Zur Einleitung Wo fester Grund aufhört, ist es leicht, sich zu verirren. Nicht zuletzt dieser Umstand mag Martin Heidegger dazu veranlasst haben, den Aufbau seiner Vorlesung über den »Satz vom Grund« wie einen philosophischen Wegweiser durch einen undurchdringlichen Wald zu gestalten. Dem Denker der Lichtungen, Feld- und Holzwege hat so eine Vorgehensweise sicher generell recht nahe gelegen und doch ist die topografische Metaphorik undurchdringlichen Dickichts, schummriger Lichtverhältnisse, vorsichtiger Annäherungen, Umwege und gewagter Sprünge von ihm selten so eindringlich wie in dieser Vorlesung inszeniert worden. Ein kurzes Zitat mag einen Eindruck geben von der Art und Weise, wie sehr Heidegger hier dramatisch zuspitzt und eine Technik verwendet, die man, wenn es sich bei dem Vorlesungstext um einen Roman oder einen Film handeln würde, als foreboding bezeichnen könnte. Unheilschwanger bereitet uns der Philosoph auf jenen Weg vor, der – entlang der Frage nach dem Grund – zunächst nicht in eine Lichtung, sondern immer tiefer in das Dickicht führt, dorthin, wo Orientierung sehr schwer fällt: »Der Satz vom Grunde ist es also, der sogleich ein seltsames Licht auf den Weg zum Grund wirft und uns zeigt, daß wir, wenn wir uns auf die Grundsätze und Prinzipien einlassen, in eine merkwürdig zwielichtige, um nicht zu sagen gefährliche Gegend gelangen.«1 Die Aufsätze dieses Bandes, die auf die gleichnamige Tagung »Ungründe. Perspektiven prekärer Fundierung« am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin zurückgehen, haben es sich zur Aufgabe gemacht, sich in diese »gefährliche Gegend« zu begeben. Dabei ist es jedoch wichtig zu betonen, dass es sich bei dem Begriff des Ungrundes keineswegs um ein terminologisches Glasperlenspiel der Philosophie, geschweige denn um eine reine Heidegger-Paraphrase handelt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich bei der »gefährlichen Gegend« um einen Aufenthaltsort handelt, der ziemlich genau der geistigen Situation unserer Zeit entspricht. Festen Grund gibt es nicht. Das ist der Befund des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen Erben wir sind. Dass in diesem Band vor allem Beiträge aus Philosophie und Bildtheorie versammelt sind, soll daher nicht den Eindruck erwecken, es ginge hier um Spezialprobleme dieser Disziplinen. Aber die Reflexion des Ungründigen hat hier ihren angestammten Platz.2 Man könnte das Thema auch ganz anders angehen und würde doch immer wieder auf ähnliche Denkfiguren stoßen. Stichworte wie
1 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Stuttgart, 2006, S. 28. 2 Vgl. etwa: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Philosophie und Begründung, Frankfurt am Main, 1987; Gottfried Boehm, Matteo Burioni (Hg.), Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, Paderborn, 2012; XXII. Deutscher Kongress für Philosophie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie e.V.: Welt der Gründe, September 2011.
»Risikogesellschaft«3 oder »Cultures of Fear«4 sind Varianten dieser grundständigen Atmosphäre absoluter Ungewissheit. So könnte man das Phänomen des Fundamentalismus (dessen Name ja unübersehbar auf das Problem des Grundes verweist) als Reaktion auf die transzendentale Obdachlosigkeit des 20. und 21. Jahrhunderts thematisieren, dessen Ausprägungen sich nicht nur auf Gewaltakte einzelner Gruppierungen beschränkt, sondern bis zur Kritik Papst Benedikts an Jacques Derridas angeblich ›gefährlichem‹ Relativismus reicht.5 Eine solche Dämonisierung des französischen Philosophen kann nur in einer Zeit funktionieren, in der Ungründigkeit so schmerzhaft empfunden wird, dass es eines Sündenbocks bedarf. Fundamentalismus ist ja, wie der Name sagt, ein krampfhaftes Festhalten an Grund und Begründung, das nur noch mit Gewalt gegen eine Welt zu verteidigen ist, in der solcherlei vermeintliche Sicherheit fraglich geworden ist. Die Unmöglichkeit festen Grundes ist paradoxerweise conditio sine qua non und zugleich einzige Konstante der Welt, in der wir leben. Und um die Ungründe, die diese Welt kennzeichnen, gedanklich zu vermessen, ließen sich Überlegungen aus Ethik und politischer Theorie ebenso miteinbeziehen wie mathematische und naturwissenschaftliche Fragestellungen. Es scheint fast, als könne die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte der Ungründe rekonstruiert werden. Eine weitere Arbeitshypothese ist aber, dass die Ungründigkeit unserer Begründungen nicht nur eine Negation letzterer ist; das Präfix Un- also nicht einfach nur einen Begriff in sein Gegenteil wendet, was der rein grammatischen Definition dieser Wortkonstruktion entspräche. Es reicht nicht, mit dem Begriff des Ungrundes einen Entzug festzustellen, die Schwierigkeit der Verobjektivierung oder die Unmöglichkeit eines ersten Prinzips. Den Anspruch einer Fundierung ganz außer Acht zu lassen in der Analyse des Seins und des Seienden, des Sichtbaren und des Sagbaren, das kann nicht der letzte Schluss sein. Denn auch, wenn nichts außerhalb der Reihe steht als letzter Grund, muss die Möglichkeit für Neues, für Veränderung und für Zerstörung, die Möglichkeit für Kritik gedacht werden können. Der Befund der Ungründigkeit impliziert deshalb nicht automatisch einen existenziell aufgeladenen Nihilismus, denn Ungründe sind auf je spezifische Weisen immer noch Gründe. Nur so ist erklärbar, dass das »Un-« eine solch beispiellose ideengeschichtliche Karriere machen konnte. Unheimliches, Unbewusstes, Unbestimmtes, Unbegriffliches oder Unverborgenes, um nur einige der wichtigsten Beispiele des 20. Jahrhunderts zu nennen, zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass das Negierte als Negiertes stets auf eine je spezifische Weise mitgeführt wird. Noch die Wahl des »Unworts des Jahres« zeigt ja nichts anderes als die als penetrant empfundene Omnipräsenz des jeweiligen Wortes.
3 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main, 1986. 4 Uli Linke, Danielle Smith (Hg.), Cultures of Fear: A Critical Reader, Chicago, 2009. 5 Joseph Ratzinger, »Auf der Suche nach dem Frieden: Gegen erkrankte Vernunft und mißbrauchte Religion«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Juni 2004, S. 39.
Dies gilt auch noch für jene Denkbewegungen neueren Datums, die im Namen einer objekt-orientierten Philosophie im Anschluss an Bruno Latour und Martin Heidegger oder des Spekulativen Realismus dem Kantschen »Korrelationismus« zugunsten der Restituierung einer vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen Seinsqualität der Dinge eine Generalabsage erteilen. Philosophen wie Quentin Meillassoux,6 Ray Brassier,7 Eugene Thacker8 oder Graham Harman9 entdecken im Kant’schen Projekt einen Schutzwall gegen eine Realität, die den Begründungssorgen des Menschen indifferent gegenübersteht. Die Welt ist, so die These, nicht immer schon in Bezug zu den Erkenntniskräften des Menschen zu denken, sondern steht Letzteren letztlich fremd und gleichgültig gegenüber. Die Idee von der Beobachterabhängigkeit der Wirklichkeit gilt hier als Ursünde neuzeitlicher Philosophie insbesondere im Anschluss an Kant; eine Ursünde, die noch bis zum Poststrukturalismus reiche. Der so (wieder-)entdeckte abyssus intellectualis10 ist nicht nur Abgrund, sondern eben auch ein Ungrund11, auf dem eine Philosophie basiert, die nicht mehr als »Amtssiegel für gesunden Menschenverstand« verstanden werden will oder ihre Aufgabe darin sieht, »archivarische Nüchternheit« zu praktizieren.12 Vielmehr gehe es darum, die Philosophie ihrer falschen Begründungsanmaßung zu entledigen und eine »philosophy of futility«13 zu ermöglichen: »Thought that stumbles over itself, at the edge of an abyss.«14 Gemeint ist eine Philosophie, welche das Scheitern des Denkens an sich selbst als integral für jede philosophische Bemühung betrachtet und nicht als vermeidbaren Fehler. Im Unbewussten etwa ist das Bewusstsein ja auch nicht einfach abwesend, sondern auf eine bestimmte Weise modifiziert mit-anwesend; ebenso ist das Unbewusste stets in das Bewusste verwoben und durchwirkt so das Bewusstsein. Witze, Versprecher, Träume sind Weisen des Sich-Zeigens dieser Verflochtenheit. Heidegger hat – und unter anderem deswegen ist er für diese Thematik so einschlägig – mit dem Begriff der a-letheia einen Prototyp dieser Denkfigur ins Zentrum seines Denkens gestellt und man könnte leicht die These untermauern, dass die kontinentale Philosophie nach Heidegger sich an diesem Problem stetig abgearbeitet hat, einem Problem, das nicht nur in Griechenland, sondern in Heideggers Fall sicher vor allem in Husserls Konzept der Appräsentation verwurzelt ist. Heideggers voraristotelischer Wahrheitsbegriff als Un-Verborgenheit, so seine Übersetzung, ist ja 6 Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit, Berlin, Zürich, 2008. 7 Ray Brassier, Nihil Unbound, Basingstoke, 2010. 8 Eugene Thacker, In the Dust of this Planet. Horror of Philosophy Vol. 1, Winchester (UK)/Washington (USA), 2011. 9 Graham Harman, Tool-being. Heidegger and the Metaphysics of Objects, Chicago, 2002. 10 Armen Avanessian, Björn Quiring (Hg.), Abyssus Intellectualis, Berlin, 2013. 11 Eugene Thacker zitiert explizit Jakob Böhmes Konzept des Ungrundes, vgl: Thacker, In the Dust, S. 139 ff. 12 Graham Harman, »Über den Horror der Phänomenologie: Lovecraft und Husserl«, in: Avanessian, Quiring, Abyssos, S. 83–106, hier S. 85. 13 Eugene Thacker, Starry Speculative Corpse. Horror of Philosophy Vol. 2, Winchester (UK)/Washington (USA), 2015, S. 15. 14 Ebd., S. 14.
eben nicht Offenbarung. Unverborgenheit ist ein Sich-Zeigen, dessen Offenbarsein sozusagen widerwillig ist, von Spuren des Vorgangs der Ent-Deckung noch stets gekennzeichnet bleibt, genauer, dessen Sein überhaupt nur in diesem Vorgang der Entdeckung besteht. Festzuhalten bleibt die Frage, ob es sich bei der Denkfigur des »Un-grundes«, die sich in den genannten Begriffen zeigt, vielleicht gerade deswegen nicht um eine einfache Negation handelt, weil es hier um eine Problematisierung der Unterscheidung von positiv und negativ selbst geht? Im Unverborgenen ist ja nicht einfach das zuvor Verborgene jetzt schlicht entborgen, sondern in seiner Verborgenheit offenbar. Diese Dynamik verweist auf ein Drittes jenseits von Präsenz und Absenz, weshalb eine rein negativitätstheoretische Analyse zu kurz greift. Hans-Jörg Rheinbergers Theorie des Experimentalsystems etwa kann als Versuch gelesen werden, das Prinzip des Ungrundes als Konstituens naturwissenschaftlicher Forschung auszuweisen. Bekanntlich wendet sich Rheinbergers Theorie des Experimentalsystems gegen die Ansicht, Experimente wären schlicht Überprüfungsverfahren zuvor aufgestellter Hypothesen. Vielmehr müsse ein Experimentalsystem so eingerichtet sein, dass es in die Lage versetzt, noch unbekannte Antworten auf Fragen geben zu können, die auch der Experimentator noch gar nicht zu stellen in der Lage ist, so eine der Formulierungen Rheinbergers in Experimentalsysteme und epistemische Dinge.15 In einem solchen Forschungssetting wechseln Begründung und Ergebnis, Ursache und Wirkung ständig die Rollen. Der Forschungsgegenstand, auf den sich ein Experiment bezieht, und das technisch-diskursive Setting, mit dem es beobachtet wird, stehen in einem reversiblen Begründungsverhältnis. Rheinbergers berühmte Unterscheidung von epistemischem Ding und technischer Be-dingung, also Forschungsgegenstand und Beobachtungssetting, ist daher rein funktional und keine ontologische Qualifikation. Gängige technische Werkzeuge können im Forschungsgang in Zusammenhänge geraten, die über ihre ursprüngliche Zwecksetzung hinausgehen und somit unversehens zu epistemischen Dingen werden. Umgekehrt können epistemische Dinge zu technischen Bedingungen für die Beobachtung und Konstitution anderer Forschungsgegenstände dienen. Dies alles ist keine Relativierung naturwissenschaftlicher Forschung, im Gegenteil: Vielmehr handelt es sich um die Begründung der experimentellen Forschung in der vollen Komplexität ihrer eigenen performativen Dynamik. Diese Dynamik selbst allerdings ist ungründig, d. h. der Grund wird fraglich, flexibel, dynamisch. Das Sich-Selbst-in-FrageStellen von Grund und Begründung kann somit als innerstes Prinzip des Experimentalsystems begriffen werden. Der Erfolg der Bildwissenschaft und avancierten Bildtheorie der letzten Jahrzehnte kann wiederum durchaus auch darauf zurückgeführt werden, dass hier in Gestalt der Figur/Grund-Dynamik die Ungründigkeit der aisthesis noch einmal prominent thematisch werden konnte, und zwar – und das ist die spezifisch neue
15 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt am Main, 2006, S. 25.
Wendung dieser Bildtheorie – nicht unter dem Vorzeichen poststrukturalistischer Absenzmetaphorik, sondern im Zeichen der Fülle der Potentialität. Nimmt man sich zum Beispiel Gottfried Boehms Begriff der ikonischen Unbestimmtheit16 vor, der ein wichtiger Bestandteil seines Konzepts der ikonischen Differenz ist, so wird man leicht erkennen, dass es sich für ihn um ein, wenn nicht vielleicht das Kernproblem der »Bilderfrage« handelt. Die von Boehm als Kennzeichen des Bildlichen attestierte »Logik der Intensität«17 ist als energetische Aufladung des Bildgrundes mit Potentialität zu verstehen: »Die Unbestimmtheit, die Husserl in der Abschattung des Gegenstandes identifiziert, wandert im Falle visueller Darstellungen von seiner Rückseite in den Grund der Darstellung selbst.«18 Man beachte, dass hier das Wesen des Bildlichen identifiziert wird mit seiner visuell gerade nicht-sichtbaren Potentialitätsfülle. Husserls Begriffe der Abschattung und Appräsentation betonen die Fülle dessen, was gerade nicht wahrgenommen werden kann, allerdings nicht in dessen schlichter Abwesenheit, sondern in einer spezifischen Verwobenheit ins Sichtbare selbst, die für Letztere konstitutiv ist. Zwar ist der Wahrnehmung immer nur ein winzig kleiner Ausschnitt der Welt zugänglich, aber die Welt ist in der Wahrnehmung trotzdem keine Pappkulisse. Ihre uns jeweils abgewandten Seiten bilden die Rahmung und den Grund der Wahrnehmung und sind deswegen ins Sichtbare verwoben, ohne selbst sichtbar zu sein. Für Husserl ist das Abgeschattete, Appräsente daher im »Kerngehalt der Wahrnehmung verbildlicht«19. In der »ikonischen Unbestimmtheit« Boehms zeigt sich der Grund des Bildes als »Träger von Energie« und diese Energie wiederum wird mit der Potentialität identifiziert, welche der Unbestimmtheit des Appräsentierten innewohnt. Der Ungrund kann so als ein Rest verstanden werden, der nach der Analyse eines Zusammenhangs zurückbleibt, wie ein von allen Bedingungen befreites Lächeln. Oder als eine Potentialität, die den Begriffen zu entgehen scheint, dann aber doch in ihnen wirksam ist – und es als Möglichkeit zur Veränderung auch bleibt. In jedem Fall hängt der Ungrund mit der Frage nach ihm zusammen: Er kommt der Reflexion nicht von außen zu. Aber es bedarf eines anderen Verständnisses von Reflexivität, als es ein feststellendes Denken, und sei es auch ein Denken der Negativität, liefern kann. Der Ungrund artikuliert sich nicht außerhalb eines Begründungsversuchs und er artikuliert sich auch nicht, ohne dass zugleich eine Erfahrung gemacht wird. Das kann eine Erfahrung der Grenzen der Erkenntnisfähigkeit sein, des Unvermögens, die begründende Kraft des Ungrundes selbst noch einmal zu begründen. Oder eine sinnliche Erfahrung der Verunsicherung, wie sie etwa Francis Bacons Bilder evozieren, wenn die Figur sich in Intensitäten auflöst und nichts als eine verzeitlichte, ungerichtete Bewegung im Bild zurückbleibt. Was ein 16 Gottfried Boehm, »Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes«, in: Ders., Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin, 2007, S. 199–213. 17 Ebd., S. 211. 18 Ebd., S. 210. 19 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Hamburg, 2009 (= Husserliana XVIII, hg. von Elmar Holenstein, Den Haag, 1975, und Husserliana XIX/2, hg. von Ursula Panzer, Den Haag, 1984), S. 589.
Ungrund sein kann, was er vermag, hängt von der Art und Weise ab, wie die Frage gestellt wird – und von wem und in welchem Feld. Er verändert dann aber auch den Fragenden selbst: Das ist die Logik der Sensation, die Gilles Deleuze in Bacons Bildern findet,20 anders gesagt, die Logik der Erfahrung des Ungrundes. In diesem Sinne ist die Frage nach dem Ungrund der Frage nach der Wahrheit verwandt: als eine Frage, die es erfordert, sich selbst infrage zu stellen, an die Grenzen des Eigenen zu gehen und von dort aus die Kehrtwende zu vollziehen – so wie Derrida die Grenze begreift, die der Tod den Möglichkeiten des Verstehens setzt.21 Die Frage nach dem Ungrund zu stellen bedeutet, eine Erfahrung mit dem eigenen Sein zu machen: sich mit all den Kategorien, die es erlauben, etwas als etwas zu klassifizieren und damit auch handelnd in der Welt zu sein, aufs Spiel zu setzen. »Wer sich auf derartige Experimente einlässt, riskiert in der Tat nicht so sehr die Wahrheit seiner eigenen Aussagen, als vielmehr die Art seines Existierens, und er vollzieht, auf dem Feld seiner subjektiven Geschichte, eine anthropologische Mutation, die auf ihre Art ebenso entscheidend ist, wie es einst die Befreiung der Hand für die Primaten im Stadium des aufrechten Gangs war, oder, für die Reptilien, die Umformung der vorderen Gliedmaßen, die sie in Vögel verwandelte.«22
Was sich dann als veränderlich erweist, ist nicht nur der Modus des Erkennens. Was sich als veränderlich erweist, lässt sich besser ontologisch fassen: Es ist das Sein selbst. Die Dinge wie auch das von Grund auf Eigene erscheinen dann nicht anders als sie sind – sie werden andere. Es ist erahnbar, dass es sich bei der skizzierten Denkfigur des Ungrundes um eine Fragenmaschine handelt, die durchaus in ›gefährliche Gegenden‹ führt, ›gefährlich‹ zumindest, so lange man sich der gravitas der Fragestellung vollkommen unterwirft. Es sei jedoch zumindest darauf hingewiesen, dass man es hier nicht nur mit Abgründen, sondern auch mit playgrounds zu tun hat. Ungründe entfesseln Kreativität und verweisen auf den Reichtum des Möglichen. Der Gang in den dunklen Wald mag bedrohlich wirken und gegebenenfalls auch gefährlich sein, aber besteht nicht gerade darin seine Verlockung? Zwar lauern Gefahren überall des Weges, aber es fehlt nicht an mehr oder weniger freundlichen Gesellen, die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen. In jenen Büchern etwa, die den Oxforder Mathematiker Charles Lutwidge Dodgson unter seinem Pseudonym Lewis Carroll berühmt gemacht haben, gibt es einen solchen Wegweiser. Und zwar in Gestalt einer Katze, die philosophische Ungründigkeit mit visueller Unbestimmtheit verbindet. Carroll, der nicht nur als Mathematiker und Schriftsteller tätig war, sondern auch das seinerzeit noch neue Medium der Fotografie meisterlich beherrschte, hatte das Talent, philosophische Probleme zu Bildern zu formen. Die Cheshire Cat, die mal hier, mal dort ist und sich in immer neuen Zwischenstufen der Sichtbarkeit zu 20 Gilles Deleuze, Logik der Sensation, München, 1995, S. 73. 21 Jacques Derrida: Aporien. Sterben – Auf die ›Grenzen der Wahrheit‹ gefaßt sein, München, 1998. 22 Giorgio Agamben, »Bartleby oder die Kontingenz«, in: Ders.: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, übers. v. Maria Zinfert u. Andreas Hiepko, Berlin: Merve, 1998, S. 7–75, hier S. 49 [leicht veränderte Übersetzung d. Verf.].
befinden scheint, bietet Alice Orientierung durch Verwirrung an. Und aufgrund dieser Gleichzeitigkeit von logischer Ungründigkeit und visueller Unbestimmtheit wirkt sie ebenso gefährlich wie faszinierend. So scheint auch Alice die Situation zu beurteilen, wenn es heißt: »The Cat only grinned when it saw Alice. It looked good – natured, she thought: still it had very long claws and a great many teeth, so she felt that it ought to be treated with respect.«23
23 Lewis Carroll, Alice in Wonderland, New York, 2012, S. 52.