Unverdienter Reichtum. Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria

July 16, 2017 | Author: J. Harnischfeger | Category: Nigeria, Witchcraft (Anthropology Of Religion)
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Sociologus 47/2, 1997

Unverdienter Reichtum Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria

By J o h a n n e s H a r n i s c h f e g e r

Trotz des wirtschaftlichen Niedergangs entstehen am Rand der gro­ ßen Städte immer neue exklusive Wohnviertel, mit imposanten Villen und Marmorpalästen, die ungeniert vom Wohlstand ihrer Besitzer kün­ den. Unter der Bevölkerung heißen die Gebäude ,Kokain-Villen', denn ihre Besitzer sind oft noch junge Männer, die mit zwielichtigen Mitteln in der Wirtschaftsmetropole Lagos, manchmal auch in Europa oder den USA zu Geld gekommen sind. Wenn sie in ihre Heimatdörfer fah­ ren und den Zurückgebliebenen großzügige Geschenke überreichen, mag niemand genau nachfragen, wie sie so schnell ihr Vermögen ge­ macht haben. Als Söhne des Dorfes, die in der Fremde Erfolg hatten, werden sie voller Respekt empfangen, oft sogar mit Häuptlingstiteln geehrt. Niemand macht sich jedoch Illusionen, woher der unverhoffte Luxus stammt. Denn Reichtum läßt sich in Nigeria kaum anders er­ werben als durch illegalen Handel, Betrug und Korruption. Obwohl das Land durch seine Ölexporte jedes Jahr 10 bis 15 Milliar­ den Dollar einnimmt, lebt fast die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Viele haben Mitte der 90er Jahre ihre letzten Erspar­ nisse verloren, als sich herausstellte, daß zwei Drittel aller Banken zahlungsunfähig sind. Die Bankmanager hatten das Geld ihrer Kun­ den einfach dazu genutzt, sich und ihren Bekannten Kredite zu bewil­ ligen, ohne die Absicht, sie je wieder zurückzuzahlen oder zurückzu­ fordern. Da betrügerische Geschäftspraktiken kaum geahndet werden, machen in Nigerias Finanzwelt vor allem die Skupellosesten Karriere. Und was sie dabei an Tricks lernen, läßt sich auch im Ausland nutz­ bringend anwenden. Allein in New York haben Nigerianer durch Scheckbetrügereien einen Schaden von einer Milliarde Dollar ange­ richtet (Süddeutsche Zeitung 3. / 4. 9. 1994), und nach Schätzungen des FBI sind sie auch für ein Drittel aller Drogentransporte nach Europa und Nordamerika verantwortlich. Doch der Reichtum der Oberschicht ist nicht nur mit gewöhnlichen Formen von Verbrechen assoziiert; nach Ansicht vieler, wenn nicht der meisten Nigerianer verbirgt sich dahin-

Johannes Harnischfeger

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ter ein anderes finsteres Geheimnis; es heißt, der Erfolg der neureichen

meist keine Macht besitzen. Allerdings töten sie auf eine eher spiritu­

Elite beruhe im wesentlichen auf Zauber, Hexerei und Ritualmorden.

elle Weise: Das Opfer sieht sich nachts im Schlaf angegriffen, und

okkulte Überall in den Zeitungen läßt sich nachlesen, wie man durch te' ,vergifte n benutze tsleute Geschäf Manche kommt. Mittel zu Geld Nimmt geben. zu eld Wechselg als Kunden ihren sie ine, um Geldsche Le­ das Opfer eine der präparierten 10 Naira-Noten an, ist es um sein es ben geschehen: während es sich in Todeskrämpfen windet, erbricht

muß, mehr und mehr Geldscheine, so daß der Täter nichts weiter tun (News­ als die Banknoten aus dem Mund des Opfers einzusammeln Hunder­ watch 9. 12. 1996: 28 f.). Geschichten dieser Art zirkulieren zu sich finden ur ten in der Presse; in der christlichen Erbauungsliterat wie n, berichte tsleute sogar Geständnisse, in denen reumütige Geschäf ti­ phantas Mittel obskure sie durch ,satanische' Banknoten und andere meist werden ngen Enthüllu sche Reichtümer angehäuft hätten. Ihre tzli­ ohne viel Skepsis aufgenommen, bestätigen sie doch den grundsä werden reich anderer Kosten auf nur chen Verdacht, daß man immer

wenn es morgens erwacht, zeugen nur Kratzspuren an seinem Körper

v? n dem nächtlichen Kampf. In vielen Fällen bemerkt das Opfer nicht

emmal, daß es verhext wurde; es fühlt sich nur von einer unerklärli­ chen Schwäche überwältigt und siecht langsam dahin. Da die Krank­ heit allen Versuchen ärztlicher Behandlung widersteht, drängt sich schließlich der Verdacht auf, daß dem Patienten die Lebenskräfte aus­ gesaugt wurden. Wenn Hexen bei ihren nächtlichen Gelagen ihre An­ gehörigen verspeisen, praktizieren sie also eine sublime Form des Kan­ nibalismus. Sie ,zerfleischen' die Seele ihrer Opfer oder zerstören auf unsichtbare Weise die inneren Organe.

Den Angehörigen der nigeria­

nischen Elite, die in ihrer Gier nach Geld über Leichen gehen, werden nun ähnliche Praktiken nachgesagt. Statt physische Gewalt anzuwen­ den, lassen sie ihre Opfer auch auf mysteriöse, unsichtbare Weise zu Tode kommen, und deshalb werden sie zuweilen auch als Hexen be­ zeichnet.

kann. Zaubergetränke und Amulette, magische Pülverchen und Fetische oder sind überall in Nigeria erhältlich. Man kauft sie auf dem Markt bezeich­ s herbalist oder doctors native als sich die heilern, bei Wunder diesen nen. Wer z. B. ein Geschäft eröffnen möchte, kann sich bei seine ,Zauberern' Jujus verschaffen, um Kunden anzuziehen oder um

n natür­ Konkurrenten zu schwächen. Andere Geschäftsleute benutze spiri­ diesem lich ähnliche Mittel, und deshalb empfiehlt es sich, bei en magisch den vor tuellen Wettrüsten auch ,Medizin' zu erwerben, die ihre die ittel, Zauberm Praktiken der anderen schützt. Die stärksten aller­ Besitzer in nur ein oder zwei Jahren vermögend machen, sind nopfer Mensche sind ung Herstell dings schwer erhältlich, denn zu ihrer die erforderlich. Was mit den Opfern geschieht und zu welchen Riten tio­ Spekula ger vielfälti and Gegenst ist Leichenteile benutzt werden, nen. Oft hört man, daß Geschäftsleute oder Politker, die ihre Karriere ange­ auf ,Blutgeld' gegründet haben, diversen Geheimgesellschaften sei­ einen sein, bereit muß sucht, Kulten solchen zu hören. Wer Zugang dann wird eihte Todgew Der en'. ,verkauf zu igen ner engsten Angehör t so­ für Initiationsriten oder andere Blutrituale verwendet, ja vielleich gar von den Kultmitgliedern verspeist. Die Klage, daß die Reichen und Mächtigen des Landes sich zu mör­

Aus europäischer Perspektive erscheint die Angst, einer Verschwö­ rung von Hexen und Ritualmördern ausgeliefert zu sein, wie ein kol­ lektiver Wahn. Noch in den 60er und 70er Jahren, bevor der ökonomi­ sche und moralische Niedergang des Landes einsetzte, spielten Hexe­ rei-Anschuldigungen in vielen Regionen kaum eine Rolle. Im Südosten Nigerias, unter den Igbo - auf die ich mich im folgenden konzentrieren möchte - gab es zwar genaue Vorstellungen, wie Hexen operierten; dennoch fühlte sich kaum jemand von ihnen bedroht (Jones 1970: 325). Die allgegenwärtige Angst vor Hexen scheint, zumindest im Igboland, ein neues Phänomen zu sein, das sich mit dem Prozeß der Modernisie­ rung, besonders der Entstehung von Klassengegensätzen erklären läßt (Austen 1993: 90 ff.). Im Gegensatz zu den Hausa und F ulani im musli­ misch geprägten Norden Nigerias, wo aristokratische Familien seit Jahrhunderten abgesondert vom Rest der Bevölkerung in ihren Paläst­ en lebten, kannten die Igbo keine sozialen Schichten, die sich über das bäuerliche Milieu einer weitgehend segmentären Gesellschaft erhoben hätten. Erst die moderne Geldwirtschaft eröffnete die Möglichkeit, un­ geahnte Reichtümer zu horten, mit deren Hilfe man sich aus der tradi­ tionellen Moralökonomie und ihrem Netzwerk gegenseitiger Verpflich­ tungen lösen konnte. Die Gruppe der Neureichen hat sich freilich noch nicht zu einer eigenen Kaste verfestigt; es handelt sich nicht um Frem­

derischen Kulten zusammengeschlossen haben, folgt dem Muster tra­

de, die ihre dörfliche Herkunft vergessen hätten, sondern um Mitglie­

ditioneller Hexerei-Anschuldigungen. Auch von Hexen wird angenom­

der der eigenen Familie. Ihr Reichtum stammt allerdings aus verborge­

men, daß sie - im Unterschied zu Zauberern - insgeheim verschwore­

nen Quellen, und wenn sie an ihre traditionellen Verpflichtungen erin­

nen Gemeinschaften angehören. Und ihre Aggression richtet sich

nert werden, zeigen sie sich nicht länger geneigt, ihren Überfluß mit

ebenfalls gegen die eigenen Verwandten, da sie über fremde Personen

anderen zu teilen. Um Geld zu akkumulieren, müssen sie lernen, die 10 Sociologus 47/2

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I.

Ansprüche ihrer Brüder abzuweisen und das soziale Band zu ihnen zu

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Der Aufstand in Owerri

zerreißen. Ähnlich wie Hexen verwandeln sie sich in asoziale Wesen, die - von Eigennutz getrieben - sich nicht länger vom Elend ihrer Ver­ wandten rühren lassen. In ihrer Gier scheinen sie sogar bereit, Men­

Es verdankt sich wohl nur einer Kette von Zufällen, daß Owerri eine verschlafene Verwaltungsmetropole im Igboland, die

1995

zur

schen, die ihnen nahestehen, dem Streben nach Reichtum zu opfern.

friedlichsten Stadt Nigerias gewählt worden war - für Schlagzeilen in

Der Verwurf, daß sie nicht einmal davor zurückschreckten, ihre Brüder

der Presse sorgte. Am 20. September

und Schwestern für kannibalische Riten zu opfern, artikuliert also die

wu, ein Angestellter des Otokoto-Hotels, in eine Straßenkontrolle, bei

1996

geriet Innocent Ekeanyan­

Verbitterung über den Verrat der engsten Angehörigen. Es klingt, als

der sich herausstellte, daß er in einer Plastiktüte den Kopf eines elfjäh­

komme darin - in phantastisch überhöhter Form - nur die Klage über

rigen Jungen mit sich führte. Als die Polizei später den Hotelkomplex

die soziale Entfremdung zum Ausdruck.

durchsuchte, stieß sie auf ein frisches Grab und darin auf den Leich­

Irritierend ist allerdings, daß die Ritualmorde nicht nur in der Phan­ tasie der Menschen existieren. Es ist keineswegs ungewöhnlich, in den Zeitungen von verstümmelten Leichen zu lesen, die ohne Kopf, Hände

ten. In der Stadt verbreitete sich rasch das Gerücht, daß auf dem Ge­

oder Genitalien aufgefunden wurden. Unter Ethnolgen fanden solche Ritualmorde kaum Beachtung, hatte man doch den Eindruck, daß es

sich um isolierte Ereignisse handele, die nur in Randbereichen der Ge­ sellschaft auftreten. Sie erschienen nicht als Teil der Kultur, sondern

als pathologische Verirrungen, die allenfalls Auskunft über die gestör­ te Psyche der Täter geben. In vielen Fällen läßt sich auch nur schwer

ermitteln, inwieweit die sensationellen Presseberichte auf Tatsachen beruhen. Trotzdem empfinden viele Nigerianer die Bedrohung durch Ritualmorde als einen elementaren Teil ihrer Realität. In Katsina z. B.

trauten sich die meisten Bewohner im Dunkeln nicht mehr auf die Straße, nachdem etwa 30 Personen überfallen und verschleppt worden waren. Es verging keine Woche, in der nicht in irgendwelchen Stadt­ vierteln zerstückelte Leichen auftauchten (Vanguard 28. 10. 1995). In

Owerri, einer anderen Provinzhauptstadt, kam es sogar zu einem ,Aufstand' gegen ein Syndikat von Geschäftsleuten, die mit Leichen­ teilen handelten. Unter dem Druck der aufgebrachten Menge, die in

die Villenvororte zog und die Häuser der Verdächtigen niederbrannte, mußte die Regierung schließlich eine Untersuchungskommission ein­

setzen. Auf diese yveise gelang es zum ersten Mal, genauere Einblicke in diese Geheimkulte zu gewinnen. Die Ermittlungen führten nicht in

eine kriminelle Subkultur am Rande der Gesellschaft, sondern ins Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Macht. Selbst Minister

der Provinzregierung und der ehemalige Militärgouverneur wurden vor das Tribunal geladen, um über ihre Verwicklung in die Gescheh­ nisse Auskunft zu geben.

nam des Ermordeten, dem neben dem Kopf auch die Genitalien fehl­ lände zudem die Überreste von zehn weiteren Opfern entdeckt worden seien, und so kam es zwei Tage später, bei der Beerdigung des Jungen, zu Unruhen. Unter normalen Umständen hätte die Regierung des Bun­ deslandes Elitetruppen der Polizei eingesetzt, um die Demonstranten zu zerstreuen und die Wohnviertel der Reichen zu schützen. Doch der neue Militärgouverneur, erst seit zwei Monaten im Amt, ließ die Menge einfach gewähren, und nur aus diesem Grund kamen weitere Entdek­ kungen ans .Licht. Nachdem der Mob erst das Hotel niedergebrannt hatte, stürmte er die Häuser diverser Geschäftsleute, die man schon lange im Verdacht hatte, ihr Vermögen durch Blutgeld gemacht zu ha­ ben. In der Villa von Damian Egbukwu, einem jungen Multimillionär, fand man dann tatsächlich, in einem Schrank versteckt, einen ,gerö­ steten' Menschenkörper, angeblich wie Dörrfleisch präpariert. Mit die­ sem F und marschierte ein Teil der Menge vor die Residenz des Gouver­ neurs, während eine andere Gruppe zur

Overcomers Christian Mission

zog, einer Pfingstgemeinde, die Egbukwu regelmäßig besuchte. Als man im Innern der Kirche zwei abgeschlagene Menschenköpfe ent­ deckte, brach sich die Wut der Demonstranten erneut Bahn: Das Ge­ bäude ging in F lammen auf, dazu das Haus des Pastors und zwei wei­ tere Kirchen. Schließlich zerstörte man noch das Zentrum des Guru Maharaji, dessen Anhänger im Verdacht standen, Menschenblut zu trinken (Wisdom Satellite, Dec.

1996

- June

1997: 5 ff.).

Die Ritualmörder waren nach dem Muster von Geheimbünden orga­ nisiert, in Gruppen, die sich ,Schwarzer Skorpion' oder ,Brüderbund' nannten. Alle ihre Mitglieder gehörten zur besseren Gesellschaft, mit engen Kontakten zum damaligen Gouverneur und seinen Ministern. Man traf sich mit dem politischen Establishment auf Parties und hatte auch geschäftlich viel miteinander zu tun: Gemeinsam leerte man die Staatskassen, verschob Dienstautos oder ,privatisierte' die landeseige­ ne Rundfunkstation. Dank staatlicher Protektion konnten die Mitglie­ der der Geheimbünde sicher sein, nicht von Polizei oder Justiz belä10*

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stigt zu werden. So wie Minister ließen sie sich mit Sirenengeheul

tigsten Männer im Igboland, geschützt außerdem durch seinen Bruder,

durch die Stadt chauffieren. Wer sich ihnen in den Weg stellte, wurde

der als Minister in der Regierung von General Abacha sitzt (The Rising

von Leibwächtern zusammengeschlagen, manchmal sogar festgenom­

Sun 20. / 30. 12. 1996).

men und in die Privathäuser der Gangster verschleppt. Wie zum Hohn auf alle Kritik ließen sich die stadtbekannten Kriminellen noch mit offiziellen Ehren überhäufen, mit der Folge, daß mehrere Straßen von Owerri nach ihnen umbenannt wurden: in ,Vincent Avenue', ,Larry Crescent' usw. Dem Beispiel anderer big

men

folgend, die ihren Reich­

tum in soziales Prestige eintauschen, gelang es ihnen auch, zahlreiche Häuptlingstitel zu erwerben. Die Wut der Bevölkerung richtete sich daher unter anderem gegen den ,Staatsrat der Traditionellen Herr­ scher'. Sein Vorsitzender, der den Ritualmördern die begehrten Titel verschafft hatte, wurde bei den Septemberunruhen ebenfalls angegrif­ fen (Newswatch 16. 12. 1996: 10 ff. ; Guardian 22. 12. 1996). Nachdem die Regierung in der Hauptstadt Abuja zuließ, daß ein

Wahrscheinlich wäre die Serie von Kindesentführungen und der Handel mit Leichenteilen längst aufgeklärt, hätte die Polizei nicht die Ermittlungen bewußt verschleppt. Im April 1995 hatte z. B. ein Klinik­ direktor Anzeige erstattet, nachdem vier bewaffnete Männer ihn über­ fallen und seinen neunjährigen Sohn entführt hatten. Der Vorfall wur­ de von der Polizei zu Protokoll genommen, doch wenig später stellte sich heraus, daß die Akte ,verschwunden' war. Als der Arzt im Polizei­ ministerium vorsprach, wurde er vom Minister persönlich davongejagt (Tell 21. und 28. 10. 1996). Die Bevölkerung hat also guten Grund, den Erklärungen der Polizei zu mißtrauen. Als ein Polizeisprecher Berichte dementierte, nach denen auf dem Gelände des Otokoto-Hotels neben der Leiche des Elfjährigen noch zehn weitere Leichen exhumiert wur­

Ausschuß die Vorfälle untersucht, erhielt die Öffentlichkeit plötzlich

den, reagierte die Öffentlichkeit mit unverhohlener Skepsis. Um sich

Einblick in einen Abgrund krimineller Aktivitäten. Die Ermittlungen

Gewißheit zu verschaffen, wurde verlangt, daß die lokale Fernsehstati­

zogen immer weitere Kreise, und dabei kam mehr und mehr auch die

on, die die Suche nach weiteren Gräbern gefilmt hatte, ihr Bildmateri­

Korruption in der Provinzverwaltung zur Sprache. Doch all die Ent­

al freigibt. Die zuständigen Fernsehleute versicherten jedoch, daß die

hüllungen über bestechliche Minister und Staatssekretäre dienten im

Aufnahmen auf den betreffenden Videocassette leider gelöscht wur­

Grunde nicht der Wahrheitsfindung, sie lenkten eher von dem eigent­

den. Vielleicht hätte Innocent Ekeanyanwu, der Hotelangestellte und

lichen Skandal ab. Indem die Angeklagten ihre Helfer in denBehörden

Überbringer der Leichenteile, helfen können, das Rätsel zu lösen.

kompromittierten, zogen sie hochrangige Vertreter der Regierung in

Doch er starb unmittelbar nach seiner Verhaftung in einer Polizeizelle,

den Prozeß hinein, offenbar in der Hoffnung, daß die Untersuchung

nach offiziellen Angaben an ,Herzversagen'. Ein Arzt, der mit der Ob­

auf diese Weise abgebrochen würde.

duktion beauftragt wurde, äußerte die Vermutung, daß der Inhaftierte

Neben dem Untersuchungsausschuß begann bereits ein erstes Straf­ verfahren, in dem sich sechs der Verdächtigen verantworten müssen. Die Angeklagten zeigten sich freilich durch das Verfahren gegen sie nicht sonderlich beeindruckt, so als seien sie weiterhin durch ihr Geld und ihre Jujus geschützt. Um den vorsitzenden Richter einzuschüch­ tern, brachten sie mehrere Zauberer zur Verhandlung und ließen über einen Ventilator 'magische Substanzen im

vergiftet worden sei. Nur konnte er seine Untersuchung nicht abschlie­ ßen, weil die Polizei überraschend Anweisung gab, den Toten zu be­ statten. Auf Druck der Öffentlichkeit wurde die Leiche wieder aus dem Boden gezerrt, aber nun stellte sich heraus, daß jemand ihr das Herz herausgeschnitten hatte (Tell 4. 11. 1996). Die Versuche der Polizei, die Verbrechen zu vertuschen, schüren den

Gerichtssaal verbreiten

Verdacht, daß in den Villenvierteln der Stadt noch viel mehr Leichen

(Champion 14. 12. 1996). Trotzdem ist nicht auszuschließen, daß einige

verborgen liegen. Was durch einen Zufall ans Licht kam, scheint nur

der Beschuldigten dem Volkszorn geopfert werden und vor einem Er­

die Spitze eines Eisbergs zu sein. Und es gibt keinen Grund anzuneh­

schießungskommando enden. Der wichtigste Angeklagte aber kam

men, daß die Oberschicht in anderen Städten weniger zu verbergen

bald wieder auf freien Fuß. Die Anordnung, ihn freizulassen, muß von

hätte. Während in Owerri noch darüber debattiert wurde, wer alles in

ganz oben gekommen sein, denn ausgeführt wurde derBefehl von Poli­

die Vorfälle verwickelt ist, nahm die Polizei in Onitsha, einer anderen

zeibeamten, die aus Lagos angereist kamen und die sich nicht einmal

Igbo-Stadt, eine Dame der besseren Gesellschaft fest, die im Koffer­

die Mühe gemacht hatten, ihre Kollegen in Owerri vorab zu informie­

raum ihres Wagens vier Mädchenköpfe transportiert hatte. Nicht weit

ren. Selbst die Untersuchungskommission wußte von nichts, und es

entfernt, in Enugu, wurde eine Polizeistation von 2000 Menschen be­

wäre auch zwecklos gewesen, gegen die Freilassung Widerspruch ein­

lagert, nachdem sich das Gerücht verbreitet hatte, daß ein weiterer

zulegen. Denn Leonard Unuogu, dem man zur Last legt, die Ermor­

Ritualmörder in Haft geraten sei (Sunday Star 27. 10. 1996; Daily Star

dung des elfjährigen Schülers angeordnet zu haben, ist einer der mäch-

8. 11. 1996; Tempo 5. 12. 1996). In den Zeitungen wird spekuliert, daß

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vielleicht die Hälfte aller Millionäre ihre Karriere auf dem Blut ande­

gen, machen sie nicht sich selbst verantwortlich, sondern eine feindse­

rer Menschen aufgebaut habe (Daily Star 16. 10. 1996). In Gesprächen

lige Außenwelt. Ohne die Bereitschaft aber, eigene Verfehlungen und

mit Nigerianern hört man sogar, daß es gar keinen anderen Weg gebe,

Schuld anzuerkennen, kommt es nicht zur Internalisierung morali­

reich zu werden, als sich an den Blutriten zu beteiligen: entweder di­

scher Werte. An die Stelle von Mäßigung und Selbstkontrolle tritt Ag­

rekt, indem man einen seiner Angehörigen zum Opfer bringt, oder in­

gression, denn jedes Unglück, das mich trifft, vertieft das Mißtrauen

direkt, indem man Jujus erwirbt, die mit Hilfe von Leichenteilen ange­

gegen andere. Wenn selbst Personen, die man seit der Kindheit kennt,

fertigt wurden.

nicht zögern, mit Gift und Hexerei gegen mich vorzugehen, wird es

Die Vorstellung, von Mördern umgeben zu sein, spiegelt den Verfall

sinnlos, selber noch Rücksicht zu nehmen.

der Sozialbeziehungen und das Mißtrauen gegen jede etablierte Auto­ rität. Die herrschende Elite scheint nichts weiter zu sein als ein Ver­ brechersyndikat, eine kriminelle Vereinigung, die in ihrer Gier nach dem schnellen Geld vor keinem Verbrechen zurückschreckt.



II. Der Traum vom Reichtum

Go to

any city in the country, find out the nouveau-riche quarters ... and you

Nigerias politische Elite hatte nach der Unabhängigkeit erwartet,

will find all manners of criminals and evil men" (Daily Star 1. 11.

daß man die meisten westlichen Industrienationen rasch überflügeln

1996). Trotz aller Panik scheint die Zahl der Ritualmorde in Wirklich­

würde. Noch Ende der 70er Jahre erklärte Präsident Obasanjo, es wer­

keit relativ niedrig sein. Offizielle Quellen sollen davon sprechen, daß

de nur zwei Jahrzehnte dauern, bis sein Land - von den Fesseln des

zwischen 1992 und 1996 etwa 6000 Menschen rituellen Morden zum

Kolonialismus befreit - zu den zehn führenden Nationen der Welt auf­

Opfer fielen (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2. 11. 1996). Aber selbst

gestiegen sei (Die Zeit 12. 8. 1994). Doch Nigerias Wirtschaftswunder,

diese Zahl dürfte nur auf Mutmaßungen beruhen. Da es an verläßli­

das Anlaß zu solchen Spekulationen gab, verdankte sich ganz dem

chen Polizeistatistiken fehlt, wäre es müßig, über das tatsächliche Aus­

Zauber des Öl-Booms. Da die Staatseinnahmen von 1970 bis 1980 um

maß der Bedrohung zu spekulieren. Man kann allerdings versuchen,

das Vierzigfache gestiegen waren, ergoß sich eine Flut von Luxusgü­

den Motiven hinter dem bizarren Phänomen genauer nachzuforschen.

tern in das Land - ähnlich jenem Reichtum, den die Cargo-Kulte in

Warum ist Reichtum so eng mit Zauber, Hexerei und Ritualmorden as­

Melanesien als ein Geschenk der Götter oder Ahnengeister prophezeit

soziert? Und warum gehen manche wirklich soweit, sich mit Hilfe von

hatten. All die Waren, die im westlichen Ausland produziert waren

Leichenteilen Jujus anfertigen zu lassen?

und die nur durch die Ölökonomie unverhofft ins Land strömten, hatte

Die ältere ethnologische Literatur ging davon aus, daß Hexereivor­ würfe im Grunde eine nützlich Funktion erfüllen. Sie richten sich ge­ gen anti-soziales Verhalten und zwingen die Beschuldigten dazu, die Ansprüche ihrer Mitmenschen zu beachten (vgl. Geschiere 1994: 324 f.). V ielleicht war es einst wirklich so, daß die Angst vor Hexerei dazu bei­

man also nicht durch eigene Anstrengungen erworben, und deshalb ließ sich der Reichtum nicht zu individuellen Tugenden wie Fleiß oder technischem Geschick in Beziehung setzen. Wem es gelungen war, in den Boom-Jahren reich zu werden, der hatte seinen Reichtum in der Regel durch zweifelhafte Mittel verdient (Barber 1982: 435).

erhalten; doch mittlerweile

Alle Bemühungen, auf ehrliche Weise zu Geld zu kommen, führen

sorgt sie eher dafür, daß soziale Konflikte eskalieren. Wann immer

dagegen nicht weit. In der Landwirtschaft läßt sich kaum profitabel

trug, eine moralische Ordnung aufrecht

zu

Krankheiten, Unfälle oder finanzielle Probleme auftreten, neigen die

arbeiten, denn die Böden sind in den dichtbesiedelten Regionen des

Menschen dazu, sich als Opfer gehässiger Nachbarn oder Verwandter

Igbolands so ausgelaugt und erodiert, daß selbst dörfliche Regionen

sehen. Früher dagegen standen eher andere Krankheitsursachen im

sich in Netto-Importeure von Lebensmitteln verwandelt haben. Da die

zu

Vordergrund. Wer Wahrsager oder Orakel befragte, erhielt häufig zur

Plackerei auf den Yamsfeldern nicht viel einbringt, sind die Menschen

Auskunft, daß er T abus gebrochen oder gegen den Willen der Ahnen

schnell bereit, es mit anderen Jobs zu versuchen: als Taxifahrer oder

verstoßen hatte. Das Leid deutete in solchen Fällen auf eine eigene

Straßenhändler, als Mechaniker oder Gärtner. Wer viel Glück hat und

Verfehlung, und deshalb war Heilung nur möglich, wenn die gestörte

eine feste Anstellung als Fabrikarbeiter findet, verdient umgerechnet

Ordnung durch Kompensation oder Sühne wiederhergestellt wurde.

etwa 2,- DM am Tag: kaum genug, um die eigene Familie durchzubrin­

Heute jedoch trägt das Unglück keine moralische Botschaft mehr. Die

gen, und eine lächerlich geringe Summe, wenn man es mit den Ein­

Menschen fühlen sich zu Unrecht verfolgt; sie leiden nur durch die

künften der Politiker und Drogenbarone vergleicht. Selbst Lehrer oder

Bösartigkeit anderer. Wenn sie in Schwierigkeiten geraten oder versa-

Verwaltungsangestellte, mit ihrem Monatsgehalt von 30,- oder 40,-

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DM, müßten jahrzehntelang sparen, bevor sie sich auch nur einen ein­ fachen Wagen anschaffen könnten. Den Wohlhabenden dagegen fließt das Geld ohne sichtbare Anstrengungen zu. Sie mögen zwar behaup­ ten, mit irgendeinem ,business' beschäftigt zu sein, doch läßt sich kaum je beobachten, daß sie wirklich arbeiten. Ihr Verhalten ist nicht leistungsorientiert und puritanisch-fleißig; sie folgen eher dem Ideal traditioneller big

men:

sich nicht abzumühen, sondern seine Macht da­

durch zu beweisen, daß man alle Angelegenheiten beflissenen Helfern zuweist. Es genügt, ihnen ein paar Worte ins Ohr zu flüstern; sie ent­ fernen sich und erledigen das Gewünschte diskret. Nie zuvor waren die Unterschiede zwischen Arm und Reich so krass ausgeprägt. Eine der Möglichkeiten, dieses neue Phänomen zu erklä­ ren, besteht darin, auf alte Vorstellungen zurückzugreifen. Hexerei und Schadenszauber konnten immer schon erklären, wie unverdienter Reichtum entsteht. Aus europäischer Perspektive stellt sich freilich die Frage, ob es nicht angemessener wäre, der Oberschicht ,Ausbeutung' vorzuwerfen. Warum kommen die Verarmten nicht auf die Idee, daß die herrschende Elite ihnen den Reichtum gestohlen hat? Warum muß es das Blut unschuldiger Ritualopfer sein, das die Armen ins Elend stürzt? - Eine Antwort darauf läßt sich nicht mit den hergebrachten politökonomischen Begriffen geben, denn die Beziehung von Arm und Reich ist in der Tat nicht durch Ausbeutung bestimmt. In der traditio­ nellen Landwirtschaft war die Arbeit auf den Feldern, mit Hacke und Grabstock, nie produktiv genug, um nennenswerte Überschüsse zu er­ zeugen. Heutzutage geht die Tendenz sogar dahin, daß die meisten Bauern von wohlhabenden Verwandten in der Stadt oder im Ausland alimentiert werden. Die Menschen in den ländlichen Gebieten können nur überleben, weil ein Teil des modernen Reichtums, der sich etwa in den Bankenvierteln von Lagos konzentriert, bis in die Dörfer durchsik­ kert. Aber auch in den Städten sind die Sozialbeziehungen nicht von Ausbeutung geprägt. Da die herrschende Elite fast nichts produzieren läßt, hat sie kaum Gelegenheit, irgendjemanden auszubeuten. Nigerias Industrie ist seit langem nicht mehr wettbewerbsfähig, so daß selbst einfache Konsumgüter wie Kleider, Plastikschüsseln oder Aluminium­ töpfe aus China oder Indonesien importiert werden. Ausländische In­ vestoren, die in den 60er Jahren die industrielle Entwicklung in Gang brachten, ziehen sich aus allen Sektoren der Wirtschaft zurück. Und

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, führen; aber auch die Plantagen sind inzwischen verwaist, so daß heute 98 % der Exporte aus Rohöl bestehen (Obadan 1996: 12 f.). In Nigeras Ökonomie geht es nicht um die Produktion von Reichtum

sondern um seine Distribution (Ake 1994: 34) Wem es gelingt, Staats � kassen zu plündern oder Entwicklungshilfegelder zu akquirieren, gibt die Details nicht gerne preis, so daß die Quellen des Reichtums im Dunkeln bleiben. Außerdem ziehen die meisten es vor, ihre Geschäfte nicht in der Heimatregion zu machen, sondern in der Anonymität ent­ legener Großstädte. Und wenn sie von dort in ihre Dörfer zurückkeh­ ren, führen sie den Verwandten und Nachbarn immer nur einen Teil ihres Vermögens vor: wie eine Beute, die sie in der Fremde geraubt ha­ ben, nicht wie eine Ernte, die auf den Feldern gereift ist. Da sich nicht mehr beobachten läßt, wie der Reichtum entsteht, unterliegt er nicht länger jener sozialen Kontrolle, die in der herkömmlichen Wirtschafts­ weise üblich war. Wer fleißig war (und das Wohlwollen der Götter und Ahnen besaß), konnte auch damals seinen Besitz vergrößern, allerdings nur in einem Maß, das für die Nachbarn überschaubar war. Die Ziegen und Yamsvorräte vermehrten sich, aber nicht mit magischer Schnelle. Der Ölreichtum dagegen hat etwas Unwirkliches; er entsteht wie aus dem Nichts. Es heißt zwar, die Ölquellen sprudeln in den Sümpfen des Nigerdeltas, aber wer hat die Mangrovenwälder an der Küste je be­ sucht? Die meisten kennen die Welt des Öl-Business nur vom Hörensa­ gen oder durch Berichte aus der Zeitung. Als eine Art herrenloser Schatz, den eine Laune der Natur im Land der Efik, Ijaw und Ogoni verborgen hat, laden die Ölvorräte zum Plün­ dern ein. Einmal entdeckt fließen die Quellen fast von alleine und mit



ihnen fließt das Geld. Doch nur wenige haben die Macht, di se Geld­ ströme zu manipulieren und auf ihre Konten zu leiten. Aus der Sicht der Ausgeschlossenen handelt es sich um unzugängliche Zirkel, die sich mehr und mehr vom Rest der Bevölkerung absondern. Jeder kennt zwar noch enge Angehörige, die in die Großstadt gezogen sind und dort ihr Glück gemacht haben. Wenn sie mit Taschen voller Geld zu­ rückkehren, um die armen Verwandten zu besuchen, geizen sie oft nicht mit Geschenken. Doch den Zugang zu jenen exklusiven Kreisen, die den Reichtum des Landes unter sich aufteilen, behalten sie wie ein geheimes Wissen für sich.

jene Fabriken, die weiter produzieren, sind nur noch zu 31 % ihrer Ka­

Das schnelle Geld aus den Ölmetropolen hat den mühsam erworbe­

pazität ausgelastet (Guardian 13. 12. 1996). Selbst die vier Raffinerien

nen Besitz auf den Dörfern entwertet. Nur in den großen Städten, mit

des Landes werden nicht weiter gewartet, so daß Nigeria, als viertgröß­

ihrem Abglanz westlicher Kultur, scheint es möglich, all den Luxusgü­

ter Ölproduzent der OPEC, einen Teil seines Benzins aus Lybien und

tern aus dem Ausland näher zu kommen. Deshalb hält der Sog in die

Venezuela einführen muß. Kurz nach der Unabhängigkeit konnte Ni­

Ballungsräume an, obwohl die meisten Migranten in dieser fremden

geria noch landwirtschaftliche Produkte wie Kakao und Palmöl aus-

Welt scheitern. Verzweifelt versuchen sie, mit allen erdenklichen Mit-

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teln den sozialen Aufstieg zu erzwingen; doch alle Wege scheinen ver­

Gift- und Ritualmorden gedeiht gerade in der Intimität der Familie,

sperrt oder erweisen sich als Sackgassen. Offen bleiben nur die Wege,

weil die Kehrseite des Reichwerdens der Verrat an den Angehörigen

die man nicht kennt und zu denen man den Zugang nicht findet, die

ist. Würde man den Verwandten geben, was ihnen im Namen einer ver­

man sich nur vorstellt und phantastisch ausmalt: mit blutigen Initiati­

meintlichen Tradition zusteht, käme man nie zu Wohlstand. Jede groß­

onsriten, die alle Uneingeweihten zurückstoßen. Es scheint, man muß

zügige Geste führt nur dazu, daß sich noch mehr Bittsteller aufdrän­

nur seine Hemmungen überwinden und Einlaß begehren in das Reich

gen und ihre Ansprüche präsentieren. Wer Erfolg haben will, muß zu­

das Bösen. Es genügt, den eigenen Bruder oder die Ehefrau zu ermor­

allererst lernen, sich vom Elend der Familienmitglieder nicht länger

den, und man ist innerhalb von ein, zwei Jahren reich.

beeindrucken zu lassen. Es wäre ein Leichtes, den verarmten Brüdern oder Neffen ein wenig Kapital zu leihen, damit sie ein eigenes Geschäft eröffnen können. Doch der reiche Verwandte aus der Stadt gibt ihnen

III. Die Bedrohung der Moralökonomie

Da die Igbo, so wie die meisten anderen Ethnien Nigerias, keine ari­ stokratische Herrschaft kannten, stellen sie sich die moderne Elite nach dem Modell der einzig privilegierten Gruppe vor, die es bereits in vorkolonialer Zeit gab: so wie die Zirkel älterer Männer, die sich in Ge­ heimgesellschaften zusammengeschlossen hatten. Jene witchclubs, de­ nen die Neureichen angeblich angehören, sind bloß das finstere Spie­ gelbild dieser verschworenen Gemeinschaften; und jene Initiationsri­ ten, von denen es heißt, daß sie vor dem sozialen Aufstieg stehen, ver­ sinnbildlichen auf gespenstische Weise den Prozeß der Trennung vom Rest der Bevölkerung. Da sich die Aufsteiger und Arrivierten allmäh­ lich als eine eigene Kaste absondern, sehen sie sich in der Tat gezwun­ gen, ihre finanziellen Aktivitäten vor anderen zu verbergen. Die Akku­ mulation von Reichtum verlangt gerade, daß sie wenigstens einen Teil ihrer Einkünfte unsichtbar machen, indem sie ihn in diverse Geschäfte investieren oder auf Konten ins Ausland überweisen. Irritierend ist nur die Vorstellung, daß die Initiation in die Welt des Reichtums blutige Riten verlangt und daß als Opfer gerade die engsten Angehörigen bevorzugt würden. Offenbar handelt es sich hier um ein Phantasma, denn die Fälle von Ritualmorden sind nicht nur viel selte­ ner, als es die allgemeine Panik erwarten ließe, aus Zeitungsberichten geht auch hervor, daß die Täter meist fremde Personen als Opfer ge­ wählt hatten. F ür die Verwandten gäbe es also wenig Grund zur Sorge. Warum befürchten sie trotzdem, daß die Aggression von ihren Näch­ sten ausgeht und nicht von irgendwelchen Fremden? Mißtrauen er­ schiene gerade gegenüber unbekannten Personen angebracht, denn die Migration in die Städte und die Ausweitung moderner Handelsbezie­ hungen haben zur Folge, daß sich die sozialen Kontakte der Menschen sehr viel weiter erstrecken als die Netzwerke des Vertrauens (Hyden 1980: 123).

keine Chance; er läßt sie nicht hochkommen, sondern zerstört mit arro­ ganter Geste die verzweifelten Bemühungen um Erfolg. Hexerei und die Akkumulation von Reichtum sind also eng miteinander verwandt: Beides geschieht heimlich, im Verborgenen, und es schadet bewußt den engsten Angehörigen. Wenn junge Männer mit ihren Ambitionen scheitern, neigen sie nicht dazu, die Wirtschaftspolitik der Regierung oder die Weltbank für ihr Schicksal verantwortlich zu machen. F ür sie gibt es naheliegendere Ursachen, nämlich die Niedertracht von Verwandten, die wohlhabend genug sind, um zu helfen, die es aber vorziehen, den eigenen Bruder ins Unglück stürzen zu sehen. Die makabren Riten, bei denen die Initi­ anden die Körper ihrer Verwandten zerfleischen, illustrieren auf dra­ matische Weise die unmoralischen Akte, die man begehen muß, um in die Welt des Reichtums einzutreten. In Europa wird verlangt, daß Men­ schen, die einen Pakt mit dem Satan schließen, ihre Seele verkaufen; in Afrika müssen sie die Bindungen an ihre Familie opfern (Meyer 1995: 251). Der Reichtum der Emporkömmlinge provoziert nicht Angehörige ei­ ner anderen Klasse, seien es verelendete Arbeiter oder Bauern, son­ dern Mitglieder der eigenen Familie. Da sich der Haß der Ausgeschlos­ senen nicht gegen eine Gruppe von Fremden richtet, hat er nicht die Kraft, die verarmten Teile der Bevölkerung zu einer politischen Ge­ meinschaft zusammenzuschmieden. Hätte man es mit einem Gegner zu tun, der sich räumlich oder sozial klar abgrenzen ließe, wäre es einfa­ cher, gemeinsam gegen ihn vorzugehen. Doch Mißgunst und Neid füh­ ren nicht zur Solidarität der Entrechteten, sie lähmen eher politisches Handeln, weil sie ganze Dorfgemeinschaften und Verwandtschafts­ gruppen in verfeindete Fraktionen zerreißen. Nicht selten wendet sich der Haß gegen Personen, mit denen man das Haus teilt und denen man die eigene Aggression nicht zeigen darf. Die verarmten Familienmit­ glieder sind auf die kleinen Zuwendungen ihrer erfolgreichen Brüder

Der Übergang zu modernen Lebensformen erodiert freilich auch das

angewiesen, so daß sie es sich nicht leisten können, ihre Ressentiments

Vertrauen zwischen Personen, die sich gut kennen. Angst vor Hexerei,

offen auszudrücken. Die Feindseligkeit bleibt daher verborgen und

142

Johannes Harnischfeger

Unverdienter Reichtum- Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria

143

lauert auf versteckte Gelegenheiten, um sich in Hexereivorwürfen und

Landes', sondern Fremde. Die neureiche Elite hat also Grund, die Miß­

gehässigen Denunziationen zu entladen.

gunst ihrer Angehörigen zu fürchten, wobei die versteckte Feindselig­

In der Vergangenheit waren die Menschen eher bereit, mit ihren An­ gehörigen zu teilen. Ihre Form des Wirtschaftens, der Regenfeldbau,

keit viel gefährlicher ist als der offene Konflikt. Denn wer in der Rolle des Unterlegenen ist, muß zu verborgenen, magischen Waffen greifen.

war so prekär, daß jeder Haushalt sich nur durch enge Kontakte zu an­

Die reichen Aufsteiger fühlen sich nicht weniger von Hexerei be­

deren Familiensegmenten vor den Launen einer übermächtigen Natur

droht als die Opfer der Modernisierung. Aus ihrer Perspektive stellt

schützen konnte. Wer in Not geriet, hatte Anspruch auf Hilfe, und es

die Hexerei jedoch eine ganz andere Form von Bedrohung dar: Sie

wäre unklug gewesen, ihn abzuweisen, denn schon bei der nächste

richtet sich gegen den Prozeß der Individualisierung, gegen den 'ver­

Ernte konnte man selber gezwungen sein, ihn um Unterstützung zu

such, sich abzugrenzen und den mühsam erworbenen Besitz dem Zu­

bitten (Bates 1989: 41 f.) Doch mit der modernen, arbeitsteiligen Wirt­

griff der nichtsnutzigen Brüder und Neffen zu entziehen. Oft war es

schaft, die ungeahnte Möglichkeiten des Gelderwerbs eröffnet, ändern

schwierig genug, sich in der verwilderten Konkurrenzgesellschaft von

sich die ökonomischen Strategien. Wer gelernt hat, staatliche Ämter,

Lagos oder Port Harcourt als Geschäftsmann zu etablieren. Die Ein­

Importlizenzen oder Bankkredite geschickt für sich zu nutzen, kann

künfte fließen vielleicht nicht so reichlich wie erwartet, oder man sieht

durch individuelle Anstrengungen so viel Reichtum anhäufen, daß er

sich von hartnäckigen Gläubigern bedrängt. Doch die Angehörigen auf

von seinen Angehörigen unabhängig wird. F ür ihn ist es nicht länger

dem Land mögen nichts von solchen Ausflüchten wissen; sie klagen

sinnvoll, in die Aufrechterhaltung von Familienbeziehungen zu inve­

beständig Geld ein, ohne je etwas zurückzugeben. Die gefräßigen He­

stieren. Die Verwandten mit ihren unersättlichen Ansprüchen geben

xen, von denen sich die Reichen verfolgt wähnen, wirken wie ein Zerr­

nicht Rückhalt und Schutz, sondern werden zu einer Belastung.

bild der gefräßigen Verwandtschaft, die -von Neid und Habgier getrie­

Trotz der angespannten Familienbeziehungen scheuen die meisten der ,verlorenen Söhne' davor zurück, den Kontakt zu den Zurückge­ bliebenen abreißen zu lassen. Sie träumen nicht nur von westlichem Luxus, sondern auch von dem Glück, das nur die traditionelle Lebens­ weise zu geben vermag. Nach dem überlieferten Wertesystem aber ist nichts so wichtig, wie in den Kreis der Ältesten aufgenommen zu wer­ den und später als respektables Mitglied der Familie gleich am elterli­ chen Haus sein Grab zu finden. Nur wer unter seinen Angehörigen be­ erdigt wird, erhält Einlaß in das Reich der Ahnen (McCall 1995: 265). Viele, die es auswärts zu Wohlstand gebracht haben, errichten daher ihr erstes Haus im Heimatdorf. Auf diese Weise entstehen neben den Lehmhütten der Bauern protzige Gebäude, die einen Großteil des Jah­ res leer stehen, so daß sie durch Beton und Stacheldraht vor den Über­ griffen der armen Verwandten gesichert sind. Die Dorfbewohner fin­ den in der Regel wenig Gefallen an dieser Demonstration nutzlosen Reichtums, und sie schätzen es auch nicht, wenn sich die Besucher aus Lagos oder Onitsha in die Dorfangelegenheiten einzumischen suchen (Bastian 1993: 143). Während die Arrivierten bemüht sind, sich durch ihr Geld Prestige zu erkaufen, verfolgen ihre Angehörigen eher eine gegenläufige Strategie. Sie lassen sich zwar Geld und Geschenke zu­ stecken, zögern aber nicht, den sozialen Status der reichen Verwand­ ten zu untergraben. Es geht darum, die ,Außenseiter' aus der Stadt trotz aller offiziellen Ehrungen - von der eigentlichen Macht im Dorf auszuschließen und sie, wenn möglich, um das väterliche Erbe oder ih­ re Landrechte zu betrügen - so als wären sie nicht länger ,Söhne des

ben - alles zu verschlingen sucht. Im kannibalischen Akt, wenn die hungrige Meute sich auf ihr Opfer stürzt, zerfließen die Grenzen zwi­ schen dem Ich und der Gruppe: das Individuum verliert seine Gestalt, das Blut wird aufgesogen, und der zerstückelte Körper geht über in den Leib der anderen. Da es keine institutionellen Arrangements gibt, die verbindlich fest­ legen, wie sich Hexen identifizieren lassen, bleiben die Vorstellungen von Hexerei vage und extrem veränderlich. Der Verdacht kann jeden treffen: den Millionär, der undurchsichtige Geschäfte betreibt, ebenso wie den Subsistenzbauern, der mit bösem Blick den Wohlstand der an­ deren betrachtet (Auslander 1993: 178; Geschiere 1994: 333). Die Ent­ fremdung zwischen beiden, die das Entstehen von Klassengegensätzen ankündigt, führt dazu, daß Vorwürfe und Gegenvorwürfe in beide Richtungen zielen. Die urbane Elite, die den wirtschaftlichen Fort­ schritt vorantreiben sollte, sieht sich dadurch auf doppelte Weise unter Druck gesetzt: Sie hat nicht nur Angst, verhext zu werden, sondern muß auch befürchten, selber der Hexerei bezichtigt zu werden. Das Resultat ist in beiden Fällen, daß die Entstehung einer individuellen Leistungsethik gehemmt wird. Statt Geld in Kapital zu verwandeln, wird es zur unproduktiven Konsumption umverteilt (Kohnert 1996: 3).

Unverdienter Reichtum- Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria

Johannes Harnischfeger

144

145

Das europäische Rechtssystem (oder was davon übrig geblieben ist)

IV. Der Verfall staatlicher Institutionen

ist nicht einfach nutzlos, es hat vielmehr einen negativen Effekt. Es In nigerianischen Zeitungen stößt man immer wieder auf die Klage, daß der moralische Niedergang des Landes durch die Habsucht der Menschen verursacht sei: „lt is a fact that the quest for money by Nige­ rians is unequalled in any other part of the world and this explains why Nigerians are ready to do anything including sacrifices or trading with human parts to get wealth" (Sunday Star

27. 10. 1996).

F ür die

verzweifelte Jagd nach Geld haben die Nigerianer freilich gute Grün­ de. Sie erklärt sich wenigstens zum Teil daraus, daß Polizei und Justiz nicht mehr die Sicherheit der Bürger garantieren. Wer mittellos ist, macht schnell die Erfahrung, daß er auch rechtlos ist. Selbst der klein­ ste Polizist oder Verwaltungsbeamte kann ihn ungestraft schikanieren, erpressen und demütigen. Vor staatlicher Willkür ist nur derjenige ge­ feit, der genügend Geld besitzt, um sich Einfluß und Protektion zu er­ kaufen. Polizisten und Soldaten werden nicht wagen, ihn zu belästi­ gen, weil sie befürchten müssen, selber in Schwierigkeiten zu geraten. Die wirklich Mächtigen stehen über dem Gesetz und genießen dadurch eine kaum vorstellbare Freiheit: Sie gelten als ,unberührbar', so daß sie sich fast alles erlauben können, vom Mord bis zur Vergewaltigung. Nigerias Gerichte schaffen keine Gerechtigkeit, und sie verhelfen niemandem zu seinem Recht meint die Civil Liberties Organisation

(1996: 89 ff.).

Das Versagen der Justiz führt jedoch nicht

dazu,

daß sie

an Bedeutung verliert. Die Menschen zerren sich weiterhin gegenseitig vor Gericht, weil sie die staatliche Justiz einfach als ein Mittel anse­ hen, andere ins Unglück zu stürzen. Keine der streitenden Parteien fühlt sich freilich an die Schiedssprüche korrupter Richter gebunden, und so schwelen die Konflikte weiter, auch wenn das juristische Ver­ fahren abgeschlossen ist. Wer in einem Rechtsstreit unterliegt, nimmt automatisch an, daß die Gegenpartei dem Richter mehr Geld zuge­ steckt habe.

nimmt der Mehrheit der Bevölkerung das Recht, sich und ihre Interes­ sen selbst zu schützen. Die Menschen fühlen sich durch die übermacht des Staates entwaffnet, ihrer Stärke und Unabhängigkeit beraubt. Die Gesetze zwingen sie dazu, heimlich vorzugehen und ihre Widersacher durch Gift, Zauberei und andere verdeckte Mittel zu bekämpfen. Ge­ rade Personen, die nicht genügend Geld und Einfluß besitzen, um Richter zu manipulieren, müssen sich an Schreinpriester oder Zaube­ rer wenden. Sie bringen den lokalen Göttern Opfer dar, mit der Bitte, ihre Feinde zu töten, oder sie kaufen sich mit dem Rest ihrer Erspar­ nisse ,Medizin', die sie vor dem Haus ihres Gegners vergraben. Tritt das Opfer auf dieses ,Gift', ist es um sein Leben geschehen, es sei denn, der ,Vergiftete' läßt sich rechtzeitig - für schmähliches Geld - einen noch stärkeren Gegenzauber anfertigen. Neben diesen okkulten Mit­ teln bieten sich auch direktere Formen der Gewalt an. Geheimgesell­ schaften z. B. sind für viele attraktiv, weil ihre Mitglieder sich durch Bluteide verpflichten, einander notfalls mit Gewalt zu schützen. Wer genügend Geld besitzt, mag auch professionelle Schlägerbanden an­ heuern, um seine Gegner einzuschüchtern. Der Bedarf nach solchen Experten scheint recht groß zu sein, denn auf den Straßen von Lagos werden Passanten von Unbekannten angesprochen und gefragt, ob sie contract killers brauchen (Third Eye

28. 10. 1995).

In diesem Klima versteckter Aggression ist die Angst vor Hexen kein leerer Wahn. Daß die Menschen einander mit äußerstem Argwohn be­ trachten, scheint eher ein realitätsgerechtes Verhalten sein. Wenn die Pflanzen auf meinen Feldern verdorren oder wenn mein Wagen einen Motorschaden hat, ist der erste Gedanke: Wer hat das getan? Ein direk­ ter Eingriff mag nicht erkennbar sein, doch das schließt nicht aus, daß der Täter mit verborgenen Mitteln vorging, also mit Hilfe von Magie (die in der Umgangssprache auch als remote control oder African Sci­

Deshalb führt er den Streit mit anderen Mitteln weiter: durch nächt­

ence bezeichnet wird). Die Igbo sind jedenfalls nicht geneigt, an Zu­

liche Attacken, Prügeleien, Hexereianschuldigungen und Mord. Da der

fälle zu glauben, und das gilt für alle sozialen und ,natürlichen' Ereig­

Staat die Geltung seiner Gesetze nicht länger durchsetzt, sehen die

nisse, die sie betreffen. Wenn Briefe verschwinden oder Akten nicht

Menschen sich gezwungen, das Recht selbst in die Hand zu nehmen.

weitergeleitet werden, wenn der Regen ausbleibt oder sich eine myste­

Sie dürfen es aber nicht offen tun, wie in vorkolonialer Zeit, als sie -

riöse Krankheit einstellt, müssen sie annehmen, daß irgendwelche

gestützt auf ihren Clan oder die Dorfgemeinschaft - Kompensations­

Gegner am Werk sind. Es wäre naiv zu glauben, daß sich keine Absicht

zahlungen oder Blutrache erzwingen konnten. Das staatliche Gewalt­

dahinter verberge. Nur Kinder, die noch nicht in die Welt der Masken

monopol ächtet die traditionellen Formen der Konfliktlösung und

und Geheimgesellschaften initiiert sind, können so arglos sein. Die

drängt sie dadurch in die Illegalität, in eine Art kriminellen Unter­

Welt der Erwachsenen ist die Welt der verborgenen Kräfte. Ihr Ge­

grund. Wer selber zur Gewalt greift, weil der Staat ihn nicht schützt,

heimnis aber ist nicht so sehr die Sexualität (wie in den traditionellen

muß mit Verfolgung durch die Polizei, vielleicht sogar mit einer Ge­

Kulturen Europas), sondern Schadenszauber und Hexerei (Ottenberg

fängnisstrafe rechnen.

1982: 171).

146

Johannes Harnischfeger V. Macht und Geld

Unverdienter Reichtum- Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria

147

teriell nicht viel besser als die Armen. Sie kannten keine Paläste, son­ dern wohnten in den gleichen Lehmhütten wie andere auch. Nur besa­

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte die Macht des Geldes

ßen sie mehr Frauen und damit ein ausgedehnteres Netz von Heiratsal­

das Vertrauen unter den Menschen zersetzt. Doch die Ausbreitung mo­

lianzen. Außerdem konnten sie mehr Gäste bewirten und eine größere

derner Wirtschaftsbeziehungen muß nicht notwendig so zerstörerische

Gefolgschaft gewinnen, was ihnen wiederum mehr Prestige verlieh.

Konsequenzen haben. Es kommt darauf an, wie die verschiedenen Ge­

Prestige aber läßt sich relational bestimmen, durch die Unterschiede

sellschaften mit dem Individualismus ihrer Mitglieder umgehen und

im sozialen Status. Wenn der Nachbar an Prestige gewinnt, mindert

welche F unktion sie der Akkumulation von Reichtum zuweisen. Als in

das mein eigenes Ansehen. Gerade akephale Gesellschaften, in denen

Teilen Europas die Industrialisierung einsetzte, verlor die Liebe zum

soziale Positionen nicht vererbbar sind, sehen sich in einen intensiven

Geld viel von jener Dämonie, die ihr durch die christliche Tradition

Kampf um Macht und Einfluß verstrickt. Da der soziale Status nie

anhaftete. Zumindest in protestantischen Kreisen galt die Habsucht nicht länger als die Wurzel allen Übels, sondern sie wandelte sich zum

dere verteidigt werden.

Garanten für das Wohlergehen aller: „it is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own self-interest" (Adam Smith, zit. nach Bloch/Parry 1989: 17). Daß der moderne Reichtum Angst vor Hexerei und Ritualmorden provoziert, hängt im Fall der Igbo mit der eigenen Tradition zusammen. Schon in vorkolonialer Zeit machten die Men­ schen die Erfahrung, daß ökonomische Transaktionen außerhalb der Dorfsphäre eng mit Gewalt verknüpft waren. Die berühmtesten Händ­ ler waren zugleich Sklavenjäger, und ihre Söldner, häufig junge Män­ ner aus Ohafia, nutzten die Handelszüge, um Menschenköpfe zu erbeu­ ten. Wenn sie bei ihrer Rückkehr aus anderen Igbo-Regionen nicht nur Handelsgüter präsentierten, sondern zugleich die Köpfe ihrer Opfer, nahm niemand daran Anstoß. Ganz im Gegenteil: Die Krieger mit den meisten Trophäen wurden als Helden gefeiert (Isichei 1977: 82). Beden­ ken erregte es nur, wenn sie die geraubten oder erhandelten Schätze für sich allein behalten wollten. Von erfolgreichen Händlern oder Krie­ gern wurde erwartet, daß sie sich großzügig zeigten und ihren Besitz in soziales Prestige verwandelten. Solange der Reichtum unter den Dorf­ bewohnern zirkulierte, störte es niemanden, daß er mit Blut befleckt war. Diese gespaltene Form von Moral hat sich bis heute erhalten. Wenn Söhne des Dorfes ein öffentliches Amt in der Stadt bekleiden, wird von ihnen erwartet, daß sie die Gelegenheit nutzen, Gelder zu un­ terschlagen. Wer mit leeren Händen zurückkommt, gilt als Versager, oder schlimmer noch, er gerät in den Verdacht, seine Angehörigen zu belügen, weil er die Beute nicht teilen mag.

dauerhaft an eine Person gebunden ist, muß er immer wieder gegen an­

Im Kampf um Reichtum und Macht nahmen die Menschen immer schon zu magischen Mitteln Zuflucht. Ganze Dörfer konkurrierten miteinander, um möglichst viele Masken, Fetische und ,Kriegsmedizin' zu erwerben. Und was sie unter enormen Kosten angehäuft hatten, wurde keineswegs verborgen gehalten, sondern offen ausgestellt, um feindselige Nachbargemeinden abzuschrecken (Cole/Aniakor 1984: 133 f.). Von den Kriegszügen vergangener Zeiten sind nur die kleinen,

privaten Vendettas zwischen verfeindeten Familien geblieben; doch ökonomische Unternehmungen werden noch mit einem ähnlichen Auf­ wand an Aggressivität geführt wie früher. Selbst auf den lokalen Märkten trägt der Handel stark agonale Züge. Jeder bemüht sich, an­ dere zu übervorteilen, denn Gewinn ist stets, was ich anderen entrissen habe. Nach dem Verständnis der Beteiligten entscheiden nicht die Ge­ setze von Angebot und Nachfrage über das Marktgeschehen; ökonomi­ scher Erfolg oder Mißerfolg scheinen eher das Ergebnis eines Macht­ kampfs zu sein, bei dem Amulette und Zauberformeln, zur Not auch Gift und Schlägertrupps zum Einsatz kommen. Unter diesen Umstän­ den kann sich unter Geschäftspartnern kein Vertrauen bilden, und auf Verträge oder Marktversprechen ist kein Verlaß. Alle Beteiligten wis­ sen, daß sie sich in der Sphäre des Betrugs bewegen. Wer sich dennoch übervorteilen läßt, darf nicht auf das Mitgefühl der anderen rechnen. Er macht sich eher zum Gegenstand von Spott und Verachtung. Wem es dagegen gelingt, seine Kunden oder Konkurrenten zu schädigen, kann sich damit brüsten, besonders clever zu sein. Von dem Verfall ziviler Umgangsformen fühlen sich alle bedroht,

Die Gewalt richtete sich aber nicht nur gegen Fremde; auch inner­

auch die Angehörigen der neuen Elite. Was helfen ihnen Leibwächter

halb der dörflichen Gemeinschaften wurde der Kampf um Macht und

und dicke Bankkonten, wenn sie befürchten müssen, durch Gift oder

Reichtum auf aggressive Weise geführt. Das Bemühen, reich zu wer­

Jujus zu Tode zu kommen? Einflußreiche Politiker und Geschäftsleute

den, diente stets dazu, andere zu übertrumpfen. Denn Reichtum war in Prestige konvertierbar, ja er wurde im wesentlichen des Prestiges we­ gen gesucht. In den meisten Igbo-Regionen lebten die Begüterten ma-

konsultieren daher Wahrsager und Wunderdoktoren, um sich vor den Nachstellungen ihrer Widersacher zu schützen. Selbst Staatschef Ab­ acha, der sich aus Angst vor Militärcoups in seinem Präsidentenbun11 Sociologus 4 7 /2

148

Johannes Harnischfeger

Unverdienter Reichtum- Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria

149

ker vergraben hat, läßt sich dort von islamischen Marabus (und deut­

durch, daß sie Häuptlingstitel verkaufen, damit korrupte Offiziere

schen Sicherheitsexperten) bewachen (Tempo

oder stadtbekannte Kokainhändler den Anschein von Respektabilität

19. 12. 1996).

In extre­

men Fällen, wenn Zauberer ihren Kunden empfehlen, sich Medizin aus

gewinnen.

Menschenfleisch zu verschaffen, kommt es auch zu rituellen Morden. Aber das ist keineswegs ein Privileg der Reichen; aus Zeitungsberich­

VI. Der Zauber charismatischer Kirchen

ten geht hervor, daß auch verarmte, gescheiterte Existenzen zu so ver­ zweifelten Mitteln greifen. Im Prinzip praktizieren die Reichen bloß, was auch alle anderen tun, nur tun sie es mit mehr Erfolg. Mit wel­ chem Recht will man von ihnen verlangen, daß sie auf den Gebrauch magischer Mittel verzichten? Sollen sie sich wehrlos machen, so daß sie ihren Feinden hilflos ausgeliefert sind? Oder will man sie zwingen, nur legitime Formen der Zauberei zu benutzen? Im Reich der Magie gibt es keine ,guten' oder ,bösen' Jujus, sondern nur die eigenen und die ande­ ren. Je stärker die ,Medizin' ist, die ein Zauberer mir anfertigt, desto besser für mich und desto gefährlicher für meine Gegner. In einer Welt völliger Ungewißheit, in der selbst die engsten Angehörigen Mord­ pläne gegen mich schmieden können, schützt jeder sich so gut, wie er kann. Wenn eine Gesellschaft so fragmentiert ist wie die der Igbo, läßt sich kaum noch ein Konsens darüber erzielen, was gut und was böse ist. Es gibt keine moralische Autorität, die von allen anerkannt würde, so daß sie zwischen streitenden Parteien vermitteln könnte. Im Kampf gegen die Bösartigkeit anderer sind die Menschen weitgehend auf sich allein gestellt. Sie mögen zwar immer neue, wechselnde Bündnisse eingehen, aber nur, um stets aufs neue getäuscht und verraten zu werden. Sobald sie sich mit der Bitte um Hilfe an die Polizei, Justiz oder andere staat­ liche Instanzen wenden, finden sie sich in einem Dschungel trüber Ma­ chenschaften verstrickt. Sie können nicht einmal an traditionelle Au­ toritäten appellieren, denn die Igbo-Gesellschaft hat nie Institutionen ausdifferenziert, die den Einzelnen von der Sorge um die eigene Si­

Die Rückbesinnung auf die Tradition kann die Menschen nicht aus dem Kreislauf von Haß und Mißtrauen befreien. Gibt es andere Autori­ täten, die nach dem Verfall staatlicher Institutionen das Vakuum füllen könnten? Blickt man auf die Ereignisse in Owerri, dann hat es den An­ schein, als seien in Nigeria alle Formen von Autorität diskreditiert. Der Haß der Bevölkerung richtete sich ja nicht nur gegen Vertreter der Staatsgewalt und gegen die big men mit ihrem gestohlenen Reichtum. Auch die Residenz von Chief Egwunwoke, dem Sprecher der ,traditio­ nellen Herrscher' wurde niedergebrannt, und schließlich gingen sogar einige Kirchen in F lammen auf. Daß selbst christliche Kirchen die Wut der Demonstranten auf sich zogen, ist bemerkenswert. Denn Christen­ tum und Islam sind die einzigen Kräfte in Nigeria, die wenigstens dem Anspruch nach eine universalistische Moral vertreten: Wer andere be­ schuldigt, Hexerei oder Zauberei zu benutzen, darf nicht selbst zu sol­ chen Mitteln greifen. Die Frage, welches Verhalten zulässig ist, soll al­ so nicht, wie in den traditionellen afrikanischen Religionen, von den eigenen unmittelbaren Interessen bestimmt sein. Die Praxis sieht je­ doch anders aus, denn im christlich geprägten Igboland schließen sich die meisten Gläubigen nicht aus moralischen Erwägungen einer der vielen Kirchen an. Sie hoffen vielmehr, durch die Kraft des christli­ chen Gottes die eigene prekäre Existenz zu sichern. So wie sie früher die Ahnen oder lokale Gottheiten um Hilfe baten, so beten sie heute zum Gott der Weißen, daß er ihnen Reichtum und Fruchtbarkeit schen­ ke und sie vor den Nachstellungen ihrer Feinde rette.

cherheit entlastet hätten. Es gab keine Zentralgewalt, die zwischen

Die Kirchen haben sich den Bedürfnissen der Gläubigen zum Teil

verfeindeten Gruppen hätte schlichten können. Und all jene Personen,

angepaßt. In dem Heilerzentrum von Rev. Father Ede, einem der pro­

die für sich Macht reklamierten, besaßen eine recht zwiespältige Form

minentesten Vertreter der Charismatic Catholics, sind z.B. Pülverchen

von Autorität. Zauberer oder Schreinpriester waren mehr gefürchtet

gegen Hexen und böse Geister erhältlich. Priester empfehlen außer­

als geachtet, weil ihr Amt ihnen erlaubte, beides zu tun: zu heilen und

dem, sich durch Rosenkränze und heiliges Wasser gegen feindliche

zu töten. Ähnlich obskur war auch die Autorität der ,traditionellen'

Einflüsse zu wappnen, oder sie verwandeln Bibelsprüche in magische

Herrscher. In den meisten Regionen des Igbolands wurden Häuptlinge

Formeln, mit denen sich diverse Krankheiten heilen lassen. Nur die

erst durch die Kolonialmacht eingesetzt, so daß sie immer schon als

Pfingstkirchen, zum Teil auch die Methodisten und Presbyterianer,

willige Gehilfen der Staatsmacht galten. Aber auch in anderen Teilen

verschmähen alles, was an magische Praktiken gemahnt, und vertrau­

Nigerias, unter den Hausa und Yoruba, wo die Tradition religiöser und

en stattdessen ganz auf die Kraft des göttlichen Wortes. Einige charis­

weltlicher Herrscher weiter zurückreicht, sind all die Emire und Obas

matische Gruppen gehen sogar mit Gewalt gegen ,heidnische' Relikte

nur deshalb noch im Amt, weil sie mit den herrschenden Generälen

vor, indem sie in die Häuser von ,Götzendienern' eindringen, die Feti­

paktieren. Ihr Bündnis mit der neuen Oberschicht besiegeln sie da-

sche rauben und sie öffentlich verbrennen. Solche Gruppen werden je11 *

150

Unverdienter Reichtum- Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria

Johannes Harnischfeger

151

doch schnell verdächtigt, nur die Jujus ihrer Gegner zu vernichten,

Die Christian Association of Nigeria, in der die etablierten Kirchen

während sie ungestraft die eigenen magischen Praktiken weiterführen.

das Sagen haben, nahm die Vorfälle zum Anlaß, um Sanktionen gegen

Was sie in ihren Gottesdiensten treiben, wird also in den Kategorien

die sogenannten New Wave Churches zu fordern. CAN-Präsident Sun­

von Zauber und Gegenzauber wahrgenommen. Es heißt sogar, daß

day Mbang hatte schon bei früheren Gelegenheiten erklärt, daß die Re­

manche Prediger die Kraft des Heiligen Geistes benutzen, um ihre Wi­

gierung eingreifen müsse, um das Land von „junk churches" und

dersacher zu töten. Dem Wettstreit spiritueller Kräfte wird also kein

„pentecostal witchcraft" zu reinigen. Gerade charismatische Kirchen,

Ende gesetzt, und es kommt nicht zu jener moralischen Erneuerung,

die oft militant gegenüber Anhängern traditioneller Religionen auftre­

die charismatische Kirchen proklamieren. Viele der Traditionalisten

ten, scheinen mehr als andere in ,heidnische' Praktiken verstrickt zu

haben eher das Gefühl, daß sie sich nun auch vor christlichen Formen

sein. Sie verwerfen die Jujus und Amulette der ,Ungläubigen', scheuen

der Magie schützen müssen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht

aber nicht davor zurück, mit Hilfe von Heiligem Wasser oder geweih­

länger abwegig, daß auch Kirchenführer in den Verdacht geraten, bis

tem Olivenöl Wunderheilungen zu bewirken oder böse Geister auszu­

zum Äußersten zu gehen und Ritualmorde zu verüben.

treiben. Was auf den ersten Blick wie ein Paradox wirkt, läßt sich leicht erklären: Nur wer sich von der Wirksamkeit traditioneller Magie

Die beiden Menschenköpfe, die in der Overcomers Christian Mission

nicht länger bedroht fühlt, kann den Ritualen der Zauberer oder den

entdeckt wurden, waren nicht der einzige Fund, der das Mißtrauen ge­

Maskenumzügen der Geheimgesellschaften gelassen zuschauen. Doch

gen christliche Kirchen schürt. Während Pfarrer Ekewuba noch zu er­

die übergroße Mehrheit der Christen ist davon überzeugt, daß Hexen

klären versuchte, daß er die unheimlichen Objekte nur zu Demonstra­

oder Mami Wata Spirits sie jederzeit bedrohen können. Sie leben somit

tionszwecken in seiner Kirche aufbewahrt habe, kam es nicht weit ent­

in derselben Vorstellungswelt wie ihre ,heidnischen' Brüder und

fernt, in Onitsha, zu einem ähnlichen Skandal. In der Nacht des

Schwestern. Christen und Traditionalisten stimmen sogar darin über­

19.

November beobachteten Passanten, wie Mitglieder der Very Sabbath

ein, daß im Kampf gegen böse Geister oder Hexen traditionelle Feti­

Mission einen leblosen Körper aus dem Kirchengebäude zerrten. Doch

sche ebenso wirksam sein können wie geweihte Kerzen oder Psalm­

der junge Mann war nicht tot, sondern nur bewußtlos, so daß er später

sprüche.

seine Leidensgeschichte erzählen konnte. Er hatte sich an die Sab­ bath-Kirche gewandt, um von einer langwierigen Krankheit befreit zu

Da die Führer charismatischer Gemeinden Funktionen übernommen

werden, die trotz ärztlicher Behandlung nicht heilen mochte. Der Pfar­

haben, die sonst von Zauberern und Schreinpriestern erfüllt wurden,

rer der Kirche versprach ihm auch, eine Wunderheilung zu arrangie­

wird von ihnen erwartet, daß sie ihren Anhängern materiellen Wohl­

1000 Naira zahlen. Als man sich

stand und Schutz vor Zauberei verschaffen. Die Gläubigen lassen sich

nachts in der Mission versammelte, wurde dem Mann ein Getränk ein­

also von praktischen Interessen leiten, und deshalb sind sie schnell be­

ren, nur müsse der Patient zuvor

geflößt. Doch das Mittel entfaltete offenbar nicht die gewünschte Wir­

reit, die Konfession zu wechseln und sich neuen religiösen Führern an­

kung. Der junge Mann mußte sich erbrechen, und die Gemeindemit­

zuschließen. So wie sie früher zwischen verschiedenen Wunderheilern

glieder begannen, auf ihn einzuschlagen, bis er schließlich in ein Koma

oder Orakeln wählten, so wollen sie auch heute herausfinden, welcher

versank. Nach dem Vorfall, als sich Tausende von Menschen vor der

Priester oder Prophet seinen Klienten den besten Schutz gewähren

Kirche versammelten und einige schließlich in das Gebäude eindran­

kann. Da der Wunsch, von der Stärke des christlichen Gottes zu profi­

gen, bot sich ihnen ein seltsamer Anblick. Sie entdeckten Affen- und

tieren im Vordergrund steht, werden andere Aspekte der christlichen

Büffelschädel, einen getrockneten Geier, einen Topf mit Vogelfedern,

Lehre weitgehend ausgeblendet: Das Bild des Erlösers, der- ans Kreuz

verschiedenfarbige Kerzen (angeblich wie menschliche Körper ge­

geschlagen - sich selbst zum Opfer bringt, besitzt wenig Anziehungs­

formt) und schließlich Teile eines Skeletts. Die Polizei versicherte zwar

kraft, so daß es in der kirchlichen Symbolik kaum eine Rolle spielt.

später, daß sich keine menschlichen Körperteile darunter befunden

Wer einer Gemeinde beitritt und den Instruktionen des Priesters folgt,

hätten, doch der Anblick all dieser Objekte - so heißt es

wer betet und spendet, tut es in

machte die

der Absicht zu prosperieren,

nicht um

Menge rasend vor Angst. Nachdem die Polizisten abgezogen waren,

Leid und Opfer auf sich zu nehmen. Arm zu sein galt in der morali­

setzte sie das Gebäude in Brand und zerstörte gleich noch eine Reihe

schen Ordnung der Igbo oder Yoruba als ein Fluch, als ein Ausdruck

ähnlicher Kirchen: die Guiding Light of God Sabbath Mission, Faith

von Schwäche und Versagen. Demgegenüber war der Begriff ,Güte' (in

Restoration Assembly, Holy Christ Vi cto ry Field Ministry

der Igbo-Sprache mma) eng mit der Vorstellung von Reichtum, Ge­

1996).

(Tempo

5. 12.

sundheit und Schönheit verknüpft (Bastian

1993: 138). In den Augen

152

Unverdienter Reichtum- Über Hexerei und Ritualmorde in Nigeria

Johannes Harnischfeger

153

vieler Nigerianer ist es daher nichts Verwerfliches, wenn etwa evange­

Lebensformen. Erfolgreiche Geschäftsleute, die ihr Geld horten, um es

likale Christen den Segen Gottes erflehen, um ihren Traum vom Reich­

als Kapital zu reinvestieren, geraten nur deshalb in den Verdacht der

tum zu verwirklichen. Die Pfingstkirchen, mit ihrem Loblied auf den

Hexerei, weil sie sich aus der dörflichen Moralökonomie gelöst haben.

eigenen materiellen Erfolg, sprechen nur offen aus, was auch andere

In ihrer ,Gier' nach Reichtum setzen sie sich über die Ansprüche der

bewegt, wenn sie in katholischen oder anglikanischen Kirchen beten:

engsten Angehörigen hinweg und zerreißen damit die traditionellen

daß Gott sie reich machen und ihre Widersacher vernichten möge.

Beziehungen zu ihnen. Ihr luxuriöser Lebensstil weckt aber nicht nur

Im Unterschied zu den ,orthodoxen' Kirchen, vor allem den Anglika­ nern und Presbyterianern, erwarten charismatische Gruppen nicht, daß ihre Mitglieder die Angst vor Geistern oder anderen okkulten Mächten verdrängen. Indem sie das ,Böse' in Gestalt von Hexen, Zau­ berern oder Mami Wata Spirits vorstellen, schaffen sie die Möglichkeit, die überlieferten Vorstellungen ernst zu nehmen und sich an ihnen ab­ zuarbeiten. Sie können also, ohne durch theologische Dogmen und ad­ ministrative Anweisungen aus Rom oder Canterbury belastet zu sein, sehr viel freier und nuancierter die Auseinandersetzung mit der Ver­ gangenheit führen. Jene Sabbath-Kirchen, die T ierknochen oder Vo­ gelfedern in ihren Versammlungsräumen aufbewahren, offerieren da­ bei nur eine von vielen Möglichkeiten, den Glauben an Hexen und Dä­

Ressentiments, sondern auch den Wunsch, sie zu imitieren. Religiöse Gruppen, die gegen das lasterhafte Leben der neuen Elite zu Felde zie­ hen, bleiben daher meist in einem Zirkel von Mißgunst, Neid und Be­ wunderung befangen. Aus diesem Widerstreit wechselnder Gefühle weisen die Pfingstkirchen, mit ihrer protestantischen Wirtschafts­ ethik, einen möglichen Ausweg, indem sie eine Unterscheidung treffen zwischen satanischem Reichtum und einem Reichtum, auf dem der Se­ gen Gottes ruht. Den Gläubigen ist also gestattet, Geld zu akkumulie­ ren und die Forderungen ihrer armen Verwandten abzuweisen - aller­ dings nur im Austausch gegen einen strikten ethischen Kode, der alle Formen von Betrug und diabolischer Geldvermehrung ächtet (Mar­ shall 1993: 229 f.).

monen mit christlichen Elementen zu verbinden. Aus der christlichen Tradition wählen sie meist nur Elemente aus, die sich mit den Überlie­ ferungen ihrer lokalen religiösen Kulte verknüpfen lassen: also Speise­

Literaturve1·zeichnis

tabus und Tieropfer, Reinigungszeremonien und andere Rituale sym­ bolischer Abgrenzung, wie sie sich in Texten des Alten Testaments fin­ den (Kalu 1996: 300 f.). Am anderen Ende des charismatischen Spek­

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trums stößt man auf die Pfingstkirchen, die sich an amerikanische

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Vorbilder anlehnen, aber unabhängig von ausländischen Organisatio­

Akor,

nen gegründet wurden. Die meisten von ihnen sind in einem akademi­ schen Milieu entstanden und wenden sich an eine urbane Mittel­ schicht, die bemüht ist, westliche Lebensweisen zu kopieren. Ihre An­ hänger sind daher mehr als andere bereit, mit dem ,heidnischen' Erbe zu brechen. Magische Relikte wie Heiliges Wasser oder Rosenkränze, von denen viele charismatische Gruppen ausgiebig Gebrauch machen, gelten ihnen als suspekt. Die Obsession vieler Pfingstkirchen, sich durch Gebete und rituelles Fasten vor dämonischen Mächten zu schützen, erscheint europäischen Beobachtern oft befremdlich, ähnlich wie das religiöse Bekenntnis zu Reichtum und individuellem Erfolg: „the faith gospel of health and

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wealth" (Gifford 1994: 516). Doch was auf Außenstehende abstoßend wirken mag, läßt sich auch als ein Prozeß der Emanzipation verstehen, als ein Versuch, sich von dem gegenseitigen Mißtrauen zu befreien und den Kreislauf wechselseitiger Anschuldigungen zu durchbrechen. Wir haben gesehen, daß im Idiom von Hexerei nicht allein über die Vergan­ genheit verhandelt wird, sondern auch über die Legitimität moderner

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In Nigeria ist die Vorstellung weit verbreitet, daß sich nur durch Hexerei und Ritualmorde Reichtum erwerben läßt. Diese Annahme findet immer wieder Be­ stätigung durch sensationelle Pressemeldungen, die über die Opfer von Ritual­ morden berichten. In einer Provinzhauptstadt kam es Ende 1996 sogar zu einem ,Aufstand' gegen ein Syndikat von Geschäftsleuten, die mit Leichenteilen Han­ del trieben. Aus solchen episodischen Vorfällen läßt sich jedoch kaum erklären, warum - in der Phantasie der Menschen - der Wohlstand der neureichen Elite so häufig mit illegitimen Formen von Magie assoziiert ist. Und unklar bleibt auch, warum die Menschen glauben, daß vor allem enge Familienmitglieder als Opfer bevorzugt werden. Daß die Angst vor Hexerei, Gift- und Ritualmorden gerade in der Intimität der Familie gedeiht, hängt offenbar mit dem Verfall der Moralökonomie zusammen. Die Aufsteiger und Arrivierten, die im modernen

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Sektor der Gesellschaft zu Geld gekommen sind, sondern sich als eine eigene Kaste vom Rest der Bevölkerung ab, indem sie sich über die Ansprüche ihrer Angehörigen hinwegsetzen. So wie traditionelle Hexen verwandeln sie sich in asoziale Wesen, die - von Eigennutz getrieben - sich nicht lünger vom Elend ihrer Verwandten rühren lassen.

Summary In Nigeria the perception is widespread that wealth can be acquired only through witchcraft and ritual murder. This assumption is confirmed, time and again, by sensational press reports about victims of ritual murders. In one pro­ vincial capital, even an ,uprising' against a sy ndicate of businessmen trading in human body parts occured towards the end of 1996. Such episodic occurrances hardly explain, however, why in the imagination of people the wealth of the new rich elite is generally associated with heinous forms of magic. And it also remains unclear why people believe that particularly close family members are targeted as victims. That the fear of witchcraft, poisoning and ritual murder is finding fertile ground especially in the intimate environment of the family, is obviously related to the decline of the moral economy. Social climbers and the nouveau riche having accumulated their wealth in the modern sector of society start behaving like a class of their own. They detach themselves from the rest of the population by ignoring the legitimate claims of their families. Like tradi­ tioal witches they turn into asocial creatures who - driven by greed - are no langer moved by the misery of their relatives.

Johannes Harnischfeger University of Natal Private Box X 10 Dalbridge Republic of South Africa



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