Visualisierung der Stadt Uruk / Irak – Erhalt und Präsentation fragiler Lehmziegelarchitektur, in: M. Müller – Th. Otten – U. Wulf-Rheidt, Schutzbauten und Rekonstruktionen in der Archäologie. Von der Ausgrabung zur Präsentation. Xanten 21.-23. Oktober 2009
Visualisierung der Stadt Uruk/Irak – Erhalt und Präsentation fragiler Lehmziegelarchitektur
Seit fast 100 Jahren wird in der mesopotamischen Stadt Uruk, 300 km südlich von Baghdad, archäologisch gearbeitet (Abb. 1). Die Stadt gehört zu den frühen Großstädten der Welt. Schon zu Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. erreichte sie eine Nutzungsfläche von 5,5 km² innerhalb einer Stadtmauer und war sehr früh schon noch weit größer, rechnet man die vielen Vororte ein, die spätestens im ausgehenden dritten Jahrtausend v. Chr. nachzuweisen sind (Abb. 2). Herausragende, nicht nur für die vorderasiatische Archäologie wesentliche Befunde wurden hier dokumentiert und zivilisatorische Neuerungen nachgewiesen, wie monumentale, durchgeplante LehmziegelArchitektur aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends v. Chr., Kunstobjekte höchster Qualität und Schrifterfindung spätestens um 3200 v. Chr. sowie, damit verbunden, der sehr frühe Nachweis komplexer Verwaltung, zentralisierter Arbeitsorganisation und politischer Einflussentfaltung auf größere Regionen. Uruk war etwa 4500 Jahre besiedelt und spielte, trotz Verlustes der politischen Macht schon im Verlauf der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr., als regionales Verwaltungs-, Wissenschafts- und religiöses Zentrum der Liebes- und Kriegsgöttin Ischtar während aller mesopotamischer Epochen eine besondere Rolle. Die archäologischen Befunde von Uruk gehören damit fraglos ideell in den Rang des Weltkulturerbes und der Staat Irak sieht den Ort folgerichtig in einer tentative list zur zukünftigen Nominierung als Weltkulturerbe vor.
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Befunderhaltung Uruk ist eine für vorderasiatische Verhältnisse besonders gut erhaltene Ruine. Sie war nach der frühen sasanidischen Zeit, also im 3./4. Jahrhundert n. Chr., nicht mehr besiedelt und wurde deshalb auch nicht weiter überbaut. Einige Befunde Uruks blieben in Mesopotamien bislang einzigartig. So z. B. die Entdeckung des zum Zeitpunkt der Ausgrabung noch über 2 m hoch erhaltenen „Weißen Tempels“ auf der so genannten Anu-Zikkurrat des ausgehenden 4. Jahrtausends v. Chr1. Es ist der bislang einzige archäologische Nachweis eines Tempels auf einer Hochterrasse, wie sie aus jüngerer Zeit in Schriftzeugnissen bekannt sind (Abb. 3). Auch das Umland der Stadt ist, durch seine heute abseitige Lage vom Wasser sowie eines nahen Dünengürtels, in den letzten 1500 Jahren kaum genutzt worden. Antike Kanalverläufe, Dattelpalm-Pflanzgruben wahrscheinlich aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. sowie eine Vielzahl kleiner Dörfer und Weiler sind erhalten und erlauben die umfassende Rekonstruktion der Nutzung des Umlandes. Die archäologischen Befunde sind sowohl national als auch international bekannt und werden für die Öffentlichkeit gerne, in Teilen zu Recht, mit Beschreibungen im berühmten Gilgamesch-Epos in Verbindung gebracht. Der Ort hat damit theoretisch ein hohes touristisches Potenzial und wurde in der Vergangenheit auch regelmäßig von Kulturreisenden und regiona-
R. Eichmann, Uruk. Die Stratigraphie. Grabungen 1912–1977 in den Bereichen ‚Eanna’ und ‚Anu-Ziqqurrat’. Ausgr. in UrukWarka. Endber. 3 (Mainz 1989).
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Karte des Irak.
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Plan der Ruine Uruk-Warka.
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len Schulklassen aufgesucht. Häufig ist die Enttäuschung von Laien jedoch groß, wenn sie nach noch sichtbaren Resten der langjährigen Grabungen suchen: viele berühmte Architekturbefunde sind zugeschüttet, andere sind, vor allem durch Winderosion, erkennbar stark gefährdet. Es ist absehbar und verständlich, dass Abhilfe geschaffen werden muss.
Voraussetzungen für Schutz und Rekonstruktion Aufgrund der regionstypischen Bauweisen und Baumaterialien können hierbei jedoch nicht ohne Weiteres bewährte Wege der Freilegung, Konservierung und Präsentation von Originalbausubstanz vor Ort gegangen werden. Die Architektur Uruks nutzte vor allem das Baumaterial Lehmziegel. Gebäude wurden vergleichsweise häufig vollständig erneuert und hierfür immer wieder bis zu ihren Fundamenten abgetragen. Neue Bauwerke wurden auf den älteren Fundamenten errichtet, sodass sich über die Jahrhunderte eine Vielzahl unterschiedlicher Schichten erhaltener Fundamente übereinander akkumulierte und die Stadt teilweise bis zu 25 m in die Höhe wachsen ließ. In der überwiegenden Mehrzahl sind diese Fundamente das, was Archäologen als gut erhaltene Bausubstanz ausgraben. Dies gilt in ganz besonderem Maße für die so genannten Archaischen Bauschichten des ausgehenden 4. und beginnenden 3. Jahrtausend v. Chr., für die Uruk besonders bekannt wurde (Abb. 4), aber auch für Befunde anderer Epochen. Die archaische Architektur ist zwar hervorragend archäologisch dokumentiert und Objekt vielfacher Interpretations- und Rekonstruktionsvorschläge, sie ist oftmals jedoch nur 10–20 cm hoch erhalten (Abb. 5). In unserem Fall ist also nicht ein besonders hoch erhaltenes Bauwerk, sondern die dichte Abfolge von Fundamentschichten zusammen mit teilweise noch gut erhaltenen, dekorierten Schichten des aufgehen-
den Mauerwerks die herausragende Befundsituation. Sowohl wegen ihres fragilen Materials, der immensen Fläche ihrer Ausdehnung von ca. 28 000 m² als auch wegen der dichten Abfolge faszinierender Schichten, die nicht zugunsten einer besonders präsentablen Schicht zerstört werden sollten, lassen sie sich nicht am offenen Befund erläutern. Angesichts der klimatischen Verhältnisse – extreme Temperaturen, harsche Wind- und im Winter starke Regen-Erosion – die originale Bausubstanz zu präsentieren, würde diese auch nach vorausgegangenen Konservierungsmaßnahmen innerhalb weniger Jahre vollständig erodieren lassen. Neben den schwierigen Erhaltungsbedingungen für Lehmziegelmauerwerk sind darüber hinaus die Dimensionen fast aller Bauwerke Uruks zu gewaltig, als dass man sie mit Mitteln, die nicht einen wesentlichen Eingriff in den Boden und damit in noch ältere Schichten bedeuten würden, erfahrbar machen könnte. Bisherige Erfahrungen mit Konsolidierungsmaßnahmen an meist höher erhaltener Lehmziegelarchitektur, z. B. durch chemische Festigung der Lehmziegel oder Schutzbauten zeigen, dass darunterliegende Schichten oder umliegendes, nicht ausgegrabenes Erdreich sowohl wegen der in Kapillarwirkung aufsteigenden Bodenfeuchtigkeit gelockert als auch vom ständigen Wind weggetragen wird und damit jede gefestigte Bausubstanz und jeder Schutzbau schnell an Fundament verliert und, wenn er nicht regelmäßig gepflegt wird, als Ganzes wegzubrechen droht2. Die konsolidierte, originale Bausubstanz wäre hierdurch wesentlich stärker gefährdet als durch die bisherigen Maßnahmen des Zuschüttens der Grabungsbereiche3. Auch angesichts der nun schon lange andauernden Krisensituationen im Irak, während der die notwendige, ständige Pflege der ausgegrabenen Bausubstanz fast vollständig unterblieb, erwies sich in Uruk mittelfristig das Verfüllen der fragilen Architekturbefunde als einzige Möglichkeit des Erhalts. Die berühmten urukzeitlichen Schichten wurden in den 1960/70er Jahren verfüllt und sind noch weitgehend intakt, soweit dies einzuschätzen ist.
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Das Phänomen wurde an mehreren vorderasiatischen Ruinen beobachtet und auf unterschiedliche Art und Weise zu lösen versucht. Ein Beispiel ist Mari, wo der Kapillarwirkung aufsteigenden Grundwassers besonderes Augenmerk geschenkt wurde: M. Bendakir/ J.-C. Margueron/F. Vitoux, Erhaltungsmaßnahmen für die Lehmziegelarchitektur. Bericht über den Stand der Forschungen in Mari. Baghdader Mitt. 34, 2003, 165–179 bes. 168–175.
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Allgemein zur Problematik und Lösungsansätzen R. Eichmann, Erhaltung vergänglicher Architektur. Gesammelte Eindrücke eines archäologischen Kolloquiums zur Konservierung von Lehm(ziegel)bauten. In: P. Butterlin u. a. (Hrsg.), Les espaces syro-mésopotamiens. Dimensions de l’expérience humaine au Proche-Orient Ancien, volume d’hommage offert à J.-C. Margueron. Subartu 17 (Turnhout 2006) 387–393.
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Uruk, Anu-Zikkurrat mit „Weißem Tempel“. Fotografie aus der Grabungskampagne 1935/36.
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Uruk. Schichtenabfolge der urukzeitlichen Bauschichten im Eanna-Bereich.
Uruk. Gebäude C der späten Uruk-Zeit, erhaltene Mauerstrukturen.
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Uruk. Gareus-Tempel der parthischen Zeit. Fotografie aus dem Jahr 1972.
Konservierungsmaßnahmen Selbstverständlich gilt auch für Uruk, dass gut erhaltene, in der Bausubstanz stabile Bauwerke konsolidiert und im Original präsentiert werden sollen. Die Anu-Zikkurrat mit dem „Weißen Tempel“ wäre fraglos als ein solches Bauwerk anzusehen. Die Konservierung wurde in den 1980er Jahren verschiedentlich in Angriff genommen, jedoch durch die kriegerischen und politischen Umstände unterbrochen4. Eine besondere Herausforderung dieses Bauwerks ist, dass es sich um einen aus Lehmziegeln errichteten, auf einer antiken Lehmziegel-Hochterrasse exponierten Tempel handelt, beides der Wind- und Regen-Erosion ausgesetzt. Die Größe des Bauwerks und die Nähe weiterer antiker Bauten machen eine Einhausung weder möglich noch ist sie visuell befriedigend zu lösen.
Ein Schutzdach würde die starke Winderosion nicht unterbrechen können und zudem in noch unbekannte, der Ausgrabungserfahrung nach aber in schneller Schichtenfolge anstehende, ältere Tempelanlagen eingreifen müssen. Die bisherige Konzeption sah daher einen Schutz der Tempelmauerreste durch eine dünne Verschalung mit Lehmziegeln, teilweise Ergänzung der Mauern, Aufbringen neuer, aber in traditioneller Technik aufgebrachter Putze sowie eine leichte Erhöhung der Begehungsniveaus durch neue Lehmpackungen vor. Diese Art der Konservierung setzt eine ständige Pflege voraus, die in Konfliktzeiten ganz offensichtlich nicht aufrechterhalten werden kann. Ein in Uruk umgesetztes Beispiel ist der parthische Gareus-Tempel des 2. Jahrhunderts n. Chr., der aus Backsteinen errichtet und hoch erhalten war (Abb. 6). Er wurde 1971/725 konservatorischen Maßnahmen
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Als jüngste Maßnahme wurden Ende der 1990er Jahre auf Initiative der Orient-Abteilung des DAI die Außenflanken der Hochterrasse sowie die Fußböden des Tempels durch eine Lehmziegel- bzw. Lehmzusetzung verschalt und Abflussrinnen für Regen eingerichtet, um dem weiteren Verfall gewissen Einhalt zu gebieten. Es handelt sich jedoch um eine Maßnahme, die einer umfassenden Konservierung nur teilweise Genüge leistet und zudem unter Repräsentationsaspekten unbefriedigend ist.
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J. Schmidt, Restaurierungsarbeiten am Gareus-Tempel. In: J. Schmidt u. a., 29. und 30. vorläufiger Bericht über die von dem Deutschen Archäologischen Institut aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft unternommenen Ausgrabungen in Uruk-Warka, 1970/71 und 1971/72 (Berlin 1979) 91–92.
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Uruk. Gareus-Tempel. Fotografie aus dem Jahr 2002.
unterzogen und in einigen Teilen restauriert. Er bedarf inzwischen, nach über 20-jähriger erschwerter Zugänglichkeit, sicherlich baldmöglicher weiterer Konsolidierung, ist aber derzeit noch stabil (Abb. 7). Solch gut erhaltene, hoch anstehende Architektur ist jedoch in Südmesopotamien und auch in Uruk selten, vorherrschend sind die geschilderten fragilen Fundamentmauerbefunde.
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Alle Visualisierungen erfolgen nach dem Grundsatz strenger Wissenschaftlichkeit. Mit ausreichender Wahrscheinlichkeit belegte bzw. stärker hypothetische Befunde werden visuell unterschiedlich behandelt und, wo sinnvoll, zwischen verschiedenen Wahrscheinlichkeitsstufen unterschieden. Zugrunde gelegt werden hierbei die Grundsätze der Londoner Charta für die computergestützte Visualisierung von kulturellem Erbe (1.8.2010).
Rekonstruktion am Computer Zur Präsentation und besseren Erläuterung werden daher derzeit in einem vom DAI geförderten Projekt, mit besonderem Fokus auf die Befunde, die im Original nicht zugänglich gemacht werden können, Architektur Uruks dreidimensional visualisiert. Mit dem Projekt sollen Informationen für mehrere Zielgruppen erarbeitet werden. Zum einen werden bestehende, zweidimensionale Rekonstruktionen durch die Einbeziehung aller Details in der dritten Dimension erneut überprüft und darüber neue, wissenschaftlich begründete Rekonstruktionsvorschläge erarbeitet6, zum anderen soll Nicht-Spezialisten ein Eindruck von der ursprünglichen Bebauung gegeben und damit das komplexe Studium von archäologischen Plänen erleichtert werden. Hierbei wird sowohl an den interessierten Laien gedacht, der
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Uruk. Satellitenbild mit Höheninformation.
nicht in den Irak reisen kann, als auch an zukünftige Touristen vor Ort. Darüber hinaus versprechen wir uns, die Daten auch im Rahmen eines möglichen, zukünftigen Nominierungsprozesses zum Weltkulturerbe nutzen zu können. Neben der Rekonstruktion von Architekturbefunden wird daher derzeit aus vorhandenen Boden- sowie neuen Satellitendaten auch ein dreidimensionales digitales Höhenmodell der Stadt erarbeitet, das anschließend an die jeweiligen Zeitstufen angepasst wird (Abb. 8). Historische Luftbilder (Abb. 9), hoch aufgelöste rezente Satellitenbilder als auch eine Prospektion von Teilen der Stadt mittels Cäsiummagnetometrie erlauben inzwischen eine Interpretation der Stadtstruktur hinsichtlich ihrer Erschließung durch Straßen und Kanäle, der Gliederung von Stadtvierteln sowie der Unter-
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Uruk. Luftbild aus dem Jahr 1935.
scheidung von Garten-, Handwerks- und Wohnbereichen in der Stadt. Zudem lassen sich verschiedene Bereiche außerhalb der Stadtmauer über die Satellitenbilder einbeziehen und in ihrer Funktion für die Stadt interpretieren. Eine große Hilfe sind hierbei die während verschiedener systematischer Surveys am Boden gesammelten Daten zur Datierung und Interpretation der Befunde7. Die digitale Visualisierung von Architekturbefunden wird für vier in Uruk relativ gut erhaltene Siedlungsperioden umgesetzt: für die Uruk IVa-Zeit (Eanna-Bauschicht 15, ausgehendes 4. Jahrtausend v. Chr.), für die Ur III-Zeit (Eanna-Bauschicht 6, ausgehendes 3. Jahrtausend v. Chr.), für die neubabylonische Zeit (Eanna-Bauschicht 4, 8.–6. Jahrhundert v. Chr.) sowie für die seleukidische Zeit (EannaBauschicht 1, 3. Jahrhundert v. Chr.). Die Arbeiten erfolgen insofern unter besonderen Schwierigkeiten, als fehlende archäologische Daten oder realistische Fotografien für Oberflächenrende-
R. M. Adams/H. J. Nissen, Uruk Countryside. The Natural Setting of Urban Societies (Chicago 1972); U. Finkbeiner u. a., Uruk. Kampagne 35–37, 1982–1984. Die archäologische Oberflächenuntersuchung (Survey). Ausgr. in Uruk-Warka. Endber. 4 (Mainz 1991).
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Uruk. Ziegelgerechter Plan der urukzeitlichen Befunde, Eichmann 1989, Plan 41.
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11 Uruk. Rekonstruktion des Bit Resch und der Anu-Zikkurrat von Conrad Preusser aus dem Jahr 1927, durch A. Kose ergänzt 1995.
rings in absehbarer Zeit nicht nachträglich beschafft werden können. Im Vergleich mit anderen mesopotamischen Fundorten eignen sich die Befunde in Uruk aber einerseits besonders gut für eine dreidimensionale Visualisierung, da sie auf ungewöhnlich großer Fläche ausgegraben, sehr detailliert dokumentiert und im Verlauf der bald 100-jährigen Ausgrabungsgeschichte in wesentlichen Teilen auch wissenschaftlich stringent interpretiert bzw. unter vielfältigen Gesichtspunkten diskutiert worden sind. Zudem stehen neben den archäologischen Quellen vielfach Keilschrifttexte zur Verfügung, denen Aussagen zum Aussehen, zur Erschließung oder auch zur Funktion einiger Bauwerke bzw. Hinweise zur topografischen Struktur der Stadt zu entnehmen sind. Auf der anderen Seite sind angesichts der gewaltigen Gesamtfläche der Ruine prozentual gesehen nach wie vor nur wenige Bereiche bekannt (maximal 5 %), im Wesentlichen sakrale und profane Repräsentationsarchitektur im Zentrum der Stadt. Die sehr dichte Schichtenabfolge nicht nur hier, sondern im gesamten Stadtgebiet erschwert eine zeitliche Verknüpfung von Bereichen, die keine stratigrafisch nachweisbare Verbindung besitzen. Störungen
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durch jüngere Befunde sind gerade bei fragiler, nur in den Fundamenten erhaltener Lehmziegelarchitektur oft nur schwer durch Ergänzungsvorschläge zu überbrücken. So lassen sich in Verbindung mit der hohen Zahl der Befunddetails häufig mehrere Rekonstruktionsvorschläge begründen, die im Projekt zunächst sorgfältig durchgespielt werden. Die Projektarbeit ist daher in mehrere Schritte untergliedert8. Nach einer anfänglichen Zusammenstellung aller bislang vorliegenden zweidimensionalen Dokumentation (Abb. 10), bisheriger zeichnerischer Rekonstruktionen (Abb. 11) und der erneuten Diskussion von in der wissenschaftlichen Literatur strittigen Befundinterpretationen wird in solche Befunde unterschieden, die relativ sicher zu rekonstruieren sind, in solche, für die zwar kein vollständiger, jedoch sicher zugehöriger Grundriss zu erschließen ist, und in solche Bereiche, die durch die Grenze zu nicht ausgegrabenen Arealen oder in einer zur Rekonstruktion vorgesehenen Schicht vollständig unklare bzw. zerstörte Flächen aufweisen und damit in einer dreidimensionalen Rekonstruktion „weiße Flecken“ ergeben werden (Abb. 12). In dieser Diskussionsphase werden die möglichen Rekonstruktionsvarianten in Massenmodellen dreidimensional durchgespielt (Abb. 13). Die Einbeziehung der dritten Dimension und die erneute Diskussion bisheriger sowie möglicher weiterer Rekonstruktionen führt im Rahmen des Projekts regelmäßig zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in den bislang ausschließlich zweidimensional ausgeführten und ganz offensichtlich auch so imaginierten Rekonstruktionen nicht erkannt worden sind. Diese Projektphase dient also wesentlich der erneuten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Befund. Die Phase der detaillierten dreidimensionalen Rekonstruktion ist durch einen Zwang zur Entscheidung für die eine oder andere Variante geprägt. Wenn in manchen Fällen zwei wissenschaftlich mit gleicher Wahrscheinlichkeit begründbare Rekonstruktionsmöglichkeiten als Varianten in allen Details dreidimensional umgesetzt werden, so wird dies jedoch aus Zeitgründen Ausnahme bleiben müssen. Meist wird nur eine Variante umgesetzt werden kön-
Alle Schritte werden projektbegleitend gelistet und in ihren Entscheidungswegen dokumentiert. Die Dokumentation soll zum Abschluss des Projekts öffentlich zugänglich gemacht werden.
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Uruk. Schematische Umzeichnung urukzeitlicher Befunde im Bereich des Gebäude C, Eichmann 2007, Plan 64.
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Dreidimensionale Arbeitsmodelle des Gebäudes C.
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Uruk. Grundrissplan des Bit Resch, Kose 1998, Plan 52.
14 Uruk. Bit Resch, Dreidimensionale Rekonstruktion des Heiligtums bei Visualisierung der erhaltenen und rekonstruierten Partien. 16
Uruk. Ziegelgerechter Planausschnitt des Korridorbereichs zwischen Anu-Zikkurrat und Bit Resch.
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nen und damit als die wahrscheinlichste postuliert. Das birgt die Gefahr, Eindeutigkeit zu suggerieren, wo sie wissenschaftlich nicht zu begründen ist. Dem soll, wo nötig, durch Kenntlichmachung von Befund und Rekonstruktion entgegengewirkt werden (Abb. 14). Exemplarisch zeigt dies das seleukidische Bit Resch9, eine Tempelanlage für den Himmelsgott Anu und seiner Gemahlin Antum, das im am umfassendsten darzustellenden und zu rekonstruierenden Bauzustand des Bauherrn Anu-uballit-Kephalons, eines Vorstehers des Tempels um 200 v. Chr., eine Fläche von knapp 36 000 m² einnahm. Es umfasst einen älteren, aber weiterhin genutzten „schiefen Trakt“ sowie eine Abfolge von durch Räume umgebener Höfe (Abb. 15). Diese dienten im zentralen Bereich als cellae der verehrten Gottheiten (Höfe I und Ia, VI), in anderen Bereichen als Wirtschaftseinheiten für die Tempelverwaltung (Höfe II–V, VII–IX, XI). Südwestlich angeschlossen befand sich die Anu-Zikkurrat, eine aus mehrstufigen Terrassen bestehende Hochtempelanlage. Die seleukidische Anu-Zikkurrat lässt sich zwar in ihrer Ausdehnung der Grundfläche (ca. 104,5 m Kantenlänge) recht gut bestimmen, die Terrassen und auch der auf der obersten Terrasse stehende Tempel sind jedoch aus Texten10 bzw. über die Rekonstruktion der nur wenig kleiner dimensionierten Eanna-Zikkurrat in Uruk zu rekonstruieren11. Aus den Texten geht eine archäologisch nicht erhaltene Torsituation zwischen Bit Resch und Anu-Zikkurrat hervor, die für die Priesterschaft direkten Zugang von den Terrassen zur cella des Anu-Tempels im Bit Resch erlaubt haben muss. Den Grabungsunterlagen ist zudem ein die Plattform der Anu-Zikkurrat und das Bit Resch trennender Bereich zu entnehmen. Auf sein Begehungsniveau muss einerseits die Differenztreppe geführt haben, die von der Plattform der Anu-Zikkurrat auf das Begehungsniveau des Bit Resch überleitete, auf der anderen Seite scheint eine Zugangsmöglichkeit von der Südostseite des Heiligtumskomplexes in diesen
Bereich bestanden zu haben. An der Südostseite des Heiligtums zerstörte eine große Erosionsrinne die Befunde (Abb. 16). Bislang wurde aufgrund einer aus dem Grabungsbefund korrekt zugeordneten, hakenförmig vor die Zikkurrat-Plattform herauskragenden Mauer eine spitzwinklige oder rechteckige podiumsartige Terrasse an der Ostecke der Zikkurrat rekonstruiert (Abb. 17). Ihre Südostfassade setzte sich als südöstlich vor das Bit Resch gelegte Mauer zum Schutz von älterem sowie von Fundamentmauerwerk des Heiligtums fort12. In der Tat findet sich in fast allen Außenmauerbereichen des Bit Reschs diese akkadisch kisû genannte schützende Verbrämung der Grundmauern. Eine konstruktive Verknüpfung der vor die Zikkurrat vorkragenden Hakenmauer und des kisû hat jedoch zur Folge, dass der zwischen Zikkurrat und Tempel liegende Korridor bei Regenfällen, die im Vorderen Orient selten, dann aber äußerst heftig und zerstörerisch auftreten, mit einem gut ableitenden Entwässerungssystem ausgestattet gewesen sein muss. Es ist eine Pforte durch die Mauer zu postulieren, die sowohl erlaubte, das Entwässerungssystem nach außen zu führen, als auch den Zugang zum Korridor regelte. Die stratigrafische Situation lässt aber eine zweite Möglichkeit zu, bei der die Hakenmauer zu einer jüngeren, den Bau in seiner Funktion gänzlich anders nutzenden, parthischen Bauschicht zu zählen wäre (Abb. 18). Die Hakenmauer wäre dann wohl angelegt worden, weil an dieser Stelle die Zikkurratplattform – vielleicht durch aus dem Korridor unkontrolliert fließende Regenwässer – zerstört war und das Gelände abgestützt werden musste. In diesem Fall wäre das kisû, wie auch sonst üblich, als eng an den Bit Resch Tempel angelegte Verbrämungsmauer zu rekonstruieren, die hier nach Südwesten abknickt, und der Korridor als Freifläche, die als Zugang und offene Entwässerung des Bereichs zwischen Bit ReschTempel und Anu-Zikkurrat fungiert. Der Korridor ist als Rampe zu rekonstruieren, die etwa im Bereich der Differenztreppe von der Anu-Zikkurrat zum Bit Resch ihre Endhöhe erreicht haben muss. Beide
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Die Erarbeitung der Rekonstruktionsdetails ist Frank Voigt M.A. zu verdanken.
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Zusammenfassend für das Bit Resch: A. Kose, Uruk. Architektur IV. Von der Seleukiden- bis zur Sasanidenzeit. Ausgr. in UrukWarka. Endber. 17 (Mainz 1998) 188–191.
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Ebd. 136. 266.
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Die bisherige Argumentation zusammengefasst und bewertet Ebd. 136.
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17 Uruk. Dreidimensionale Rekonstruktion der Südostseite von Anu-Zikkurrat und Bit Resch unter Berücksichtigung der bislang rekonstruierten Fassadenverbindung zwischen beiden Bauwerken.
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Uruk. Dreidimensionale Rekonstruktion des Bit Resch und der Anu-Zikkurrat, Blick von Süden.
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Uruk. Das Bit Resch mit rekonstruierter Vegetation im Vordergrund.
Rekonstruktionen sind möglich. Bislang hatte man sich jedoch mit Ersterer zufrieden gegeben, die sich jedoch bei Einbeziehung der dritten Dimension als nicht unproblematisch erwies. Das Beispiel zeigt, wie lohnend die Beschäftigung mit der dreidimensionalen Rekonstruktion des aufgehenden Mauerwerks, Dachkonstruktionen mit den damit verbundenen Dachentwässerungen sowie die Überwindung von unterschiedlich hohen Begehungsniveaus ist. Gerade sie führen im laufenden Visualisierungsprojekt Uruk ständig zu im Detail neuen Rekonstruktionsvorschlägen, welche die meist zweidimensional denkenden Archäologen nicht im Blick hatten. Die eng an den archäologischen Befunden orientierte dreidimensionale Rekonstruktion des Bit Resch-Heiligtums ist zunächst vollständig auf die Architektur konzentriert. In einem abschließenden Schritt kann, um dem archäologischen Laien die antike Stadtsituation besser zu veranschaulichen, das Umfeld der Architekturen mit ortstypischer Vegetation oder Alltagsszenen angereichert werden (Abb. 19). Hier verlässt die Rekonstruktion weitgehend das archäologisch gesicherte Terrain, hilft aber einen allgemeinen Eindruck der örtlichen Gegebenheiten zu vermitteln, die nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können.
Ergebnis Die Rekonstruktion der archäologisch untersuchten, ausreichend erhaltenen seleukidischen Befunde ist im Rahmen des laufenden Projekts abgeschlossen (Abb. 20). Vier monumentale Bauwerke wurde dreidimensional visualisiert: der Tempelkomplex Bit Resch, der Tempelbereich des Eanna, der Tempelkomplex Irigal sowie das Neujahrsfesthaus Bit Akiti. In die Topografie der Stadt übertragen, sind einerseits die gewaltigen Dimensionen der Stadt zu erahnen, andererseits wird auch sichtbar, wie sehr eine verständliche Visualisierung von der Rekonstruktion der Stadtstruktur der betreffenden Epoche abhängig ist. Ein nächster Schritt wird daher eine Interpretation des gesamten Stadtgebiets sowie des die Stadt umgebenden landschaftlichen Umfelds sein.
Abbildungsnachweis Abb. 1: C. Bührig, DAI; 2–7, 9–12, 15–16: DAI OrientAbteilung; 8: Satellitenbild: European Space Imaging GmbH München, Auswertung: DAI, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt Oberpfaffenhofen; 13–14, 19–20: Firma :artefacts; 17–18: DAI / Firma :artefacts.
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Uruk. Einbettung dreidimensional rekonstruierter Bauwerke der seleukidischen Zeit in das Satellitenbild.
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