar, weil Horkheimer und Adorno „an den werttheoretischen Grundannahmen als dem Kern ihrer verschwiegenen Orthodoxie festhalten und sich so gegen die Realität des entwickelten, auf der sozialstaatlichen Befriedung des Klassenkonlikts beruhenden Kapitalismus blind machen.“ (Habermas 1995b: 491)

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Die Kritik an Horkheimers und Adornos Ideologiebegriff wird also in Form einer Kritik an der marxschen Werttheorie geübt. Die verschwiegene werttheoretische Orthodoxie von Horkheimer und Adorno sei auch deshalb falsch, weil die marxsche Ideologiekritik der Rolle der Kultur nicht gerecht werde (vgl. Habermas 1995b: 452). Habermas kritisiert, nach der marxschen Theorie träten Prozesse der Verdinglichung „nur in der Sphäre auf […], in der sie verursacht werden – in der Arbeitswelt“ (Habermas 1995b: 503). Diese Kritik ist nicht haltbar, da Marx schon 1844 in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten die umfassenden Formen der Entfremdung und Selbstentfremdung kritisiert hat (vgl. Marx 1982) und die Vertreter der klassischen Kritischen Theorie, besonders Adorno, fortwährend zu Fragen der Kultur gearbeitet haben. Insofern mutet es seltsam an, wenn Habermas als Erneuerung seines Zugriffs ausgibt, was lange zum Inventar materialistischer Gesellschaftstheorie gehört: „Der Prozeß der Verdinglichung kann sich ebensogut in öffentlichen wie in privaten Lebensbereichen manifestieren, und hier ebensogut an der Konsumenten- wie an der Beschäftigtenrolle ansetzen“ (Habermas 1995b: 503). Von Ideologie spricht Habermas hierbei, wenn Systemzwänge „sich gleichsam in den Poren des kommunikativen Handelns verstecken. Daraus entsteht eine strukturelle Gewalt, die sich, ohne als solche manifest zu werden, der Form der Intersubjektivität möglicher Verständigung bemächtigt. Strukturelle Gewalt wird über eine systematische Einschränkung von Kommunikation ausgeübt; sie wird in den formalen Bedingungen des kommunikativen Handelns so verankert, dass für die Kommunikationsteilnehmer der Zusammenhang von objektiver, sozialer und subjektiver Welt in typischer Weise präjudiziert.“ (Habermas 1995b: 278)

Mit dieser Deinition ist auch der Weg für eine mögliche Überwindung von Ideologie angezeigt, die Habermas an der kommunikativen Ausdifferenzierung dieser drei Welten festmacht. Wenn diese stattindet, könnten konstative, regulative oder expressive Aussagen ihrem Geltungsanspruch nach rational überprüft und durch Ja/ Nein-Stellungnahmen angenommen oder abgelehnt werden. Habermas nimmt an, dass die Menschheit diesen Weg beschreiten wird und konstruiert eine „hypothetische Folge von Verständigungsformen“ (Habermas 1995b: 278ff.). Im Terminus Verständigungsform klingt Lukács’ Begriff der Gegenständlichkeitsformen an. Damit stellt Habermas zwar einen Bezug zur Tradition der marxistischen Ideologiekritik her, grenzt sich jedoch gleichzeitig inhaltlich von dieser Tradition ab. Für Lukács waren die Gegenständlichkeitsformen geschichtlich-gesellschaftlich bedingte Erkenntnisapriori im Bewusstsein. Er fokussier-

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te jene Problemstellungen, „die sich aus dem Fetischcharakter der Ware als Gegenständlichkeitsform [...] ergeben“ (Lukács 2000: 95). Dieser Fetischcharakter ist an die Verallgemeinerung der Warenform und deren je speziische Ausprägung in den gesellschaftlichen Teilgebieten gebunden. So zielt etwa die Kritik der Kulturindustrie primär auf die Durchsetzung der Warenform im Bereich der Kultur und insofern ließe sich diese mit Recht als Kultur- und Kommunikationstheorie bezeichnen – die allerdings gänzlich anders gelagert ist als die habermassche. Denn die Theorie der Verständigungsformen von Habermas ist universalhistorisch gefasst. Entsprechend ist Ideologie bei Habermas hier Folge struktureller Einschränkungen der Kommunikation. Sie wird bestimmt durch „das relative Apriori der jeweils herrschenden Verständigungsform“ (Habermas 1995b: 283). Dies lässt sich so verstehen, dass Habermas nun die strukturelle Einschränkung der Kommunikation als ideologisch ausweist, weil Sprache die Grenzen dessen bestimmt, was über Gesellschaft gesagt und gedacht werden kann und was nicht. Im Unterschied zu seiner frühen Kritik am technokratischen Denken setzt Habermas die Kritik nun an der Sprache selbst an. Die Fokussierung auf Sprache erscheint sinnvoll aufgrund der zunehmenden Bedeutung von (massenmedialer) Kommunikation und auch die Analyse der Verständigungsformen eröffnet der Ideologiekritik neue Gegenstandsbezüge – allerdings kaum in der von Habermas konzipierten Form. Denn durch Habermas’ speziische Rezeption der Sprechakttheorie wird die Sicht auf Machtverhältnisse gleich in zweifacher Hinsicht verstellt. Einmal, weil die materiellen und institutionalisierten Ausbeutungs- und Machtverhältnisse, also die vermachteten Rahmenbedingungen von Kommunikation, unterbelichtet bleiben und nur als Störfaktoren der Lebenswelt, nicht aber als deren integraler Teil begriffen werden können. Zum anderen, weil, wie oben gezeigt, der Sprache die Gewalt genommen wird und diese dadurch zu jenem Medium wird, in dem rational und ohne versteckte Interessen kommuniziert wird. Hier ließe sich einwenden, dass Habermas mit dieser Konstruktion einen Ort ausweisen will, der über das Bestehende hinausweist. Aber die Theoriekonstruktion lässt keine Zweifel, dass Habermas die ideale Sprechsituation als schon weitgehend verwirklicht setzt. Er argumentiert, dass durch die kulturelle Evolution der Verständigungsformen die strukturelle Einschränkung der Kommunikation abgebaut wird. Ermöglicht wird dies durch die fortschreitende „Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials“ (Habermas 1995b: 285). Er ist überzeugt, mit dem Prinzip der Versachlichung des Sakralen die Logik der menschlichen Kulturentwicklung, die eine Logik der Entfaltung des menschlichen Rationalitäts-

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potentials ist, gefunden zu haben. Ideologietheoretisch entscheidend ist hierbei, dass Habermas ein geschichtliches Telos der Entwicklung der Verständigungsform behauptet. „Mit der Einebnung des Rationalitätsgefälles zwischen dem profanen Handlungsbereich und einer deinitiv entzauberten Kultur büßt diese diejenigen Eigenschaften ein, die sie instand gesetzt hatten, ideologische Funktionen zu übernehmen“ (Habermas 1995b: 519). Habermas geht noch weiter: Dieser Fluchtpunkt kann nicht nur antizipiert werden, sondern dieser sei bereits erreicht. Im krassen Gegensatz zur klassischen Kritischen Theorie ist Geschichte für Habermas ein kognitiver und moralischer Lernprozess, ein echter positiver Fortschritt. Die positive sozialevolutionäre Entwicklungslogik hatte Habermas 1976 in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus umrissen: Auf der Annahme, dass Phylo- und Ontogenese homolog verlaufen, argumentiert Habermas, dass sich in Gesellschaft eine positive sozialevolutionäre Entwicklungslogik durchsetzt – über alle faktischen Rückschritte der konkreten, empirisch erfahrbaren gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik hinweg (vgl. Habermas 1976 9ff., 1995b: 258ff.). Die Verständigungsformen, so das Argument, werden im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung immer rationaler und durchsichtiger und damit inden Ideologien ihr Ende. Zu diesen Ideologien zählt Habermas „ein weites Spektrum wissenschaftlicher, meist pseudowissenschaftlicher Populäranschauungen, die von Anarchismus, Kommunismus und Sozialismus [...] bis hin zu Faschismus und Nationalsozialismus reichen“ (Habermas 1995b: 519). Deutlich zeigt sich, dass Habermas’ Begriff von Ideologie sich hier dem Alltagsverständnis annähert. Fokussierte die habermassche Ideologiekritik vormals das gesellschaftlich gültige, aber hinsichtlich der Emanzipation der Menschen falsche, weil technokratische Verständnis von Gesellschaft, begreift er nun im Sinne von Karl Mannheim alle in irgendeiner Weise normativen Anschauungen als Ideologien. Wenn aber die modernen Verständigungsformen soweit rationalisiert sind, dass Ideologien nicht mehr Raum greifen können, wie kann dann die Kolonisierung der Lebenswelt erklärt werden? Warum können die Menschen diese nicht erkennen? Habermas’ Antwort ist, dass heute an die Stelle umfassender Ideologien ein funktionales Äquivalent tritt – das fragmentierte Bewusstsein (vgl. Habermas 1995b: 521). „An die Stelle des ‚falschen‘ tritt heute das fragmentierte Bewußtsein, das der Aufklärung über den Mechanismus der Verdinglichung vorbeugt“ (Habermas 1995b: 522). Die zunehmende Verdrängung sozialer Integration durch systemische Integration bleibt also deshalb verdeckt, weil „Interpretationsleistungen auf dem Integrationsniveau von Ideologien gar nicht erst aufkommen“ (Habermas 1995b: 521) können. Das Alltagsbewusstsein kann sich infolge entweder an überlebte Traditionen an-

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hängen oder sich auf ein zersplittertes Weltbild einlassen. Beides erlaubt keine stabile Sozialintegration. Weil das Alltagsbewusstsein vage ist, verliert es die Deutungshoheit über die moderne, hochkomplexe soziale Welt zunehmend an ExpertInnen, mit denen es nicht konkurrieren kann und so „wird [es] seiner synthetisierenden Kraft beraubt, es wird fragmentiert“ (Habermas 1995b: 521, Hervorh. im Orig.). Die Folgen dieser Fragmentierung sind drastisch: Die „Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen Assimilation“ (Habermas 1995b: 522). Damit verändert sich die Problemstellung der Ideologiekritik wesentlich: Nicht mehr Ideologien bilden das Problem, sondern dass durch die Fragmentierung keine umfassenden Deutungen der sozialen Welt mehr vorgenommen werden können und über deren Einrichtung also nicht mehr diskursiv entschieden werden kann. 2.3 Kritik der technokratischen EU-Integration. Rückkehr zur Ideologiekritik? Wie sich zeigt, verschiebt Habermas die Bedeutung des Ideologiebegriffs schrittweise „from the belief formation to the public use of shared meanings“ (Bohmann 1999: 65), bevor er den Begriff dann dem Alltagsverständnis von Ideologie annähert und diesen als Analysekategorie fallen lässt. Allerdings zeigt sich u.a. in Habermas’ kritischer Begleitung der EU-Integration und seiner Globalisierungskritik, dass dieser dort partiell an die Diagnosen früherer Arbeiten anschließt. Kursorisch kann dies an einigen Aspekten der habermasschen Kritik verdeutlicht werden. Die habermassche Problemstellung ist, wie ökonomische Efizienz, soziale Sicherheit und Freiheit vereinbart werden können in Zeiten, in denen Staaten zunehmend in internationaler Konkurrenz stehen, ihre Politik primär an der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit ausrichten und dabei die soziale Integration vernachlässigen (vgl. Habermas 1998: 67ff.). Hinsichtlich der Integration der EU stellt Habermas ebenfalls einen Verlust der Kontroll- und Steuerungsfähigkeit der Staaten gegenüber den Märkten fest. Er kritisiert, dass die EU nicht allein als ökonomisches Projekt betrachtet werden darf, sondern es der Herstellung eines solidarischen europäischen Volkes bedarf, die dann erst erlaubt, redistributive Maßnahmen innerhalb der EU und eben nicht nur innerhalb der Nationalstaaten zu legitimieren (vgl. Habermas 2009: 158). Problematischerweise aber würde im Integrationsprozess die Steuerungsfähigkeit über die demokratische Legitimität der

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Institutionen wie des Einigungsprozesses selbst gestellt (vgl. Habermas 2013a: 92). Dies bleibt nicht ohne Folgen: „Ohne Rückkopplung mit einer dynamischen Öffentlichkeit und einer mobilisierbaren Bürgergesellschaft fehlt dem politischen Management der Antrieb, um die Imperative des anlagesuchenden Kapitals mit Mitteln demokratisch gesetzten Rechts und nach Maßstäben politischer Gerechtigkeit in sozial verträgliche Bahnen zu lenken.“ (Habermas 2013a: 91)

Die fehlende Legitimation des Einigungsprozesses ist damit konstitutiv für die Herrschaft der „Expertokratie“ (Habermas 2013b: 143). Diese Diagnosen lassen sich im Anschluss an Habermas’ Kritik der Technokratie ideologietheoretisch lesen. Habermas zeichnet nach, wie ökonomische Zwänge und neoliberale Denkmuster auf Mikro- wie Makroebene korrespondieren und sich selbst als rein technische, vernünftige, alternativ- und also ideologielose Prozesse präsentieren. Habermas benennt die politischen und sozialen Folgen der technokratischen Integration und bezeichnet treffend, dass die Subjekte zunehmend mit dem Zwang zur Optimierung und Anpassung an den Arbeitsmarkt konfrontiert werden. Gegen „vernunftkritisch abgerüstete Gesellschaftstheorien“ (Habermas 1998: 80, Hervorh. im Orig.), die Habermas in die Tradition Martin Heideggers einordnet und die predigten, dass „die Töchter und Söhne der Moderne [...] wieder lernen [sollen], in andächtiger Erwartung eines unbestimmten Seinsgeschicks ihr Knie zu beugen“ (Habermas 1998: 80), hält Habermas am normativen Selbstverständnis der Moderne fest. Für die europäische Einigung wie auch hinsichtlich der Idee einer politischen Weltgesellschaft gälte es, die Selbststeuerung von Gesellschaft unter der Prämisse deliberativer Demokratie gegen die nur scheinbar alternativlose und an Efizienzkriterien ausgerichtete Expertokratie stark zu machen. Habermas will über gesellschaftliche Zwänge aufklären und kritisiert die Verklärung von Ideologien zu ideologiefreien Sachzwängen. Die Stärke dieser Kritik liegt in ihrem engen und aktuellen Gegenstandsbezug, ohne dass darüber die historische Dimension der Diskussion ausgeblendet wird. Zugleich aber wird hier deutlich, dass Habermas den Begriff der Ideologie verabschieden musste, weil er sich der zentralen Idee der diskursiven Übereinkunft sperrt. Denn während diese keine Wahrheit als die diskursiv vereinbarte kennt und entsprechend ergebnisoffen und ziellos ist (vgl. Habermas 1971: 222ff.), bestimmen sich Wahrheit und Ideologie im Sinne der klassischen Kritischen Theorie an einer versöhnten Gesellschaft. Wie dies im Konkreten sich gestalten kann ist unklar, ex-negativo lässt sich aber über die Kritik aktueller Gesellschaft zeigen, dass diese gewisse Minimalanforderungen zu erfüllen hat, die

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sich benennen lassen: die Abschaffung verdinglichter, entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse, Angst und Hunger; kurz: soziale Revolution. Es ist also maßgeblich das transzendentale Moment des Ideologiebegriffs, das sich der deliberativen Demokratie und damit auch der Kritik der EU-Integration sperrt.

3. g rundlEgEndE d iffErEnzEn Die Theorie des kommunikativen Handelns bedeutet in mehrfacher Hinsicht eine Abkehr von Positionen, die Habermas vormals vertreten hatte. Er beschreibt diese als „Wendung von Erkenntnis- zur Kommunikationstheorie“ (Habermas 1982: 10f.). In dieser Wendung lässt er die marxsche Werttheorie genauso fallen wie den unter Rückgriff auf Freud geschärften Begriff der Ideologie. Die Veränderungen lassen sich an einigen Entwicklungssträngen aufzeigen. Die ideale Sprechsituation antizipiert Habermas schon vor der Theorie des kommunikativen Handelns. In den früheren Schriften, etwa in Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘, ist der Vorgriff ein utopisches Bild, das nur in der Kritik, also negativ bestimmt wird (vgl. Habermas 1984: 181). In der Theorie des kommunikativen Handelns sind die notwendigen Unterstellungen – wie der Vorgriff nun genannt wird – positiv ausgewiesen. Während Habermas in den späten 1960er Jahren die herrschaftlichen Momente von Sprache und Arbeit (ideologiekritisch) zu Bewusstsein bringen will, wird dieser Anspruch mit der Konstruktion des kommunikativen Handelns aufgegeben. Dadurch, dass der innere Zusammenhang von Arbeit (Produktion) und Kommunikation (Lebenswelt) aufgekündigt wird und diesen Bereichen unterschiedliche Medien zugeschrieben werden, geraten sowohl die herrschaftlichen Momente der Arbeit als auch die der Lebenswelt aus dem Blick. Die Produktion ist nicht mehr Ort der Mehrwertproduktion und als solcher Ursprung von Ausbeutung und Ideologie. Die Produktion von Waren wird vielmehr als ein quasi ideologieloser technischer Prozess und notwendiger Teil gesellschaftlicher Modernisierung interpretiert (vgl. Breuer 1985: 59). Der Gegenstandsbezug verschiebt sich also wesentlich. Die Veränderungen des Arbeitsprozesses und die damit korrespondierenden Veränderungen der Subjektivität werden ebenso vernachlässigt wie Habermas’ methodologischer Nationalismus die globale Dimension kapitalistischer Warenproduktion und -zirkulation ausblendet. Wenn Habermas die kapitalistischen Systemzwänge und Konkurrenzverhältnisse im Spätwerk zum Gegenstand macht (vgl. Habermas 1998, 2009, 2013a, 2013b), geschieht dies – wenig überraschend – ohne Rückgriff auf die in der Theorie des kommunikativen Handelns

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gewonnenen Einsichten und Theoreme, da diese dafür nicht fruchtbar gemacht werden können. Ebenfalls unterbelichtet bleiben einmal die für Kommunikation konstitutiven Bedingungen, allen voran jener bei Freud als schmerzhaft und entbehrungsvoll beschriebene Prozess der Subjektwerdung. Zudem inden die herrschaftlichen Momente der Sprache nicht ausreichend Berücksichtigung. Wenn erst das Einsickern lebensweltfremder Handlungslogiken zum Problem wird, zeigt dies, dass die Lebenswelt selbst und die Kommunikation als Orte verwirklichter Rationalität geheiligt und im Gegensatz zu Habermas’ früheren ideologiekritischen Schriften der Kritik entzogen werden. Eine macht- und herrschaftssoziologisch adäquate Erfassung von Kommunikation wird dadurch unmöglich. Die Theorie des kommunikativen Handelns bietet keinen Raum für die Analyse des historisch speziischen Sozialcharakters der Subjekte und deren sozialer Nahbeziehungen. Dies mag auch damit zu tun haben, dass der Anspruch der Theoriebildung und die Verbindung der Theorieelemente durchweg offen bleibt: Die Theorie ist universalhistorisch angelegt, konstruiert eine historische Abfolge von Kommunikationszusammenhängen, argumentiert dabei aber gerade nicht immanent, wie Herbert Schnädelbach meint (vgl. Schnädelbach 1987: 257), sondern abstrakt. Die Abfolge der Kommunikationstypen ist nicht historisch-soziologisch rekonstruiert, sondern heuristisch konstruiert. Es dürfte der Deutungsoffenheit des Lebensweltbegriffs geschuldet sein, dass Lebens- und Systemwelt zu sozialwissenschaftlichen Schlagwörtern wurden. Zentrale Begriffe, wie etwa Lebenswelt, bleiben jedoch unklar: Wie man annehmen muss, umfasst der Begriff familiäre und freundschaftliche Beziehungen sowie eine nicht näher bestimmte Schnittmenge von Kultur, Sozialem und Privatem. Die Veränderungen in der habermasschen Theoriebildung inden ihren Ausdruck in der Veränderung von theoretischen Anschlusspunkten, Begründungsmustern und Diagnosebegriffen wie dem der Ideologie. Interessant ist hier vor allem, dass Habermas’ Bruch mit der Ideologiekritik den Umweg über die Radikalisierung des Begriffes nahm. In Theorie und Wissenschaft als ,Ideologie‘ äußert Habermas, Ideologie habe sich heute so verallgemeinert, dass sie zur gläsernen Hintergrundideologie werde und stellt treffend fest, Gesellschaft würde maßgeblich nur noch hinsichtlich ihrer (technischen) Fähigkeit beurteilt, Güter bereitzustellen. Habermas’ frühe Antwort darauf war die Offenlegung und Bewusstmachung der Herrschaft in Arbeit und Sprache, kurz: (Selbst-)Aufklärung. Auf dem Weg zur Theorie des kommunikativen Handelns wählt Habermas dann einen anderen Zugriff, der seinem Selbstverständnis nach eine Rekonstruktion des Historischen Materialismus ist, auf dem er aber wesentliche gesellschaftstheoretische Aussagen

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sowohl der marxschen als auch der klassischen Kritischen Theorie verwirft. Es scheint, dass Habermas gerade aufgrund der Diagnose, Ideologie habe sich als gläserne Hintergrundideologie verallgemeinert, in der Theorie des kommunikativen Handelns die politische Öffentlichkeit als letzte Bastion gegen die umfassenden kapitalistischen Zwänge ausweisen musste – eine theoretische Wendung, die innerhalb des politikwissenschaftlichen Fachdiskurses äußerst einlussreich war. Denn die Vorstellung, dass es doch wenigstens einen Ort geben muss, der sich systemischen Zwängen sperrt, bietet diverse Anknüpfungspunkte für Legitimationsversuche der Gegenwartsgesellschaft, d.h. Ideologien, denen Habermas vormals auf den Leib gerückt wäre – mit Ideologiekritik.

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