Christina Morina
Vernichtungskrieg, Kalter Krieg und politisches Gedächtnis
Vernichtungskrieg, Kalter Krieg und politisches Gedächtnis: Zum Umgang mit dem Krieg gegen die Sowjetunion im geteilten Deutschland von Christina Morina
Abstract: The divided political memory of the war on the Eastern Front is the subject of this article. It analyzes and contextualizes the ways in which the interpretation of the war against the Soviet Union (1941–1945) by political elites shaped postwar German political culture as old alliances crumbled and new alliances formed in the unfolding Cold War. This is the first comprehensive analysis of the memory of the Eastern Front focusing on the intersection of memory and politics and seeking to make a contribution to the history of Germans’ coming to terms with their past (Vergangenheitsbewältigung). The politics of memory, i.e., the attempt to place a narrative of past events into the service of a present political cause long dominated both Germanies. This analysis, on the other hand, pays close attention to the individual biographies of the protagonists and argues that the often selective and ambiguous commemoration of the Eastern Front was not only the result of an ideology-driven instrumentalization of history in the shadow of the Cold War but was also rooted in the manifold individual encounters with the horrors of genocidal war on the various fronts of that unparalleled conflict.
I. Einleitung Krieg und Nachkrieg gehören zu den zentralen Themen des deutschen 20. Jahrhunderts. Nach den Verwüstungen und Verbrechen der beiden Weltkriege in der ersten Jahrhunderthälfte wirkten deren Konsequenzen und Langzeitfolgen weit in die Nachkriegszeit hinein, die bis 1989 von einem Kalten Krieg bestimmt blieb. Jenseits der Zäsuren, die diese Konflikte chronologisch markieren – 1914, 1918, 1939, 1945, 1989 –, prägten und prägen die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Folgen von Krieg und Gewalt die politische Kultur Deutschlands – bis heute. Michael Geyer hat die deutsche Gewalterfahrung mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg mit dem Begriff „Stigma der Gewalt“ beschrieben.1 Er wies damit auf den gebrochenen Charakter dieser kollektiven Erfahrung hin: Unter den Deutschen waren niemals nur die Opfer von Krieg und Zerstörung, sondern auch die Täter – diejenigen die für die verbrecherische Kriegs1 Michael Geyer, Das Stigma der Gewalt und das Problem der nationalen Identität in Deutschland, in: Christian Jansen u. a. (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit: Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 673–698. Geschichte und Gesellschaft 34. 2008, S. 252–291 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2008 ISSN 0340-613 X
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führung und den damit einhergehenden industrialisierten Massenmord an den europäischen Juden und Millionen anderer Zivilisten, insbesondere in Osteuropa, verantwortlich bzw. mitverantwortlich waren. Metaphorisch kann man das „Stigma der Gewalt“ mit den „Erinnerungsorten“2 Auschwitz und Stalingrad konkretisieren. Beide gehören als zwei Seiten des deutschen Vernichtungskrieges eng zusammen, und doch symbolisieren sie jeweils zwei voneinander getrennte Erinnerungsorte im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Der Krieg gegen die Sowjetunion zwischen 1941 und 1945 ist das zentrale Bezugsereignis, die Hauptquelle dieses Stigmas. Mit dem „Unternehmen Barbarossa“ konnte das NS-Regime seine genozidale Politik auf ganz Osteuropa ausweiten, um dann im Schatten des Kriegszustandes zum organisierten Massenmord in den Vernichtungslagern sowie hinter den Frontlinien in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten überzugehen.3 Gleichzeitig wurde in der kollektiven Wahrnehmung der Deutschen der Krieg an der Ostfront spätestens seit der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 zum Hauptkriegsschauplatz.4 Jüngste Forschungen haben diese Wahrnehmung retrospektiv insofern bestätigt, dass circa 75 Prozent aller deutschen Kriegsopfer der Ostfront zuzurechnen sind, wobei die große Mehrheit von ihnen in den Jahren 1943–1945 fiel.5 Trotz der Dramatik und Zentralität dieses Ereignisses in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges gibt es bisher keine systematisch vergleichende Untersuchung der Verarbeitung dieser komplexen und beispiellosen Gewalterfahrung in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches.6 Dieser Aufsatz zeichnet die Hauptentwicklungslinien des politi2 Vgl. Peter Reichel,Auschwitz, in: Etienne Francois u. Hagen Schulze (Hg.), Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 600–621; Bernd Ulrich, Stalingrad, in: dies. (Hg.), Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 332–348. 3 Für einen Forschungsüberblick vgl. Rolf-Dieter Müller u. Gerd R. Ueberschär (Hg.), Hitlers Krieg im Osten 1941–1945. Ein Forschungsbericht, Darmstadt 2000; Omer Bartov, Germany’s War and the Holocaust: Disputed Histories, Ithaca 2003, unterstreicht, dass diese Trennung häufig und teils bis heute sogar in der historischen Forschung fortlebt. 4 Vgl. Norbert Frei, 1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 97 ff.; so auch Omer Bartov, Hitler’s Army, Soldiers, Nazis, and the War in the Third Reich, New York 1991, S. 182 ff. 5 Rüdiger Overmans, Deutsche Militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 2000, S. 265. Overmans zählt zu den 2,7 Millionen an der Ostfront gefallenen Wehrmachtsoldaten 811.000 Soldaten, die während der so genannten Endkämpfe zwischen dem 1. Januar und 9. Mai 1945 fielen sowie die deutschen Kriegsgefangenen, die in der Sowjetunion ums Leben kamen. Er rechnet damit etwa vier Millionen Gefallene oder 75 Prozent aller Kriegsverluste der Ostfront zu (ohne Endkämpfe). Vgl. auch Fn. 24. 6 Für die westdeutsche Geschichte existieren ältere Einzelstudien zum Umgang mit dem deutschsowjetischen Krieg. Vgl. Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987; Wolfram Wette, Erobern, zerstören, auslöschen. Die verdrängte Last von 1941. Der Rußlandfeldzug war ein Raub- und Vernichtungskrieg von Anfang an, in: Die Zeit, 20. 11. 1987, S. 49–51; Peter Jahn u. Reinhard Rürup (Hg.), Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945. Essays, Berlin 1991. Trotz der umfangreichen Literatur zum historischen Deutungsmonopol der SED und dem „offiziellen Antifaschismus“ war der Umgang mit dem deutsch-sowjetische Krieg in der DDR bisher noch nicht Thema historischer Forschung. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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schen Umgangs mit der Geschichte und den Folgen des Krieges gegen die Sowjetunion in beiden deutschen Staaten nach.7 Im Fokus steht dabei der „öffentliche Gebrauch der Historie“8, d. h. die Kommunikation, Interpretation und Instrumentalisierung dieses Krieges durch die politischen Eliten und damit dessen Rolle und Wirkung in der jeweiligen politischen Kultur.9 Diese Eingrenzung erfordert eine Begriffsbestimmung: wenn hier vom politischen Gedächtnis10 die Rede ist, beschreibt dies nicht das kollektive Gedächtnis, sondern zielt auf die Analyse von öffentlich kommuniziertem historischem Wissen durch führende deutsche Nachkriegspolitiker in beiden deutschen Staaten ab. Im Zentrum stehen also die politischen Eliten, die als Akteure, als Stifter und Kommunikatoren das historische Ereignis „Unternehmen Barbarossa“ in der politischen Kultur nach 1945 auf sehr verschiedene Weise deuteten und festschrieben. Es geht nicht darum, das schwer fassbare kollektive Erinnern an ein Ereignis zu beschreiben, sondern darum, die Vermittlung und Kommunikation von historischem Wissen über ein Ereignis im politischen Raum zu untersuchen.11 Diese konzeptionelle Entscheidung folgt jüngeren Anregungen, die den „Boom“ in der Gedächtnisforschung durch einen stärkeren Fokus auf „the work of memory“12 in Politik und Gesellschaft wissenschaftlich zu fundieren sucht. Denn: „Memory is not an independent variable determining political culture and ultimately politics but . . . memory to some extent is political culture.“13 Zwei Kontexte sind für diesen Ansatz von zentraler Bedeutung. Zum einen spielte der Kalte Krieg (und mit ihm die deutsche Systemkonkurrenz) als politische Realität und 7 Die hier vorgestellten Thesen basieren auf meiner Dissertation „Legacies of Stalingrad. The Eastern Front War and the Politics of Memory in Divided Germany, 1943–1989“ (PhD Dissertation, Department of History, University of Maryland, USA). Aus Machbarkeitsgründen musste der österreichische Fall außer Acht gelassen werden. 8 Jürgen Habermas, Vom öffentlichen Gebrauch der Historie, in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 243–255. In meiner o. g. Dissertation habe ich die Entwicklung des politischen Gedächtnisses an den Krieg an der Ostfront vom Ende der Schlacht von Stalingrad bis zum Mauerfall untersucht und sowohl Historiker, Juristen, Veteranen und Schriftsteller als auch die politisch-gesellschaftlichen Eliten im weiteren Sinne berücksichtigt. 9 Zum Gebrauch des Konzeptes, das in der kultur- und politikwissenschaftlichen Forschung sehr viel mehr umfasst als die öffentliche Aneignung von Geschichte, vgl. Morina, Legacies of Stalingrad, S. 17–26, insb. 22 f. 10 Ich folge mit diesem Begriff den konzeptionellen Überlegungen von Jeffrey Herf, Divided Memory. The Nazi Past in the two Germanys, Cambridge 1997, S. 9: „A political history which assumes that only ‚interests‘ but not ‚mere‘ ideas matter is as remote from political reality as is cultural and intellectual history which offers descriptions of discourses and memory whose political significance is thought to be self-evident or simply ignored.“ 11 Für seine bemerkenswerten Anregungen, die zu dieser begrifflichen und konzeptionellen Klärung führten, bin ich Professor Reinhard Rürup sehr dankbar. 12 Vgl. z. B. Alon Confino u. Peter Fritzsche (Hg.), The Work of Memory: New Directions for the Study of German Society and Culture, Urbana 2002; Jan-Werner Müller (Hg.), Memory and Power in Post-War Europe: Studies in the Presence of the Past, Cambridge, UK 2002. 13 Jan-Werner Müller, Introduction, in: Müller, Memory and Power, S. 26. [Hervorhebung im Original] Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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ideologischer Deutungsrahmen eine dominierende Rolle in allen Auseinandersetzungen um die NS-Vergangenheit.14 Darüber hinaus verschärfte die Tatsache, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der frühere Hauptgegner des Nazi-Regimes zum wichtigsten Verbündeten und zur Stützmacht wurde, während in der westorientierten Bundesrepublik die Erfahrungen mit der bitteren Realität sowjetischer Besatzung in Ostdeutschland und Südosteuropa die Sowjetunion erneut als Hauptbedrohung erschienen ließen, die wechselseitig politisierte Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen des deutsch-sowjetischen Krieges. In der Konsequenz führte diese Politisierung zur nachhaltigen, staatlich sanktionierten Dauerpräsenz des sowjetischen Kriegsschauplatzes, v. a. seiner „Heldentaten“ und Opfer, in der politischen Kultur der DDR und zur langwierigen Abwesenheit desselben historischen Ereignisses im politischen Gedächtnisraum der Bundesrepublik. Ein zweiter essenzieller Kontext muß gleichfalls Berücksichtigung finden: der Zusammenhang von Politik, Ideologie und Biographie. Die Mehrzahl der Protagonisten, die das politische Gedächtnis des Krieges gegen die Sowjetunion maßgeblich prägten, war biographisch eng mit diesem Ereignis verbunden. Für all jene Politiker, die nach 1945 mit ihren öffentlichen Reden und Schriften zur Deutung (und auch Missdeutung) des Krieges gegen die Sowjetunion beitrugen, gilt, dass ihre individuellen Erfahrungen vor und während des Zweiten Weltkrieges eine ebenso große Rolle für diese Deutung spielten, wie ihre Weltanschauungen oder die durch den Kalten Krieg tatsächlichen oder als gegeben empfundenen politischen Notwendigkeiten. KPD-Veteranen wie Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Albert Norden oder Alexander Abusch schufen in Kooperation mit ehemaligen Wehrmachtsoffizieren wie Wilhelm Adam, Vincenz Müller, Otto Korfes, Heinrich Homann und Luitpold Steidle in ihren Reden und Schriften ein Bild vom Zweiten Weltkrieg, das den am 22. Juni 1941 begonnenen „heimtückischen und wortbrüchigen Überfall auf die Sowjetunion“15 zum Zentralereignis dieses Krieges stilisierte. Für beide Gruppen, die „zivilen“ wie die militärischen Veteranen, versprach diese kanonisierte Lesart die Legitimierung, ja Sinngebung der eigenen Erfahrungen im totalen Vernichtungskrieg.16 Im Kern des in der Forschung viel beschriebenen „Gründungsmythos Antifaschismus“ lag für die ostdeutschen Kommunisten der deutschsowjetische Krieg. Als Hauptbezugsereignis konstituierte dieser Krieg die Grundlage für die spätere SED-Meistererzählung und das Selbstbild der herrschenden Eliten in 14 Für eine übergreifende Einordnung der Teilungsepoche in den internationalen Kontext vgl. HansPeter Schwarz, Ost-West, Nord-Süd. Weltpolitische Betrachtungen zur deutschen Teilungsepoche, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-WestKonflikts, München 2004, S. 1–27. 15 So die Standardformulierung in der KPD/SED seit 1945. Sie tauchte bereits im Gründungsaufruf der KPD vom 11.6.1945 auf, vollständig abgedruckt in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (Hg.), Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente, Berlin (Ost) 1968, S. 67–71. 16 Vgl. jüngst zur Problematik des individuellen Erinnerns und zu dem Bedürfnis, „dem Krieg einen Sinn zu geben“ (im Original „making sense of war“) Joanna Bourke, Introduction „Remembering War“, in: Journal of Contemporary History 39. 2004, S. 473–485. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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der DDR.17 Dieser ideologische Zuschnitt wurde, wie im Folgenden gezeigt wird, in einer Reihe von folgenreichen Momenten der DDR-Geschichte realpolitisch relevant. In jenen Momenten, wie z. B. dem Volksaufstand im Juni 1953 oder dem Mauerbau im August 1961, applizierte die SED „die Lehren des 22. Juni“ als Argumentationsund Legitimationsgrundlage für die Durchsetzung zentraler politischer Entscheidungen und betrieb damit „Geschichtspolitik“18 im denkbar radikalsten Sinne des Wortes. In der pluralistischen politischen Kultur der Bundesrepublik waren die Biographien vieler führender Politiker zwar ebenso eng mit dem Krieg insgesamt und dem östlichen Kriegsschauplatz im Besonderen verbunden – Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und Walter Scheel hatten an der Ostfront gekämpft, Willy Brandt war im bewaffneten Widerstand –, doch war der Umgang mit der Geschichte freilich weder staatlich kanonisierbar noch monopolistisch von einer politischen Partei oktroyiert. Vielmehr führt auch hier die Einbeziehung der biographischen sowie politischen Hintergründe zu einem komplexen Bild der öffentlichen Gedächtnislandschaft. Die Analyse des schwierigen, mithin skandalös marginalisierenden Umgangs mit dem nationalsozialistischen Krieg gegen die Sowjetunion in der jungen Bundesrepublik untermauert die (durchaus nicht neue) These, dass der demokratische, antitotalitäre Gründungsmythos vor allem im Hinblick auf die Verdrängung der Millionen Opfer unter der zivilen, nicht-jüdischen Bevölkerung in Osteuropa und der Sowjetunion, auch seine geschichtspolitischen Schattenseiten hatte.19 Darüber hinaus zeigt die Ana17 Diese Tatsache fand bisher in der einschlägigen Literatur sehr wenig Beachtung: vgl. z. B. Jürgen Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Gründungskonsens? in: Jürgen Danyel (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in den beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, S. 31–46; Rainer Gries, Mythen des Anfangs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 18–19. 2005, S. 12–18; Antonia Grunenberg, Antifaschismus. Ein deutscher Mythos, Reinbek 1993; Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR, 1945–1989, Frankfurt 1992, insb. S. 29–80; Herfried Münkler, Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B45. 1998, S. 16–29; ders., Das kollektive Gedächtnis der DDR, in: Dieter Vorsteher (Hg.), Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR, München 1997, S. 458–468. 18 Edgar Wolfrum hat darauf hingewiesen, dass Geschichtspolitik im weitesten Sinne all jenes Handeln und Reden im öffentlichen Raum umfasst, durch das „Geschichte zu einem politischen Kampfplatz“, zum „Politikum“ wird und forderte darüber hinaus, dass sich geschichtskulturelle Forschung (gerade in Bezug auf die SED-Diktatur) jenseits reiner Propagandaforschung dem „politischen Gebrauch von Geschichte“ zuwendet. Geschichtspolitik in diesem Sinne kann in pluralistischen Gesellschaften eine Debatte wie die um die Errichtung des Holocaust-Mahnmals meinen, aber eben auch die Instrumentalisierung und nutzbringende Selektierung von historischer Realität zum Zwecke der (Selbst-) Legitimation und „Popularisierung“ von politischen Entscheidungen umfassen. Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999, insb. Einleitung, S. 1–37, Zitat S. 24. 19 So Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München 1999, S. 171 f.; Peter Jahn, „Rußlandbild und Antikommunismus in der bundesdeutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit,“ in: Babette Quinkert (Hg.), „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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lyse, dass der politische Wandel in der Bonner Außenpolitik der 1960er Jahre und der Erfolg der Ostpolitik der sozial-liberalen Brandt/Scheel-Regierung ohne den gedächtnispolitischen Wandel, der bereits unter der christdemokratischen Kanzlerschaft Ludwig Erhards und dessen Außenminister Gerhard Schröder einsetzte, nicht zu erklären sind. Sowohl der angedeutete Langzeitblick als auch die deutsch-deutsche Perspektive tragen einer jüngeren Forschungsentwicklung Rechnung, die sich einerseits um eine „integrative deutsche Nachkriegsgeschichte“20 bemüht und damit andererseits zur notwendigen „Historisierung“21 der DDR (und damit auch der „alten“ Bundesrepublik) beizutragen hofft. Wie in Bezug auf andere Aspekte der deutsch-deutschen Konkurrenzgeschichte zeigt auch diese Studie, dass das in der DDR etablierte politische Gedächtnis an den deutsch-sowjetischen Krieg sehr viel stärker in Abgrenzung zur und unter Bezug auf die Bundesrepublik entstand, als das umgekehrt der Fall war. Die folgende punktuell vergleichende Gegenüberstellung dieser unterschiedlichen Bezüge ergibt sich aus einer differenzierten Lektüre der relevanten Quellen. Dabei muß und darf die vergleichende Analyse von politischer und Gedächtniskultur nicht zur Gleichsetzung zweier grundverschiedener Gesellschaftssysteme führen, sondern ermöglicht die Scharfzeichnung vieler fundamentaler Divergenzen und einiger bemerkenswerter Kongruenzen.22
II. Grundkonstellationen: Antifaschismus, Antitotalitarismus und das politische Gedächtnis an den deutsch-sowjetischen Krieg im geteilten Deutschland Die beiden schrecklichsten, eng miteinander verwobenen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes, der Holocaust und der Feldzug gegen die Sowjetunion, inspirierten zwei grundsätzlich verschiedene offizielle Erinnerungen an die NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Während in der Bundesrepublik die Vernichtung der europäischen Juden über die Jahrzehnte die prominenteste Rolle in Überfalls auf die Sowjetunion, Hamburg, 2002, S. 223–235; Jahn u. Rürup, Erobern und Vernichten, S. 261–280. 20 Vgl. Konrad Jarausch, „Die Teile als Ganzes erkennen“. Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeitgeschichtliche Forschungen/Studies in Contemporary History 1. 2004; Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 29–30. 1993, S. 30–41; ders. (Hg.), The Divided Past. Rewriting Post-War German History, Oxford 2001; Christoph Kleßmann u. Peter Lautzas (Hg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte, Schwalbach 2006. 21 Vgl. die programmatischen Anregungen von Hermann Weber, Zehn Jahre historische Kommunismusforschung. Leistungen, Defizite, Perspektiven, in: VfZ 50. 2002, S. 611–633; Henrik Bispinck u. a., Die Zukunft der DDR-Geschichte. Potentiale und Probleme zeithistorisches Forschung, in: VfZ 53. 2005, S. 547–570. 22 Beispielgebend dafür bereits Herf, Divided Memory; Danyel, Geteilte Vergangenheit. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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der offiziellen Erinnerungskultur einnahm, konzentrierte sich offizielles Gedenken in der DDR auf den Angriffskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion. In der kollektiven Wahrnehmung der meisten deutschen Zeitgenossen fand der Zweite Weltkrieg an der Ostfront statt. Die nationalsozialistische Begleitpropaganda zum Angriff auf die Sowjetunion und die Stilisierung der Schlacht von Stalingrad zu dem „Heldenlied der deutschen Geschichte“23 ließen die Ostfront als Hauptkriegsschauplatz erscheinen. Im Rückblick stellt das „Unternehmen Barbarossa“ angesichts des Ausmaßes an Leid und Zerstörung neben dem Holocaust das andere historische Großverbrechen in der Geschichte des Dritten Reiches dar. Im Unterschied zu dem Massenmord an den europäischen Juden rief der Krieg der Wehrmacht an der Ostfront großes Interesse und viel Mitgefühl in der deutschen Bevölkerung hervor, da das dortige massenhafte Sterben deutscher Soldaten kaum eine Familie verschonte: allein zwischen Januar 1943 und Mai 1945 fielen fast 3,2 Millionen Soldaten, das entspricht einem durchschnittlichen Verlust von 110.000 Männern pro Monat.24 Die unfassbare Grausamkeit, die die Ostfront wie kein anderes Schlachtfeld des Zweiten Weltkrieges charakterisierte, und die gleichzeitige Verantwortung für den Beginn dieses Vernichtungsfeldzuges erklären daher nicht nur die – jeweils spezifisch ausgeprägte – Verdrängung und selektive Erinnerung dieses Konfliktes im geteilten Nachkriegsdeutschland, sondern begründen auch dessen Unvergessenheit. Es ist diese ambivalente Unvergessenheit, die den deutsch-sowjetischen Krieg gleichermaßen zu einem der meist beschriebenen und meist beschwiegenen historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts werden ließ. Im Folgenden sollen die Genese und Konturen des politischen Gedächtnisses an dieses Ereignis in beiden deutschen Staaten nachgezeichnet werden. 1. „Die Lehren des 22. Juni“: „Unternehmen Barbarossa“ als Urkatastrophe im Geschichtsbild der SED Bisher galt in der Forschung der Antifaschismus als „Gründungsmythos der DDR“. Damit konzentrierten sich Historiker auf die von der SED kanonisierte und instrumentalisierte Erinnerung an den antifaschistischen Widerstandskampf gegen den Nationalsozialismus. Die „mythische“ Kraft – wenn es sie je gab – lag insbesondere darin, dass sich die Ausweitung dieser Gründungserzählung auf die ostdeutsche Bevölkerung bestens zu deren Integration sowie zur Legitimation des sozialistischen Projektes eignete oder zu eignen schien.25 Eng damit verwoben, aber bislang weitgehend vernach23 So die Formulierung in der geheimen Presseanweisung des Reichspressechefs Otto Dietrich am Tag nach der Kapitulation der 6. Armee bei Stalingrad vom 3. Februar 1943. Zit. nach Peter Jahn (Hg.), Stalingrad Erinnern. Stalingrad im deutschen und russischen Gedächtnis, Berlin 2003, S. 44. 24 Vgl. Overmans, Deutsche Militärische Verluste, S. 266. Inklusive Verluste während der Endkämpfe. Overmans betont das zeitliche Element, das zeigt, dass die Mehrheit der Verluste nach bzw. mit Stalingrad auftraten: Zwischen Juni 1941 und Dezember 1942 fielen im Vergleich 809.000 Soldaten an der Ostfront, was etwa 45.000 Toten pro Monat entspricht. Diese Zahlen enthalten noch nicht die in Kriegsgefangenschaft gestorbenen Soldaten. Vgl. auch Fn. 5. 25 Vgl. die in Anmerkung 17 zitierte einschlägige Literatur. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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lässigt, war jedoch die politische Aneignung des deutsch-sowjetischen Krieges durch die SED und die Erhebung dieses Ereignisses zur heilsbringenden Urkatastrophe im kommunistischen Geschichtsbild, zum „hegelianischen Moment.“26 Zwar rekurriert die Erzählung vom antifaschistischen Kampf (und deren heutige historiographische Analyse) sowohl auf den Widerstand innerhalb als auch außerhalb Deutschlands, und damit auch auf den Ostkrieg, doch fand die politische Aneignung des zentralen historischen Ereignisses im Kern dieser Erzählung bisher kaum Beachtung. Der Sieg der Roten Armee über Nazideutschland manifestierte und materialisierte die historische Rolle, die der Sowjetunion der geschichtlichen Vorsehung folgend im 20. Jahrhundert zustehen würde. Der siegreiche Antifaschismus ermöglichte den Siegeszug des Kommunismus. In dieser Auffassung spielte die Deutung des Krieges an der Ostfront eine zentrale Rolle. Schon in ihrem Gründungsaufruf vom 11. Juni 1945 interpretierte die KPD den „heimtückischen und wortbrüchigen Überfall“ auf das „friedliche“ Mutterland des Sozialismus als das „größte und verhängnisvollste Kriegsverbrechen Hitlers.“27 Im Rückblick erschien dieser Krieg als historische Feuertaufe des Sozialismus, in dem der Sieg der Roten Armee die „Sache der Menschheit vor der Hitlerbarbarei gerettet“28 und so seine Überlegenheit unter Beweis gestellt hatte. Die Meistererzählung, die dann später durch die SED entworfen und verbreitet wurde, stammte zu einem gewichtigen Teil aus der Feder ihres mächtigsten Mannes, Walter Ulbricht. Ulbricht, der den Krieg an der Ostfront als Propagandist an den Frontlinien von der sowjetischen Seite aus erlebt und Weihnachten 1942 gemeinsam mit dem späteren KPdSU-Vorsitzenden Nikita Chruschtschow im Kessel von Stalingrad verbracht hatte, sah sich zeitlebens nicht nur als Augenzeuge und Veteran dieses Krieges, sondern auch als dessen Chronist. Wie andere in der DDR führende Kommunisten, etwa, Wilhelm Pieck, Anton Ackermann, Johannes R. Becher, Hermann Matern oder Luitpold Steidle, prägte ihn die Erfahrung von nationalsozialistischer Verfolgung, Krieg und Widerstandskampf nachhaltig.29 Will man die politischen Handlungen und ideologischen Festlegungen dieser Männer im Kalten Krieg verstehen, diese also nicht nur deskriptiv darlegen, sondern jenseits normativer Einordnung deren Ursprung in einer spezifischen kommunistischen „Sinnwelt“30 analytisch erschließen, so muß man diesen gewichtigen Teil ihrer individuellen Lebensläufe berücksichtigen. 26 Jeffrey Herf, „Hegelianische Momente“. Gewinner und Verlierer in der ostdeutschen Erinnerung an Krieg, Diktatur und Holocaust, in: Christoph Cornelißen u. a. (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt 2003, S. 198–209. 27 MfAA, Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland, S. 57. 28 Ebd. 29 Dies kann hier nur angedeutet werden. Vgl. Morina, Legacies of Stalingrad. Darüber hinaus hat Catherine Epstein jüngst wegweisend den Zusammenhang zwischen den Gewalterfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und kommunistischer Herrschaftsideologie und -praxis in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gruppenbiographisch untersucht, vgl. The Last Revolutionaries. German Communists and their Century, Cambridge 2003. 30 Mit diesem Begriff hat Martin Sabrow eingefordert, die ehemalige DDR und deren Handelnde in dem Sinne ernst zu nehmen, daß man die „zwei unterschiedlichen historischen Sinnwelten Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Die Weltanschauung, die aus diesem Kontext in den Köpfen Ulbrichts und vieler seiner Parteigenossen erwuchs, war manichäisch und schwankte zwischen den Polen fortgesetzten gefühlten Bedrohtseins und konstanter Bedrohung anderer.31 Der mit dem heraufziehenden Kalten Krieg zuerst vom sowjetischen Chefideologen Andrei A. Shdanow vorgetragenen „Zwei-Lager-Theorie“ folgend, glaubte Ulbricht, dass „das imperialistische, anti-demokratische Lager“, angeführt von den USA, nach dem Sieg über den Nazismus einen „aggressiven, offen expansionistischen Kurs“ eingeschlagen habe. Der erklärte westliche „Feldzug gegen den Kommunismus“ habe zum Ziel, „Europa zu versklaven“ und trete damit das verbrecherische Erbe Hitlers an.32 Damit hatte Shdanow das Fundament für die kommunistische Umdeutung des Zweiten Weltkriegs gelegt: Die Rolle, die die Westmächte im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht spielten, wurde vollkommen negiert und im Gegenzug der Sieg über den Faschismus allein der Sowjetarmee angerechnet. Aus dieser ideologischen Richtungsentscheidung ergaben sich alle weiteren Elemente des kommunistischen Gedächtnisses an den Zweiten Weltkrieg, u. a. die Betonung der sowjetischen Opfer, die Marginalisierung von Antisemitismus und Holocaust und die Reduzierung des Widerstandes auf die „Kämpfe der Arbeiterbewegung.“ Für Walter Ulbricht hatten sich Shdanows Aussagen spätestens mit der doppelten Staatsgründung bestätigt. Als die SED im Jahre 1952 nach Jahren unpopulärer und willkürlicher Herrschaft sowie meist folgenschwerer Politikmaßnahmen (u. a. Bodenreform und Enteignung, Kollektivierung der Landwirtschaft, „Industriereform“ und 1. Fünfjahrplan) den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ beschloss, griff Ulbricht dieses Geschichtsbild auf, um vor dessen Hintergrund die Lösungen für die „neuen Aufgaben am gegenwärtigen Wendepunkt der Entwicklung in Deutschland“ zu begründen. In seinen bereits 1945 formulierten „Thesen über das Wesen des Hitlerfaschismus“ findet sich die in den Nachkriegsjahren von Ulbricht und der SED verbreitete Meistererzählung vom Krieg gegen die Sowjetunion als Hitlers „eigentlichem Krieg.“33 Das in der Folge von Ulbricht und anderen ostdeutschen Kommunisten34 mit spezifischen Modi zur Vergesellschaftung der Vergangenheit“ in Ost- und Westdeutschland anerkennt und dementsprechend befragt. Vgl. Martin Sabrow, Einleitung: Geschichtsdiskurs und Doktringesellschaft, in: ders. (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln 2000, S. 9–35, insb. S. 12 f. 31 Vgl. zu Feindbildern Silke Satjukow, Unsere Feinde: Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004. 32 Andrei A. Shdanow, Über die internationale Lage. Vortrag, gehalten auf der Informationsberatung von Vertretern einiger kommunistischer Parteien in Polen, September 1947, Berlin (Ost) 1947, S. 17. 33 Und dieser wurde in der Tat sehr viel später auch von westlichen Historikern so charakterisiert, so z. B. Jürgen Förster, Wehrmacht, Krieg und Holocaust, in: Rolf-Dieter Müller u. Hans-Erich Volkmann (Hg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 948–963, Zitat „eigentlicher Krieg“ S. 953. 34 Vgl. u. a. Alexander Abusch, Stalin und die Schicksalsfragen der deutschen Nation, Berlin 1949; Albert Norden, Zwischen Berlin und Moskau. Zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen, Berlin 1954. Zu anderen in der frühen Nachkriegszeit unterdrückten Interpretationen vgl. u. a. Herf, Divided Memory. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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durchgesetzte Geschichtsbild verengte die Geschichte des Zweiten Weltkrieges auf den deutsch-sowjetischen Krieg, dessen Hauptursache der faschistische Antibolschewismus und dessen Hauptgegner und -opfer in der Folge die Sowjetunion gewesen sei. Der nationalsozialistische Antisemitismus wurde als eigentlich gegen die deutsche Arbeiterklasse gerichtetes „Kampfinstrument“ des Imperialismus bewertet35 und nicht als ideologisches Kernelement interpretiert; und Hitlers Aggressionen gegen andere europäische Staaten erschienen in diesem Szenario als militärische Vorgeplänkel auf dem Weg zum 22. Juni 1941. Beispielhaft wird das in den historischen Passagen der 32 Thesen über das Wesen des Faschismus“36 deutlich, die zwar im Kern ein Konglomerat aus historischen Realitäten, Verzerrungen, Auslassungen (v. a. des Hitler-StalinPaktes) und teleologischer Geschichtsphilosophie darstellen, aber dennoch nicht als reine „Geschichtspropaganda“ bewertet werden sollten.37 Gerade weil diese Interpretation zwar eine Selektion von historischen Fakten, nicht aber gänzlich Fiktion präsentierte, konstituierte sie für viele vom Nationalsozialismus und Weltkrieg gezeichnete Zeitgenossen, zumal überzeugten Kommunisten, ein schlüssiges Geschichtsbild.38
35 So der Nestor der DDR-Antisemitismusforschung Kurt Pätzold, Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung: Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, Leipzig 1983, S. 8. 36 Ulbricht, Thesen über das Wesen des Hitlerfaschismus, in: ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung, Berlin 1979, S. 99 f. 37 Zumal in der DDR das Wort und Konzept „Propaganda“ wenig reflektiert wurde; in seiner gängigen Nutzung unter SED-Genossen scheint damit sowohl die ideologisch-politische Kampagne als auch die Aufklärung i. S. d. Verbreitung von (z. B. historischem) Wissen in der Bevölkerung gemeint gewesen zu sein. Vgl. z. B. Helmut Meier u. Walter Schmidt (Hg.), Geschichtsbewußtsein und sozialistische Gesellschaft. Beiträge zur Rolle der Geschichtswissenschaft, des Geschichtsunterrichts und der Geschichtspropaganda bei der Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins, Berlin (Ost) 1970. Auch die jüngsten theoretischen Überlegungen zur Propagandaforschung scheinen das Phänomen analytisch nicht greifbarer zu machen. So negiert z. B. Bussemers Definition, Propaganda sei „in der Regel medienvermittelte Formierung handlungsrelevanter Meinungen und Einstellungen politischer oder sozialer Gruppen durch symbolische Kommunikation und [die] Herstellung von Öffentlichkeit zugunsten bestimmter Interessen“ das o. g. „Aufklärungsinteresse“ der SED, vgl. Thymian Bussemer, Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden 2005, S. 29 f. Derartige „positive“ Intentionen eines totalitären Regimes hat George Orwell bereits in den 1940er Jahren beschrieben: in seinem Bestreben danach, Gedanken zu kontrollieren, verbiete es nicht nur, „to express – even to think – certain thoughts, but it dictates what you shall think, it creates an ideology for you, it tries to govern your emotional life as well as setting up a mode of conduct.“ Vgl. George Orwell, The Frontiers of Art and Propaganda, in: Sonia Orwell u. Ian Angus (Hg.), The Collected Essays, Journalism, and Letters of George Orwell, Bd. 2: My Country Right or Left, 1940–1943, Boston 2000, S. 123–127, Zitat S. 135. 38 Zur Rezeption von „offizieller Geschichte“ in der DDR fehlt es bis heute an überzeugender empirischer Forschung. Für einen guten einführenden Überblick in die Problematik vgl. Martin Sabrow, Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997; Sabine Moller, Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland Tübingen 2003; sowie die pointierten Reflexionen aus der Perspektive der Oral History von Lutz Niethammer, Juden und Russen im Gedächtnis der Deutschen, in: Walter H. Pehle (Hg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt 1990, S. 115–134. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Und anders als in der Bundesrepublik wurde dieses Geschichtsbild in der DDR mit Hilfe eines systematisch erarbeiteten Gedenkrituals zum 22. Juni popularisiert. Forschungen zur DDR-Gedenkkultur haben bislang weitgehend außer Acht gelassen, dass der 22. Juni von Beginn an ein festes Datum im Gedenkkalender der SED war, auch wenn er kein arbeitsfreier Feiertag war.39 Regelmäßig wurden an den Jahrestagen Gedenkveranstaltungen am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow durchgeführt, an der neben der obersten Staats- und Parteiführung auch Gruppenvertretungen der Massenorganisationen sowie sowjetische Diplomaten und Militärs teilnahmen. Besonders an den fünf- bzw. zehnjährigen Jahrestagen wurden diese Zeremonien auf lokaler Ebene repliziert und durch die Berichterstattung in den staatlichen Medien flankiert.40 Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) bemühte sich ganz besonders um die Ritualisierung des Gedenktages.41 Musikalische Stücke wie Frédéric Chopins „Trauermarsch“ und die revolutionäre Arbeiterhymne „Unsterbliche Opfer“ wurden zu diesen wie zu vielen anderen Anlässen im offiziellen Gedenkkalender der SED intoniert. Das Ereignis, das mit dem 22. Juni 1941 verbunden war, gehörte daher zu den „abrufbaren Schlüsseldaten“ im kollektiven Gedächtnis der DDR-Gesellschaft.42 Die Divergenz zur Bundesrepublik könnte deutlicher nicht sein. Hier charakterisierte in den Gründerjahren nicht die ritualisierte Dauerpräsenz des
39 Vgl. z. B. Monika Gibas, „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“. Politische Feierund Gedenktage der DDR, in: Sabine Behrenbeck u. Alexander Nützenadel (Hg.), Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1860/71, Köln 2000, S. 191–220; Ralf Rytlewski u. Birgit Sauer, Die Ritualisierung des Jahres. Zur Phänomenologie der Feste und Feiern in der DDR, in: Wolfgang Luthhardt u. Arno Waschkuhn (Hg.), Politik und Repräsentation: Beiträge zur Theorie und zum Wandel politischer und sozialer Institutionen, Marburg 1988, S. 265–285. Vorsteher, Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. 40 Vgl. z. B. die Materialsammlung über zahlreiche lokale Veranstaltungen im Juni 1952 (einem „ungeraden“ Jahrestag) in den Unterlagen der DSF, BA/SAPMO, DY 32/10286; sowie die Berichterstattung zum letzten „großen“ Jahrestag in der DDR, dem 45. Jahrestag 1986: Neues Deutschland, 23. Juni 1986, S. 1 ff. 41 Vgl. z. B. die Liste von Gedenktagen (u. a. der 22. Juni) im Anhang an den „Jahresperspektivplan 1953 für die Arbeit an Universitäten und Hochschulen“, in BA/SAPMO, DY 32/4941, S. 14. 42 Um einen Begriff von Wolfrum aufzugreifen, vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, S. 24, Anm. 9. Dies ergibt sich sowohl aus den für diese Arbeit konsultierten gedruckten und archivalischen Quellen, als auch aus vereinzelt vorhandenem empirischem Material. In einer im Jahre 1983 vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig durchgeführten repräsentativen Umfrage zum Geschichtsbewusstsein unter DDR-Bürgern wussten 71 % das genaue Datum des Beginns des Feldzuges (dies war das einzige Datum, das unter der Rubrik historisches Wissen in Bezug zum Zweiten Weltkrieg abgefragt wurde). Ich danke Eberhard Riedel vom Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung in Köln für die Aufarbeitung der Daten. Die Umfragen sind z. T. online einsehbar: www.gesis.org/ZA. Vgl. Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen e. V. (GESIS) (Hg.), Materialien zur Erforschung der DDR-Gesellschaft. Quellen. Daten. Instrumente, Opladen 1998; Evelyn Brislinger u. a., Jugend im Osten. Sozialwissenschaftliche Daten und Kontextwissen aus der DDR sowie den neuen Bundesländern (1969–1995), Berlin 1997; Walter Friedrich u. a. (Hg.), Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966–1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse, Berlin 1999. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Datums, sondern dessen fast vollständige Abstinenz im Geschichtsdiskurs der politischen Eliten das offizielle Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg. 2. „Die Kriegssache aus der Welt schaffen“: der schwierige Umgang mit dem Krieg gegen die Sowjetunion in der frühen Bundesrepublik Im Gegensatz zur ritualisierten Präsenz des Ostkrieges in der politischen Kultur der DDR blieb dieses historische Ereignis in der öffentlichen Erinnerungskultur der Bundesrepublik lange Jahre faktisch ausgeblendet. Hier scheint der Kalte Krieg als Kontext mindestens ebenso entscheidend gewesen zu sein. Dennoch lohnt es sich auch in diesem Falle, die politischen Akteure näher zu betrachten und die Frage nach der politischen Relevanz der Verdrängung bzw. Erinnerung des „Unternehmens Barbarossa“ zu stellen. Im Gegensatz zur Analyse des politischen Gedächtnisses der SED, die vor allem die gezielte Instrumentalisierung und Kanonisierung einer bestimmten Version der Geschichte im Fokus haben musste, geht es im Folgenden um die Beschreibung eines sich wandelnden öffentlichen und im demokratischen Raum stattfindenden Diskurses über den Krieg gegen die Sowjetunion. Statt von der stets kalkulierten Verdrängung oder Thematisierung bestimmter Aspekte dieses Krieges auszugehen, gilt es die Gründe und Kontexte dieser Entwicklung herauszuarbeiten. Es geht also, wenn auch in anderer Weise, wiederum darum, nach dem Zusammenhang von Biographie und Politik einerseits und von Geschichte und Macht andererseits zu fragen.43 Wenn der Antifaschismus für die DDR eine die Bevölkerung integrierende Gründungserzählung war, so war es für die frühe Bundesrepublik der Antitotalitarismus.44 Unter diesem von der Gegenwart dominierten Vorzeichen lag eine genuine Anerkennung bzw. Aufarbeitung der deutschen Verbrechen in der Sowjetunion bis weit in die 1960er Jahre außerhalb des politisch Gewollten und Möglichen.45 Bis in die 1980er Jahre kritisierten prominente Zeitgenossen die mangelnde Bereitschaft der bundesrepublikanischen Gesellschaft, sich mit den „anderen Opfern“ des Krieges an der Ostfront auseinander zu setzen.46 Einzelne diagnostizierten sogar einen Zusammenhang zwischen der seit den 1960er Jahren stark zunehmenden Aufmerksamkeit für die Geschichte des Holocaust und der fortdauernden Verdrängung des Vernichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion.47 43 Hierin folge ich dem programmatischen Aufsatz von Thomas Berger, The Power of Memory and The Memories of Power: The Cultural Parameters of German Foreign Policy-Making since 1945, in: Müller, Memory and Power, S. 76–99. 44 Vgl. Kurt Sontheimer, Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik, München 2003, 167 f. 45 Dubiel hat diese Folge des jahrelangen „militanten Antikommunismus“ als „das moralische Drama der Nachkriegszeit“ bezeichnet, vgl. ders., Niemand ist frei von der Geschichte, S.171 f. 46 Giordano, Die Zweite Schuld; Rainer M. Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Max Haller u. a. (Hg.), Kultur und Gesellschaft, Frankfurt 1989), S. 247–264, insb. S. 263. 47 Wette, Erobern, zerstören, auslöschen, S. 51: „Auschwitz wurde als ‚unfassbares Verbrechen‘ von allen Deutschen eingestanden (‚Kollektivscham‘) – der Krieg gegen die Sowjetunion dagegen (und die damit verbundene Schuld) wurde deshalb um so rascher und gründlicher verdrängt“. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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In der frühen Bundesrepublik überdeckten die Verbrechen der vorrückenden Sowjetarmee und die Errichtung einer sozialistischen Diktatur unter sowjetischer Ägide in Ostdeutschland nach 1945 die Verbrechen des deutschen Vernichtungsfeldzuges vor 1945.48 Zudem besetzte der bis in die politische Mitte hinein gepflegte „Mythos“ von der „sauberen Wehrmacht“ dieses Thema einseitig und dem dominanten Viktimisierungsdiskurs49 der frühen Bundesrepublik entsprechend. Weder im Rahmen des allgemeinen Gedenkdiskurses (z. B. anlässlich des Volkstrauertages50) noch im Kontext bestimmter politischer Debatten spielte das belastende Erbe diese Feldzuges eine signifikante Rolle. Die Art und Weise, wie Bundespräsident Theodor Heuss in einer Gedenkstunde zum ersten Jahrestag der Konstituierung des Deutschen Bundestages im September 1950 die politisch Verantwortlichen mahnte, einen erneuten Krieg mit allen Kräften zu verhindern, blieb eine Ausnahme. Er erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass die Folgen des modernen Krieges, dieses „technisch-fabrikatorischen Großunternehmen[s] der Menschen- und Wertevernichtung“ alle Nationen gleichermaßen treffen: „Die Mütter in Rußland denken darüber nicht anders als die Mütter in Amerika.“51 Auch eine gründliche Lektüre der Wiederbewaffnungsdebatten im Deutschen Bundestag, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird, bestätigt diesen Eindruck: Das grausame Erbe des deutschen Vernichtungskrieges im Osten war kaum je im Blickfeld der Vertreter der demokratischen Parteien. In Bezug auf diesen Teil der NS-Vergangenheit herrschte in der Tat mehr als eine „gewisse Stille“52.53 Lediglich die Abgeordneten der KPD brachten die Verbrechen auf sowjetischem Boden in der ihnen
48 Vgl. zu diesen „Deckerinnerungen“ Klaus Naumann, Nachkrieg. Vernichtungskrieg, Wehrmacht und Militär in der deutschen Wahrnehmung nach 1945, in: Mittelweg 36. 1997, S. 11–25. 49 So u. a. Robert G. Moeller, War Stories: The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001. 50 Vgl. dazu u. a. Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Heidelberg 1987, S. 509 ff. Erst 1981 wurde der 22. Juni explizit im Rahmen des offiziellen Gedenkens des Volkstrauertages einbezogen. Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) hielt eine lange, differenzierte Rede, in der sie den „Blutzoll“ der osteuropäischen Völker hervorhob, den diese in Folge des verbrecherischen deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion zu zahlen hatten. Vor allem ihr mutiger Hinweis darauf, dass deutsche Soldaten in einem „falschen“ Krieg gekämpft hatten und ihr „Opfer“ daher streng zu unterscheiden sei von den Opfern der überfallenen Völker, war bis zu dieser Zeit im Bundestag noch nicht gehört worden. Vgl. Annemarie Renger, Verpflichtung und Wille zum Frieden, in: BPI, Nr. 106, 17.11.1981, S. 913 f. 51 Feier des Nationalen Gedenktages des Deutschen Volkes im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, 7.9.1950, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages: Plenarprotokolle, Stenographische Berichte, Bonn 1950 ff. (im Folgenden VDB), Bd. 5, S. 3087 f. 52 Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: HZ 236. 1983, S. 579–599. 53 Ein einziges Mal kamen die Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen zur Sprache: der CDU-Abgeordnete Eugen Gerstenmaier erklärte in einer Sitzung im Juli 1950 im Zusammenhang mit der deutschen Kriegsgefangenenfrage, dass „wir tief beklagen, dass die Machthaber im Dritten Reich bei der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener vielfach gegen das Völkerrecht verstoßen haben“. Vgl. VDB, I. Wahlperiode (WP), 79. Sitzung, 26.7.1950, S. 2840. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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eigenen, demaskierenden Weise zur Sprache.54 Nicht die Tatsache, dass dieser Krieg so kurz nach seiner Beendigung in den Jahren zwischen 1949 und 1957 keine (öffentlich artikulierte) Rolle im militär- und sicherheitspolitischen Denken der politischen Elite spielte, ist überraschend, sondern das Ausmaß, in dem er intellektuell, moralisch und faktisch ignoriert wurde. Selbst im Zusammenhang mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem ehemaligen Erzfeind Sowjetunion im Jahre 1955 thematisierte die politische Elite die Jahre 1941 bis 1945 nur implizit. Bundeskanzler Adenauer fand im Gespräch mit der sowjetischen Führung in Moskau merkwürdig psychologisierende Worte. Obwohl ihm durchaus bewusst war, in welcher „anormalen und zeitgeschichtlich aufgeladenen“55 Atmosphäre diese Gespräche stattfanden, zeigte Adenauers Wortwahl, dass er das Geschehen zwischen 1941 und 1945 nur aus einer gegenwärtigen Perspektive betrachten wollte und konnte: Deutsche Truppen sind in Rußland eingefallen. Es ist wahr: Es ist viel Schlechtes geschehen. Es ist aber auch wahr, daß die russischen Armeen dann – in der Gegenwehr, das gebe ich ohne weiteres zu – in Deutschland eingedrungen sind und daß dann auch in Deutschland viele entsetzliche Dinge im Kriege vorgekommen sind. Ich meine, wenn wir eine neue Periode unserer Beziehungen eintreten – und das ist unser ernstlicher Wille –, daß wir dann nicht zu tief in die Vergangenheit sehen sollten, weil wir dann nur Hindernisse vor uns aufbauen. Der Beginn einer Periode setzt auch eine psychologische Bereinigung voraus.56
Adenauer sprach in der Folge noch häufiger von der „Psychose des Krieges“57, „dieser Kriegssache“, die man „endlich aus der Welt schaffen“58 müsse. Nur hinter verschlossenen Türen, im Gespräch mit dem CDU-Parteivorstand nach seiner Rückkehr aus Moskau im September 1955, reflektierte Adenauer über die politische Relevanz der noch sehr wachen Erinnerung auf sowjetischer Seite und umschrieb damit auch das erinnerungspolitische Dilemma dieser Jahre: Der reale, undemokratische und auf militärischer Gewalt beruhende globale Einfluss der Sowjetunion machte eine (öffentlich artikulierte) emphatische Anerkennung ihrer Opfer und Leistungen im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland undenkbar. Im Protokoll zur Vorstandssitzung heißt es:
54 So z. B. Heinz Renner in Antwort auf Adenauers erste Regierungserklärung, die auch eine Passage zum Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion enthielt. Renner verwies u. a. auf das Urteil des Manstein-Prozesses, das Belege für die Verbrechen der Wehrmacht an sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten enthielt, und warf Adenauer vor, er missbrauche die Kriegsgefangenenfrage für eine „neue Hetzkampagne gegen die Sowjetunion“. Vgl. VDB, I. WP, 32. Sitzung, 27.1.1950, S. 1013–1015. 55 Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Bd. 2: Der Staatsmann 1952–1967, München 1994, S. 208. 56 Konrad Adenauer, Erinnerungen, Bd. 2: 1953–1955, Stuttgart 1984, S. 509 57 Rudolf Morsey u. Hans-Peter Schwarz (Hg.), Konrad Adenauer, Theodor Heuss. Unter vier Augen. Gespräche aus den Gründerjahren, 1949–1959, Berlin 1997, S. 178 58 Rudolf Morsey u. Hans-Peter Schwarz (Hg.), Konrad Adenauer. Teegespräche 1955–1958, Berlin 1986, S. 10 Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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[. . .] Im Rückblick auf die Verhandlungen sucht er [Adenauer] freilich Einseitigkeit zu vermeiden: „So scheußlich die Russen bei uns gewütet haben“, erinnert er die Vorstandsrunde der CDU, „ich glaube, die Deutschen haben in Russland nicht minder große Untaten begangen. Die Zahl der russischen Kriegsgefangenen, die man bei uns absichtlich hat verhungern lassen, im wahrsten Sinne des Wortes, geht in die Millionen.“ Und schließlich sei der Hitler-Stalin-Pakt zwar gemein in seinem Ziel und schlecht in seinen Motiven’ gewesen – aber immerhin ein Vertrag! Freilich – „es sind viele Jahre seit 1939 vergangen“, doch sollte man sich diese Fakten und Zahlen doch vor Augen halten, „wenn man sich mit Vertretern der Sowjetunion an einen Tisch setzt, um über Fragen zu verhandeln, die aus jenen Jahren und aus jener Periode herstammen“.59
Obwohl die Geschichte des deutsch-sowjetischen Krieges also auch in Adenauers Augen quasi als dritte Partei am Verhandlungstisch saß, dauerte es weitere zehn Jahre, bis diese Erkenntnis Eingang in die diplomatische Praxis der Bundesrepublik fand.
III. Deutsch-deutsche Divergenzen: Geschichte und Politik Die bisher beschriebenen Grundkonstellationen des politischen Gedächtnisses an den Krieg gegen die Sowjetunion standen unter den klaren Vorzeichen des Kalten Krieges. Die politische Kultur und Praxis der frühen Nachkriegsjahre war geprägt von einem Klima der Angst – Angst vor einem erneuten, diesmal nuklearen, Weltkrieg. Dies führt uns nun zu den deutsch-deutschen Divergenzen im politischen Gedächtnis an den deutsch-sowjetischen Krieg. Denn jenseits einer vergleichbaren, wenn auch gegensätzlichen, Rückbeziehung auf diesen Krieg als warnendes Beispiel in der Geschichte, fand die politische Instrumentalisierung dieses Ereignis eine einzigartige Zuspitzung durch die SED in der DDR. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges war Angst eine zentrale Komponente in der politischen Kultur beider deutscher Staaten. Der Krieg an der Ostfront, in welcher Form er auch immer erinnert und interpretiert wurde, konstituierte einen wichtigen historischen Referenzpunkt für die politischen Akteure auf beiden Seiten insofern, als eine „brauchbare“ („usable“, Moeller) Erinnerung an diesen Krieg politische Legitimität und faktische Macht versprach.60 Wenn man sogar von einer „politischen Kultur der Angst“61 sprechen will, muss hinzugefügt werden, dass diese maßgeblich durch die jeweils opportune Anrufung des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion inspiriert war. Für die SED und deren Rhetorik von Krieg und Frieden (Stichworte „Wehret den Anfängen!“ und „Nie wieder!“) war der Krieg gegen die Sowjetunion ein unschätzbarer historischer Fundus an Warnungen und Mahnungen vor einem erneuten „imperialistischen Feldzug gegen den Osten.“62 Das Wachhalten des Krieges an der Ostfront 59 So zitiert Hans-Peter Schwarz aus dem Protokoll der Sitzung, Schwarz, Adenauer, Bd. 2, S. 212. 60 Moeller, War Stories. 61 Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 15 ff. 62 Meuschel argumentiert, dass der Sozialismus der SED stark auf ältere Elemente der Angst in der deutschen Geistesgeschichte rekurrierte, um die Macht und Deutungsherrschaft über eine ansonsten immer noch „un-politische“ (nicht apolitische) Gesellschaft zu erhalten. Derartige Traditionen sind z. B. die Angst vor der Moderne, vor äußeren und inneren Feinden (Einkreisung), Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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im offiziellen Gedächtnis diente damit direkt der Herrschaftslegitimation und hatte ganz praktische Folgen, denn nur in diesem Teil der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, nicht etwa in dem systematischen Judenmord, fanden sich die historisch-ideologischen Zutaten für die Etablierung eines „anderen Deutschlands“, dessen oberste Staatsräson im Projekt der deutsch-sowjetischen Freundschaft Ausdruck fand. In ihrer westdeutschen Ausprägung zielte die Politik mit der Angst gegen den „anderen“ Totalitarismus der Sowjetunion, die als die neue (und alte) Hauptbedrohung des Westens nicht nur von der politischen Führung definiert sondern auch in der Bevölkerung so empfunden wurde.63 Dabei stehen die realen Bedingungen außer Frage – denn in der Tat, war die UdSSR nur mit Hilfe von militärischer Gewalt in der Lage, ihr Einflussgebiet zu sichern. Doch auch in diesem westdeutschen Zusammenhang spielte der Schatten der deutsch-russischen Vergangenheit eine gewisse politische Rolle, wenn auch eine ganz andere. Hier wurde der Krieg gegen die Sowjetunion zunächst nicht als monumentale Warnung wahrgenommen, die Geschichte nicht zu wiederholen. Vielmehr konzentrierte sich der politische Diskurs auf die fortdauernde Bedrohung durch den Kommunismus sowjetischer Prägung – den Bolschewismus. Erst mit dem politischen und gesellschaftlichem Wandel seit Beginn der 1960er Jahre lässt sich eine fundamentale Wandlung dieser instrumentalen Rolle beobachten, denn das – dann tatsächlich auch artikulierte und zunehmend differenzierte – politische Gedächtnis an den deutsch-sowjetischen Krieg wird im Kontext der „Neuen Ostpolitik“ auf eine ganz andere Art eine wichtige Rolle spielen. Auf diesen in Ost- und Westdeutschland stark divergierenden politischen Funktionen des Gedächtnisses an das „Unternehmen Barbarossa“ liegt im Folgenden der Schwerpunkt. 1. Ein „neues Barbarossa“ verhindern: Vom „Aufbau des Sozialismus“ Zum 13. August 1961 Die Lehren, die die KPD/SED aus der Geschichte der Jahre 1941 bis 1945 zog, spiegelten gleichsam die biographischen, politischen und ideologischen Positionen der ostdeutschen Kommunisten. Ebenso entsprangen diese Deutungen nicht nur der Vergangenheit, sondern natürlich auch der Gegenwart und galten damit an sich schon als politisch relevant und handlungsleitend. „Im Zweiten Weltkrieg zeigte sich, daß die Sowjetunion die stärkste Staatsmacht der Welt ist“, referierte Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz im Juli 1952 in Berlin. Nach Kriegsende und in Folge der „Verschiedie anti-kosmopolitischen Regungen des deutschen Kulturnationenverständnisses oder die Technologieskepsis, der man mit Hilfe des wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus und der Vereinigung von Arbeiter und wissenschaftlich-technischem Fortschritts zu begegnen suchte, vgl. ebd.; vgl. dazu auch Martin Sabrow, Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997. 63 Michael Geyer, Cold War Angst, in: Hanna Schissler (Hg.), Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968, Princeton 2001, S. 376–408. Allgemein zur westdeutschen politischen Kultur z. B. Dirk van Laak, Der widerspenstigen Deutschen Zivilisierung. Zur politischen Kultur einer unpolitischen Gesellschaft, in: Eckart Conze u. Gabriele Metzler (Hg.), Fünfzig Jahre Bundesrepublik Deutschland. Daten und Diskussionen, Stuttgart 1999, S. 297–315. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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bung der Kräfteverhältnisse“ habe sich die „Krise des kapitalistischen Weltsystems vertieft.“ Diese Schwierigkeiten, so Ulbricht weiter, versuche man im Westen nun „durch den Übergang zur Rüstungsproduktion zu überwinden.“ Im Resultat diene diese Rüstung einzig und allein dem Ziel, einen „neuen Krieg vor allem gegen die sozialistische Sowjetunion“ zu entfesseln. Die „amerikanischen, englischen und französischen Imperialisten“ – die früheren Alliierten der UdSSR in der Anti-Hitler-Koalition – schmiedeten somit neue „militärische Koalitionen, die sie heuchlerisch mit der Flagge der ‚Verteidigung‘ des Westens maskieren, und folgen in jeder Hinsicht dem Weg der Kriegsverbrecher Hitler und Mussolini.“64 Diese offene faktische Gleichsetzung der westlichen Politik mit den Urhebern des Zweiten Weltkrieges wurde in der Folge noch verschärft und konkretisiert. Mit einer konstanten Angst- und Bedrohungskampagne, die zwar besonders die 1950er Jahre prägte, aber bis in die 1980er Jahre aufrecht erhalten wurde, zielte die SED darauf ab, einerseits die Bevölkerung im Glauben einer steten „imperialistischen“ Bedrohung durch ein erneutes „Barbarossa“ zu halten und andererseits jeden potenziellen Angreifer mit der Drohung der endgültigen Vernichtung abzuschrecken. Zum 10. Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion im Juni 1951 ging Walter Ulbricht auf Seite eins des Neuen Deutschland so weit, zu behaupten, dass die amerikanischen und englischen Machthaber, die schon während des Hitlerkrieges daran interessiert waren, das Sowjetvolk und das deutsche Volk zu verbluten, nunmehr wiederum die westdeutsche Bevölkerung in einen Krieg gegen die Sowjetunion treiben wollen. . . . Zehn Jahre nach dem Kriegsüberfall des Hitlerfaschismus auf die Sowjetunion, zehn Jahre nach den furchtbarsten Verbrechen, die jemals von Deutschen begangen wurden, ist die große Zeit der Verantwortung für das deutsche Volk gekommen.65
Die implizite Teilung der Deutschen in die westdeutschen „Kriegstreiber“ und die „verblutenden“ (ost-)deutschen und sowjetischen Opfer exemplifiziert die kalkulierte Inanspruchnahme eines historisch außerordentlich komplexen Ereignisses, in dem die Linien zwischen „Tätern“ und „Opfern“ nicht selten verschwammen, für die innenwie außenpolitische Grenzziehung im deutsch-deutschen Kalten Krieg. Mit dem Hinweis auf die „Vernichtung des Angreifers“ im Jahre 1945 und das potenziell 475 Millionen-Mann starke Heer im „Friedenslager“ versicherten eine Reihe von Begleitartikeln den Leser, dass im Falle einer Wiederholung „Barbarossas“ die imperialistischen „Fensterspringer“ und „Selbstmörder“ mit ihren „Plänen keinerlei Chance“ hätten.66 Bildlich untermauert wurde diese Angst- und Bedrohungsbotschaft mit einer politischen Karikatur (Abb. 1, s. nächste Seite) mit folgender Beschriftung: „Mr. Truman: 64 Walter Ulbricht, Die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Aus dem Referat auf der II. Parteikonferenz der SED, Berlin, 9. bis 12. Juli 1952, in: ders., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. 4: 1950–1954, Berlin, 1958, S. 371–499, Zitate S. 373–379. 65 Walter Ulbricht, Das Verbrechen vom 22. Juni 1941, in: Neues Deutschland, 22.6.1951, S. 1. 66 Aus einer ZK-Rede Ulbrichts, erschienen unter dem Titel: Eindringliche Lehren des 22. Juni 1941, in: Neues Deutschland, 22.6.1951, S. 3. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Abbildung 1. „Der Stärkere“, Neues Deutschland, 22. Juni 1951, S. 3
Ich kann mit einem Schlag 20 000 Menschen vernichten. – Sowjetmensch: Und ich hundert Millionen in eine glückliche Zukunft führen.“ In seiner dann ein Jahr später gehaltenen Rede vor der II. Parteikonferenz begründete Ulbricht folglich das Programm zum „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ in der DDR direkt mit der Gefahr eines erneuten Angriffskrieges gegen die Sowjetunion. Die Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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beschlossenen Maßnahmen führten in der Folge zur Intensivierung des politischen Terrors („Brechung des Widerstandes der gestürzten und enteigneten Großkapitalisten“), der Propaganda und Massenagitation („Organisierung des Aufbaus des Sozialismus mit Hilfe des Zusammenschlusses aller Werktätigen um die Arbeiterklasse“) und der Militarisierung der Gesellschaft („Schaffung der bewaffneten Streitkräfte der Deutschen Demokratischen Republik zur Verteidigung der Heimat gegen die äußeren Feinde“67). Im östlichen Deutschland war das kanonisierte Gedächtnis an den Krieg gegen die Sowjetunion demnach nicht nur ein Leitmotiv in den herrschaftspolitischen Legitimationsbestrebungen der SED, sondern diente auch als argumentative Grundlage für praktische Politik. Die UdSSR firmierte in dieser Erinnerung zugleich als Hitlers primäres Opfer und stärkster Gegner. Jenseits der in diesem Geschichtsdiskurs verarbeiteten individuellen Kriegserfahrungen waren die „Lehren des Juni“ für die SED deshalb relevant, weil sie das sozialistische Experiment in Ostdeutschland zu legitimieren versprachen. Die Staatsräson der DDR bestand nämlich nicht in erster Linie im offiziellen Antifaschismus – einem eher moralischen und moralisierenden Konzept – sondern im Projekt der historisch begründeten und in den Prüfungen der Geschichte gewachsenen deutsch-sowjetischen Freundschaft. Dies wird insbesondere durch den historiographischen Fokus auf die geschichtspolitische Aneignung des deutsch-sowjetischen Krieges durch die SED deutlich und plausibel. Denn das zentrale innen- wie außenpolitische Leitmotiv jeglicher SED-Politik war die Anerkennung und Vertiefung der historisch gewachsenen und in der Feuertaufe des Krieges (wieder-) geborenen deutsch-sowjetischen Freundschaft.68 Aus dieser in diesem Sinne mehr als nur „erfundenen Freundschaft“69 leitete die SED ihre wichtigsten außenpolitischen Prinzipien ab: die dauerhafte Verbündung mit Moskau und die Akzeptanz der politischen Vorbildfunktion der UdSSR. Im Namen dieser euphemistisch umschriebenen realpolitischen Unterordnung der DDR unter die Sowjetunion etablierte die SED ihre Meistererzählung des Ostkrieges mit Hilfe der beschriebenen Angst- und Bedrohungskampagne. Zwei Daten in der Geschichte der DDR hingen ganz besonders eng mit dem instrumentalisierten Wachhalten der Erinnerung an den Krieg gegen die Sowjetunion zusammen: der 17. Juni 1953 und der 13. August 1961. In beiden Fällen kam der historische Zufall der SED zupass: der Volksaufstand brach im Juni 1953 aus, wenige Tage vor dem zwölften Jahrestag des 22. Juni 1941; die Entscheidung, die Mauer zu errichten, fiel im Sommer genau 20 Jahre nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion. Albert Norden, SED-Chefideologe und kurzzeitig Professor für neuere Geschichte
67 Ulbricht, Die gegenwärtige Lage, S. 409. 68 François Furet hat die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges als Feuertaufe des Kommunismus hervorgehoben und dabei insbesondere darauf hingewiesen, dass das moralische Ansehen der kommunistischen Idee in Folge des Sieges über Nazideutschland am Kriegsende einen historischen Höhepunkt erreicht hat. Vgl. Furet, The Passing of an Illusion. The Idea of Communism in the Twentieth Century, Chicago 2000, S. 361. 69 Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln 2006. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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an der Humboldt-Universität in Berlin, war einer der wenigen KPD-Veteranen, die nach 1945 aus dem amerikanischen Exil zurückkehrten und eine führende Rolle unter den „Moskauern“ um Ulbricht erlangen konnten. Sein rhetorisches Geschick und seine langjährige journalistische wie parteipolitische Erfahrung trugen nicht unwesentlich zu seinem Aufstieg bei. Er war es vor allem, der in seinen Kommentaren nach den Unruhen des 16./17. Juni 1953 eine direkte Verbindung zum Angriff auf die Sowjetunion herstellte. Am 21. Juni 1953 schrieb er im Neuen Deutschland, dass „die deutschen Imperialisten“ seit ihrer Niederlage 1945 auf einen neuen „Tag X“, einen neuen 22. Juni, gewartet hätten. Als „Fleisch vom Fleische des faschistischen Imperialismus“ hatten sie am „17. Juni 1953 ihre Stunde für gekommen“ gehalten, um die „Refaschisierung Deutschlands“ zu starten und erneut das „Friedenslager“ um die Sowjetunion anzugreifen. Und wieder – nur acht Jahre nach Kriegsende – waren die Deutschen zu schwach gewesen, dem Faschismus Einhalt zu gebieten, wieder mussten sowjetische Truppen Deutschland vor der imperialistischen Gefahr „befreien“ und verhinderten damit eine Wiederholung der Geschichte. Die „Freundschaft mit der Sowjetunion erwies sich [erneut] als Unterpfand des friedlichen Lebens unseres Volkes.“70 Nach innen wie nach außen diente die derartig politisierte Erinnerung an den Krieg gegen die Sowjetunion im Juni 1953 der ideologischen Abgrenzung und der Legitimation militärischer Gewalt gegen die eigene Bevölkerung, in deren Folge mindestens 60 Menschen getötet und Hunderte verwundet, verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.71 Die Darstellung des Volksaufstandes als von westlichen Geheimdiensten gelenktes „faschistisches Abenteuer“, die in jenen Tagen im ZK der SED formuliert und von den Medien der DDR popularisiert wurde, basierte auf denselben historisch-politischen Grundüberzeugungen wie Nordens Kommentar.72 Im Sommer 1961 diente eine ähnliche Argumentation der Einmauerung des eigenen Volkes. Beginnend mit der Berichterstattung zum 20. Jahrestag des 22. Juni 1941, verband die SED die bis dato gescheiterten Bemühungen um einen „Friedensvertrag“ mit den früheren Alliierten mit der vermeintlichen Notwendigkeit, einen dritten Weltkrieg zu verhindern. So hieß es am 22. Juni 1961 in einer im Neuen Deutschland abgedruckten Rede des Verteidigungsministers Heinz Hoffmann: Nur „der Abschluß eines Friedensvertrages macht einen neuen 22. Juni unmöglich.“73 Zahlreiche Artikel, Reporta70 Albert Norden, Warum das Potsdamer Abkommen für Adenauer ein Alpdruck ist. Lehren des 22. Juni 1941, in: Neues Deutschland, 21.6.1953, S. 5. Hier zitiert nach Albert Norden, Die Lehren des 22. Juni 1941, in: ders., Die Nation und wir. Ausgewählte Aufsätze und Reden 1933–1964, Bd. 1, Berlin (Ost) 1965, S. 542–552. 71 Vgl. u. a. Ilko-Sascha Kowalczuk, 17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003. Edda Ahrberg u. a. (Hg.), Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, Münster 2004. 72 BA/SAPMO, DY 30 J IV 2/202/15. Vgl. im Neuen Deutschland z. B.: Was passierte in Berlin?, 18.6.1953, S. 1. 73 Der Abschluß eines Friedensvertrages macht einen neuen 22. Juni unmöglich. Rede des Ministers für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Hoffmann, anläßlich des 20. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion, in: Neues Deutschland, 22.6.1961, S. 5. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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gen, Kommentare und Erinnerungsberichte unterstrichen die Relevanz der „Lehren des 22. Juni“ für die Lösung der seit 1958 schwelenden Berlin-Krise und die damit im Zusammenhang stehende immer noch offene „deutsche Frage.“74 Die SED veranstaltete außerdem im Juni 1961 eine wissenschaftliche Konferenz mit sowjetischen und DDR-Historikern, auf der jüngste Forschungen zur „Aggression des deutschen Imperialismus gegen die UdSSR“ präsentiert wurden.75 In der Folge erschienen eine Reihe von Arbeiten, die den verbrecherischen Charakter des deutschen Angriffskrieges auf der Grundlage von Dokumenten belegten und das offizielle SED-Geschichtsbild, das in der Tendenz den Zweiten Weltkrieg auf die Jahre 1941–1945 reduzierte, weiter untermauerten.76 Viele dieser Beiträge sind von Ideologie durchdrungen und erfüllen schwerlich Kriterien wissenschaftlicher Arbeit, doch gab es auch Ausnahmen, die z. B. im Hinblick auf die Besatzungspolitik der Wehrmacht77 oder die Verstrickung der deutschen Großindustrie in Kriegsverbrechen Ergebnisse vorlegten, die Jahre später durch westdeutsche Historiker aufgegriffen bzw. bestätigt wurden.78 Ohne Rekurs auf mehr oder weniger ideologienahe historische Forschung beschränkte sich die SED-Kampagne im Frühsommer 1961 bis zum Tag des Mauerbaus erneut auf die Betonung der vermeintlichen Kontinuitäten zwischen Hitler und dem „Bonner Regime.“ Die Kampagne gipfelte in der Behauptung, Adenauer und seine „Gefolgsleute“ planten seit 1945 die „Fortsetzung des Krieges an der Ostfront“ und „verschacherten“ die Bundesrepublik als „Aufmarschgebiet für einen dritten ‚Kreuzzug‘ gegen die Sowjetunion.“79 Wiederum war es aber auch die Abschreckung der potenziellen Angreifer, die prominenten Raum einnahm. So wird Nikita Chruschtschow mit der Bemerkung zitiert: „jeder neue Aggressor würde das
74 Siehe z. B. Was uns der 22. Juni 1941 lehrt. Eine historische Dokumentation zum 20. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion, in: Neues Deutschland, 20.6.1961, S. 3. 75 Vgl. das Protokoll in BA/SAPMO DY30 IV 2/9.09/58. 76 Alfred Anderle u. Werner Basler (Hg.), Juni 1941. Beiträge zur Geschichte des Hitlerfaschistischen Überfalls auf die Sowjetunion, Berlin 1961; sowie eine Reihe von deutschen Übersetzungen sowjetischer Arbeiten: Grigorij Abramovic Deborin u. Rolf Feicht (Hg.), Die Vorbereitung und Entfesselung des zweiten Weltkrieges durch die imperialistischen Mächte, Berlin (Ost) 1962; Grigorij Andreevic Below u. Evgenij A. Boltin, Verbrecherische Ziele – verbrecherische Mittel. Dokumente der Okkupationspolitik des faschistischen Deutschlands auf dem Territorium der UdSSR (1941–1944), Moskau 1963. 77 Norbert Müller, Zur Rolle der Wehrmachtführung bei der Planung und Vorbereitung des faschistischen Okkupationsregimes in den besetzten sowjetischen Gebieten (1940/41), in: Zeitschrift für Militärgeschichte 6. 1967, S. 415–431. Leon Herzog, Die verbrecherische Tätigkeit der Wehrmacht im Generalgouvernement in den Jahren 1939–1945, in: Zeitschrift für Militärgeschichte 6. 1967, S. 445–458. 78 Siegmar Quilitzsch, „Zur verbrecherischen Rolle der IG Farben während der faschistischen Aggression gegen die Sowjetunion,“ in Anderle u. Basler, Juni 1941, S. 157–187; später Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, 3 Bände, Berlin (Ost) 1967 ff., insb. Bd. 2: 1941–1943. Eichholtz’ Arbeiten wurden von westdeutschen Historikern wie Manfred Messerschmidt oder Rolf-Dieter Müller durchaus positiv rezipiert. Vgl. Rolf-Dieter Müllers Rezension von Eichholtz’ 3. Band, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 2. 1986, S. 181–186. 79 Was uns der 22. Juni 1941 lehrt, in: Neues Deutschland, 20.6.1961, S. 3. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Abbildung 2. „Die erste Begegnung mit der sowjetischen Kneifzange“, Neues Deutschland, 22. Juni 1961, S. 1
Schicksal Hitlers teilen.“80 Unterstrichen wurde diese Prophezeiung erneut mit einer Karikatur, die laut Bildunterschrift „die erste Begegnung mit der sowjetischen Kneifzange“ illustrierte (Abb. 2). Würde sich die Geschichte einer Aggression gegen die Sowjetunion wiederholen, so gälte dies auch für Hitlers totale Niederlage. Die Redakteure des Neuen Deutschland fügten dieser bildlichen Metapher noch eine sprachliche bei: Im erneuten Angriffsfalle stünden die „Birkenkreuze neuer ‚Barbarossa‘-Abenteurer nicht vor Stalingrad sondern hinter Köln.“81 Diese beispiellose Kampagne mündete rhetorisch in der Erklärung des DDR-Ministerrates vom 80 Zitat aus einer Rede auf einer Moskauer Kundgebung zum 20. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion, in: Neues Deutschland, 20.6.1961, S. 3. 81 Was uns der 22. Juni 1941 lehrt, in: Neues Deutschland, 20.6.1961, S. 3. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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12. August 196182, nach der die Schließung der innerdeutschen Grenze der Sicherung des europäischen Friedens diente, und praktisch in der Einbetonierung eines ganzen Volkes am darauffolgenden Tag. Die Relevanz des politischen Gedächtnisses an den deutsch-sowjetischen Krieg liegt also in der flexiblen ideologischen und realpolitischen Applikation seiner kanonisierten „Lehren“ auf die verschiedensten Ereignisse und Entscheidungen vor allem, aber nicht nur, während der 1950er und 1960er Jahre. Diese reichte von Popularisierung, Mobilisierung und Agitation bis hin zur Repression und Einhegung politischer Widerstände. Das heißt nicht, dass die SED diese Maßnahmen ohne den Rekurs auf den Krieg gegen die Sowjetunion nicht auch durchgesetzt hätte; es liegt aber im Interesse einer gleichfalls differenzierteren DDR- und memory-Forschung, nach der praktischen, d. h. politischen Rolle von Gedächtnis zu fragen, die sich aus dem Zusammenspiel von Geschichte, Erinnerung und Politik an der Intersektion von „Sinn und Macht“83, ablesen lässt. 2. Wandel durch Persistenz: Von Ulbricht zu Honecker Die von der SED gefertigte Meistererzählung des deutsch-sowjetischen Krieges wurde, einmal etabliert, über vier Jahrzehnte aufrechterhalten. Bildlich hat dies Tony Judt einmal als „frozen past“ bezeichnet und damit das erstarrte offizielle Geschichtsbild kommunistischer Regime treffend beschrieben, das meist im deutlichen Widerspruch zu den vielschichtigeren individuellen Erinnerungen an Krieg und Nachkriegszeit in der Bevölkerung stand.84 Dies gilt generell auch für die vierzigjährige Diskursherrschaft der SED, in deren Verlauf die Koordinaten des politischen Gedächtnisses unverändert blieben. Mit dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker wandelte sich aber sowohl die Akzentuierung als auch der Stil dieser Meistererzählung. Die Ursachen für diesen Wandel liegen wohl gleichfalls in den sich verändernden klimatischen Bedingungen des Kalten Krieges seit Ende der 1960er Jahre, in der allgemeinen ideologischen Ernüchterung und Ermüdung des „real existierenden Sozialismus“, der wachsenden zeitlichen Entfernung des Krieges sowie in der Biographie Honeckers. Anders als Ulbricht, war er kein „Veteran“ der Ostfront, sondern ein „verdienter Antifaschist“, der während der Nazi-Zeit fast zehn Jahre im Gefängnis Brandenburg-Görden gesessen hatte. Anders als Ulbricht kannte er die Sowjetunion nur durch kürzere Aufenthalte in Friedenszeiten, einmal für einen Studienaufenthalt an der Leninschule in Moskau 1930/31 und dann erst wieder nach 1945, um u. a. die Stadt Stalingrad/Wolgograd (1945 als Jugendfunktionär und 1975 als Staatsratsvorsitzender) zu besuchen.85 Obwohl auch Ulbricht keine rein auf seine Person fokus82 Abgedruckt am 13. August 1961 im Neuen Deutschland, S. 1. 83 Herf, Divided Memory, S. 9. 84 Tony Judt, „The Past is Another Country. Myth and Memory in Postwar Europe“, in Daedalus 121. 1992, S. 83–118. 85 Während seines Staatsbesuches 1975 in der UdSSR hielt er in Wolgograd eine Rede im Gedenken an die Schlacht, auch besuchte er im Mai 1985 Krasnogorsk, wo zum Gedenken an die Gründung des NKFD ein Museum über den deutschen Widerstandskampf eröffnet wurde. In beiden Fällen Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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sierte Geschichtspolitik betrieb86, war er aktiv als Chronist an der offiziellen Geschichtsschreibung beteiligt gewesen. Die mehrbändige „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ wurde unter seiner Anleitung geschrieben.87 Auch die Verbindungen zum Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) und dessen Rolle als Wegbereiter eines sozialistischen deutschen Staates fehlten in Honeckers Biographie; es nahm daher auch weniger Raum im politischen Gedächtnis des Krieges gegen die Sowjetunion in der Ära Honecker ein. Betont wurden stattdessen ganz im Sinne der Behauptung des nun verwirklichten „realen Sozialismus“, dass die „Lehren der Vergangenheit für immer“ gezogen worden seien – so der Titel von Honeckers erster Rede zum 22. Juni 1971 als Erster Sekretär des ZK der SED.88 Honecker betonte an entsprechenden Jahrestagen nicht nur, dass die Allianz mit der UdSSR die Hauptlektion des Krieges verwirkliche und grenzte sich darin deutlich von Ulbrichts späten Versuchen ab, die DDR von der Sowjetunion (begrenzt) zu emanzipieren.89 Man bezeugte darüber hinaus zunehmend „Dankbarkeit und Respekt“, gar „Liebe“ für die „sowjetischen Helden.“90 Zudem verlor der Krieg an der Ostfront mit der westdeutschen Entspannungspolitik sein warnendes Drohpotenzial, das in der Ära Ulbricht zu dessen politischer Bedeutung erheblich beigetragen hatte. Doch selbst nachdem die „Zwei-Lager-Theorie“ durch Détente und Bonner Entspannungspolitik stark ausgehöhlt worden war, hielt man propagandistisch an den alten Formeln fest. Auf die erste offizielle Verlautbarung Bonns zum 25. Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion reagierte die DDR-Regierung mit den gewohnten Reflexen: Bundeskanzler Ludwig Erhard hatte am 20. Juni 1966 erklärt, dass der Krieg beiden Seiten großes Leid zugefügt habe; man müsse aber „der Zukunft ihr Recht geben“ und die „Überreste des Krieges“, namentlich die deut-
kompensierte der Besuch dieser historischen Orte ex officio die fehlende biographische Verbindung. Vgl. die Reden Neue große Perspektiven für unseren Freundschaftsbund, 13.10.1975, in: Erich Honecker, Reden und Aufsätze, Bd. 4, Berlin (Ost) 1977, S. 61–65; und In unserem Land lebt die Einheit der Antifaschisten fort, in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. 10, Berlin (Ost) 1986, S. 598–601. Für Ulbricht lassen sich derartige Besuche nicht nachweisen. 86 In seltenen Fällen geschah dies über die Medien z. B. unter Verwendung seiner „Memoiren“, vgl. [Walter Ulbricht:] Stimme und Gewissen der Nation, in: Neues Deutschland, 17.6.1961, Beilage Nr. 24, S. 3. Ulbrichts autobiographische Aufzeichnung zur Zeit 1933–1945 sind erschienen als: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1933–1945. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. 2: 1933–1946, zum 22. Juni 1941 im Besondern ebd., S. 258 ff. 87 Die faszinierenden Beratungsprotokolle der Sitzungen der Arbeitsgruppe – die einen direkten Einblick in das Wie der offiziellen Geschichtsschreibung geben – sind erhalten, vgl. z. B. Lothar Berthold, Stenographische Niederschrift der Beratung der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der dreibändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, BA/SAPMO, DY30 IV A2/2.024/59. 88 Die Lehren der Vergangenheit wurden für immer gezogen, in: Neues Deutschland, 22.6.1971, S. 1. 89 So auch Außenminister Otto Winzer, „30 Jahre nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion. Unser Bündnis mit der UdSSR – wichtigste Lehre des 22. Juni 1941“, in: Neues Deutschland, 22.6.1971, S. 3. Vgl. dazu allgemein Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker: Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997. 90 So Winzer, 30 Jahre nach dem faschistischen Überfall, in: Neues Deutschland, 22.6.1971, S. 3. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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sche Teilung, „wegräumen.“91 Daraufhin beklagte der Leitartikel im Neuen Deutschland: Es ist bekannt, daß für Bonn die „Aufhebung der deutschen Teilung“ soviel heißt wie „Annexion der DDR“. Man hat also dort die Stirn, am Jahrestag des Überfalls auf die sozialistische Sowjetunion einen Überfall auf die sozialistische DDR zu proklamieren. 92
Zwar argumentierte die SED nun nicht mehr mit der Drohung eines „zweiten Barbarossa“, doch implizierte die „Proklamation“ eines „Überfalls auf die DDR“ eine immer noch latente Kriegsgefahr, obwohl sich bereits die Regierung Erhard spürbar um eine Verbesserung des Verhältnisses zur Sowjetunion bemühte.93 Noch deutlicher wird sowohl das ideologische Dilemma der Honecker-Ära als auch die ritualisierte Erstarrung der „Lehren des 22. Juni“ im Zusammenhang mit der Ratifizierung und dem Inkrafttreten der Moskauer und Warschauer Verträge 1970. DDRAußenminister Otto Winzer sprach im Juni 1971 – die Verträge waren bereits unterzeichnet – von der „außerordentlichen Bedeutung“ dieses Vertragswerkes für die Entspannung in Europa. Dennoch dürfe man „den Revanchismus und Militarismus nicht unterschätzen“: Für Franz-Josef Strauß, den – lange nicht mehr amtierenden – früheren Verteidigungsminister, sei „der zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende.“ Welche „verheerenden Folgen“ die Unterschätzung und „Bagatellisierung“ der „Gefährlichkeit des Revanchismus und Militarismus, der in der BRD sein Unwesen treiben kann“, haben könne, sei auch eine Lehre des 22. Juni. Die von der SED aufrechterhaltene Behauptung einer historischen Analogie dürfte angesichts der tatsächlichen Entspannung in Europa weniger überzeugend gewesen sein denn je. Das politische Gedächtnis an den deutsch-sowjetischen Krieg war demnach zunehmend phrasenhaft und fast vollkommen von der eigentlichen Geschichte gelöst, in deren Kern es doch eigentlich um den „ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg“ ging, den „die moderne Geschichte kennt.“94 91 Ludwig Erhard, Der Zukunft ihr Recht geben! Überreste des Krieges wegräumen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (im Folgenden BPI), Nr. 81, 21.6.1966, S. 637. 92 Der 22. Juni 1941, in: Neues Deutschland, 22.6.1966, S. 1 f. 93 Vgl. Horst Osterfeld, Außenpolitik unter Bundeskanzler Ludwig Erhard 1963–1966. Ein dokumentarischer Bericht aus dem Kanzleramt, Düsseldorf 1992; sowie Peter Benders klassische Studie, Die Ostpolitik Willy Brandts oder die Kunst des Selbstverständlichen, Reinbek 1972, bes. S. 1–20. 94 So Ernst Noltes berühmte, sehr frühe und klare Charakterisierung des Ostkrieges in: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action Française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, München 1963, S. 436. In der Tat findet man das beste Beispiel für die Erstarrung in den letzten Jahren der DDR, vgl. den Plan für die Zeremonien zum „45. Jahrestag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion. Beschluß des Politbüros des ZK vom 9.6.1986“, BA/SAPMO, DY30 J IV 2/2R, S. 116, 99–100; sowie die Berichterstattung zum 45. Jahrestag, Gefallene sowjetische Helden wurden in Berlin feierlich geehrt, in: Neues Deutschland, 23.6.1986. Über zwei Seiten berichtete man von Zeremonien, Gästen etc., es fehlten jedoch anders als es bis in die 1970er Jahre üblich war jegliche Bezüge zu dem historischen Ereignis, an das diese Zeremonien erinnern sollten. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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3. Wandel durch Anerkennung: Historische Schuld und „Neue Ostpolitik“ Im Gegensatz zur weitgehenden Persistenz des von der SED-Führung frühzeitig geprägten Geschichtsbildes und dessen kontinuierlicher politisch-propagandistischen Funktionalisierung in der späteren DDR, wandelten sich die historisch-politischen Prämissen der bundesrepublikanischen Außenpolitik zwar langsam, aber nachhaltig unter Adenauers Nachfolgern.95 Mit einem bemerkenswerten Aufsatz in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs leitete Erhards Außenminister Gerhard Schröder (CDU) diesen Wandel ein. Erstmals in der bundesrepublikanischen Diplomatiegeschichte setzte sich ein führendes Regierungsmitglied öffentlich mit den Realitäten und Folgen des deutschsowjetischen Krieges auseinander und leitete – zumindest auf symbolischer Ebene – eine (geschichts-)politische Wende ein: „National Socialist megalomania [had] raged with particular brutality in Eastern Europe“96, schrieb Schröder im Oktober 1965 und war im Vergleich zu Adenauers Moskauer Bemerkungen zehn Jahre zuvor mit dieser Feststellung am entgegengesetzten Ende des im Kalten Krieg rhetorisch Möglichen angelangt. Der Außenminister wusste, dass eine deutsche Wiedervereinigung als Resultat der Entspannung des Ost-West-Konfliktes nur über die Anerkennung der langfristigen Folgen des „Russlandfeldzuges“ zu erreichen war, denn dessen emotionale Wunden und politischen Verletzungen belasteten auch 20 Jahre nach Kriegsende noch die Beziehungen zwischen Deutschland, den osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion: It is not surprising, therefore, that we frequently find an outdated image of Germany in Eastern Europe – one which may also have existed in the West 15 or 20 years ago. That image is characterized by mistrust and fear, based on recollections of the era when the National Socialist megalomania raged with particular brutality in Eastern Europe. Moreover, the countries of this area tend to make the same error that the Germans themselves frequently made and of which they have been cured by two catastrophes – namely, the mistake of overestimating Germany’s resources. Ignorance of the changes that have taken place in Germany since 1945 has so far prevented this distorted image from being corrected. It is hard to know how deeply mistrust and fear of Germany are rooted in the minds of the leadership groups in Eastern Europe; but unjustified as they are today, they certainly represent a very considerable political factor.97
Ein Jahr später hatte sich die Regierung Ludwig Erhards im Nachklang des Gedenkjahres 1965, des Eichmann-Prozesses (1961) und des Auschwitz-Prozesses (1963–65), zum ersten Mal offiziell zum 25. Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion geäußert. Der Titel der bereits erwähnten Regierungserklärung – „Der Zukunft ihr Recht geben! 95 Allgemein zur Geschichte der bundesdeutschen Außenpolitik, Gregor Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland: von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 20043; Peter Bender, Die „neue Ostpolitik“ und ihre Folgen: vom Mauerbau bis zur Vereinigung, München 19953. 96 Gerhard Schröder, Germany looks at Eastern Europe, in: Foreign Affairs, Oct. 1965, S. 15–25, Zitat S. 18. 97 Ebd.; für eine diplomatiegeschichtliche Einschätzung der Rede vgl. Bender, Die Ostpolitik Willy Brandts, 19 ff. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Die Überreste des Krieges beseitigen!“ – reflektierte den stark auf die Gegenwart und Zukunft ausgerichteten Inhalt: Vor 25 Jahren begann der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Er hat Leid und Elend über beide Völker gebracht, Millionen von Menschenleben gekostet und das politische Gefüge Europas erschüttert. Der Blutzoll, den das deutsche und das sowjetische Volk entrichtet haben, ist eine Verpflichtung, eine Wiederholung des 22. Juni 1941 für immer auszuschließen. Wer unversöhnlich auf jenen verhängnisvollen Tag und seine Folgen zurückblickt, verkennt die Tatsachen von heute und verschenkt die Chancen von morgen. Die Bundesregierung glaubt, dass es an der Zeit ist, der Zukunft ihr Recht zu geben, und die Überreste des Krieges, insbesondere die deutsche Teilung, wegzuräumen. Hass hat Völker an den Rand der Vernichtung gebracht; Einsicht in die Lebensnotwendigkeiten anderer wird ihnen Frieden geben.98
In dieser Erklärung schwang sowohl die Sorge um die fortgesetzte Teilung des deutschen Volkes mit als auch eine moralische Gleichsetzung der deutschen und sowjetischen Opfer – letztere waren zu zwei Dritteln Zivilisten – im Zweiten Weltkrieg, ja sogar eine Verurteilung derer, die „unversöhnlich“ auf jene Ereignisse zurückblickten. Dennoch zeigen diese beiden Beispiele, dass sich seit Mitte der 1960er Jahre die Einsicht durchsetzte, dass die Ost-West-Spaltung direkt mit dem Erbe des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion in Verbindung stand. Willy Brandt nahm diesen Grundgedanken – zunächst als Kurt-Georg Kiesingers99 Außenminister und dann als Kanzler – auf und verkehrte die Prinzipien der Bonner Ostpolitik ins Gegenteil: keine deutsche Einheit ohne europäische Annäherung, nicht gegen die Sowjetunion, sondern nur mit ihr. Ohne diesen Wandel wäre die „Neue Ostpolitik“ undenkbar gewesen und die Anerkennung der sowjetischen Rolle im Zweiten Weltkrieg spielte eine zentrale Rolle in der Verbesserung des diplomatischen Klimas. Brandts Erfahrung im nationalsozialistischen Widerstand in Norwegen einerseits sowie seine Erfahrung als Oberbürgermeister im geteilten Berlin andererseits hatten sein Bild von der deutsch-sowjetischen Geschichte geprägt.100 So war er nicht nur der erste deutsche Bundeskanzler, der den Deutschen schon lange vor Richard von Weizsäcker sagte, dass der 8. Mai 1945 auch für die Mehrheit der (West-) Deutschen eine Befreiung war.101 Er erklärte auch, dass die Sowjetunion die Hauptlast des Krieges getragen hatte.102 Dennoch sah er dieses Land zuerst als die das deutsche Schicksal maßgeblich bestimmende Großmacht.103 Aus dieser Wahrnehmung erklärt sich auch,
98 Erhard, Der Zukunft ihr Recht geben. 99 Bemerkenswerterweise war Kiesinger der erste Bundeskanzler, der die bis dato übliche Referenz zu Deutschland in den Grenzen von 1937 in seiner ersten Regierungserklärung unterließ; vgl. Klaus von Beyme, Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt, München 1979. 100 Vgl. seine Memoiren Erinnerungen, Frankfurt 1990. 101 So in seiner Bundestagsrede zum 8. Mai 1970, abgedruckt in: Willy Brandt, Bundestagsreden, Bonn 1972, S. 172–176. 102 Vgl. seine Fernsehansprache aus Moskau am 12. August 1970, abgedruckt in: Bundeskanzler Brandt. Reden und Interviews, Hamburg 1971, S. 203 f. 103 Vgl. z. B. Brandts Ausführungen am Beginn der 2. und 3. Lesung der Verträge von Moskau und Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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warum man im politischen Wirken Brandts nirgends eine emphatische Anerkennung sowjetischen Leidens findet, die seiner mitfühlenden Haltung gegenüber Polen vergleichbar wäre.104 Helmut Schmidt war der einzige Bundeskanzler, der als Soldat der Luftwaffe den Krieg an der Ostfront miterlebt hatte. Sein Wirken als Kanzler, v. a. während des Konfliktes um den Nato-Doppelbeschluss, sollte vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erfahrung erklärt werden; ihm war nach eigener Aussage stets gegenwärtig, dass „über jeder Annäherung [zwischen der Bundesrepublik und Osteuropa] der drohende Schatten Hitlers“105 hänge. Besonders interessant sind Schmidts private und halböffentliche Reflexionen über seine Kriegserfahrungen und der gegenwartspolitische Kontext, in den er diese einzubetten suchte. Gerade in den schwierigen jahrelangen Auseinandersetzungen mit Leonid Breschnew zeigen sich die Grenzen des am Beginn der 1980er Jahre politischen Gedächtnisses an den Krieg an der Ostfront. Im Gespräch mit Breschnew, dessen Erfahrungen als Kriegsveteran106 Schmidt kannte und respektierte, wurde die Verbindung zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Ost-WestKonflikt, der sich seit Ende der 1970er Jahre erneut verschärfte, am deutlichsten. Im Rückblick beschrieb Schmidt dies in Bezug auf die Auseinandersetzung um die Stationierung sowjetischer SS-20 Raketen 1978 wie folgt: Zu Breschnew . . . hat immer ein gutes persönliches Verhältnis bestanden; es beruhte wohl darauf, daß wir beide den Krieg unmittelbar als Soldaten erlebt hatten. Einer kannte die Kriegserfahrungen des anderen, denn wir hatten darüber gesprochen; wir wußten voneinander, daß wir beide den Krieg haßten, und nicht nur ich, sondern auch Breschnew hatte Angst vor einem neuen Krieg. Breschnew war kein Feind, sondern ein von mir menschlich begreifbarer und deshalb respektierter Gegner.107
Schmidts Auslassungen über seine Begegnungen mit Breschnew sind Dokumente individueller Reflexionsfähigkeit; doch diese Gespräche fanden eben halb-öffentlich, wenn nicht privat statt.108 Stellvertretend für Schmidts ambivalenten öffentlichen Rekurs auf den Krieg gegen die Sowjetunion sei ein im Juni 1981 veröffentlichter Kommentar des Bundeskanzlers in der Süddeutschen Zeitung – ein an sich bemerkenswerter Vorgang – angeführt, in dem er auf die Folgen des Unternehmens „Barbarossa“ Warschau am 10. Mai 1972 im Bundestag, abgedruckt in: Brandt, Bundestagsreden, S. 233–253, insb. S. 249. 104 So auch das Urteil Egon Bahrs, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 292. 105 Helmut Schmidt, Menschen und Mächte, Bd. 2: Die Deutschen und ihre Nachbarn, Berlin 1990, S. 447. 106 Vgl. zu seiner umstrittenen Rolle als politischer Kommissar der Roten Armee John Dornberg, Brezhnev. The Masks of Power, Dehli 1974, S. 75 ff. 107 Helmut Schmidt, Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 1996, S. 501. 108 Vgl. auch und im Besonderen seine Erinnerungen einer Konversation über deutsche Schuld im Jahre 1973 (während eines Staatsbesuches Breschnews in der Bundesrepublik), in deren Verlauf der damals noch Finanz- und Wirtschaftsminister plötzlich von Kriegserinnerungen überwältigt wurde („an mein tiefes Erschrecken über die grauenhaften Schreie eines an einer schweren Unterleibsverwundung sterbenden Kameraden“), vgl. Helmut Schmidt, Menschen und Mächte, Berlin 1987, S. 19; dazu auch Brandt, Erinnerungen, S. 202. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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einging und diese mit der politischen Gegenwart verband.109 Man werde in Deutschland „Hitlers Krieg“ und „Hitlers Verbrechen“ niemals vergessen, man habe die Lehren gelernt, auch wenn „wir Deutschen heute keine Schuld an Hitlers Krieg tragen“, so doch die „moralische Hauptlast der Verantwortung dafür, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden.“110 Deshalb arbeite Bonn für ein Klima des internationalen Ausgleichs, denn Rüstungsbegrenzungen und machtpolitisches Gleichgewicht allein sicherten den Frieden noch nicht. Beispielhaft für das ambivalente bundesrepublikanische Gedächtnis an den Ostfeldzug sei eine Passage aus diesem Kommentar zitiert, die zeigt, in welchem Maße die Kommunikation von historischem Wissen im politischen Raum problematisch sein kann: Der deutsche Überfall hat die Sowjetunion mit unsäglichem Leid überzogen. Kein Staat hatte am Ende . . . mehr Tote zu beklagen . . . – über 20 Millionen Menschen. Die bösen Folgen des Zweiten Weltkrieges lasten noch immer auf uns allen. Auch wir Deutschen haben schreckliche Verluste erlitten. Was die nationalsozialistische Führung des Deutschen Reiches den Russen auferlegen wollte – Aufteilung des Staates und Vertreibung von Menschen – das widerfuhr danach unserem eigenen Volke.
Hier mischt sich in das Wissen um die Millionen „anderen Opfer“ (und deren öffentliche Anerkennung) die Trauer um die „eigenen“ zu einer Argumentation, die eine bemerkenswerte Neudeutung der Historie impliziert: Während Hitlers Pläne trotz des „unsäglichen Leids“, das sie brachten, gescheitert waren, hätten sich Stalins vergleichbare Pläne mit der faktischen Vertreibung der Deutschen und der deutschen Teilung verwirklicht. Selten lässt sich die verschlungene Wahrnehmung der Gegenwart der Vergangenheit bzw. der Vergangenheit in der Gegenwart im Nachkriegsdeutschland so deutlich zeigen. Anders als im Holocaustgedenken dominierte der vor dem Hintergrund des Kalten Krieges etablierte bundesrepublikanische Viktimisierungsdiskurs das politische Gedächtnis des Krieges gegen die Sowjetunion bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes. Es bedarf weiterer Forschung, um einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen der wachsenden Rolle des Holocausts und der anhaltenden Verdrängung des deutschen Vernichtungskrieges im Osten in der bundesrepublikanischen Gedenkkultur zu belegen. Doch erscheint es plausibel, dass die graduelle Anerkennung des einen historischen Großverbrechens des Nationalsozialismus die kontinuierliche Ausblendung des anderen ermöglichte. Die historischen Orte Auschwitz und Stalingrad blieben – wie in der DDR, in der der Holocaust lange marginalisiert wurde – getrennt. Erst 1991 nach dem Ende des Kalten Krieges fand Helmut Kohl, der erste „spätgeborene“ Kanzler, die Worte, dem Leiden der Deutschen, das in dem Namen „Stalingrad“ kodifiziert ist, das Leiden der Sowjetbevölkerung entgegenzuhalten, in dem er auf die Verbrechen hinwies, die mit dem Namen „Leningrad“ verbunden sind.111 109 Helmut Schmidt, Vor vierzig Jahren überfiel Hitler die Sowjetunion: Den Weltkrieg niemals vergessen, in: Süddeutsche Zeitung, 21./22.6.1981, S. 1, 9. 110 Ebd., S. 9. 111 Ansprache des Bundeskanzlers im sowjetischen Fernsehen, in: BPI, Nr. 73, 25.6.1991, S. 587. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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IV. Deutsch-deutsche Kongruenzen: Remilitarisierung und historische Schuld Die Tatsache, dass sich die Konturen des politischen Gedächtnisses an den Krieg gegen die Sowjetunion in den Jahren der deutschen Teilung in der DDR kaum veränderten während sie sich in der Bundesrepublik stetig und nachhaltig wandelten, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es innerhalb dieser Konturen eine Reihe von Gemeinsamkeiten gegeben hat. Um dies zu verdeutlichen, wendet sich dieser letzte Teil noch einmal der Frühzeit des Kalten Krieges, und dabei insbesondere den Debatten um die Wiederbewaffnung und die Rolle und Integration von ehemaligen Wehrmachtssoldaten in beide deutsche Nachkriegsgesellschaften, zu. Denn was es praktisch hieß, die „Lehren aus der Geschichte“ zu ziehen, lässt sich am Beispiel der Remilitarisierung Ost- und Westdeutschlands sehr deutlich zeigen. Neben der Außenpolitik spielte die historische Last des nationalsozialistischen Angriffskrieges wohl in keinem anderen Politikfeld eine so hervorragende Rolle als in der der Militär- und Sicherheitspolitik. Die Schuldfrage, d. h. die Frage nach individueller Schuld und kollektiver Verantwortung für die Verbrechen in den von Nazideutschland besetzten Gebieten Europas, war untrennbar mit der Wiederaufrüstungsfrage verbunden. Und obwohl sich die politischen Debatten in Ost-Berlin und Bonn im Hinblick auf den Umgang mit dem Erbe des Vernichtungsfeldzuges der Wehrmacht sehr stark unterschieden, weisen die jeweiligen dominanten Deutungen von Schuld und Verantwortung bemerkenswerte Parallelen auf. In Ost- wie in Westdeutschland wurde über Verbrechen und Verbrecher entweder nur andeutungsweise oder stark generalisierend gesprochen. Die „Lehren“ des „Unternehmens Barbarossa“ wurden ausschließlich im Hinblick auf eine mögliche militärische Strategie und Ausrichtung zukünftiger deutscher Armeen gezogen und die Rolle des einzelnen Soldaten im Vernichtungskrieg blieb in beiden Deutschlands ähnlich unreflektiert und letztlich unhinterfragt. 1. Von der Wehrmacht zur NVA und Bundeswehr Eingebettet in die jeweilige gedächtnispolitische Meistererzählung strebten die Regierungen beider deutscher Staaten seit den frühen 1950er Jahren die Wiederbewaffnung ihres Landes an. Im Zeichen des Kalten Kriegs und der gegensätzlichen Blockintegration legitimierte die politische Führung diesen Entschluss mit dem Verweis auf die – jeweils nach innen wie nach außen – notwendige Verteidigung des Sozialismus (DDR) bzw. mit dem Verweis auf die notwendige Wehrhaftigkeit der Demokratie (BRD). Im ersteren Fall beschränkte sich der Rekurs auf die Lehren des „Unternehmen Barbarossa“ beim Aufbau der Nationalen Volksarmee keineswegs „nur“ auf die propagandistische Ebene, sondern prägte über Jahre hinweg das militärische, strategische wie taktische Denken der politischen und militärischen Führung der DDR. „Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“112, hatte Ulbricht in seiner bereits zitierten Rede vor der II. Parteikonferenz bemerkt und damit das argumentative Grundgerüst für 112 Ulbricht, Zur gegenwärtigen Lage, S. 423. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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die Legitimation der Bewaffnung der „friedliebenden“ DDR beschrieben. Dies sollte ein schwieriges Unterfangen werden, da es eine stärkere „pazifistische“ Einstellung gegen die (zunächst im Geheimen beschlossene) Wiederbewaffnung in der Bevölkerung gab, als die SED-Führung erwartet hatte.113 Während das „sozialistische Lager“ friedliebend sei und der Kampf der Sowjetarmee als „Friedensarmee“ im Zweiten Weltkrieg das historische Paradebeispiel für einen „gerechten Krieg“ gewesen sei, rüsteten die „bösen Nachbarn“ erneut „Söldnerarmeen“ aus, um neue „ungerechte Kriege“ wie den Koreakrieg zu führen.114 Die bewaffneten Organe der DDR standen daher einerseits in radikaler Diskontinuität zum „preußischen Militarismus und Imperialismus“ und andererseits knüpfte man mit im Sinne der Traditionspflege gemeinter politisch-ideologischer Indoktrination115 an das antifaschistische Vermächtnis der Ostfront an: die an der Seite der Roten Armee von deutschen Antifaschisten – Kommunisten wie Ulbricht und Pieck und in der Kriegsgefangenschaft „geläuterten“ hochrangigen ehemaligen Wehrmachtsoffizieren und Mitgliedern des 1943 gegründeten „Nationalkomitees Freies Deutschland“ wie Wilhelm Adam, Vincenz Müller, Heinrich Homann, Otto Korfes u. a. – erreichte totale Niederlage Hitlers.116 Diese staatlich verordnete Ausweitung der Widerstandserfahrung einer absoluten Minderheit korrespondiert mit dem gleichzeitigen Versuch in der Bundesrepublik, den 20. Juli 1944 als traditionsstiftend für die Bundeswehr zu popularisieren.117 In beiden Fällen destillierte die politische Führung des Landes aus den mutigen historischen Taten einer kleinen Minderheit von aufrichtigen Deutschen ein im Idealfall identitätsstiftendes, sinn- und traditionsbildendes und gesellschaftlich vermittelbares Narrativ,das der (jeweils natürlich ganz anders verstandenen) moralisch-politischen Neuorientierung der gesamten Bevölkerung dienen sollte.
113 Ulbricht, Rede auf der 10. Tagung des ZK der SED, 22.11.1952, in: Bruno Thoß (Hg.), „Volksarmee schaffen – ohne Geschrei!“ Studien zu den Anfängen einer verdeckten Aufrüstung in der SBZ/DDR 1947–1952, München 1994, S. 126. Zum Problem der Rekrutierung von jungen Männern für die KVP/NVA vgl. Rüdiger Wenzke, Auf dem Weg zur Kaderarmee, in: ebd., S. 261 ff. 114 So z. B. in einem „Brief des ZK der SED an die Mitglieder und Kandidaten der SED in den bewaffneten Organen“ vom Januar 1953, in: Militärgeschichtliches Institut der DDR (Hg.), Die Militär- und Sicherheitspolitik der SED 1945–1988. Dokumente und Materialien, Berlin 1989, S. 129. 115 Ein gutes Beispiel für die Grundprinzipien, Ziele und historische Begründung dieser Indoktrination ist Rudolf Dölling (Ostfront-Veteran und 1952/53 Chef der politischen Abteilung der Kasernierten Volkspolizei), Ein historischer Wendepunkt, in: Hefte der Kasernierten Volkspolizei 14. 1952, S. 4, zitiert in: ebd., S. 123–125. 116 Es gab nicht wenige personelle Kontinuitäten zwischen NKFD und NVA: So war Hans Gossens, Propagandachef der NVA, Frontbeauftragter im NKFD, gleichfalls Heinz Keßler, von 1957–1967 zunächst stellvertretender Minister, danach von 1985 bis 1989 Minister für Nationale Verteidigung. Vgl. Paul Heider, Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund deutscher Offiziere in der Historiographie der DDR und der Traditionspflege der NVA, in: Detlev Bald u. Andreas Prüfert (Hg.), Vom Krieg zur Militärreform: Zur Debatte um Leitbilder in Bundeswehr und Nationaler Volksarmee, Baden-Baden 1997, S. 23 ff. 117 Vgl. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Bonn 2003, S. 97–106; Gerd R. Ueberschär (Hg.), Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln 1994; sowie die Aufsätze in APuZ B 27. 2004. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Für den NVA-Soldaten hieß das konkret, dass er im Sinne der NKFD-Tradition „erfüllt [sei] vom Hass gegen die amerikanischen, englischen und französischen Imperialisten“ sowie „von der unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion.“118 In der militärischen Ausbildung galt in der Folge die mit den sowjetischen Streitkräften abgestimmte „wiederholte Behauptung einer immanenten imperialistischen Aggression.“119 Im Kriegsfalle – der stets als Verteidigungsfall antizipiert wurde – sollten die Armeen des Warschauer Paktes mit einem sofortigen Gegenschlag die westlichen Angreifer auf ihrem Boden „vernichtend“ schlagen. Eine erneute Invasion und Besatzung Osteuropas und der Sowjetunion sollte in jedem Falle verhindert werden. Dieses Denken in Kontinuitäten nach 1945, nämlich der Glaube an eine Fortsetzung „antibolschewistischer Kriegshetze“ hatte seine Entsprechung im anderen Teil Deutschlands. Die Allianz mit den ehemaligen gegnerischen Westalliierten gegen die erneut (oder weiterhin) als Aggressor wahrgenommene Sowjetunion bestätigte zumindest implizit die antisowjetische Haltung der Kriegsjahre – ohne freilich im politischen Mainstream den nationalsozialistischen Angriffskrieg retrospektiv zu rechtfertigen.120 In enger Kooperation mit den USA suchte man beim Aufbau der Bundeswehr und der Formulierung einer wirksamen militärischen Doktrin für den Konfliktfall die „Lehren“ aus der Niederlage der Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion anzuwenden.121 Ursachen und Folgen des Vernichtungsfeldzuges der Wehrmacht im Osten spielten zu keinem Zeitpunkt eine explizite Rolle in den politischen Auseinandersetzungen um Westintegration und Wiederbewaffnung im ersten und zweiten Deutschen Bundestag.122
118 Ulbricht, Zur gegenwärtigen Lage, S. 424. 119 Horst-Henning Basler, Das operative Denken der NVA, in: Klaus Naumann (Hg.), NVA. Anspruch und Wirklichkeit, Berlin 1993, S. 180. Baslers Schlussfolgerungen basieren auf Dokumenten aus den 1970er und 1980er Jahren, da die SED 1989 die relevanten military- und verteidigungspolitischen Unterlagen vernichten ließ. 120 Vgl. dazu Jahn, Rußlandbild und Antikommunismus. Moeller zitiert einen Beitrag der Illustrierten „Stern“ aus dem Jahre 1955, in dem die letzten Heimkehrer aus der Sowjetunion als Hitlers letzte Soldaten, als siegreiche, aufrechte Helden im Kampf gegen „sowjetische Unmenschlichkeit und bolschewistischen Propaganda“ gefeiert wurden. An diesem Beispiel lässt sich ein über das Jahr 1945 hinaus gehender Glauben an die „richtige“ Front im bzw. gegen den „Osten“ deutlich ablesen. Vgl. Robert G. Moeller, Heimkehr ins Vaterland: Die Remaskulinisierung Westdeutschlands in den fünfziger Jahren, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 60. 2001, S. 403–436, Zitat S. 419. 121 Vgl. Detlev Bald, Kämpfe um die Dominanz des Militärischen, in: Detlev Bald u. a. (Hg.), Mythos Wehrmacht. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege, Berlin 2001, S. 17–65; zur Kooperation mit den USA insbesondere Bernd Wegner, Erschriebene Siege. Franz Halder, die „Historical Division“ und die Rekonstruktion des Zweiten Weltkrieges im Geist des deutschen Generalstabs, in: Ernst W. Hansen (Hg.), Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit, München 1995, S. 287–302. 122 Die hier folgenden Ausführungen können nur kursorisch sein, vgl. im Detail Morina, Legacies of Stalingrad, Kap. 5 „Lessons of the Eastern Front. The Wehrmacht Legacy and the Remilitarization of Germany in the 1950s.“ Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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In seltenen Momenten, in denen Vertreter der KPD-Fraktion während der ersten Wahlperiode das Wort ergriffen, wurde durch sie auf den unheilvollen Zusammenhang zwischen der von vielen Bundespolitikern lamentierten „Kriegsgefangenenfrage“ der frühen 1950er Jahre und der Vernichtungspolitik Nazideutschlands gegenüber der Sowjetunion in den frühen 1940er Jahren verwiesen.123 Zudem mussten sich die rechtskonservativen Abgeordneten der Deutschen Konservativen Partei/Deutschen Rechtspartei vorhalten lassen, dass sie „einen großen Anteil daran tragen, dass es überhaupt deutsche Kriegsgefangene gibt“. Bundeskanzler Adenauer musste sich den Vorwurf machen lassen, das Schicksal der über drei Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft gestorbenen sowjetischen Soldaten mit keinem Wort der Anteilnahme gewürdigt zu haben.124 Doch spielten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in den von Deutschland besetzten Gebieten Europas begangen worden sind, keinerlei Rolle in den Erwägungen über Charakter und Ausrichtung einer zukünftigen Militär-,Außen- und Sicherheitspolitik.125 Die Sowjetunion wurde ausschließlich als Aggressor wahrgenommen: Adenauer wies während der ersten Bundestagsdebatte zum deutschen Wehrbeitrag darauf hin, dass „totalitäre Staaten“ wie das „sowjetische Russland“ weder Gesetz noch Freiheit kennen, sondern sich nur am Prinzip der Macht orientierten – entsprechend könne und müsse man ihnen nur von einer „Position der Stärke“ aus begegnen.126 Franz-Josef Strauss behauptete während einer Debatte zur Europäischen Verteidigungsunion im Februar 1952, Stalin habe den Sieg über Nazideutschland als „Sprungbrett“ genutzt, von dem aus er seit dem die „Zersplitterung und Bolschewisierung Europas“ betreibe.127 Vereinzelte Warnungen wie die des SPD-Partei- und Fraktionsführers Erich Ollenhauers, der im September 1955 kurz nach Adenauers Rückkehr aus Moskau im Bundestag in klaren Worten dafür eintrat, das historisch begründete „Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion zu achten“128, blieben weitgehend isolierte, der Kalten-Kriegs-Logik flüchtig entkommene Appelle an die politische Vernunft. In einer seltenen konkreten Anspielung auf den verbrecherischen Charakter des Ostfeldzuges, insbesondere des Partisanenkrieges, zog der FDP-Abgeordnete August-Martin Euler im Februar 1952 Parallelen zur Kriegsführung der US-Armee in Korea, um das Vorgehen der Wehrmacht retrospektiv zu rechtfertigen. Beide Streitkräfte könnten sich letztlich nur im gnadenlosen Partisanenkrieg der Attacken von „heimtückischen, grausamen Banditen“ erwehren.129 Es fehlte den politischen Debatten demnach fast gänzlich 123 VDB, 1. Wahlperiode, 32. Sitzung, 27.1.1950, S. 1013 ff. 124 Ebd., 1014 ff. Vgl. dazu Adenauers nicht-öffentliche Bemerkungen zu den Verbrechen an „Millionen“ von sowjetischen Kriegsgefangenen gegenüber dem CDU-Parteivorstand im Herbst 1955, zitiert weiter oben in Anm. 59. 125 Für eine Kontextualisierung und im Fazit dennoch recht positive Bilanz des bundesrepublikanischen „Lernens“ aus der Geschichte vgl. den politik- und kulturgeschichtlich angelegten Beitrag zur Diplomatiegeschichte der Bundesrepublik von Thomas Berger, Cultures of Antimilitarism. National Security in Germany and Japan, Baltimore 1998. 126 VDB, I. WP, 98. Sitzung, 8.11.1950, S. 3564 f. 127 VDB, I. WP, 190. Sitzung, 7.2.1952, S. 8118–8123. 128 VDB, II. WP, 102. Sitzung, 23.9.1955, S. 5658. 129 VDB, I. WP, 190. Sitzung, 7.2.1950, S. 8132. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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ein Sinn für die langen Schatten, die Hitlers Wehrmacht in Europa hinterlassen hatte. So stellte es ebenso eine Ausnahme dar, als sich der CDU-Abgeordnete Richard Jäger im März 1956 während der Lesung zum Soldatengesetz mit der folgenden sehr ambivalenten Begründung gegen die Fortführung des Namens „Wehrmacht“ aussprach: zwar müssten sich die Deutschen für den Namen „Wehrmacht“ nicht schämen, doch unterstreiche die Neuschöpfung „Bundeswehr“ den „defensiven Charakter“ der zukünftigen Streitkräfte. Es gelte anzuerkennen, dass „für den Mann auf der Straße in den einstmalig von der Wehrmacht besetzten Ländern . . . nun einmal Schatten auf dem Namen [liegen], für die die Soldaten der alten Wehrmacht nichts können.“130 2. Von der Schuld, oder: Der Sinn des Krieges. Veteranendiskurse in Ost und West Wie kompatibel dieser geschichtspolitische Zeitgeist mit den Einstellungen ehemaliger Wehrmachtsoldaten war, zeigt eine Analyse der einschlägigen Veteranenpublikationen, die während der 1950er Jahre in der Bundesrepublik in relativ hohen Auflagen kursierten.131 Hier wurden die „Lehren“ aus dem „Feldzug Barbarossa“, d. h. vor allem aus der Niederlage der Wehrmacht, mit großer Intensität und Anteilnahme diskutiert. Dieser Diskurs verfestigte jedoch nicht nur den Mythos von der „sauberen Wehrmacht“, sondern bot Weltkriegsveteranen ein Forum, ihre Erfahrungen und Erinnerungen innerhalb der von der demokratischen Mehrheitsgesellschaft garantierten Freiheit des Denkens und Schreibens zu verarbeiten – ihre erfolgreiche Integration in diese Gesellschaft wurde dadurch wesentlich erleichtert. Anders als die Debatten im Bundestag, waren die Veteranen- und wehrkundliche Publikationen gefüllt mit Analysen, Reportagen, Kommentaren und Erinnerungsberichten zur Geschichte des „Russlandfeldzuges“, der als ein historisch einzigartiges, grandios gescheitertes militärisches Unternehmen unabweisbare Lehren für die moderne Kriegsführung bereit hielt.132 Die verbrecherische Dimension dieses Feldzuges blieb dabei vollkommen marginal, oder wurde mit dem Hinweis auf den Befehlsnotstand relativiert. Ein Kommentar zum 10. Jahrestag der Kapitulation stand unter der Überschrift „Verbrecher aus erfülltem Gehorsam,“133 die diesen Konsens treffend zusammenfasst. Wenn es um historische Verantwortung oder Schuld – hier v. a. am „sinnlosen“ Tod Millionen deutscher Soldaten – ging, dann kreisten diese Überlegungen um die Rolle Adolf Hitlers, den inkompe130 VDB, II. WP, 132. Sitzung, 6.3.1956, S. 6830. 131 Vgl. Ausführlich dazu Morina, Legacies of Stalingrad. The Analyse stützt sich auf die seit 1954 monatlich erscheinende Zeitschrift „Soldat im Volk“, die „Mitteilungen“ des „Verbandes deutscher Soldaten e. V.“, die zwischen 1953 und 1970 monatlich erschienen, und die von 1952 bis 1976 ebenfalls monatlich von der „Gesellschaft für Wehrkunde“ herausgegebene Zeitschrift „Wehrkunde. Zeitschrift für alle Fragen der Wehrkunde.“ 132 So z. B. Helmut Staedke, Der Soldat in der Bedienung des modernen Kriegsapparates, in: Wehrkunde 2. 1954, S. 48–55; Hebert Golz, Erfahrungen aus dem Kampf gegen Banden, in: Wehrkunde. Organ der Gesellschaft für Wehrkunde e. V. 2. 1955, S. 134–140; Rudolf Baumeister, Erfahrungen mit Ostfreiwilligen im Zweiten Weltkrieg, in: ebd., S. 153–156; Hellmuth Kreidel, Partisanenkampf in Mittelrussland, in: Wehrkunde 9. 1955, S. 380–385. 133 Soldat im Volk, 5. 1955, S. 2 Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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tenten und letztlich für das Scheitern des Unternehmens verantwortlichen obersten Feldherr.134 Die historische und metaphorische Zuspitzung dieses Scheiterns war die Schlacht von Stalingrad, deren Rolle als zentraler Topos des Opferdiskurses in der bundesrepublikanischen Erinnerungslandschaft bereits eingehend untersucht wurde.135 In der offiziellen Erinnerungskultur der DDR und unter systemfreundlichen Wehrmachtsveteranen, symbolisierte Stalingrad den Beginn und Höhepunkt des „hegelianischen Momentes“, von dem der deutsch-sowjetische Krieg im kommunistischen Geschichtsbild kündete. Sie signalisierte den Anfang vom Ende des NS-Regimes, aber auch den Beginn des kommunistischen Siegeszuges, der 1949 in der Gründung der DDR kulminierte. Die Gründung des NKFD kurz nach der Niederlage von Stalingrad diente in der Retrospektive als der Ursprung einer Umkehrbewegung, der sich nach 1945 jeder reuige Soldat, ja jeder Bürger anschließen konnte. Jene, die die Errichtung eines sozialistischen Staates in Ostdeutschland unterstützten, konnten so das der Sowjetunion zugefügte Leid „wiedergutmachen.“136 Dass dies ganz wörtlich genommen wurde, illustrieren beispielsweise Äußerungen von in der DSF aktiven Russlandheimkehrern. Klaus Willerding, Vertreter der organisierten Heimkehrer aus der Sowjetunion und Absolvent einer Antifa-Schule, erklärte auf der „Zentralen Heimkehrerkonferenz“ der SED am 29.10.1949 kurz nach Gründung der DDR: Der Schreckensweg, der uns in die Kriegsgefangenschaft führte, begann am 22. Juni 1941. An diesem Tag nahm die größte nationale Katastrophe, das größte Unglück unseres Volkes seinen Anfang. Dieser Weg ist gekennzeichnet durch Verbrechen und Schandtaten, die in der Geschichte des deutschen Volkes als ein ewiges Mahnmal bestehen bleiben werden. . . . [Als Kriegsgefangene] befanden wir uns . . . in der Lage von Brandstiftern, die aus dem Haus, das sie eben in Brand gesteckt hatten, durch irgendeinen Zufall nicht mehr heraus konnten, und nun gemeinsam mit den Hausbewohnern den Brand löschen mußten. Die Zerstörung, die wir als Soldaten der faschistischen Armee in der Sowjetunion angerichtet haben, war von riesigen Ausmaßen. Das Leid, das wir den Sowjetmenschen zugefügt hatten, war derart groß, dass wohl alle deutschen Soldaten vor der vermeintlichen Rache zitterten. Da aber zeigte sich uns der Sowjetmensch in seiner ganzen Größe. Wir wurden als Menschen behandelt.137
134 So z. B. Gerhard Ludwig Binz, „Wert und Ehre des deutschen Soldaten,“ in: Soldat im Volk 8. 1955, 1 f. 135 So jüngst Jahn, Stalingrad erinnern; Ulrich, Stalingrad, in: Francois u. Schulze, Erinnerungsorte, S. 332–348. 136 So z. B. Frank Biess, „Pioneers of a New Germany“: Returning POWs from the Soviet Union and the Making of East German Citizens, 1945–1950, in: Central European History 32. 1999, S. 143–180; ders., Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in postwar Germany, Princeton 2006; Christina Morina, Instructed Silence, Constructed Memory: The SED and the Return of German Prisoners of War as „War Criminals“ from the Soviet Union to East Germany, 1950–1956, Contemporary European History 13. 2004, S. 323–343. Siehe i. d. Z. auch die Arbeiten zum Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR, Anm. 17. 137 Klaus Willerding, „Referat für die Zentrale Heimkehrerkonferenz am 29.10.1949,“ BA/SAPMO, DY 32/10057 DSF, Büro des Sekretariats, S. 1. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Die Gefangenschaft war der Beginn einer inneren „Einkehr und Umkehr“138, einer antifaschistischen Transformation, die viele in der DDR politisch aktive Wehrmachtsveteranen proklamierten. Mit ihrer in der Kriegsgefangenschaft geleisteten „Aufbauarbeit“ – wie es die SED-Führung formulierte139 – war die Grundlage für die Versöhnung der beiden Völker schon vor Kriegsende gelegt worden. Die Authentizität von Willerdings Aussagen lässt sich schwer überprüfen und man kann nicht grundsätzlich ausschließen, dass kriegsgefangene deutsche Soldaten eine innere Wandlung durchlebt haben, doch für viele bedeutete die Gefangenschaft den Tod.140 Ein von Willerding und seinen Kameraden auf diesem Kongress abgegebenes „Gelöbnis“ enthielt zugleich ein ostentatives, kollektives Schuldeingeständnis wie auch die Überzeugung, diese „Schuld“ durch den Einsatz für die Sache des Sozialismus „abwaschen“141 zu können. Beides sind die Kernelemente des ostdeutschen Wehrmachtsmythos. Und letztlich war der einfache Wehrmachtsveteran in der DDR am Ende genauso wenig individuell verantwortlich für die „faschistischen Schandtaten“ wie sein Kamerad in Westdeutschland.142 In Ton und Stil den „Führer-Eid“ der NS-Zeit sogar überzeichnend, exemplifiziert dieses Gelöbnis auch die mentalen Kontinuitäten143, die in vielen Fällen den Übergang vom faschistischen Wehrmachtsoldaten zum „Kämpfer für den Sozialismus“ möglich machten: Ich – Sohn des deutschen Volkes – schwöre aus glühender Liebe zu meinem Volk, zu meiner Heimat und zu meiner Familie zu kämpfen, bis mein Volk frei und glücklich, die Schmach und Schande der faschistischen Barbarei abgewaschen, der Hitlerfaschismus vertilgt ist. Ich schwöre: Dafür mein ganzes Können, meine ganze Kraft und mein Leben bedingungslos einzusetzen und meinem Volk die Treue zu halten bis zum letzten Blutstropfen. Dieser Schwur verbindet mich mit allen Antifaschisten in brüderlicher Kampfestreue bis zum vollen Sieg unserer heiligen Sache.144 138 So die Formulierung Wilhelm Adams, Vorsitzender der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, NDPD, in einer Rede vor der Volkskammer im Jahre 1951. Wilhelm Adam, Heilig ist uns Deutschlands Einheit, Berlin 1951, S. 4. 139 Z. B. Paul Merker in einer für die Lokalverwaltungen vorbereiteten „Modellrede“ zur Begrüßung von Heimkehrern an alle Landesvorstände der SED, 29.4.1949, BA/SAPMO, DY30/IV/2/2022/23, S. 184 f; oder Wilhelm Pieck und Luitpold Steidle auf der „Zentralen Heimkehrerkonferenz“ am 29.10.1949 in Berlin; vgl. die Berichterstattung in Neues Deutschland, 30.10.1949, S. 1 f. 140 Vgl. dazu Andreas Hilger, Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1941–1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag und Erinnerung, Essen 2000. 141 Gelöbnis der Antifaschüler (Moskau 1949) im Anhang einer „Grußadresse an den Kongreß zum Studium der Kultur der Sowjetunion“ [dem Vorläufer der DSF], in: BA/SAPMO, DY 32/11460. 142 Karin Hartewig hat dies treffend als die „rote Version“ des Mythos von der sauberen Wehrmacht bezeichnet: vgl. Karin Hartewig, Militarismus und Antifaschismus. Die Wehrmacht im kollektiven Gedächtnis der DDR, in: Michael Thomas Greven u. Oliver von Wrochem (Hg.), Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Opladen 2000, S. 237–254, Zitat S. 251. 143 Biess formulierte es in Pioneers of a New Germany, 178, wie folgt: die ehemaligen Soldaten, die die SED relativ erfolgreich in ein sozialistisches Deutschland integrieren konnte, „[held] on to militaristic ideals of manliness which had determined their earlier life as Hitler’s soldiers and continued to shape their postwar lives as party soldiers“. 144 Gelöbnis der Antifaschüler (Moskau 1949) im Anhang einer „Grußadresse an den Kongreß zum Studium der Kultur der Sowjetunion“ [dem Vorläufer der DSF], in: BA/SAPMO, DY 32/11460. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Wichtige Teilhaber an diesem Siegeszug waren nicht nur aus dem Moskauer Exil heimkehrende Kommunisten wie Ulbricht, Pieck, Ackermann, Becher u. a., sondern auch ehemalige ranghohe Wehrmachtsoffiziere, die dann in der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) und der elitären Veteranenorganisation „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere“ (AeO, gegründet 1958) eine neue politische Heimat fanden.145 Männer wie der ehemalige Adjutant Feldmarschall Friedrich Paulus, Wilhelm Adam, der spätere kurzzeitige Außenminister Vincenz Müller oder der AeO-Vorsitzende Otto Korfes identifizierten sich als „Stalingrader“ und schufen sich ein Bild vom Krieg, in dem die Konversion vom Hitlersoldaten zum Friedenskämpfer an zentraler Stelle stand.146 Anders als die westdeutschen Veteranenpublikationen, die dank des pluralen politischen Systems ihre je eigenen Deutungen des Ostkrieges vertreten konnten (und damit den politischen Konsens der Zeit spiegelten), aber ebenso erfolgreich, konnten sich willige Wehrmachtsveteranen durch die Verbindung von pauschalem Schuldeingeständnis und individuellem sozialistischen Engagement in die DDR integrieren. Durch die retrospektive Legitimierung ihrer Kriegserfahrung war es vor allem den hochrangigen Wehrmachtsoffizieren möglich, sich relativ reibungslos in das sozialistische Deutschland einzufügen und sogar politisch einflussreiche Funktionen zu übernehmen. In Ost wie West bot die neue politische Ordnung Wehrmachtsveteranen genügend Raum, jeweils „legitime Narrative“147 ihrer individuellen Vergangenheit als Kriegsteilnehmer zu formulieren, deren wichtigste Funktion es war, dem totalen Krieg einen Sinn zu geben. Von individueller Verantwortung für die Verbrechen im Vernichtungskrieg war unter den Veteranen der DDR trotz der staatlich sanktionierten Betonung des deutschen Ver-
145 Die Arbeitsgemeinschaft war auf Initiative der SED und unter Aufsicht der SED-Sicherheitsabteilung (unter Erich Honecker) im Jahre 1958 u. a. mit dem Ziel gegründet worden, die „gemäß dem Beschluß des Politbüros vom 15.Februar 1957 aus der Nationalen Volksarmee zur Entlassung kommenden höheren Offiziere der faschistischen Wehrmacht aufzufangen“, bevor sie ein eigenes, weniger kontrollierbares Netzwerk aufbauten. Vgl. Memorandum für Genossen Honecker betr. Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere, 1.1.1958, BA/SAPMO, DY 30 IV/2/12/7, S. 146. Die AeO wurde als professionalisierte und ausdrücklich auf frühere Wehrmachtsangehörige in der BRD ausgerichtete Unterstützung der antiwestlichen Kampagne der SED ins Leben gerufen und mit dem Erfolg der Neuen Ostpolitik und dem Aufweichen der ideologischen Gegensätze im Jahre 1971 wieder aufgelöst. Sie war keinesfalls lediglich ein „Pensionärsverein“ wie Peter J. Lapp, Ulbrichts Helfer. Wehrmachtsoffiziere im Dienste der DDR, Bonn 2000, S. 132, behauptet. Ihre monatliche Publikation Mitteilungsblatt fand eine breite, gezielt ausgewählte, Leserschaft auch in der Bundesrepublik, wo sie – u. a. in der Bundeswehr, in Bundesministerien und in Botschaften sowie Zeitungsredaktionen – wegen der professionellen Aufmachung und inhaltlichen Breite, Argwohn hervorrief. Vgl. die Akten zur Gründung und Aktivitäten der AeO im BA/MA Freiburg, DVW 20, insb. zur „Westpropaganda“: Bericht über die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere im Jahre 1961, BA/MA DVW 20, VA-0–01/5954, S. 56–58. 146 Vgl. Jens Hüttmann, Das Gedächtnis der Generäle: Zum Frontwechsel deutscher Soldaten auf die „Siegerseite“ der Geschichte, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Gedächtnispolitik. Eine kritische Zwischenbilanz, Berlin 2003, S. 57–93. 147 Bourke, Introduction „Remembering War“, S. 480; s. a. die vergleichenden Überlegungen zu „redemptive memories“ bei Biess, Homecomings, S. 97–152. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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nichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion ebenso wenig die Rede, wie unter den Weltkriegsveteranen im Westen. Wenn Verbrechen des Ostkrieges zur Sprache kamen, dann meist im instrumentalen Sinne, d. h. als argumentative Grundierung für die Behauptung einer antifaschistischen Transformation. So reflektierte der führende NDPD-Abgeordnete Wilhelm Adam in einer Volkskammerrede am 31. Januar 1951 im Zusammenhang mit einem „Appell“ an die Bundesrepublik, einem „Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat“ zur Lösung der deutschen Frage beizutreten, über das Erbe des Krieges und die Verantwortung der Kriegsveteranen in Deutschlands Gegenwart und Zukunft.148 Er sprach „als Stalingrader“, der (als Paulus’ Adjutant) die Schlacht „vom ersten bis zum letzten Tag“ miterlebt hatte und als leitender Militär in der 6. Armee auch von den Verbrechen an der Zivilbevölkerung auf dem Weg nach Stalingrad gewußt haben muß.149 Doch diese Verbrechen deutete er allenfalls an und porträtierte das deutsche Heer im Grunde als Werkzeug und Opfer der Hitlerschen Kriegführung. Adam bewegte sich damit sehr nah am westdeutschen Wehrmacht-Diskurs.150 Der zentrale Unterschied lag in den aus dem Ostfeldzug abgeleiteten individuellen Konsequenzen und gesamtgesellschaftlichen Implikationen. Adam behauptete nämlich, dass im Grunde nicht nur „jeder Deutsche, der im ersten und zweiten Weltkrieg die Uniform trug“, ein „Stalingrader“ sei, sondern auch die Millionen Gefallenen, Verwundeten und Überlebenden. Er appellierte an die „Millionen . . . Offiziere und Soldaten, die, von uns älteren geführt, in falschen Begriffen von Kameradschaft und Treue einen Weg in Irrtum und Schuld gegangen sind.“151 Nur mit „Zivilcourage“ und den Lehren aus dieser Geschichte ausgestattet, könnten die Überlebenden ihrer Verantwortung für Gegenwart und Zukunft gerecht werden. Darunter verstand Adam den „Kampf für den Frieden“ und gegen „Trumans Armeen“, deren Kriegführung in Korea genauso „bestialisch“ sei wie diejenige Hitlers.152 Die demonstrative Anerkennung von „Schuld“ diente also vorrangig und jenseits jeder tatsächlich oder vermeintlich vorhandenen individuellen Schulderkenntnis dem erneuten kämpferischen „Schwur“: der „heiligen Sache“, dem Aufbau eines „neuen, friedlichen, einheitlichen Deutschlands“ zu dienen.153 148 Wilhelm Adam, Heilig ist uns Deutschlands Einheit, Berlin (Ost) 1951. 149 Vgl. Gert C. Lübbers, Die 6. Armee und die Zivilbevölkerung von Stalingrad, VfZ 54. 2006, S. 87–124. 150 Dazu stellvertretend die Aufsätze in Hannes Heer u. Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995, S. 601 ff.; Müller u. Volkmann, Die Wehrmacht, S. 1958 ff. 151 Adam, Heilig ist uns Deutschlands Einheit, S. 6. 152 Ebd., S. 13. Hier findet sich der gegensätzliche Bezug zur „grausamen Kriegsführung“ in Korea; Adam verglich hier die Kriegführung der US-Armee in kritischer Absicht mit der Wehrmacht, während der Bundestagsabgeordnete Euler den Vergleich in apologetischer Absicht anstellte. (Vgl. oben Anm. 129) Beide Analogien referieren dasselbe historische Ereignis, doch die jeweilige Deutung ist so stark vom tagespolitischen Geschehen und ideologischen Prämissen geprägt, dass der Sinn (auch) dieser historischen Analogie – wie so oft – in der absurden Zuspitzung verloren geht. 153 So der Tenor der NDPD-Parteiprogrammatik. Exemplarisch enthalten nicht nur in Adams Rede, Heilig ist uns Deutschlands Einheit, S. 7 f., sondern z. B. auch in der Kampagne „Ruf an die deutsche Frontgeneration des 2. Weltkrieges“ (1952), vgl. im Detail Morina, Instructed Silence, S. 330 ff. Eine ganz ähnliche Interpretation der Kriegserfahrung war auch die Basis für die in der Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Fazit Die deutsche Teilungsgeschichte ist auch die Geschichte einer geteilten politischen (Gedächtnis-)Kultur. Der Krieg gegen die Sowjetunion spielte als zentraler, ideologisch und politisch instrumentalisierter Erinnerungsort in der DDR und als marginalisierte historische Last in der Bundesrepublik eine prägende Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die vergleichende Analyse der Genese dieser politischen Gedächtnisse kann als ein Beispiel für die „verflochtene Abgrenzung“ beider deutschen Nachkriegsgesellschaften zu deren historiographischer „Integration“ und somit zur Historisierung der beiden deutschen Staaten beitragen.154 Der verbrecherische Charakter dieses Krieges sowie die Frage nach individueller Täterschaft und kollektiver Verantwortung erhielten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nicht eine annähernd adäquate Beachtung durch die politischen Eliten, die ja jeweils stets den historischen Bruch mit der NS-Vergangenheit proklamierten. Die politische Relevanz dieses so unterschiedlich verarbeiteten Ereignisses zeigt sich in Bezug auf die DDR im ebenso kreativen wie kalkulierten herrschaftslegitimatorischen Gebrauch der „Lehren des 22. Juni.“ In Bezug auf die Bundesrepublik zeigt sie sich in der zögerlichen, graduellen Anerkennung der moralischen und politischen Erbschaft, für die dieses Datum steht, in einer sich wandelnden, auf Ausgleich orientierten Außenpolitik. Der gegensätzliche Rekurs auf die gemeinsame Geschichte, d. h. der antifaschistische Siegerdiskurs im Osten und der antitotalitäre Opferdiskurs im Westen Deutschlands, hinderte gleichermaßen eine genuine Anerkennung und Aufarbeitung des durch den deutschen Vernichtungskrieg im Osten angerichteten Unrechts. Daraus erwuchs über die Jahrzehnte eine paradoxe gedächtnispolitische Kreuzung in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur: In dem Maße, in dem die politische Führung der DDR den Holocaust marginalisierte und das politische Gedächtnis auf den Krieg gegen die Sowjetunion fokussierte, marginalisierte der westdeutsche politische Diskurs über die jüngste Geschichte die Ursachen und Folgen des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges und betonte stattdessen zunehmend die singuläre Bedeutung des Holocaust. Gemeinsamer Nenner dieser so paradoxen gedächtnispolitischen Konstellation war die anhaltende und zum Teil bis heute vollzogene diskursive Trennung der eigentlich untrennbar miteinander verbundenen Erinnerungsorte Auschwitz und Stalingrad. Exemplarisch kann man diese Teilungsgeschichte mit dem Hinweis auf die amerikanisch-sowjetische Filmreihe „The Unknown War“ (1978) resümieren, der 1981 in beiden deutschen Staaten gezeigt wurde. Die TV-Serie über das „Unternehmen Barbarossa“ wurde in der DDR unter dem Titel „Der entscheidende Krieg“ gezeigt; in der Bundesrepublik kam er als „Der unvergessene Krieg“ ins Fernsehen.155 Die ostdeutsche
AeO engagierten Offiziere; vgl. programmatisch und durchaus reflektierend Luitpold Steidle, Die Aufgaben der Arbeitsgemeinschaft, in Mitteilungsblatt 1. 1958, S. 3. 154 Vgl. die methodischen Beiträge zitiert in Anm. 20 und 21. 155 Vgl. Michael Eickhoff u. a., Der unvergessene Krieg. Hitler-Deutschland gegen die Sowjetunion, 1941–1945, Köln 1981. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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(unkorrekte) Übersetzung betont die politisch-historische Funktion des Krieges, die westdeutsche (ebenso unkorrekte) Übersetzung – die Opfer betonend – seine Emotionalität. Wie nachhaltig diese gegensätzlichen Deutungen im kollektiven Gedächtnis der Ost- und Westdeutschen gespeichert wurden und damit auch die politische Kultur nach 1989 prägten, zeigen die Ergebnisse einer Meinungsumfrage aus dem Gedenkjahr 1995, in der das Allensbach-Institut fragte, „wer hat die entscheidende Rolle im Zweiten Weltkrieg, beim Sieg über den Faschismus gespielt?“ 69 % der Westdeutschen antworteten „die USA“, und 87 % der Ostdeutschen „die Russen.“156 Der in diesen Zahlen reflektierte erinnerungskulturelle Kontrast verweist nachdrücklich darauf, dass die geteilte Erinnerung an die allen Deutschen gemeinsame Geschichte des so folgenschweren und beispiellosen deutsch-sowjetischen Krieges noch lange nicht überwunden ist. Christina Morina, Ph.D., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Zwätzengasse 3, D-07743 Jena E-Mail:
[email protected]
156 Michael Mertes, Die Gegenwart der Vergangenheit. Zur außenpolitischen Relevanz von Geschichtsbildern, in: Internationale Politik 9. 2000, S. 1–8, Zitat S. 7. Geschichte und Gesellschaft 34, ISSN 0340-613 X © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen