Von der Energievergessenheit zur theoretischen Metonymie Energie als Medium der Gesellschaftsbeschreibung im 20. Jahrhundert

June 6, 2017 | Author: Rüdiger Graf | Category: Energy, Metonymy
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Hendrik Ehrhardt, Thomas Kroll (Hg.)

Energie in der modernen Gesellschaft Zeithistorische Perspektiven

Vandenhoeck & Ruprecht

Rüdiger Graf

Von der Energievergessenheit zur theoretischen Metonymie Energie als Medium der Gesellschaftsbeschreibung im 20. Jahrhundert 1. Kohlenwasserstoffgesellschaften und theoretische Metonymien Wohl keine Arbeit zur Geschichte des Öls und der Ölindustrie in der modernen Welt war und ist einflussreicher als Daniel Yergins 1991 erschienene, global angelegte und fast anderthalb Jahrhunderte umfassende Darstellung The Prize. The Epic Quest for Oil, Money, and Power. Schon der Titel verrät Yergins dramatisches Talent zur Verdichtung komplexer Ereigniszusammenhänge und Strukturen in personalisierten Erzählungen, das seine Arbeit zu einem Bestseller machte, der mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde und in einer achtstündigen PBS/BBC-Dokumentation verfilmt wurde. In The Prize versucht Yergin, drei Themenstränge miteinander zu verbinden: erstens die Wirtschaftsgeschichte des Aufstiegs der Ölindustrie zu einem der größten Wirtschaftssektoren, zweitens die politische Geschichte des Einflusses von Öl auf das internationale System, Kriege und Konflikte und drittens "how ours has become a ,Hydrocarbon Society' and we, in the language of anthropologists, ,Hydrocarbon Man'." 1 Im Verlauf des 20. Jahrhunderts habe das Öl die Kohle ersetzt und bilde seit dem Nachkriegsboom in den Ländern, die ihn erlebten, die Grundlage von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die Bedeutung des Öls und seine gesellschaftskonstituierende Kraft seien also im 20. Jahrhundert nicht zu unterschätzen: "It is oil that makes possible where we live, how we live, how we commute to work,

how we travel- even where we conduct our courtships. Oil (and natural gas) are the essential components in the fertilizer on which world agriculture depends; oil makes it possible to transport food to the totally non-self-sufficient megacities of the world. Oil also provides the plastics and chemieals that are the bricks and mortar of contemporary civilization, a civilization that would collapse if the world's oil wells suddenly went dry."2 Aufgrund der fundamentalen Bedeutung, die das Öl für die Wirtschaft, Politik und Gesellschaftsordnung im 20. Jahrhundert- von Yergin auch "century of oil" genannt - entfaltete, erscheinen Bezeichnungen wie "hydrocarbon society" oder "hydrocarbon man" auf den ersten Blick als plausibel. Dies gilt 1 Daniel Yergin, The Prize. The Epic Quest for Oil, Money, and Power, New York 1991. 2 Ebd., S. 14 f. .

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umso mehr als unter dem Eindruck des Klimawandels und den nicht mehr nur von radikalen Umweltaktivisten geführten politischen Diskussionen über den Übergang in "low carbon societies" oder auch "hydrogen societies", die Kohlenwasserstoffgesellschaft zunehmend als eine Episode erscheint, die in Zukunft überwunden werden kann und muss. 3 Bei genauerer Betrachtung wird jedoch ein Problem offenbar, das ein Begriff wie "hydrocarbon society" mit anderen gesellschaftstheoretischen Beschreibungen teilt, die momentan in der Zeitgeschichte hoch gehandelt werden, wie z. B. Informations-, Arbeits-, Dienstleistungs-, Wissens-, Risiko-, Netzwerkgesellschaft und so weiter. Sie sind insofern reduktionistisch, als sie einen Teil der Gesellschaft herausheben und als stellvertretend für das Ganze setzen und somit wie Metonymien funktionieren:

bung zugemessen wurde: Wer versuchte in welchen Kontexten, mit welchen Intentionen und welchen argumentativen und stilistischen Mitteln, Gesellschaften über den Begriff der Energie zu beschreiben bzw. seine Gegenwart als durch Energie definiert und konstituiert zu begreifen? Im Folgenden geht es also nicht darum, die energiewirtschaftliehen und energiepolitischen Veränderungen der 1960er und 1970er Jahre zu erfassen, sondern vielmehr darum, vor dem Hintergrund eben dieses inzwischen recht gut untersuchten Wandels zu fragen, wie Energie zu einer Kategorie der gesellschaftstheoretischen Reflexion und in theoretischen Metonymien zur Beschreibung unserer Lebens5 weise funktionalisiert und instrumentalisiert wurde.

"[ ... ] the endemic problern oftheoretical metonymy presents itself- taking the part for the whole, an account of certain aspects of late modernity for its range of quotidian realities, what is considered the essence or leading edge of change for the way things are. [... ] Metonymie bias afflicts practically all influential social and cultural theories - almost necessarily insofar as theoretical representations are, at 4 most, abridgments of the social realities they purport to describe."

2. Die relative Energievergessenheit der Sozialund Wirtschaftswissenschaften

Ihr metonymischer Charakter verbietet die einfache Übernahme der Begriffe als deskriptive Kategorien in die historische Beschreibungssprache. Vielmehr müssen sie ihrer augenscheinlichen Selbstverständlichkeit entkleidet werden, indem ihr Konstruktionsgehalt sichtbar und ihre politischen Konnotationen deutlich gemacht werden. Dazu müssen sie historisiert und ihre Entstehungskontexte genau herausgearbeitet werden, was im Folgenden anhand der metonymischen Beschreibung von Gesellschaften über ihren Energieverbrauch, also als "high-energy" oder "hydrocarbon society", geschehen soll. Während der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts waren die Bedingungen, die es zu einem Jahrhundert des Öls oder der Energie machten, weder in der Öffentlichkeit noch bei wissenschaftlichen Experten in den einschlägigen sozial- und humanwissenschaftliehen Disziplinen ein wichtiges Thema. Auch wenn man wie Yergin meint, Öl beziehungsweise Kohlenwasserstoffe und fossile Energieträger seien zu fundamental und ihre Bedeutung zu allumfassend gewesen, als dass sie den Menschen zu Bewusstsein gekommen wären, muss doch erklärt werden, warum sich dies seit den späten 1960er Jahren änderte. Nach einem kurzen Überblick über die relative Energie- und Rohstoffvergessenheit der - breit verstandenen - Sozialwissenschaften bis in die 1960er Jahre, wird also gefragt, wie es zur verstärkten Reflexion des Zusammenhangs von Energie und Gesellschaft kam und warum dem Energieverbrauch zunehmend metonymischer Charakter zur Gesellschaftsbeschrei3 Siehe zur Diskussion und zum Begriffsgebrauch http://www.low-carbon-society.org; http:// lowcarbon.inforse.org; http ://www.hydrogensociety.net. 4 Steven Shapin, The Scientific Life. A Moral History of a Late Modern Vocation, Chicago 2008, S. 4.

Versuche, naturwissenschaftliche Begriffe und Methoden auf die Sozial- und Kulturwissenschaften zu übertragen, sind so alt wie diese Disziplinen selbst. Schon im frühen 19. Jahrhundert, also sowohl vor der Formulierung der thermodynamischen Gesetze als auch vor der Ausdifferenzierung der Wissenschaftslandschaft, fungierte der Energiebegriff als Instrument zur Gesellschaftsbeschreibung, die oft mit utopischen Vorstellungen verbunden war: Durch Maschinen und eine rationellere Nutzung von Energie sollten die Mühen der körperlichen Arbeit abgeschafft und eine neue Gesellschaft errichtet werden. 6 In den entstehenden Humanwissenschaften war die Metapher der Energie noch wirkungsvoller und zwar zur Beschreibung der Aktivität des als "human motor" verstandenen Körpers. 7 Auch bei Gründervätern der Soziologe wie Herbert Spencer finden sich Überlegungen, dass der Energieverbrauch ein Indikator für den Entwicklungsstand von Gesellschaften sei, aber bis weit ins zwanzigste Jahrhundert wurden diese Gedanken eher von Außenseitern des Faches aufgegriffen und weiter ausgebaut, an die sich keine 5 Allgemein zum Wandel der Energieträger und Energiepolitik in westlichen Industrienationen siehe einführend zum Beispiel: David Edwin Nye, Consuming Power, Cambridge/Mass. 1998; Martin Czakainski, Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1980 im Kontext der außenwirtschaftliehen und außenpolitischen Verflechtungen, in: Jens Hohensee/Michael Salewski (Hg.), Energie- Politik- Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 17- 34; Vaclav Smil, Energy in the Twentieth Century. Resources, Conversions, Costs, Uses, and Consequences, in: Annual Review ofEnergy and the Environment 25 (2000}, S. 21-51; John G. Clark, The Political Economy of World Energy. A Twentieth-century Perspective, New York 1990; Yergin, Prize (Anm. 1). 6 Dolores Greenberg, Energy, Power, and Perceptions of Social Change in the Early Nineteenth Century, in: American Historical Review 95 (1990}, S. 693-714, hier S. 709. 7 Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley 1990.

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Schulen oder größeren Forschungsanstrengungen anschlossen. 8 Überblickt man die Geschichte der Versuche, den Energiebegriff zur Gesellschaftsbeschreibung nutzbar zu machen, bis in die 1960er Jahre, so kann man kaum umhin, dem Anthropologen Richard Newbold Adams zuzustimmen, der 1978 urteilte: "The history of applying the notion of energy to the analysis of human societies and cultures has been a tale of frustration." 9 Bereits um die Jahrhundertwende versuchte der Chemiker Wilhelm Ostwald, der für seine Arbeiten zur Katalyse den Nobelpreis erhielt, eine "Grundlegung der Soziologie vom Gesichtspunkt der Energetik aus", da sich alle Dinge und Geschehnisse in der Welt über ihre Energiebilanz auf wissenschaftlich exakte Weise begreifen ließen. 10 In seiner Energieeuphorie, die er auf seinem Landsitz auslebte, dem er den Namen "Energie" gegeben hatte, ging Ostwald so weit, Kants kategorischen durch einen energetischen Imperativ als Grundprinzip der Moral zu ersetzen: "Vergeude keine Energie, verwerte sie!" 11 Ganz ähnlich sah fast zeitgleich der britische Chemiker und Nobelpreisträger Frederick Soddy die Energie der Sonne und ihre Speicherungs- und Transformationsformen als den cartesianischen Punkt, von dem aus alle Wirtschaftsbetrachtung zu beginnen habe. 12 Überlegungen dieser Art stießen aber innerhalb der sich etablierenden Sozialwissenschaften auf wenig Resonanz - in Deutschland nicht zuletzt weil Max Weber sie einer vernichtenden Kritik unterzogen hatte, mit der er die Selbstständigkeit kulturwissenschaftlicher Methoden gegen die Anmaßungen des Naturalismus zu verteidigen suchte. 13 Diese Außenseiterposition änderte sich weder mit Lewis Mumfords Integration des Energiebegriffs in seine groß angelegte Geschichte der technischen Zivilisation (1934) noch mit Fred Cottrells 1955 erschienener Zivilisationsgeschichte.14 Cottrell erhob die "Energie" zum entscheidenden zivilisationsgeschichtlichen Indikator und unterschied "low-energy societies" von seiner Ansicht nach notwendig auf Kohle basierenden- "high-energy societies" und versuchte, energiewirtschaftliche und soziale Transformationsprozesse miteinander zu korrelieren. 15 In den Mainstream des sozialwissenschaftliehen Denkens fand Energie hingegen bis in die 1960er Jahre keinen Eingang, sondern hier dominierten andere Themen - die Suche nach dem

Begriff Energie in den Registern soziologischer Klassiker bleibt erfolglos. Diese relative Energievergessenheit bzw. die Tatsache, dass Energie bis in die späten 1960er kein wichtiger Begriff der gesellschaftstheoretischen Reflexion war, bestätigt auch ein Blick in sozialwissenschaftliche Nachschlagewerke. Noch im Jahr 1968 findet sich in der International Encyclopedia of the Social Seiences kein Stichwort zu Energie oder einem verwandten Thema. Die neueste Ausgabe von 2008 verzeichnet hingegen Artikel zu "Energy", zur "Energy Industry" und zum "Energy Sector". In seinem Artikel zu "Energy" definiert John Gowdy diese im weiten Sinne als ''the ability to do work", die eine entscheidende Rolle in der kulturellen Evolution des Menschen spiele, insofern die Ausbildung immer komplexerer Gesellschaftsformen von der Fähigkeit, Energie zu beherrschen und nutzbar zu machen, angetrieben sei: "Energy has been a crucial factor in human cultural evolution. The evolution of increasingly complex human societies was driven by the capacity to harness energy. Harnessing energy may have also played a key role in our biological evolution." 16 Dementsprechend argumentiert auch Faye Duchins in dem Artikel zum "energy sector", dass der Wohlstand in den industrialisierten Ländern des 20. Jahrhunderts auf der hochkonzentrierten Energie beruhe, die in fossilen Energieträgern und vor allem im leicht verfügbaren Öl gefunden und nutzbar gemacht wurde. 17 David Walls greift dann auf eine bereits breite Forschungsliteratur zur Bestimmung des Verhältnisses von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum zurück. 18 Innerhalb des relativ kurzen Zeitraums von vierzig Jahren war also in den Sozialwissenschaften ein ausdifferenzierter Kanon von energiebezogenem Wissen entstanden, der Grundannahmen von Autoren wie Ostwald oder Soddy teilte, sie aber besser operationalisierbar und allgemeiner anschlussfahig machte. Ein ganz ähnlicher Befund ergibt ich bei der Lektüre des Staatslexikons der Görres Gesellschaft, in dessen sechster Auflage von 1958 zwar Artikel zur Elektrizitätswirtschaft, zum Energierecht und zur Energiewirtschaft zu finden sind, die aber auf eher spezielle und technische Fragen eingehen und nicht das Verhältnis von Gesellschaft und Energie als solcher diskutieren. Erst die siebte Auflage von 1986 führt neben diesen Begriffen einen eigenen Artikel zu Energie an, in dem Peter Koslowski diese zunächst nach der physikalischen Definition als gespeichertes Arbeitsvermögen begreift. 19 Nach einer Auseinandersetzung mit dem ersten und dem zweiten Satz der Thermodynamik konstatiert Koslowski einen engen Zusammenhang zwischen Technik und sozialer Ordnung: "Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation ist mit der Fähigkeit des Menschen verbunden, sich außermenschliche E[nergie] in

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8 Siehe dazu die historischen Ausführungen bei Eugene A. Rosa u.a., Energy and Society, in: Annual Review ofSociology 14 (1988), S. 149-172. 9 Richard Newbold Adams, Man, Energy, and Anthropology. I Can Feel the Heat, but Where's the Light?, in: American Anthropologist 80 (1978), S. 297-309, hier S. 298. 10 Wilhelm Ostwald, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft, Leipzig 1909, S. 3, 21. 11 Ders., Der energetische Imperativ, Leipzig 1912, S. 85. 12 Frederick Soddy, Cartesian Economics. The Bearing ofPhysical Science upon State Stewardship, London 1922, S. 4.; ders., Matterand Energy, New York 1912. 13 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 376-402. 14 Lewis Mumford, Technics and Civilization, New York 1934. 15 W. Fred Cottrell, Energy and Society: The Relationship between Energy, Social Change, and Economic Development, New York 1955.

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16 John M. Gowdy, Energy, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, 2. Aufl., Bd. 2, Detroit u. a. 2008, S. 587 f. 17 Faye Duchin, Energy Sector, in: ebd., S. 591 f. 18 David Walls, Energy Industry, in: ebd., S. 588-591. 19 Peter Koslowski, Energie, in Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft. Hg. v.d. Görres Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 2, Freiburg/Basel/Wien 1986, Sp. 247-253.

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immer größerem Umfang nutzbar zu machen." 20 In groben Zügen entwirft er dann eine Zivilisationsgeschichte des steigenden Energieverbrauchs vom Holz über die Kohle zum Öl. Das Staatslexikon deutet also darauf hin, dass der Energiebegriff in den 1960er bzw., wenn man die Publikationsdaten der International Encyclopedia of the Social Seiences mit in Betracht zieht, vor allem in den 1970er Jahren zu einem Instrument der Gesellschaftsbeschreibung geworden sein muss. Dies korrespondiert mit der Behandlung des Begriffs in den Wirtschaftswissenschaften. Auch hier gibt es Solitäre wie Thomas Nixon Carver, die schon früh die These vertraten, alles menschliche und damit auch alles wirtschaftliche Verhalten sei über den Energiebegriff zu erfassen, aber im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften spielten Energie und Rohstoffe keine entscheidende Rolle. 21 Liest man die breite zeitgenössische Literatur zum wirtschaftlichen Nachkriegsboom, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass die günstige Verfügbarkeit von Rohstoffen keine Rolle für die rasanten Wachstumsprozesse spielte.22 Zwar erschienen im Verlauf des 20. Jahrhunderts vereinzelte Aufsätze, zur "Ökonomie erschöpfbarer Ressourcen", aber erst Ende der 1960er und Anfang der 1970er rückte energy economics mit einer Welle von Analysen der Ressourcenproblematik, der Einrichtung von Professuren, der Publikation von Lehrbüchern und der Gründung von Zeitschriften ins Zentrum des wirtschaftswissenschaftlichen Interesses. 23 Auch in der Anthropologie nimmt sich der Prozess nur unwesentlich anders aus. Hier hatte Leslie White 1949 eine wissenschaftliche Analyse menschlicher Kultur- und Zivilisationsformen unter Rekurs auf den Energiebegriff zu begründen versucht: "Everything- the cosmos, man, culturemay be described in terms of matter and energy. "24 Die Kulturentwicklung sei als ein Prozess zu verstehen, in dem entweder die Menge der pro Kopf innerhalb einer Gesellschaft verbrauchten Energie oder die Effizienz, mit der diese eingesetzt werde, zunehme. Nach der Agrarrevolution habe sich vor allem seit der "fuel revolution" die Geschwindigkeit der Veränderungen rasant erhöht. White, der 1964 Präsident der American Anthropological Association wurde, war innerhalb seines Faches einflussreicher als die oben angeführten

Sozialwissenschaftler, und Schüler von White wie Marshall David Sahlins entwickelten sein Verständnis von Kulturen als thermodynamische Systeme fort. 25 Auch Marvin Harris begann schon in den 1960er Jahren, den Energiebegriff in seinen anthropologischen Untersuchungen zu nutzen, aber letztlich erfolgte auch in der Anthropologie der wirkliche take-off der theoretischen Metonymie erst in den 1970er Jahren mit den Arbeiten von Harris, 26 Richard Newbold Adams und anderen.

20 Ebd., Sp. 248. 21 Thomas Nixon Carver, The Economy ofHuman Energy, New York 1924. Ein Vorwurf, der von den Vertretern der Ressourcenökonomie in den 1970er Jahren besonders vehement erhoben ~rde: "Standard economists have completely disregarded the unique roJe of natural resources t? the economic process." Nicholas Georgescu-Roegen, Energy, Matter, and Economic Valuatlon. W~ere Do We Stand, in: Herman E. Daly/Alvaro F. Umana (Hg.), Energy, Economics, and the Envtronment. Conflicting Views of an Essential Relationship, Boulder/Col. 1981, S. 43- 80, hier S. 45. 22 P[artha] Dasgupta/G[eoffrey) M. Heal, Economic Theory and Exhaustible Resources, Welwyn/ Cambridge 1979, S. 1. 23 F. M. Peterson/A. C. Fisher, The Optimal Exploitation ofExtractive Resources. A Survey, in: The Economic Journal87 (1977), S. 681-721, hier S. 705. 24 Leslie A. White, The Science of Culture. A Study of Man and Civilization, New York 1949, S. 376.

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3. Praktiker der Zivilisationskonstitution durch Energie Während die theoretische Erfassung der Gesellschaft über den Energiebegriff bis weit in die 1960er Jahre hinein also nur wenige Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler überzeugen konnte, änderte sich dies im Zeitraum von den späten 1960er bis zu den frühen 1980er Jahren. Bevor allerdings die Etablierung der theoretischen Metonymie beschrieben und nach ihren Ursachen gefragt werden kann, muss zunächst gefragt werden, ob sie nicht in anderen Bereichen bereits verbreitet war, so dass auch eine alternative Genealogie ihrer Formulierung möglich wäre. Dabei zeigt sich, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so sehr die Theoretiker der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften über die Zivilisationskonstitution durch Energie Gedanken machten, als vielmehr die Praktiker der Energieversorgung, die die Bedeutung der Energie für die moderne Gesellschaft betonten und zu diesem Zweck oft ganze Zivilisationsgeschichten entwarfen. Vertreter der Kohle, Öl- oder Atomindustrie sowie der Elektrizitätswirtschaft unterstrichen in ihren öffentlichen Verlautbarungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer den fundamentalen Beitrag, den ihre Unternehmen bzw. ihre Branchen oder die Energiewirtschaft im Allgemeinen fur die Entstehung der modernen Zivilisation hatten und in Zukunft haben würde. So versuchte der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Friedrich Schumacher, der von 1950 bis 1970 Chefökonom der britischen Kohlebehörde war, mit allen Mitteln die Position der Kohle gegen die bedeutsamer werdenden Energieträger Öl und Atomkraft zu verteidigen. Zu diesem Zweck wies er immer auf die elementare Bedeutung der Energie überhaupt für die Struktur moderner Industriegesellschaften hin: "There is no substitute for energy; the whole edifice of modern life is built upon it", 27 erklärte er 1964 und hatte schon

25 Marshall David Sahlins u.a., Evolution and Culture, Ann Arbor 1960. 26 Marvin Harris, The Economy Has No Surplus, in: American Anthropologist 61 (1959), S. 185199; Marvin Harris, Culture, People, Nature. An Introduction to General Anthropology, New York 19752 ; ders., Cultural Materialism. The Struggle for a Science of Culture, New York 1979; Richard Newbold Adams, Energy and Structure. A Theory of Soda! Power, Austin 1975. 27 Ernst F. Schumacher, Energy Supplies - the Need for Conservation. (Energy International,

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zwei Jahre zuvor vor dem britischen National Coal Board Management ausgeführt: "If fuel is short, everything is short. Although one fuel can substitute for another, nothing can substitute for fuel. " 28 Eine stabile Energiezufuhr war also für Schumacher essentiell für die Fortexistenz moderner, hochindustrialisierter Gesellschaften, wie sie sich in Europa, den USA und Japan entwickelt hatten, und er meinte, dass diese letztlich nur durch Kohle sichergestellt werden könne. Denn nur Kohle sei in ausreichendem Maß in den Industrieländern vorhanden, während der Fluss des Öls seit der Gründung der OPEC gefährdet sei: "Western Europe's hopes of maintaining its prosperity and lifestyle to the end of the century and beyond must rest on a permanently adequate, accessible fuel supply, that is, in the first place, on the West European coal industry. This must be conserved and used with care. " 29 Vertreter der anderen Energieträger teilten Sehnmachers Ansicht über die fundamentale Bedeutung der Kohle naturgemäß nicht, aber sie stimmten grundsätzlich dahingehend mit ihm überein, dass Energie der Grundstoff der modernen Zivilisation sei. Ein Blick in die Publikationsorgane der American Association of Petroleum Geologists oder der Society of Petroleum Engineers aus den 1960er Jahren offenbart ein geradezu überbordendes Standesbewusstsein, das auf der angenommenen gesellschaftlichen Bedeutung der eigenen Tätigkeit beruhte und gepaart war mit einem vollkommen ungebrochenen Fortschrittsoptimismus sowie missionarischem Eifer. So forderte z. B. Merrill W. Haas, der Präsident der amerikanischen Gesellschaft der Petroleum Geologen, seine Kollegen 1966 dazu auf, stärker öffentlich wirksam zu werden, denn schließlich basiere der gesamte "American Way of Life" mitallseinen Annehmlichkeiten, um den man von den meisten Nationen beneidet werde, auf Öl und den Produkten der Petroleum-Industrie, die wiederum auf dem Erfolg der Geologen beruhten:

die entscheidende Aufgabe zukomme, die Gesellschaft "jederzeit und in ausreichendem Umfang mit diesem so unentbehrlich gewordenen Geschenk der Natur zu versorgen. " 31 Energie sei der Schlüssel zum modernen Leben und der Energieverbrauch ein Indikator für den "Reifegrad einer Volkswirtschaft" und den "Lebensstandard der Bevölkerung". 32 Für die Atomwirtschaft lassen sich leicht identische Argumentationsmuster anführen, die zudem oft gepaart waren mit geradezu utopischen Versprechen einer Zukunft, in der Energie im Überfluss zum allgemeinen Nutzen vorhanden sein würde. So erklärte zum Beispiel der Vorsitzende der US-amerikanischen Atomic Energy Commission Glenn T. Seaborg: "The future of energy is the future of man.Without it, we become nothing. With it we become whatever we wish and strive to be.'


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