Bochumer Quellen und Forschungen zum 18. Jahrhundert Herausgegeben von Carsten Zelle Band 4
Kleine anthropologische Prosaformen der Goethezeit
(1750-1830) Herausgegeben von Alexander Kosenina und Carsten Zelle
In Verbindung mit Ure Pott
Ce Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Wort, das durch den Mund des Dichters geht< -so lautet das Credo der Gattung >Rahmenzyklusanthropologische< Gattung aus: Das künstlerische Wort, der poetische Iogos, ist hier Lebensmittel, das den Mensch zum Menschen, zum anthropos macht. Gesellige Erzählzirkel verflechten kleine Prosa zur Großform, reden in Krisen eine Konstitution menschlicher Gemeinschaft herbei: In Boccaccios Dekameron wird gegen die Pest anerzählt. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) präsentieren zyklisch-gesellige Sozialpoesie als neue Basis menschlichen Zusammenlebens, das ob der Französischen Revolution aus den Fugen gerät. Ähnlich E. T. A. Hoffmanns Serapions-Brüder (1819-21), die auf Umstürze und Diskontinuitäten der Napoleonischen Zeit reagieren; sich selbst, den Freunden ist der Einzelne fremd geworden, erst in geselligem Erzählen findet man sich, zu sich selbst und zu Andern: So gelingt es, in emphatischem Sinn Mensch zu sein und mit Menschen, die diesen Namen verdienen, zu verkehren. Soweit der Gattungskontext, in den Hauff seinen zweiten Mährehenalmanach hineinschreibt. 2 Der Scheihk von Alessandria und seine Sclaven
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Schiller an Körner am 7. 11. 1794, über die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, zir. nach: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche "Werke. Hg. Friedmar Apel u.a. Bd. 9, hg. Wilhelm Voßkamp und Herbeet Jaumann. Frankfurt/Main 1992, 1509. Zum >Rahmenzyklus< vgl. Andreas Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe - Tieck- E 1: A. Hoffinann. Heidelberg 2008, 13-51; zu Hauffs Scheihk aus gattungspoetologischer Sicht vgl. Sabine Beckmann: Wilhelm Haujf Seine Märchenalmanache als zyklische Kompositionen. Bonn 1976; Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. Stuttgart 1985, 208 f.; Walter Schmitz: »>Mutabor>Unterschied [ ... ] zwischen Mährehen und Erzählungen, die man [ ... ] Geschichten nennt>Mährcheneine Begebenheit[ ... ], die von dem gewöhnlichen Gang des Lebens abschweift, und [ ... ] nicht mehr durchaus irdischer Natur istMärchen< beschränkt den Künstler: Da es eine >>außergewöhnliche, wunderbare Gestalt an[nimmt]Gemälde[n] [ ... ]welche die Franken Arabesken nennen. Es ist dem ächten Muselmann verboten, den Menschen, das Geschöpf Allah's, sündiger Weise wieder zu schöpfen [... ], daher sieht man auf jenen Geweben wunderbar verschlungene Bäume und Zweige mit Menschenköpfen, Menschen, die in einen Fisch oder Strauch ausgehen, kurz Figuren die an das gewöhnliche Leben erinnern und dennoch ungewöhnlich sind>greifen in das Schicksal der Person [ ... ] fremde Mächte>häuft sich das Wunderbare so sehr, der Mensch handelt so wenig mehr aus eigenem Trieb, daß die einzelnen Figuren und ihr Charakter nur flüchtig gezeichnet werden könnenMärchen< passe. Es weicht der >>Geschichte[]«, die sich »ganz natürlichGeschichte< nämlich bestimmt »nicht [... ] Zauber [ ... ] oder Feenspuck« die »Schicksale eines Menschenwunderbaren< hoffmannesken Mentors. Kairam/Almansor erzählt seine Entführung nach Frankreich, seinen quälenden Aufenthalt dort, wo ihm das Arabische untersagt war; »vielleichtich bin, der ich bin< sagte: das wäre billig, das kann jeder - und das kann schiefgehen. Kairam hat aus Zwerg Nase gelernt: Unumwundene Selbstaussage ist kontraproduktiv, wenn ein poetisch-narrativer Selbstentwurf zur Debatte steht, in dem der Erzähler zu sich kommen soll; hier gilt es, ohne verdächtig-platte Selbstkennzeichnung auszukommen. Kairam arbeitet subtiler, um seine literarische Figur für den Rezipienten auf den autopoietischen Erzähler hin transparent werden zu lassen: Da ist die ostinate Verwendung des Worts >Vatersein Vt1terlandseine Vt!terstadtsein eigener, sein theurer Vt!ter< -eine Klimax verengender Zuspitzung, vor deren Schluß- und Höhepunkt die direkte Anrede »O Herr!« Ali Banu zu verstehen gibt, auf wen die Pointe des Erzählens zielt. Und: »Dort erzählte er mir seine wunderbaren Schicksale« (ebd.); der vorletzte Satz speist das autobiographische Moment in die Erzählung ein- was der letzte mit »wunderbarst[]« steigernd aufgreift, der sich so als autobiographischer Superlativ entwirft. 29 Klimakrisehe Strukturen, die den letzten Satz rahmen, verweisen derart recht deutlich darauf, wer hier, von wem, wem gegenüber erzählt. Damit nicht genug, das autobiographische Moment verklammert außerdem Anfang und Schluß der Geschichte Al-Mansors, es beschließt und eröffnet sie. Das Erste, was wir vorn Protagonisten erfahren, ist, daß er »seiner Aussprache nach ein Egyptier« ist - wie ja auch der Erzählende - und daß Erzähler und Protagonist einander »uns
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Diese >Steigerung< des Autobiographischen ist überdies dadurch markiert, daß sich Kairam hier wieder- sachlich nicht nötig- der Ich-Perspektive seines Erzählbeginns bedient.
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ANDREAS ßECK
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unsere Geschichte [... ] erzähl[t]en« (285). Bereits hier stehen Erzähler und Figur einander im Zeichen autobiographischer Mitteilung verdächtig nahe, was, im Rückgriff auf den Anfang, das Ende der Erzählung dann besonders intensiv inszeniert. Also erfüllt die Geschichte Al-Mansors ihre Aufgabe? Nein. 30 Die Anagnorisis mißlingt, >>das Ende der Erzählung schien« den Scheihk »nicht zu befriedigen« (303). Ein hartköpfiger Rezipient, der fast törichte Fragen stellt: Wie alt Almansor sei? »ln meinem Alter, ein- bis zweiundzwanzig Jahre« - ahnt man diese Übereinstimmung nicht? Wie Almansors >>Geburtsstadt« heiße? >>AlessandriaGeschichte< muß er versuchen, sich explizit zu erkennen zu geben (vgl. 304). Damit nicht genug: Nicht nur als Erzählender, prinzipiell ist er außerstande, sich selbst zu verwirklichen - nicht er gibt sich zu erkennen, vielmehr wird er von Anderen erkannt. So wird geprüft, >>ob die Züge seiner Mutter, die mein Kairam trug, auf seinem Gesicht eingegraben sindGeschichte< feiern sollte, wieder einem Mentor - ausgerechnet dem Chefpoetologen des Rahmengesprächs, der so schön die Gattung >Geschichte< als Humanum profiliert hatte. Der nämlich ist Kairams ehemaliger Erzieher - und er bringt, im Widerspruch zu seinen Poetologemen, den emanzipierten Schützling wieder unter seine Fittiche. Ganz Pädagoge, fragt er den >>Spruch>am Tage des Unglücks mitgab ins Lager der Frankentheure[n] LehrerRahmenzyklus< am Ende; aber die Gattung hat Zukunft, und zwar als spannende Unterhaltungsliteratur12 , marktgängig und für den Autor ökonomisch einträglich: Denn >der Mensch lebt nicht vom Wort alleinfremden< 'lcxre von James Jusrinian Morier (Der gebackene Kopf>, Gusrav Adolf Schiill (Der arme Stephan) sowie Wilhelm Grimm (Das Fest der Unterirdischen und Schneeweißehen und Rosenroth), d.h. die Hälfte der Binnenerzählungen, entfernt (vgl. Wilhelm Hauff: Sämmtliche Schriften, geordnet und mit einem Vorwort versehen von Gustav Schwab. 27. Bändchen: Mährchen, 3. Biindchen bzw. 2. Ahrheilung. Sturtgart: Brodhag'sche Buchhandlung, 1830). Dabei ist es bis heute geblieben (vgl. etwa Wilhelm Hauff: Märchen, nach den Ausgaben der Märchenalmanache 1826 bis 1828. 'Jcxtkritisch revidiert von Hans-Jiirg Uther. Kreuzlingen und München: Hugendubel, 1999). Da sich mein Beitrag aus Raumgründen nur mir >echten< Hauffs aus dem Scheihk befasst, sei als Notlösung auf die angeführte Edition Schwabs von 1830 verwiesen: Sie ist zum einen (via Google books) leicht zugänglich und zum andern scheinen mir jene Streichungen in einer historischen Ausgabe, die nicht an aktuellen Wissenschaftsstandardsgemessen werden sollte, erträglich.
Ähnlich Klotz: Kttmtmärchen (= Anm. 2), 209; anders Schmitz: >»Mutabor
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Report "Verabschiedung sozialpoetisch-anthropologischen Erzählens. Wilhelm Hauffs \'Scheihk von Alessandria\' "