Verirrt im kakanischen Labyrinth. William M. Johnstons Suche nach dem \"österreichischen Menschen\". In: Mitteilungen des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung (MIÖG) 119 (2011), S. 382-384.

July 11, 2017 | Author: Peter Melichar | Category: Austrian History
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Verirrt im kakanischen Labyrinth William M. Johnstons Suche nach dem „österreichischen Menschen“ Von Peter Melichar William M. Johnston, bekannt als Verfasser eines 1974 erschienenen Werkes über „Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte“1, hat sich zur Aufgabe gestellt, den Diskurs über den „österreichischen Menschen“ zu erforschen2. Gemeint ist damit jene Vielzahl von Überlegungen zur „Eigenart“, „Sonderart“ oder „Einmaligkeit“ Österreichs, gemeint sind auch die Gedanken über das „spezifisch Österreichische“ oder das „Wesen Österreichs“, die Johnston in Texten diverser Autoren – darunter Schriftsteller, Beamte und Professoren – findet. Die „Hauptfrage“, die den aus den USA stammenden und heute in Australien lehrenden Historiker dabei bewegt, lautet: „Was unterscheidet die Österreicher kulturgeschichtlich von den Reichs- und Schweizerdeutschen?“ (S. 225). Um diese Frage zu klären, hat er Texte von 25 Autoren ausgesucht, die zwischen 1910 und 1967 „den österreichischen Charaktertypus teils lobpreisend, teils neutral und teils satirisch“ behandelt hätten (S. 19). Unter den Autoren sind berühmte Schriftsteller wie Hugo Hofmannsthal, Franz Werfel, Josef Roth und Robert Musil, bekannte Gelehrte wie Hugo Hassinger und Alphons Lhotsky, daneben einst prominente, heute aber weitgehend vergessene Autoren wie Richard Schaukal, Rudolf Kassner, Richard Kralik, Felix Braun, Hermann Bahr und Max Mell. Außerdem berücksichtigt Johnston auch einige Unbekannte wie den Philosophen und Dostojewski-Experten Hans Prager, den Direktor der Tyrolia Verlagsanstalt AG Josef Leb (Johnston bezeichnet ihn in seiner als Anhang beigefügten „Bio-Bibliographie“ als vermutlichen Lateinlehrer)3 oder den Mittelschullehrer und Wiener Landesschuldirektor Oskar Benda. Auffallend: Der Diskurs über den österreichischen Menschen wurde in Johnstons Augen offenbar ausschließlich von Männern geführt, Frauen schienen auf indirekte Dienstleistungen beschränkt. Autorinnen berücksichtigt der Autor deshalb nicht, „weil keine Frau in dieser Zeitperiode einen bedeutenden Essay zum Thema verfasst“ habe (S. 36). Selbst wenn es so wäre, was zu bezweifeln ist, müsste man nicht das Phänomen einer mangelnden Beteiligung von Frauen am untersuchten Diskurs in die Forschung einbeziehen? Der Historiker bedauert, dass „die Diskussion der Gender-spezifischen Charakterzüge der österreichischen Frauen, die […] Beamten und Offiziere erzogen haben, in diesem Diskurs insgesamt nur eine geringe Rolle“ spielten und sich der Diskurs über das Österreichertum beinahe ausschließlich „auf die männlichen Produk1   William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938 (Graz–Wien 1974); zuerst erschienen als: ders., The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848–1938 (Berkely 1972). 2   William M. Johnston, Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs (Studien zu Politik und Verwaltung 94, Wien–Graz 2010). 3   Zu Josef Leb vgl. Kürschners deutscher Literatur-Kalender 1930, S. 714, und Die geistige Elite Österreichs. Ein Handbuch der Führenden in Kultur und Wirtschaft, hg. von Marcell Klang (Wien 1936) 531; ÖBL 5 (1972) 63.

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te dieser Erziehung und keineswegs auf die potenziellen Erzieherinnen dieses Charaktertypus“ bezogen habe. Auf die Idee, sich den mit den Geschlechterverhältnissen verbundenen Fragen zu stellen, etwa, ob und auf welche Weise Ausschlussmechanismen wirksam waren, kommt Johnston nicht. Über mögliche Differenzen zwischen Konstruktionen des „österreichischen Menschen“ aus Frauen- oder Männer-Perspektive kann man also von vornherein nichts erfahren. Wie begründet Johnston seine Auswahl? Die Kriterien, wonach er Autoren berücksichtigt oder nicht, werden nicht klar formuliert. Es irritiert jedenfalls, dass wichtige Autorinnen und Autoren fehlen. Karl Kraus ist nicht unter den Auserwählten, ebenso vermisst man Gisela von Berger4, Karl Tschuppik5, Anton Kuh6 und Rose Miriam Silberer7. Auch Stefan Zweig8, Hermann Broch9, Heimito von Doderer10 werden nicht berücksichtigt. Nur beiläufig werden Johnstons Auswahl-Kriterien transparent – etwa am Beispiel von Karl Kraus, über den er schreibt: „Die im Wiener Journalismus offenkundigen Symptome des Verfalls hatten ihn so sehr verbittert, dass er die Eigenart Österreichs nicht mehr objektiv zu erfassen vermochte. Diese Einseitigkeit ist ein Hauptgrund, warum der Meistersatiriker in diesem Buch nicht vorkommt, denn sein ‚Selbstgericht‘ Österreich wütete so erbarmungslos, dass es alle versöhnlichen Perspektiven wegwischte“ (S. 303). Dieser Hinweis führt ins Zentrum von Johnstons Interesse: Er will die „objektiven“ Befunde der Österreich-Konstrukteure benützen, um zur vermeintlichen Erkenntnis eines für ihn tatsächlichen „österreichischen Wesens“ vorzudringen. Alles was zu komplex, zu schwierig, zu einseitig ist, stört bei diesem Unternehmen. Anstatt die Auseinandersetzungen über Österreich, das Österreichertum, den österreichischen Menschen zum Gegenstand der Forschung zu machen und zu analysieren, warum diese Debatten bestimmte und auch absurde Formen annahmen, warum die Bemühungen um Identität manches ausblendeten und verdrängten, anderes erfanden und delirierten und warum die Frage nach österreichischen Besonderheiten für viele überhaupt uninteressant und unwichtig war, begibt sich Johnston selbst auf die Suche nach einer Substanz, einem Wesen, einem Kern des Österreichischen. Er bewertet und beurteilt die von ihm ausgesuchten Autoren daher danach, ob ihre Beobachtungen zutreffen, ob sie „objektiv“ seien (S. 321). Auf der „Suche nach der Objektivierung der österreichischen Eigenart“ bedient sich der Autor der „Auflistung der Charakterzüge der Einwohner des Donau-Alpenlandes, des ehemaligen Territoriums des Babenbergerreiches“ und stellt Überlegungen an, wie man mit einem derartigen Inventar der „Hauptzüge des österreichischen Volkes“ umzugehen hätte. Ziel ist für ihn eine „Meistertypologie“ bzw. eine „Typologie der Typologien“, eine „Metatypologie“ des Österreichers (S. 325). Was Johnston auf dem Grund des österreichischen Wesens findet, ist wenig überraschend: Es sind altbekannte Formeln, Phrasen und Stereotype. Der österreichische Mensch sei „in erster Linie ein Beamter oder Offizier“ gewesen (Lhotsky, Benda), ein Katholik (Kralik, Leb), konservativ (Kassner) usw. Es ist gewiss ein Verdienst Johnstons, eine weitläufige Sammlung dieser Vorurteils 4   Gisela Berger, Die Gesellschaft, in: Ewiges Österreich. Ein Spiegel seiner Kultur, hg. von Erwin Rieger (Wien 1928) 183–199.  5   Karl Tschuppik, Sind wir Dinarier? (1934), in: Karl Tschuppik. Von Franz Joseph zu Adolf Hitler. Polemiken, Essays und Feuilletons, hg. von Klaus Amann (Österreich-Bibliothek 1, Wien–Köln– Graz 1982) 206–208.  6   Anton Kuh, Der unsterbliche Österreicher (München 1930).  7   Rose Miriam Silberer, Österreich. Charakterstudie eines Landes (Tagblatt-Bibliothek 811–812, Wien 1929).  8   Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (Frankfurt am Main 1955).  9   Hermann Broch, Robert Musil – ein österreichischer Dichter? (1936), in: ders., Schriften zur Literatur 1. Kritik (Frankfurt am Main 1975) 95f.; ders., Hofmannsthal und seine Zeit (1947/48), in: ebd. 111–284. 10   Heimito von Doderer, Athener Rede. Von der Wiederkehr Österreichs (1964), in: ders., Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze, Traktate, Reden, hg. von Wendelin Schmidt-Dengler (München 1970) 239–247.

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formeln angelegt zu haben. Er bedient sich dabei der Autoren, als wären sie k. u. k. Hoflieferanten zeitloser Wahrheiten und ewig-gültiger Idealtypen. Aber wie bei jeder Sammlung stellt sich die Frage, wozu sie dienen könnte? Johnston, der wiederholt beklagt, mit seiner Österreich-Fragestellung allein zu stehen – „wie lange wird diese Vernachlässigung noch andauern?“ (S. 263), und „warum ist dieser Diskurs nach 1970 gänzlich […] verschwunden?“ (S. 276) – meint, „heutige“ Kulturhistoriker, Soziologen und Politologen sollten seine Österreich-Formel-Sammlung auf „unsere heutigen Zustände“ – denkt Johnston womöglich an die USA? – anwenden. Was dann gewonnen wäre, bleibt unklar, jedenfalls würde sich dann der Autor in jenem kakanischen Labyrinth, in dem er sich verloren hat, vermutlich nicht mehr ganz so einsam fühlen. Bemerkenswert ist der Umgang mit Juden bzw. mit Autoren, die er dafür hält. Schon in seiner „Kultur- und Geistesgeschichte“ behauptete er: „Befaßt sich aber einmal ein Jude mit der Geschichte des Habsburgerreiches, dann neigt er nur allzuoft dazu, entweder dessen Vorzüge zu übersehen oder, noch eher, die Fehler zu sehr hervorzuheben“11. In seinem nun vorliegenden „Meisterverzeichnis“ (S. 325) zum „österreichischen Menschen“ versucht Johnston abermals zu begründen, warum „Juden“ nur wenig Verständnis für das Österreichische aufzubringen vermochten. „Jüdische Feuilletonisten der Ersten Republik wie Franz Blei, Alfred Polgar, Felix Salten und Egon Friedell haben unterhaltende Skizzen über verschiedene Aspekte Österreichs verfasst, aber nur wenige ernstzunehmende Aufsätze. Vielleicht passte der Ernst des aufkeimenden Diskurses nicht so sehr zu den Charakteristika des jüdischen Witzes“ (S. 304). Abgesehen davon, dass Franz Blei – weder nach den „Nürnberger Gesetzen“ Jude, noch nach eigenem Verständnis – es gewohnt war, von Antisemiten als Jude bezeichnet zu werden, und sich gar nicht mehr bemühte, das richtig zu stellen, weil es ihm angesichts des Zeitgeschehens nicht als „so wichtig“ erschien12, ist doch die Frage zu stellen, ob die an die Zugehörigkeit zu einer ethnischen, kulturellen oder religiösen Gruppe gekoppelte kollektive Zuschreibung von mangelndem Urteilsvermögen nicht höchst bedenklich ist – auch wenn es sich nur um das kollektive (Un-)Vermögen handelt, die hybride Fiktion des österreichischen Menschen zu beurteilen. Und sollte es sich nicht auch in der Geschichtswissenschaft langsam herumgesprochen haben, dass beim Zuschreiben und Verorten diverser Identitäten zu berücksichtigen und offen darzulegen ist, wer wen nach welchen Kriterien als irgendwo zugehörig bestimmt13? Der Erklärungswert von Johnstons Werk tendiert gegen Null. Man könnte das von ihm verwendete Textkorpus, eventuell auch die Schicksale seiner Autoren als Grundlage für eine Studie über österreichische Intellektuelle und ihre vielfältigen Überlebens-, Dienst- und Denkpraktiken verwenden, oder für eine Analyse eines Diskurses, der die Geschichte vielfältiger Verluste und Verletzungen, die seine Agenten erlitten hatten, mit merkwürdigen Träumereien zu kompensieren versuchte. Aber Johnston nimmt die Träume und Sehnsüchte nicht als solche ernst, sondern verwechselt sie mit den Erscheinungsformen einer faktischen Ethnizität. Dennoch: Wie aus allen Materialsammlungen können Interessierte den einen oder anderen Nutzen ziehen. Dem Werk selbst mangelt es an jeder historischen oder sonstigen Erläuterung, weitgehend an erklärenden Kontexten, es betreibt eine Österreich-Gleichmacherei, die im Kern lautet: Wien ist Österreich ist Österreich ist Österreich … Was sich im Umfeld des BrennerKreises abgespielt hat, warum die Salzburger Festspiele für manche Österreich-Konstrukteure so wichtig waren, wieso die Umtriebe der Innviertler Künstlergilde bedeutsam waren, warum die Vorarlberger Schweizer werden wollten, die Tiroler sich an Bayern und die Sozialdemokraten an das Deutsche Reich anschließen wollten – alles das und noch vieles mehr wird ignoriert, weil all die Phrasen und Formeln die Wirklichkeit weder greifen noch begreifen konnten.   Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte (wie Anm. 1) 24.   Franz Blei, Briefe an Carl Schmitt 1917–1933, hg. von Angela Reinthal (Heidelberg 1995) 83 (Blei an Schmitt, 17. August 1933). 13   Vgl. Peter Melichar, Definieren, Identifizieren, Zählen. Antisemitische Praktiken in Österreich vor 1938. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 17/1 (2006) 114–146. 11 12

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