Trient und die Kraft der Bilder. Überlegungen zur virtus der Gnadenbilder. In: Peter Walter/Günther Wassilowsky (Hgg.): Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur (1563-2013). Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Band 163. Münster 2016, S. 335-372

May 20, 2017 | Author: Philipp Zitzlsperger | Category: Art History, Tridentine Catholicism, Magic, Portraiture, Magical Realism, History of Art, Archaeology of Ritual and Magic, Renaissance magic and astrology, Altars, Altar, History of Art and archaeology, Theory and History of Art, History of Art and Architecture, History of Arts, History of art and design, Post-Tridentine Religious Theatre, Tridentine Rite, Art and Art History, Renaissance and Baroque altarpieces, Altarpieces, Altars and Wooden Sculpyure, Impetus, Istoria Del Concilio Tridentino, Religious and Magical Practices, Post Tridentine Period, Tridentine normative order, Tridentine Mass, Bildmagie, Ikone, Konzil von Trient, Gnadenbild, Bilderdekret, Bildverehrung, Anbetung, History of Art, Archaeology of Ritual and Magic, Renaissance magic and astrology, Altars, Altar, History of Art and archaeology, Theory and History of Art, History of Art and Architecture, History of Arts, History of art and design, Post-Tridentine Religious Theatre, Tridentine Rite, Art and Art History, Renaissance and Baroque altarpieces, Altarpieces, Altars and Wooden Sculpyure, Impetus, Istoria Del Concilio Tridentino, Religious and Magical Practices, Post Tridentine Period, Tridentine normative order, Tridentine Mass, Bildmagie, Ikone, Konzil von Trient, Gnadenbild, Bilderdekret, Bildverehrung, Anbetung
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Philipp Zitzlsperger

Trient und die Kraft der Bilder Überlegungen zur virtus der Gnadenbilder Im Zuge der Mechanisierung des Weltbildes in der Frühen Neuzeit gerieten Kraft und Bewegung zu den zentralen Themen der wissenschaftlichen Debatten. Antagonisten aus den Disziplinen der Philosophie bzw. der Mathematik oder des Neuplatonismus bzw. des Aristotelismus waren sich in einem weitgehend einig, nämlich dass Kräfte zwischen Dingen ausgetauscht werden können und dadurch Bewegung verursachen.1 ‚Grosso modo‘ prägten zwei Prinzipien die zunehmend mechanische Naturgesetzlichkeit, die in der Zeit des Trienter Konzils in der Philosophie, der Königsdisziplin der Wissenschaften, und der Mathematik zu den Grundlagen zählten: (1) Bewegung von Körpern ist gekennzeichnet durch Ortsveränderung und (2) Bewegung ist die qualitative Veränderung von Körpern.2 Die Ambivalenz des Bewegungsbegriffs geht bis auf Aristoteles zurück. Mit Bewegung meint er alle Veränderungen von Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen, die von ihrem möglichen zu ihrem wirklichen Sein durch eine äußere Einwirkung kommen. Aristoteles definierte vier Arten der Bewegung: Ortsbewegung, Veränderung, Schwinden und Wachstum.3 Sie bezeichnen den Wandel, in dem sich die Verwirklichung des Zwecks vollzieht. Dieses Grundgesetz der Bewegungslehre ist – so die These des vorliegenden Beitrags – auch grundlegend für das Verständnis von der Wirkmacht der Bilder insbesondere im 16. Jahrhundert. Denn Spätmittelalter und Frühneuzeit verstanden den 1

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Vgl. Eduard J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin 1956, 296. Zu den wissenschaftlichen Debatten und Weichenstellungen um 1600 ist der Forschungsstand kaum zu überblicken. Für die Stellung der Kirche innerhalb der Disputationen vgl. exemplarisch Ann Blair, Mosaic Physics and the Search for a Pious Natural Philosophy in the Late Renaissance, in: Isis 91 (2000), 32–58. Vgl. hierzu den konzisen Überblick zur Qualitätsdebatte und zum Intensitätsproblem seit dem 13. Jahrhundert bei Dijksterhuis (wie Anm. 1), 209–225. Zu den Qualitäten im Mechanikdiskurs siehe auch Ulrich G. Leinsle, Dilingane Disputationes. Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555–1648, Regensburg 2006, 310–323. Vgl. Aristoteles, Über die Seele, 1. Buch, 3. Kapitel, 406a. Zur Herleitung des Bewegungsbegriffs vgl. Aristoteles, Physik , 3. Buch, 1. Kapitel, 201b 11.

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Bewegungsvorgang im Sinne der aristotelischen Veränderung als Wirkung, deren Ursache die Kraftübertragung ist. Vis oder virtus sind in dieser Zeit bis hin zu Newton und Leibniz jene Schlüsselbegriffe, die mechanische und qualitative Veränderungen bewirken. Kräfte sind zwar unsichtbar, doch vom Okkultismus ist die Lehre von der Übertragungskausalität der Kraft seit Aristoteles deshalb weit entfernt, weil sie gerade nicht durch Fernwirkung (Magie, Sympathie) zustande kommt, sondern durch Kontakt.4 Am Ende derartiger Übertragungswege steht der Körper, dem mechanische und/oder qualitative Kraft eingedrückt (vis impressa) wurde. Kräfte sind somit auch den Artefakten, insbesondere den Bildern, inhärent, sofern diese durch Künstler, Legenden oder Wunder entstanden sind. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, deren Übertragungswege und Qualitäten zu ermitteln. Das Bilderdekret von 1563 ist mit dem wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit in Verbindung zu bringen, denn den Bildern wurde in Trient jede Form der virtus abgesprochen – eine Entscheidung, die es zwingend erscheinen lässt, der Begriffsgeschichte der virtus nachzugehen. Denn die Kraft der Bilder sollte in Trient per Dekret abgeschafft werden, ausgerechnet in einer Zeit, als sich die Wissenschaften den Wirkkräften und ihren Ursachen in allen Disziplinen zuwandten und wichtige Entdeckungen machten. In den Naturwissenschaften verlagerte sich der Kraftbegriff von einer qualitativen Größe hin zu einer quantitativen, weshalb die Mathematik an Bedeutung gewann. An die Stelle des bewegenden Seelenbegriffs trat der mathematische Kraftbegriff. Kraft und Seele, die vor Kepler noch zusammen gedacht wurden, erschienen in den Wissenschaften nach 1600 als zwei verschiedene Entitäten.5 Dennoch ist auch zu beobachten, dass virtus als qualitative Kraft in der vormodernen Denkweise außerhalb der reinen Mechanik, die den heutigen Blick auf die Wissenschaftsgeschichte um 1600 verengt, weiterhin die Ideengeschichte prägte, etwa bei der Einschätzung des Kapitals, aber eben auch – wie herauszustellen sein wird – bei der Wertschätzung der Kraft von Gnadenbildern. Denn in der Wissenschaftsgeschichte verdient die Tatsache Aufmerksamkeit, dass die Philosophie immer noch die Lufthoheit zu beanspruchen in der Lage war. Der Vormarsch eines quantitativen Weltbildes, wie es heute selbstverständlich erscheint, verlief nicht störungsfrei und befand sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts am Scheideweg, wie die Causa Galilei zeigt.6 Es ist deshalb im Folgenden der Stellenwert 4 5 6

Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, 4 (1976), 1177. Vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 3. Aufl. Berlin 1922, Bd. 1, 355. Wissenschaftsgeschichtlich sehr erhellend ist der Antagonismus und die daraus entstehende Inkommensurabilität der Philosophen und Mathematiker im Wissen-

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der Trienter Entscheidung im Umgang mit Bildern und dem virtus-Begriff zu prüfen, der durch die wissenschaftsgeschichtliche Brille gesehen in den Disziplinen der Philosophie, Theologie oder Mathematik unterschiedlich ausfallen konnte, jedoch auch einen gemeinsamen Nenner offenbart. Es handelt sich bei dieser Fragestellung um ein Forschungsdesiderat der Bildwissenschaft, das hier nicht erschöpfend behandelt werden kann. Eines aber ist jetzt schon mit Gewissheit zu sagen: Die Abschaffung der Bild-virtus durch Trient stand im Widerspruch zum damaligen Verständnis von Kraftübertragung. Für Trient wäre es ein Leichtes gewesen, das wunderwirksame Gnadenbild sowohl bildtheologisch als auch naturwissenschaftlich und -philosophisch zu begründen. Mit dem Bilderdekret tat man jedoch das Gegenteil. Der Widerspruch führte schließlich zur posttridentinischen Bildpraxis und der Hochkonjunktur des Gnadenbildes. Bis heute ist aber ungeklärt, welchen wissenschaftlichen Stellenwert die Kraft der Bilder einnehmen konnte. Trient und seine Bildtheologen leugneten die virtus der Bilder. Dass sie sich am Ende aber dennoch im Wallfahrtswesen in Form des Gnadenbildes durchsetzte, ist nicht allein der Volksfrömmigkeit zu verdanken, sondern auch einem naturgesetzlichen Verständnis der Übertragungskausalität.

1. Trient und das Gnadenbild Auf die Frage, ob die Heiligenporträts wunderwirkende Kräfte freisetzen, ob sie Heilsrelevanz beanspruchen dürfen, hat das Konzil von Trient eindeutig geantwortet. Am 3. Dezember 1563 wurde in letzter Minute ein Dekret verabschiedet, das den Bildgebrauch in Kirchen erlaubte und zugleich einschränkte. Danach ist die Verehrung von Bildern im Kirchenraum erlaubt. Sie hat aber nicht dem Bild selbst, sondern dessen dargestelltem Gegenstand zu gelten. Im Wesentlichen beharrte man auf den Beschlüssen des zweiten Konzils von Nicäa (787), auf dem die Verehrungswürdigkeit der Bilder bereits festgelegt worden war. Doch eine gravierende Abweichung von Nicäa leistete sich Trient, da es den Bildern jede Form der divinitas und der virtus entzog. Bilder sind weder heilig, noch besitzen sie eine Kraft, die Wunder wirken könnte.7 In diesem

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schaftsdiskurs Galileis bei Mario Biagioli, Galilei, der Höfling. Entdeckungen und Etikette: Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft (engl. Originalausgabe 1993), aus dem Engl. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1999, hier v. a. 174–265. Vgl. Hubert Jedin, Entstehung und Tragweite des Trienter Dekrets über die Bilderverehrung, in: Theologische Quartalschrift 116 (1935), 143–188.404–429, 183f. Das Bilderdekret ist vollständig transkribiert und übersetzt bei Christian Hecht, Katholische Bildtheologie der Frühen Neuzeit. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 2012, 501–504. Zum ent-

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Punkt wuchs das Bilderdekret über die Definition der Bilderverehrung Nicäas entscheidend hinaus, denn Nicäa attestierte der Heiligendarstellung immer noch eine Wesensähnlichkeit.8 Es gab drei Aggregatszustände des Heiligenbildes: die Wesensgleichheit, die Wesensähnlichkeit und die Ähnlichkeit. Pagane Götterstatuen waren wesensgleich und wurden angebetet. Nach Nicäa waren Heiligendarstellungen wesensähnlich und daher vom Heiligen und seiner Kraft erfüllt. Die Realpräsenz des Dargestellten in der Darstellung wurde aber ausgeschlossen, denn das Heiligenbild war eine Teilnahme an und Gemeinschaft mit dem Urbild nicht gemäß der Substanz, sondern durch Gnade und Wirksamkeit.9 Der platonische Ansatz machte es möglich, dass die Verehrung des Heiligenbildes auf den Heiligen überging und sein Porträt an dessen Heiligkeit Anteil hatte.10 Trient nun schloss die Wesensähnlichkeit aus, sprach nur noch von Ähnlichkeit (similitudine). Aus dieser Perspektive waren bei Bildwundern nicht die Bilder selbst wirksam, sondern die Wunder geschahen als göttlicher Machterweis direkt am Gläubigen oder außen am Bild.11 Die Reformatoren sahen darin dennoch ein katholisches Scheinargument. Bereits im Vorfeld von Trient hatte etwa Zwingli den Finger in die Wunde gelegt, indem er beklagte, dass die Gläubigen dazu neigten, das Heiligenporträt mit dem Dargestellten zu verwechseln, was durch die Benennung als „Gnadenbild“ gefördert werde.12 Zwingli versuchte in seinen Streitschriften jede Art von ontologischer Zeichentheorie zu widerlegen. Sowohl für die Eucharistie als auch für das (Heiligen-)Porträt unterstellte er den Altgläubigen, dass sie Zeichen und Bezeichnetes miteinander gleichsetzen. Er verwies auf den altgläubigen Pfarrer Martin Steinlin aus Schaffhausen, der die Transsubstantiation mit dem Porträt

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scheidenden Passus vgl. ebd., 502: „non quod credatur inesse aliqua in iis divinitas vel virtus, propter quam sint colendae“. Grundsätzlich über das Bilddekret von Nicäa vgl. Hans Georg Thümmel, Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9. Jahrhundert. Das 7. ökumenische Konzil in Nicäa 787, Paderborn 2005; David Ganz/Georg Henkel, Kritik und Modernisierung. Der katholische Bilderkult des konfessionellen Zeitalters, in: Reinhard Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie. Bd. 1: Bildkonflikte, Paderborn 2007, 262– 285, hier 270. Vgl. Jedin (wie Anm. 7), 422f.; Thomas Lentes, Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Hgg.), Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000, 23f.; Georg Henkel, Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocken Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts, Weimar 2004, 23. Vgl. Hans Belting, Bild und Kult, München 1990, 174. Vgl. Henkel (wie Anm. 9), 48; Ganz/Henkel (wie Anm. 8), 270. Vgl. Lentes (wie Anm. 9), 29.

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begründete, denn darin sei der Dargestellte anwesend, weil die Namensunterschrift des Bildnisses garantiere, dass der Dargestellte „realiter da ist“.13 Die Kritik Zwinglis war kein Einzelfall und führte schließlich zum Trienter Beschluss, den Heiligenbildern divinitas und virtus abzusprechen. Seit den Studien Hubert Jedins (1935) ist bekannt, dass das Trienter Bilderdekret unter besonderem Druck der Franzosen verfasst wurde, die im eigenen Land einen Kompromissfrieden mit den Calvinisten anstrebten, zu dem auch das Bekenntnis zu virtus-freien Sakralbildern gehören sollte.14 Vor diesem Hintergrund ist das Trienter Verbot des Gnadenbildes weniger eine Überzeugungstat der Altgläubigen als vielmehr ein Beitrag zum Religionsfrieden in Frankreich. Die theoretische und kulturelle Bedeutung der Heiligenbilder für die katholische Kirche vermag das Bilderdekret nicht zu spiegeln, zumal es am Ende keine Durchsetzungskraft erfuhr. Die bald nach 1563 einsetzende Hochkonjunktur des Gnadenbildes ist bereits angesprochen worden. Daran konnten auch die bildtheologischen Auslassungen etwa von Johannes Molanus (1570) oder Gabriele Paleotti (1582), die das virtus-Verbot befürworteten, nichts ändern.15 Weniger bekannt dürfte sein, dass es bereits unmittelbar nach Trient zu einiger Konfusion innerhalb der katholischen Kirche kam, denn während die Kirchenprovinzen durchaus bereit waren, das Bilderdekret umzusetzen, kamen aus der Zentrale in Rom Signale der Toleranz und Gnadenbildfreundlichkeit. Inkriminierter Bildmissbrauch in den Provinzen und Roms liberale Einstellung dazu gaben manchem Kirchenfürsten nicht so wenig Anlass zur Sorge, wie bisweilen behauptet wird.16 Mit Einrichtung der Konzilskongregation in Rom zur Steuerung der Durchsetzung der Dekrete 1564 wurde rasch deutlich, dass Verstöße gegen das Bilderdekret, also Bildmissbrauch, in den Provinzen zur Tagesordnung zählten. Die Kongregation nahm entsprechende Meldungen sehr ernst, blieb jedoch in der Haltung überraschend offen und geduldig. Kopfzerbrechen bereiteten der Konzilskongregation anscheinend weniger die Verstöße gegen das Dekret als vielmehr die Unangemessenheit des Bilderdekrets, des virtusVerbots. Denn jede Meldung aus den Provinzen über mirakulöse Bilder wurde in Rom aufmerksam geprüft und teilweise über Jahre hinweg be13

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Dem Reformator Martin Chemnitz schrieb er: „Die Katholiken sagen nicht ausdrücklich, die Bilder seien zu ehren und anzubeten. Sie gestehen auch nicht ein, dass Hoffnung und Vertrauen auf die Bilder zu setzen sei. Doch wie sie dies verstehen, das zeigen sie verdeckter Weise an durch die Ähnlichkeit und Beziehung zwischen dem Bild und seinem Prototyp.“ Zum originalen Wortlaut vgl. Hecht (wie Anm. 7), 91 und Anm. 136. Vgl. Jedin (wie Anm. 7); Hecht (wie Anm. 7), 17–20. Grundlegend hierzu Hecht (wie Anm. 7). Vgl. ebd., 155–162.

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arbeitet, eben weil man einsehen musste, dass die konkreten Fälle tatsächlich deviant waren, doch wurden sie nicht mit einem Gnadenbildverbot belegt. Vielmehr spielte Rom auf Zeit und versuchte nicht nur, Missbrauch zu dulden, sondern ihn durch amtliche Prüfungen sogar zu legitimieren. Dies zumindest geht aus den kürzlich erstmals gesichteten bildrelevanten Quellen der Konzilskongregation hervor, die belegen, dass zum einen aus den Provinzen immer wieder Anfragen der Bischöfe zur Bild­ praxis bei der Konzilskongregation eingingen und diese dann zum anderen in Rom aufmerksam registriert und bearbeitet wurden. So schreibt etwa der Bischof von Fondi (bei Terracina), dass die Gläubigen in seinem Ort immer noch ausgesprochen hässliche Heiligenskulpturen aus Holz bei Prozessionen mitführten, von denen eine sogar wie eine Schwarze („una nigra“) aussehe. Alle Figuren seien verschieden bekleidet und führten zu unmittelbarer Anbetung. Er fragt schließlich, ob dies erlaubt sei und was er tun solle.17 Eine Replik der Kongregation ist hierzu bislang noch nicht aufgetaucht. An anderer Stelle jedoch wird auf eine Anfrage aus Perugia reagiert (1569), denn die Kongregation lässt ausrichten, man habe über den Fall des angeblich wunderwirksamen Bildes aus dem Franziskanerinnenkloster S. Angelo in zwei Prozessen beraten und auch den teuren Rat des Papstes eingeholt. Dem Bischof von Perugia wird schließlich geraten, den Aberglauben („superstizione“) nicht zu unterbinden und zu warten, bis die Affäre im Sande verläuft.18 Der Bischof als Absender ließ sogar eine Zeichnung der örtlichen Gegebenheiten anfertigen,19 auf der ein Tordurchgang zum Weinberg und an dessen rechter Innenwand ein Kreuzigungsbild zu sehen ist. Diesem, so der Bischof, werden Wunder nachgesagt („a credere, che quella imagine facesse miracoli“),20 die er für besorgniserregend hält. In den folgenden Akten werden dann Zeugenaussagen von Klosterschwestern gesammelt, deren Gesundheit durch das Bild wiederhergestellt worden sei. Die Krankheiten und Leiden der Betroffenen werden detailliert beschrieben. Alle seien beim Anblick der besagten Kreuzigung geheilt worden. 17 18

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Vgl. S. Congr. Concilii, Positiones 209, Sess. 25: De Invocatione, veneratione et Reliquiis Sanctorum, et Sacris Imaginibus, fol. 49r. „[E]t cosi vi ha comesso che lo scrisse a S.S.Ill.ma che lei permetta, che si continui in lassare raffreddare cosi la cosa, accio che cosi a poco a poco vadi estinguendosi, et il populo se retiri dalla superstizione.“ Vgl. ebd., fol. 51r. Vgl. ebd., fol. 79v–80r. „[C]io è che quell Popolo cosi come fù corrino a credere, che quella imagine facesse miracoli e cosi è stato facile a retirarsi in pochi vi capitavano […], et per tanto S.S.ta è venuta in questo parere, et cosi vi ha comesso che lo scrisse a S.S.Ill.ma che lei permetta, che si continui in lassare raffreddare cosi la cosa, accio che cosi a poco a poco vadi estinguendosi, et il populo se retiri dalla superstizione.“ Ebd., fol. 51r.

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Erhellend ist an diesem Fall, dass die Expertise aus Rom nicht lautet, der ganze Bildzauber sei zu verbieten. Im Gegenteil: Die Bildwunderwirksamkeit wird grundsätzlich für möglich gehalten. Deshalb schickte die Konzilskongregation umgehend einen Bildexperten, der sich vor Ort kundig machen und „interrogationi“ der Schwestern vornehmen sollte. Die Wahrheit der Bildwunder musste geprüft werden. Am 8. Juni 1569 berichtet der Gesandte aus Perugia, dass er das Bild genauer in Augenschein genommen und sich zusammen mit den Andächtigen vor die Kreuzigungsdarstellung gekniet habe, als plötzlich einer aus der Menge gerufen habe, dass ein Wunder geschehe, denn eine der dargestellten Figuren im Bild habe die Augen geöffnet. Daraufhin sei er, der Gesandte, ganz nah an das Bild herangegangen („anda[v]i la vicino vicino“), doch habe er an der betreffenden Figur keine geöffneten Augen entdecken können.21 Das Peruginer Gnadenbild hat die Konzilskongregation noch mindestens zwei Jahre in Atem gehalten. Immer wieder wurden Prüfungen vorgenommen, Zeugen vernommen und Expertisen verfasst. Kongregationssitzungen hatten den Fall regelmäßig auf der Agenda. Aufschlussreich ist der eklatante Widerspruch zum Trienter Bilderdekret, nach dem sich jede weitere Prüfung des Wahrheitsgehaltes der Wunderwirksamkeit des Kreuzigungsbildes erübrigt hätte, denn mit Trient waren Gnadenbilder wie gesagt eigentlich abgeschafft. Die liberale Einstellung ausgerechnet der Konzilskongregation, wie sie sich nach einer ersten Sichtung der Akten aus den 1560er bis 1580er Jahren darstellt, dürfte der Grundstein gewesen sein für die Karriere des Gnadenbildes im Barockzeitalter. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, wenn sich Anfang des 17. Jahrhunderts selbst das Kunstbild, das in einer Kunstsammlung hing und nicht als Gnadenbild fungierte, in ein Kultbild verwandeln konnte, wie ein berühmtes Beispiel aus Passau zeigt: Der Fürstbischof von Passau, Erzherzog Leopold V., durfte sich während seines Besuchs in Dresden 1611 als Gastgeschenk ein Gemälde aus der kurfürstlichen Kunstsammlung aussuchen. Die Wahl fiel auf das heute noch erhaltene Madonnenbild mit Christuskind, das Lucas Cranach nach 1537 gemalt hat (Abb. 1). 21

„[A]lli giorni passati andando io a vedere quella immagine di Crocifisso pinto sop. la porta della vigna di Baldassare Cinquino m’incontrai quando qua si da tutti quelli che erano presenti si gridava misericordia dicendo loro di vedere aprire gli occhi a quella figura et levatomi di ginochione andai la vicino vicino et non vedendo questo aprire gl’occhi dimandai alla maggior parte di quelle persone che erano presente se l’havevano veduto et nessuno in particolare mi rispondeva che si.“ Ebd., fol. 156r.

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Abbildung 1: Lucas Cranach: Mariahilf, Innsbruck, nach 1537, veröffentlicht in: David Ganz/Georg Henkel, Kritik und Modernisierung. Der katholische Bilderkult des konfessionellen Zeitalters, in: Reinhard Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie. Bd. 1: Bildkonflikte, Paderborn 2007, 262–285, hier 267.

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In Passau wurde es vorerst in der fürstbischöflichen Hofkapelle untergebracht. Das Gemälde fand die Zuneigung des Passauer Domdekans Marquard Freiherrn von Schwendi. Er ließ sich eine Kopie anfertigen, die umgehend Visionen und Wunder generierte. Zahlreiche Mirakelberichte bezeugten die Wirksamkeit des Gnadenbildes, das bald den Rufnamen „Mariahilf“ annahm und wachsende Massen von Wallfahrern mobilisierte.22 Die Ähnlichkeit von Original und Kopie ist sehr groß. Das Original ist von einer für Cranach ungewöhnlichen Anmut. Maria erscheint in einem grellroten Gewand, neigt ihren Kopf dem nackten Kind zu und blickt mit ihren mandelförmigen Augen und einem Hauch lächelnder Melancholie den Betrachter an, während der Christusknabe auf dem Oberschenkel der Madonna in verspielter Schrittstellung steht und mit seinen Händen neugierig am Kinn seiner Mutter nestelt. Hinzu kommt am Cranach-Original ein feiner Schleier, der über den Kopf Marias und des Kindes wie ein Hauch nach links unten geführt ist. Das ist der markante Unterschied zur Kopie, auf der Maria zwar auch einen diaphanen Schleier trägt, unter dem jedoch das Kind nicht mit eingebunden ist. Ansonsten sind sich beide Bilder im Darstellungsmodus sehr ähnlich, mit einigen stilistischen Unterschieden, die an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Während also die Cranach-Kopie zum Zentrum der Wallfahrt wurde, befand sich das Cranach-Original noch in Privatbesitz. Doch die Erfolge des Passauer Gnadenbildes weckten nun auch Begehrlichkeiten bei den Eigentümern des Cranach-Originals. Dieses war seit 1619 in der Residenz von Innsbruck untergebracht. Erst 1650 wurde das Cranach-Original der Innsbrucker Jakobskirche, dem heutigen Dom, geschenkt und damit öffentlich gemacht. Und dort gründete sich rasch eine Mariahilf-Bruderschaft, die sich erfolgreich darum bemühte, das Cranach-Original als Gnadenbild zu bewerben. Ganz nach dem Vorbild der Passauer Wallfahrtsstätte wurden Kupferstiche des ‚neuen‘ Gnadenbildes angefertigt, die deutlich auf die Unterschiede zum Passauer Pendant aufmerksam machen (Abb. 2 u. 3).

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Auf dem Mariahilf-Berg wurde eine große Kirche gebaut (1627). Zum Sieg gegen die Türken vor Wien 1683 unter dem Schlachtruf „Mariahilf“, zu den Hilfsgebeten des Kaisers in Passau vor dem Gnadenbild und den geschichtlichen Zusammenhängen vgl. Eckhard Leuschner, Das Gnadenbild zwischen Ästhetik und Bildtheologie. Zur frühen grafischen Reproduktion der Madonna von Mariahilf, in: Reproduktion, hg. v. Jörg Probst, Berlin 2011, 15–33, hier 16–26.

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Abbildung 2: Melchior Küsel, Kupferstich nach Cranachs Innsbrucker Mariahilf (undatiert). Veröffentlicht in: Eckhard Leuschner, Das Gnadenbild zwischen Ästhetik und Bildtheologie. Zur frühen grafischen Reproduktion der Madonna von Mariahilf, in: Reproduktion, hg. v. Jörg Probst, Berlin 2011, 15–33, hier 20.

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Abbildung 3: Melchior Küsel, Kupferstich nach Passauer Mariahilf (undatiert). Veröffentlicht in: Eckhard Leuschner, Das Gnadenbild zwischen Ästhetik und Bildtheologie. Zur frühen grafischen Reproduktion der Madonna von Mariahilf, in: Reproduktion, hg. v. Jörg Probst, Berlin 2011, 15–33, hier 21.

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Zum einen ist nun der Schleier über das Christushaupt gelegt, und vor allem weist im Unterrand die Inschrift darauf hin, dass es sich hier nicht um das Passauer Exemplar, sondern um das Innsbrucker Original handelt: „Vera effigies originalis“. Lange Zeit ist dem posttridentinischen Bilderkult volksfrömmige Devianz oder anachronistische Rückgewandtheit zugesprochen worden.23 Die Überzeugung, dass der Bilderkult seit Trient Folge der „Wundersüchtigkeit des Volkes“ sei,24 ein devianter Irrweg auf der breiten Straße in eine aufgeklärte Moderne, hält sich tendenziell bis heute. So gesehen ist das Trienter Bilderdekret als nachweisliche Reaktion auf die bereits erwähnte calvinistische Bilderfeindlichkeit in Frankreich ein Modernisierungsschub, die Blüte der katholischen Gnadenbilder ein Rückfall in die Idolatrie. Dass das Modernisierungsschema in diesem Fall jedoch mit den falschen Vorzeichen arbeitet, ist bereits erkannt worden, als jüngst der Versuch unternommen wurde, den posttridentinischen Bilderkult mit der Konfessionalisierungsthese in kausalen Zusammenhang zu bringen.25 Daran anschließend ist nun ein anderer Argumentationsstrang aufzutun, der – wie eingangs bereits angedeutet – möglicherweise dazu in der Lage ist, zu zeigen, dass die bildtheologische Kritik am Bilderkult nach Trient einen zeichentheoretischen Anachronismus darstellt, der einer wissenschaftlichen Weiterentwicklung der aristotelischen Bewegungslehre nicht standhalten konnte. Die Vermutung liegt nahe, dass die sakramentale Relevanz der Heiligenbilder trotz Trienter Bilderdekret nie außer Kraft gesetzt und im Gegenteil von Anfang an von der Konzilskongregation sogar befördert wurde, weil sie gewissermaßen ein Naturgesetz war. Der Schlüsselsatz in David Freedbergs epochalem Werk „The Power of images“ (1989) geht noch – ganz dem Modernisierungsschema verpflichtet – von frühneuzeitlichen Bildtheorien jenseits der Naturgesetze aus, wenn er versucht, die Wirkmacht der Bilder der Vormoderne zu begründen: „We cannot understand the extraordinary potentiality of painting in terms of natural law. Its operativeness can only be constructed in mystical terms, or in terms of categories that pertain to the supernatural.“26 Im Gegensatz dazu ist nun der Versuch zu unternehmen, die fortschreitende Entwicklung eines mechanisierten Weltbildes des 16.–18. Jahrhunderts in Augenschein zu nehmen und vor diesem Hintergrund den virtus-Begriff als einen Schlüsselbe23 24 25 26

Zur Auseinandersetzung stellvertretend mit den Thesen Werner Hofmanns, Hans Beltings und Victor Stoichitas und ihren Folgen vgl. Ganz/Henkel (wie Anm. 8), 263. Werner Weisbach, Der Barock als Kunst der Gegenreformation, Berlin 1921, 37. Vgl. Ganz/Henkel (wie Anm. 8). David Freedberg, The Power of images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1989, 49.

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griff zu verstehen, der zum einen im Trienter Bilderdekret tabuisiert, zum anderen aber im Weltbild der Zeit als grundlegender Faktor aristotelischer Bewegung und darüber hinaus im Sinne der Lehre von Kraftübertragung verstanden wurde.

2. Virtus und Impetus Es ist nicht einfach, die semantische Bedeutung des frühneuzeitlichen Kraftbegriffs geschichtlich zu konkretisieren. Das liegt daran, dass jedwede Kraft lediglich als Wirkung erkennbar ist. Die Kraft als Ursache jedoch bleibt unsichtbar. Bis zu Newtons mathematischer Erklärung der Bewegungskraft als Beschleunigung waren mechanische Kräfte nicht quantifizierbar.27 Das galt auch für qualitative Kräfte. Umso wichtiger war es seit der Antike, das Kausalitätsprinzip der Kraft zu beschreiben, um das Wesen der virtus zu bestimmen. Virtus war in der Frühen Neuzeit ein ambivalenter Begriff auch der Kunsttheorie. Zum einen beschreibt er die (Wirk-)Kräfte des Bildes. Leon Battista Alberti (1404–1472) lehrte über die Wirkmacht des Porträts: „Die Malerei birgt in sich eine geradezu göttliche Kraft [… habet ea quidem in se vim …] und leistet nicht nur, was man der Freundschaft nachsagt, dass sie abwesende Menschen vergegenwärtigt“;28 Leonardo da Vinci definierte die Kraft (forza) als „nichts anderes als die geistige Fähigkeit, ein unsichtbares Wirkungsvermögen, das durch einen Zwang geschaffen und von den lebendigen Körpern auf die leblosen übertragen wird und diesen Körpern einen Schein von Leben gibt. Dieses Leben ist von wunderbarer Wirkung“.29 Auch Pompeius Gauricus in seinem Traktat De sculptura (1504)30 und Paracelsus in seinem „Buch über Bilder“ (Liber de imaginibus, 1530) attestieren den Bildern virtus: „Es ist notwendig, die Kraft, Tugend und wundersame Wirkung von Bildern zu beschreiben. Dem Leser ist zu erklären, wie diese Kräfte entfaltet werden und was die Bilder durch ihre

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Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, 4 (1976), 1179. Leon Battista Alberti, De Statua, de Pictura, Elementa Picturae (Liber II, 41), hg. und übers. von Oskar Bätschmann/Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, 268f. Leonardo da Vinci, MS. C.A. 302vb. Zitiert nach Dijksterhuis (wie Anm. 1), 286– 287. Mit weiterführender Literatur vgl. Frank Fehrenbach, Licht und Wasser. Zur Dynamik naturphilosophischer Leitbilder im Werk Leonardo da Vincis, Tübingen 1997, 241–245; Martin Kemp, Leonardo da Vinci. The marvellous works of nature and men, New York [ u. a.] 2006, 298–309. 1504 schreibt Pompeius Gauricus in seinem Traktat De sculptura (1504) von nicht messbaren Kräften, die ein gutes Kunstwerk erfüllen, die eine Skulptur etwa mit größter Lebendigkeit versehen. Vgl. auch Lentes (wie Anm. 9), 35–38.

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Kraft und Tugend auszurichten in der Lage sind.“31 Zum anderen steht der virtus-Begriff in der Kunsttheorie für die Tugend des Künstlers, die insbesondere in der Frühneuzeit zusammenfassend mit virtus beschrieben wurde, während etwa die Tugenden eines Herrschers in der Regel mit dem Kanon der Einzeltugenden (z.B. Justitia, Temperantia, Fortitudo) angesprochen wurden.32 (Wirk-)Kraft bzw. Tugend, wie sie in kunsttheoretischen Texten vorkommen, sind keine widersprüchlichen Bedeutungen des virtus-Begriffs, sondern sich gegenseitig ergänzende. Sie gründen, wie eingangs angedeutet, auf dem aristotelischen Verständnis von Bewegung, die mechanische ebenso wie qualitative Veränderung von Stoffen meint, die zur Form werden. Vermutlich ist das der Grund, warum gerade die Künstlertugenden unter dem Sammelbegriff der virtus zusammengefasst wurden, denn bei Vitruv waren mit virtutes noch die guten Eigenschaften jedweder Dinge (z.B. Baumaterialien) gemeint, die in nachantiker Zeit dann auch Personen, Tieren oder Pflanzen und schließlich vor allem Heiligen oder ihren Reliquien zugesprochen wurden, bis sie sich in der Kunsttheorie auf den Künstler selbst bezogen.33 Die begriffliche Einheit von Tugend und Kraft erfuhr ihre mustergültige Repräsentation im wirkenden Künstler, der den Stoff zu künstlerischer Form bringt. Etymologisch geht die synonyme Bedeutung von Tugend und Kraft auf Cicero zurück, der das griechische Verständnis vom „Gutsein“ (arete) mit virtus übersetzte. Eine Engführung auf die rein moralische Bedeutung des Tugendbegriffs wird jedoch dem allgemeinen Sprachgebrauch der Antike und Vormoderne nicht gerecht. Denn Tugenden wurden Menschen ebenso wie Tieren und Gegenständen zugesprochen, die sich beispielsweise ihrer Zweckbestimmung, also dem Möglichen, in besonderer Weise annähern:34 Ein scharfes Messer besitzt nicht eine moralische Tugend, sondern eine funktionale; seine virtus bezeichnet seine erfüllte Zweckbestimmung und sein „Gutsein“ als Potenzial, das sich als Kraft im Schneiden entfaltet. Doch seine Schärfe vermag Brot zu schneiden und Menschen zu töten. 31

32 33 34

„Zu beschreiben die kraft und tugent und wunderbarlichen wirkungen der bilder, ist erstlich von nöten, euch fürzuhalten, woher sie iren ursprung genomen, darnach wer sie erstlich erfundden, zum dritten wie sich die in iren kreften erzeigen und was dardurch möglich auszurichten sei und was ich darvon halte, zum vierten wie weit sich die bilder und figuren in irer linien erstrecken.“ Zitiert nach Karl Möseneder, Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter, Tübingen 2009, 73. Vgl. Joachim Poeschke/Thomas Weigel/Britta Kusch-Arnhold (Hgg.), Die Virtus des Künstlers in der italienischen Renaissance, Münster 2006, 11. Vgl. Poeschke (wie Anm. 32), 11. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, 10 (1998), 1532–1543.

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Der virtus-Begriff wurde entsprechend in der Astrologie und Alchemie verwendet, doch war er vor allem in der Medizin, Naturphilosophie und Physik von Bedeutung.35 Bereits Albertus Magnus (ca. 1200–1280) verwendete virtus als Titelbegriff seines Buches über die „Tugenden [Kräfte] von Pflanzen, Gesteinen und Tieren“.36 Es ist heute aber fast in Vergessenheit geraten, dass der virtus-Begriff in besonderer Weise in der spätantiken Impetustheorie verwurzelt ist, die um 1300 wiederentdeckt wurde und das mechanische wie ökonomische Weltbild bis ins 18. Jahrhundert entscheidend prägte.37 Sie markiert einen deutlichen Paradigmenwechsel, denn ihr neuer Ansatz war, den aristotelischen Bewegungsbegriff nun durch die Lehre von der Kraftübertragung zu ergänzen. Danach sind Dinge, die bewegt werden oder deren Qualität durch äußeren Zwang verändert wird, nicht passiv. Vielmehr nehmen sie die ihnen zugeführten Kräfte auf und werden dadurch selbst zu aktiven Kraftzentren. Neu war folglich die Sichtweise, dass Kräfte nicht nur von außen auf ein Objekt einwirken, sondern von ihm aufgenommen wurden und in ihm bzw. durch es weiter wirkten. Der Aristoteleskommentator Iohannes Philoponos von Alexandria (490–570) entwickelte die grundlegenden Lehrstücke der Impetustheorie, die er auf die Mechanik und Ökonomie anwandte. Im Zentrum seines Interesses stand die Übertragungskausalität von Kräften unterschiedlicher Art, eben auch die entäußerte Kraft der Sklavenarbeit oder ökonomische Kräfte, die den Wert einer Sache, z. B. Geld, betreffen. Das war kein Randthema der Philosophie, sondern zentrale Problemstellung der Naturphilosophie und Theologie, wie das Beispiel 35

36 37

Vgl. Möseneder (wie Anm. 31), 73. Zum virtus-Begriff bei Calvin als Übertragungskraft und Spiritualpräsenz Christi vgl. Joachim Rogge, Virtus und Res. Um die Abendmahlswirklichkeit bei Calvin, Stuttgart 1965, 63–67. Zum virtus-Begriff der deutschen Mystik ebenfalls im Sinne der Kraftwirkungen und Übertragungskausalitäten (z. B. durch Salbung) vgl. Bardo Weiß, Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild, 2 Bde., Paderborn u. a. 2004, Bd. 2, 661–679. Albertus Magnus, De virtutibus herbarum, de virtutibus lapidum, de virtutibus animalium et mirabilibus mundi, Antwerpen ca. 1499. Grundlegend zur Impetustheorie unter Einbeziehung des älteren Forschungsstands vgl. Michael Wolff, Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik, Frankfurt a. M. 1978, 76–81. Für die Kunstgeschichte ist die Impetustheorie bereits seit Pierre Maurice Marie Duhem, Études sur Léonard de Vinci, ceux qu’il a lus et ceux qui l’ont lu, Paris 1906, fruchtbar gemacht worden. Mit entsprechenden Literaturhinweisen vgl. Fehrenbach (wie Anm. 29), 241–245; Kemp (wie Anm. 29), 298–309. Zur Impetustheorie in raumtheoretischem Zusammenhang um 1300 vgl. Karin Leonhard, Raum als Medium und als Amme. Zur Raumdiskussion um 1300, in: Raum, Perspektive, Medium 2 – Wahrnehmung im Blick, hg. von Yvonne Schweizer/Anna Quintus/Barbara Lange/ Julica Hiller-Norouzi/Philipp Freytag, Tübingen 2010. Onlineressource: http:// tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2010/4484/pdf/reflex_2_Leonhard_final. pdf (abgerufen am: 16.09.2015).

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der „oeconomia divina“ zeigt, die das Wesen Christi mit der Übertragungskausalität der Kraft zu erklären suchte. Offensichtlich konnte in der Spätantike der Heilsplan als göttliche Ökonomie verstanden werden, welche die Erlösung der Menschen durch Christus als ökonomischen Loskauf der Menschen von ihren Sünden erklärt. Der göttliche Käufer entäußert sich in seinem Kraftaufgebot des Opfers, um etwas anderes dafür zu bekommen.38 Die Überlegungen Philoponos’ vertieften die Lehre von der Heilsökonomie und erklärten das monophysitische Verständnis von der doppelten Natur Christi am Beispiel eines Elektrons, einer damals verbreiteten Geldmünze, die als Legierung aus Gold und Silber kursierte. Durch die Verbindung von Gold und minderwertigem Silber scheint das höherwertige Gold seine Qualität zu verlieren. Doch Philoponos weist auf den ökonomischen Sachverhalt hin, dass die Taxierung des Münzwertes den Goldwert uneingeschränkt übernimmt, der Wert des Goldes in der Legierung des Elektrons erhalten bleibt. Das reine Gold besitzt folglich eine ökonomische Kraft, den Wert, und diese Kraft des Goldkörpers überträgt sich bei der Vereinigung mit dem Silber ungemindert. Die Kraft des Goldes teilt sich der Legierung mit, prägt sich ihr ein (vis impressa) und bleibt in ihr erhalten, obwohl das Gold seine Reinheit verliert. Und gleichermaßen ist für Philoponos der göttliche Heilsplan ebenfalls die Vereinigung unterschiedlicher Kräfte, die jedoch in der Fusion erhalten bleiben. Die göttliche Kraft überträgt sich auf den irdischen Körper, den sie befähigt, die Menschen von ihren Sünden freizukaufen.39 Philoponos geht es grundsätzlich um den Austausch von Kräften zwischen Körpern. Die Lehre von der Kraftübertragung durch Einprägung war über die Heilsökonomie hinaus auch ein physikalisches Prinzip, was sie in die Lage versetzte, die Naturgesetze der Mechanik und der Ökonomie gleichermaßen zu erklären. Die Impetustheorie beschäftigt sich mit der ontologischen Frage, wie Himmelskörper und irdische Dinge in Bewegung bleiben können, nachdem sie angestoßen worden sind. Wie kommt es, dass ein geworfener Ball fliegt, eine angestoßene Kugel rollt oder die Planeten und Sterne am Firmament unverdrossen ihre Bahnen 38 39

Zur Metapher der „oeconomia divina“ vgl. erstmals Wolff (wie Anm. 37), 125. Vgl. ebd., 126–130. Philoponos durchdachte in seinem Exkurs zur „oeconomia divina“ das aristotelische „Mixtioproblem“, das die (chemische) Verbindung verschiedener Elemente betrifft. Aristoteles geht davon aus, dass im mixtum nicht die Elemente erhalten bleiben, sondern ihre Potenz bzw. Kraft (salvator virtus eorum). Die Scholastik hat dann mit Avicenna, Averroës und Thomas von Aquin dem „Mixtioproblem“ erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt und festgestellt, dass die virtus der Elemente in der Verschmelzung eine Verminderung (remissio) erfährt und eine Mittelqualität (qualitas media) annimmt. Vgl. Dijksterhuis (wie Anm. 1), 226–231. Zu ambivalenten Übersetzungsmöglichkeiten der Aristoteleskommentatoren ebd., 226.

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ziehen? Warum bewegen sich Dinge weiter, auch wenn die bewegende Hand sie längst nicht mehr berührt? Platonische und aristotelische Erklärungsmodelle der klassischen Mechanik hielten das Medium für den Beweger eines Dinges. Das heißt, der geworfene Ball, der durch die Luft fliegt, bewegt sich, weil das Medium des Raumes ihn antreibt, sobald er die Hände des Werfers verlassen hat. Denn es galt der Grundsatz, dass es ohne Beweger keine Bewegung geben kann. Die Impetustheorie des Philoponos jedoch versteht Raum, in dem sich das Ding bewegt, nicht mehr als Medium und Ursache der Bewegung. Also nicht der Raum bewegt den Ball, sondern der Ball bewegt sich selbst aus eigener Kraft, die ihm der Beweger, der Ballwerfer, mit auf den Weg gegeben hat. Der Ball nimmt die Kraft des Werfenden in sich auf, sie wird ihm „eingedrückt“ (vis impressa), und diese Kraftübertragung ist die eigentliche Ursache der künstlichen oder unnatürlichen Bewegung aller Dinge.40 Entscheidend ist, dass die Kraft nach ihrer Übertragung im Ding weiter wirkt, auch wenn der Verursacher abwesend ist. Auf die Übertragungskausalität legte Ende des 13. Jahrhunderts der Franziskaner Petrus Johannis Olivi (1247–1298) aus Florenz besonderen Wert, der der Impetustheorie im Abendland zum endgültigen Durchbruch verhalf. In seinen „Neun Fragen über allgemeine Eigenschaften von Agentien oder von Aktionen und von Bewegungen“ erklärt Olivi, dass bei Handlungs-, Bewegungs- oder Erzeugungsprozessen Kraftübertragung stattfinde. Ein formgebendes Vermögen (vis formativa) löse sich vom formgebenden Urheber oder Erzeuger, vom handelnden Subjekt (principalis agens), und wirke dann in den Objekten der Bewegung oder der Erzeugung fort. Die vermittelnde Kraft nennt er virtus instrumentalis oder vis impressa. Olivi bezieht den Arbeitsprozess mit ein, denn die vis impressa ist auch eine vis formativa, die Qualität erzeugt.41 Er wendet unter anderem den Vergleich mit dem Handwerker an, der Kraft auf sein Werkzeug überträgt, das wiederum die übertragene Kraft an das Produkt weitergibt. Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Übertragung der virtus also nicht auf Fernwirkung und okkulten Qualitäten beruht, sondern vielmehr auf der erwähnten Übertragungskausalität.42 Kraft setzt sich im Kontakt zweier Körper fort, wobei immer wieder zu betonen ist, dass in der Vormoderne Kraftqualitäten noch weitgehend unspezifisch blieben. ‚Bewegung‘ im aristotelischen Sinn umfasste, wie erwähnt, die qua40 41 42

Vgl. Wolff (wie Anm. 37). Vgl. ebd., 186. Zur wachsenden Skepsis gegenüber okkulten Praktiken auf katholischer Seite und der exemplarischen Debatte über die Waffensalbe vgl. die erhellenden Dillinger Disputationen bei Leinsle (wie Anm. 2), 316–324. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Rolle der Kirche um 1600 vgl. instruktiv Blair (wie Anm. 1).

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litativen Veränderungen von Dingen durch Ortsveränderung ebenso wie etwa durch Formwandel. Dass der virtus-Begriff nicht allein als mechanische Kraft verstanden wurde, zeigt sich in der Anwendung der Impetustheorie in der Ökonomie. Die vis impressa taucht in Olivis Ökonomie-Traktat43 auch als ratio seminalis44 gehäuft wieder auf – ein Begriff, der später in frühneuzeitlichen Texten anzutreffen ist. Olivi schreibt: „Wenn Geld oder Eigentum in einem sicheren Geschäft eines Eigentümers angelegt wird für einen gewissen wahrscheinlichen Gewinn [probabile lucrum], so hat das Geld oder die Sache nicht bloß die einfache Kraft [simplex ratio] von Geld oder einer Sache, sondern darüber hinaus eine gewisse ‚seminalis ra­ tio lucrosi‘ [samenartige Kraft zur Profiterzeugung], eine Kraft, die wir gemeinhin ‚capitale‘ [Kapital] nennen; und daher [wegen der semina­ lis ratio] muss dem Eigentümer nicht nur der einfache Wert der Sache [simplex valor] erstattet werden, sondern außerdem noch ein Mehrwert [valor superadjunctus].“45 Olivi vergleicht das Geld mit der Zeugungskraft der Natur, die im Samen gespeichert ist und aufkeimt. Auch Augustinus hatte bereits über die in den Dingen der Welt enthaltenen seminalen und unsichtbaren Kräfte geschrieben, ihre alleinige Ursache jedoch in der Schöpfungsgeschichte gesucht. Gott habe die Welt in ihrer Potenzialität erschaffen, denn nicht alle Dinge entstanden demnach unmittelbar als „creatio ex nihilo“, sondern als Entwicklung, die zulässt, dass Einzeldinge und individuelle Organismen von anderen Organismen hervorgebracht werden. Die ganze Potenzialität eines Apfelbaums liegt in seinem Samen unsichtbar verborgen.46 Die seminalen Kräfte gehen aber allein von Gott aus. Auch Olivi argumentiert mit den Kraftpotenzialen, die in den Dingen stecken und zur Entfaltung kommen können, doch geht er noch einen Schritt weiter, wenn er die seminalen Kräfte nicht allein auf Gott, sondern eben gerade auch auf den Menschen als Ursache zurückführt. Und schließlich ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Olivi bei der Einschätzung der vis impressa und vis formativa einen Kraftverlust noch nicht mitdenkt. In der Dynamik 43 44

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46

Petrus Johannes Olivi, Tractatus de emptionibus et venditionibus, de usuris, de restitutionibus, hg. von Giacomo Todeschini, o.O. 1980. Zur Terminologie bei Albertus Magnus vgl. Karl Wengel, Die Lehre von den rationes seminales bei Albert dem Großen. Eine terminologische und problemgeschichtliche Untersuchung, Diss.phil., Würzburg 1937. Zitiert nach Michael Wolff, Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen im späten Mittelalter, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. von Jürgen Miethke, Sigmaringen 1994, 413–423, hier 416–417. Vgl. auch Wolff (wie Anm. 37), 179. Vgl. Augustinus, De genesi ad litteram, V 23. Vgl. hierzu Wolff (wie Anm. 45), 419f.

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war der nachlassende Schwung der Bewegung zwar empirisch bekannt, nicht jedoch seine Ursachen. Die bewegende ebenso wie die qualitative Kraft war in den Modellen des Spätmittelalters während der Übertragung verlustfrei. Qualität und Werte wie beim Geld konnten auch bei Abwesenheit der ursprünglichen Kraftquelle sogar wachsen, oder, wie beim Elektron, erhalten bleiben – und sie konnten ihre Kräfte eigenmächtig übertragen. Mit Olivis Einführung des Kapitalbegriffs im Sinne des samenartigen, wertsteigernden Kraftpotenzials war nicht nur der Grundstein für die Abschaffung des Zinsverbots und die großen Bankhäuser Europas gelegt. Darüber hinaus verbreitete sich die Lehre von der Übertragungskausalität in der Geistesgeschichte der beginnenden Neuzeit flächendeckend. Nikolaus von Kues (1401–1464), der Begründer und Vorkämpfer der neueren Philosophie, der den Weg wies in die empirische Erforschung der Dinge zur rechten Erkenntnis des Göttlichen,47 war einer ihrer wichtigsten Vertreter. Sowohl unter mechanischen wie ökonomischen Aspekten setzte er die Impetustheorie in seinem Dialog De ludo globi (1463) als Bewegungslehre auseinander, indem er sowohl das physikalische Verhalten der Kugeln beschrieb, als auch in einem zweiten Teil der Schrift auf das Geld und seinen Wert zu sprechen kommt.48 Dieser, so Cusanus, sei ein „wirkliches Seiendes“, das nicht erst durch Wertschätzung entsteht, sondern vielmehr a priori ist, jedoch als Kraft und Potenz von den Menschen erkannt werden muss: „Ist es nicht so, dass du einen anderen Modus des Seins des Geldes in der Kunst des allmächtigen Münzers erblickst, einen anderen in der münzbaren Materie, einen anderen in der Bewegung und den Instrumenten, wenn gerade gemünzt wird, einen anderen, wenn die Münzprägung verwirklicht ist? Und alle diese Modi bestehen in Bezug auf das Sein dieser Münze. Ferner gibt es aber auch noch einen anderen Modus, der sich um jene Modi des Seins dreht, ein Modus nämlich, wie er sich im Verstand befindet, der das Geld unterscheidet.“49 Der Kenner erkennt die verschiedenen Modi der Kraft, die in einer geprägten Münze enthalten sind. Cusanus folgt in seiner Argumentation dem Grundmuster, dass sich Geheimnisse offenbaren müssen, damit sie erkannt werden. (Kraft-)Ursachen sind nicht änigmatisch oder magisch, sondern für den Kenner und Gelehrten wahrnehmbar.

47 48 49

Vgl. Cassirer (wie Anm. 5), 24. Vgl. Wolff (wie Anm. 37), 257–266. Zitiert nach ebd., 262.

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Philipp Zitzlsperger 3. Kraftübertragung im Bild

Um das sinnliche Erkennen der Kraft geht es Cusanus auch bei der Betrachtung einer Christusikone in seiner De visione dei von 1453. Er schickt sie den Mönchen der Benediktinerabtei Tegernsee und empfiehlt die Bildbetrachtung als Vehikel, um die Kraft der Allmacht Gottes sinnlich zu begreifen. Das Bild fungiert als Gleichnis (similitudine), das zum Göttlichen führen kann.50 Besonderes Augenmerk legt er dabei auf den Blick des Christusporträts, dessen Augen jeden ansehen, egal, aus welchem Winkel er das Bild betrachtet, gleichgültig, ob er steht oder geht.51 In seinem Bild ist das Abbild der Kraft des göttlichen Blicks enthalten, wie die Kraft des unendlich göttlichen Geistes in der Vielfalt der Natur aufgenommen ist.52 Dieser göttliche Geist als Kraft aller Kräfte (virtus omnium virtutum) gelangt in den Geist eines guten Menschen, in dem die Tugendkraft reift, „dass sie sich vollende und zu einer ihm [Gott] willkommenen Frucht werde“.53 Auf diese Weise schaffe Gott die Vielfalt durch die verschiedenen Früchte, die er zur Reife bringt. Stets im Rekurs auf die Christusikone, vor der die meditative Übung vollzogen wird, vergleicht Cusanus die Übertragungskausalität schließlich mit dem Maler, „der verschiedene Farben mischt, um sich selbst abbilden zu können in der Absicht, sein eigenes Bild zu haben, an dem sich seine Kunst freut und in dem sie ruht. Weil er, der eine, nicht vervielfältigt werden kann, soll er wenigstens in größter Ähnlichkeit auf eine Weise, in der es möglich ist, vervielfältigt werden. Er macht indes viele Bilder, weil die unendliche Ähnlichkeit seiner Kraft nur in vielen Bildern in der vollkommensten möglichen Weise entfaltet werden kann.“54 Cusanus öffnet jene neuplatonischen Analogien zwischen Mikro- und Makrokosmos, die in einem engen Abbildverhältnis stehen.55 Der Mensch als Künstler entspricht Gott als Künstler. Und nach Cusanus teilen sich beide der Welt in Form der Kraftübertragung mit, die in ihren Werken zur Entfaltung kommt. Die Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts bildeten den Nährboden für die Kontinuität der neuplatonischen Lehre 50

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53 54 55

Vgl. Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, hg. von Leo Gabriel, übersetzt und kommentiert von Dietlind und Wilhelm Dupré, Wien 1982, Vorwort sowie 95f. Vgl. ebd., 104–107. „Wir erfahren, Herr, dass Dein einfacher, in seiner Kraft unendlicher Geist in vielfacher Weise aufgenommen wird. […] der Sonne vergleichbar, die in derselben Wärme bei verschiedenen Bäumen verschiedene Früchte zur Reife bringt.“ Ebd., 215. Ebd., 214f. Ebd., 215f. Vgl. Cassirer (wie Anm. 5), 63.

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vom Primat der Einheit über die Vielheit.56 Die Analogie von Mikround Makrokosmos und vor allem ihr Prinzip der Übertragungskausalität ist besonders anschaulich in der Radierung von Matthäus Merian ins Bild gesetzt worden (Abb. 4 u. 5). Es handelt sich um das Frontispiz von Robert Fludds Geschichte des Mikro- und Makrokosmos (1617).57 Als geozentrisches Weltbild ist sein Enzyklopädiekonzept in konzentrische Sphärenkreise unterteilt, die vom Engelshimmel (Empyreum) über den Sternenhimmel, die Sphäre der vier Elemente und den Bereich der Künste reichen. Diese Sphärenharmonie wird in der oberen Hälfte vertikal durchkreuzt von einer dreifachen Übertragungskausalität bestehend aus Gott, Natur und Mensch, die in ihrer anthropomorphen Symbolisierung jeweils mit Ketten (cate­ na aurea homeri) an den Armen verbunden sind.58 Über dem Empyreum befindet sich die Gotteswolke, aus der unten ein linker Arm hervorragt, der die Kette fest im Griff hat, die zum rechten Arm der Natur als nackter Frauengestalt führt, deren aufrecht stehender Körper zwischen Empyreum, Himmelssphären und irdischer Welt ausgerichtet ist. Fludd begründet die Nacktheit der Natur (Sophia), „damit ihre Kraft vom Geist des Beobachters besser erfasst werden kann“.59 In ihrer Linken hält sie wiederum eine Kette, die herabführt zum Bildzentrum, einem Globus, auf dem ein Affe sitzt, dessen linker Arm an der Kette befestigt ist. In seiner linken Hand hält er ein Modell des Globus, das er mit einem Zirkel vermisst. Der Symbolaffe, der den Menschen imitiert, wie die menschliche Kunstfertigkeit die Natur nachahmt, ist abhängig von der Sophia. Er ist vermutlich von Merian und/oder Fludd für die Radierung entwickelt worden.60 Der ‚Menschenaffe‘ als Künstler durchmisst mit seinem Körper die Sphären der Kunst, (aufsteigend) der „Ars naturam corrigens 56 57

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59 60

Vgl. Josef Stallmach, Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nichtwissens. Grundzüge der Philosophie des Nikolaus von Kues, Münster 1989. Vgl. Robert Fludd, Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica Atqve Technica Historia: In duo Volumina secundum Cosmi differentiam diuisa / Avthore Roberto Flud aliàs de Fluctibus, Armigero, & in Medicina Doctore Oxoniensi, Tomus Primus: De Macrocosmi Historia. In duos tractatus diuisa. Quorum Primus de Metaphysico Macrocosmi et Creaturaru[m] illius ortu. Physico Macrocosmi in generatione et corruptione progressu. Secundus de Arte Naturæ simia in Macrocosmo producta [...] Tractatus Primus, Oppenheim 1617, 4. Zu den catena aurea homeri vgl. Platon, Theaitetos, 153c. Zu Merians Radierung vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Robert Fludds Konzeption des Weltgeistes, in: Spirits Unseen. The Representation of Subtle Bodies in Early Modern European Culture, hg. von Christine Göttler/Wolfgang Neuber, Leiden/Boston 2008, 197–210, zu den Ketten 203. Fludd (wie Anm. 57), I, 7f. Übersetzung der Passage in Schmidt-Biggemann (wie Anm. 58), 204. Vgl. Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, 3. Aufl. Berlin 2007, 69.

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Abbildung 4: Matthäus Merian: Spiegel der gesamten Natur und Bild der Kunst. Frontispiz, in: Robert Fludd, Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica Atqve Technica Historia: In duo Volumina secundum Cosmi differentiam diuisa / Avthore Roberto Flud aliàs de Fluctibus, Armigero, & in Medicina Doctore Oxoniensi, Tomus Primus: De Macrocosmi Historia. In duos tractatus diuisa. Quorum Primus de Metaphysico Macrocosmi et Creaturaru[m] illius ortu. Physico Macrocosmi in generatione et corruptione progressu. Secundus de Arte Naturæ simia in Macrocosmo producta [...] Tractatus Primus, Oppenheim 1617, 4. Aufnahme des Autors.

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Abbildung 5: Matthäus Merian: Spiegel der gesamten Natur und Bild der Kunst. Frontispiz (Detail), in: Robert Fludd, Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica Atqve Technica Historia: In duo Volumina secundum Cosmi differentiam diuisa / Avthore Roberto Flud aliàs de Fluctibus, Armigero, & in Medicina Doctore Oxoniensi, Tomus Primus: De Macrocosmi Historia. In duos tractatus diuisa. Quorum Primus de Metaphysico Macrocosmi et Creaturaru[m] illius ortu. Physico Macrocosmi in generatione et corruptione progressu. Secundus de Arte Naturæ simia in Macrocosmo producta [...] Tractatus Primus, Oppenheim 1617, 4. Aufnahme des Autors.

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in regno minerali“, der „Ars naturam adjuvans in regno vegetabili“, der „Ars naturam supplens in regno animali“ und schließlich der „Artes liberaliores“, welche die Freien Künste meinen, die Fludd auf eine Gesamtzahl von elf Disziplinen bringt, zu denen die Klassiker etwa der Arithmetik, Musik und Astrologie zählen, sowie für den Reigen der Freien Künste damals noch unkanonische Professionen wie die Zeitmessung, die Malerei und der Festungsbau.61 In Merians Visualisierung der universalen Sphärenharmonie ist die Übertragungskausalität durch die verbindenden Ketten der drei Instanzen Gott – Natur (Sophia) – Mensch als enzyklopädisches Prinzip deutlich gemacht. Für das Verständnis der Kraftgrößen und Kraftwege in dieser Zeit ist immer noch bedeutend, dass Fludd eine Vielzahl von Kraftkategorien entwirft, die quantitativ und qualitativ sind. Insbesondere die Freien Künste sind durchdrungen von den intellektuellen Kräften (z.B. Arithmetik, Geometrie) und von mechanischen Kräften (z.B. „Motus“ als Maschinenbau), deren bildende und gestaltende Kraft im Symbolaffen gesammelt ist. Hergeleitet werden sie visuell von der Sophia, die den sichtbaren Impetus über die Kette in ihrer Linken ableitet. Im Verhältnis zum göttlichen bleibt das menschliche Wissen äffisch, aber in diesem Abhängigkeitsverhältnis hat es Anteil an der Offenbarung, die durch Kunst und Wissenschaft erfahren wird.62 In Fludds Gedankenwelt herrschen enge Bezüge zu Nicolaus Cusanus. Sie kommen besonders zum Ausdruck, wenn Fludd die Übertragungskausalität mit den Kräften erklärt, die bereits am sechsten Schöpfungstag als göttlicher Funke zu Samen gebündelt worden seien. Es handelt sich um die Lehre von den Keimkräften, den rationes seminales,63 die auch schon bei Albertus Magnus und vor allem in Olivis Werttheorie eine entscheidende Rolle spielten. Merians Radierung von 1617 macht deutlich, dass in Fludds Weltschema die qualitativen Kräfte den Primat der Weltdeutung beanspruchten. Sie werden von Gott über die Natur auf den Menschen übertragen und wirken im jeweiligen ‚Wirt‘ weiter. Die Seele ist ganz nach Cusanus auch bei Fludd die Kraft, die sich allen Dingen mitzuteilen vermag; Cusanus unterscheidet in einer qualitativen Hierarchie zwischen vis entificativa in Gott und der vis assimilativa im Menschen.64 Sie sind nicht gleich, aber Ergebnis der Übertragungskausalität. In Fludds Mikro- und Makrokosmos werden sie durch die Verkettung der Protagonisten in Merians Radierung sichtbar. 61 62 63 64

Vgl. Johannes Rösche, Robert Fludd. Der Versuch einer hermetischen Alternative zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, Göttingen 2008, 126–163. Vgl. Rösche (wie Anm. 61), 207. Zu Fludds rationes seminalis vgl. ebd., 182. Vgl. Nicolaus Cusanus, De ludo globi (1464), Buch 1. Vgl. hierzu Cassirer (wie Anm. 5), 35.

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Abbildung 6: Ambrogio Lorenzetti: Allegorie der Guten Regierung (Detail), 1338–1340, Siena, Palazzo Pubblico. Aufnahme des Autors.

Seinen bildgeschichtlichen Ursprung dürfte dieser Darstellungsmodus in der alles verbindenden Schnur der Guten Regierung von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Pubblico in Siena haben (1338/39, Abb. 6). Dort sind es zunächst zwei Seile, die am linken Bildrand von Justi­ tia ausgehen, wo die Waagschalen der Gerichtsbarkeit die Bestrafung (links) und Belohnung (rechts) thematisieren. Ein rotes Seil führt von der Hinrichtungsszene nach unten zur Allegorie der Concordia, die es mit dem weißen, von der Belohnungsszene abgeleiteten Seil rechts zusammenführt, zu einer rot-weißen Kordel wirkt und den Bürgern der Stadt nach rechts überreicht. Die Kordel läuft dann im unteren Bildfeld durch die Hände der 24 Bürger, die sie nach rechts gewendet in einer zweireihigen Kolonne weiterführen, bis sie sich in die obere Bildsphäre zurückwindet, wo sie mit der Allegorie der Stadtregierung verbunden und um deren rechtes Handgelenk gebunden ist. Die Seile, die sich in der Kordel vereinen, markieren die Übertragungskausalität durch die virtutes der belohnenden und strafenden Gerechtigkeit, die Ausgangspunkt und Ursache der Guten Regierung sind.65 Es dürfte kein Zufall sein, dass nicht lange nach Petrus Johannis Olivis Tod (1298) das ver65

Zur Rechtsikonographie vgl. immer noch instruktiv Quentin Skinner, Ambrogio Lorenzetti: The Artist as Political Philosopher, in: Proceedings of the British Academy 72 (1986), 1–56. In Skinners prähumanistischer Deutung der Fresken wird die

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bindende Seil als Metapher der Übertragungskausalität erstmals in Siena visualisiert wurde. Der Franziskaner zählte zu den einflussreichsten Naturphilosophen, Sakramentstheologen und weltzugewandten Denkern des ausgehenden Mittelalters, der zuerst in Florenz, später in Südfrankreich wirkte und auf Grundlage der Impetustheorie den Frühkapitalismus prägte. Obwohl seine Schriften anfangs verboten waren, wurden sie aufmerksam wahrgenommen und tradiert. Bernhard von Siena (1380– 1444) etwa kopierte später ganze Passagen aus Olivis Schriften, freilich ohne die Quelle zu nennen.66 Die Toskana war der frühe Nährboden eines neuen Kraftbegriffs, der in einer Handelsstadt wie Siena durch Lorenzetti erstmals mit der dargestellten Seilmetapher seine Bildwürdigkeit erfuhr und schließlich in Merians Stich zum universalen Kausalprinzip erweitert wurde.

4. Legitimation des Gnadenbildes Vollständig durchsetzen sollte sich das Seilmotiv in der christlichen Bildwelt erst in posttridentinischer Zeit. Fludds Mikro- und Makrokosmos ist die Verdichtung einer wissenschaftlichen Tendenz der Naturphilosophie, die der fortschreitenden Mechanisierung des Weltbildes Rechnung trägt und die versucht, alte und neue Wissenschaften in ein Enzyklopädiekonzept einzupassen. Die Verkettung von Ursache und Wirkung in Merians Bild versteht sich als Naturgesetz, welches in Bezug auf das Gnadenbild die Übertragung der virtus vom Dargestellten auf die Darstellung, vom Prototypen auf das Heiligenporträt mit einschließt. In dieses Weltbild fügt sich ein, dass der „Atlas Marianus“ (1657) des Wilhelm Gumppenberg eine Gnadenbildtheorie entwickelt, die auf derselben Übertragungskausalität fußt. Das Ziel des Jesuiten war, mit dem erfolgreichen Mirakelbuch im Taschenbuchformat (Oktavformat) nicht nur sämtliche Marienwallfahrtsorte in Europa aufzuführen, sondern auch und vor allem wissenschaftliche Argumente für die Wundertätigkeit der marianischen Gnadenbilder zu liefern. Ihm war es wichtig zu erklären, wie es sein könne, dass sich von einem Heiligen und seinem Ur-Porträtbild die Wirkmacht auch auf die zahlreichen, bisweilen unzähligen Kopien überträgt. In seiner Einleitung verwendet Gumppenberg die Magnet-Metapher, die er vermutlich Athanasius Kirchers Publikation zum Magne-

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Kordel auf eine Metapher Ciceros zurückgeführt, der in Concordia das „Sicherheitsseil“ einer Gesellschaft sieht (ebd., 12f.). Vgl. Wolff (wie Anm. 37), 174ff.

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tismus entlieh,67 und die Kettenmetapher, die er womöglich Merians Radierung verdankte: „Der Magnetstain gibt sein Krafft dem eygenen Ring auf solche weisz, dasz ers einem andern und also fort in Form einer Ketten mag mitthailen. Gewisz ists, dasz die wunderthaetige Krafft, so sich in dem Maria-Bild befindet, von Maria herkombt unnd ist der Rechtglaubigen bestaendige Erfahrnusz, das zunderweilen solche Krafft auch in die jenige Bilder sich erstrecke, von welchen das erste beruehrt worden.“68 Gumppenberg führt jene Berührungs- und Übertragungskausalität an, welche die Gnadenbilder vor dem Vorwurf von Okkultismus und Bildmagie bewahren sollen. Er spricht von der Kraft (im lateinischen Original „virtus“),69 die von Maria auf das Porträt während seiner Entstehung übergeht. Vermutlich setzte er beim Leser das Wissen voraus, dass der Evangelist Lukas als Maler und Künstlerpatron der Legende nach die Muttergottes porträtiert hatte. Nach seinem Ur-Bild sind dann zahlreiche Kopien entstanden. Bereits seit dem 9. Jahrhundert ist überliefert, dass Maria das Lukasbild gutgeheißen und gesegnet habe,70 dadurch im mechanischen Verständnis die Kraftübertragung erfolgt sein muss. Und dieses Ur-Porträt ist dann in zahlreichen Kopien vervielfältigt worden, bis es beispielsweise auch im erwähnten Marienbild Cranachs Eingang fand, das dann im 17. Jahrhundert wiederum von einem namenlosen Künstler in Passau kopiert wurde. Die Übertragungskausalität der virtus ist für jede Kopie durch den Künstler gesichert, denn er ahmt das Urbild nach, wodurch er dem Abbild die virtus überträgt. Den physischen Kontakt als Brücke der Kraftübertragung garantierte nicht nur die gegenseitige, von Gumppenberg beschriebene Berührung der Bilder (die heute nicht nachprüfbar ist), sondern darüber hinaus auch der Sehsinn, der in der Vormoderne als Berührungsvorgang durch Sehstrahlen verstanden wurde (visus id est

67

68 69

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Vgl. Näima Ghermani, Zwischen Wunder und Vernunft. Der „Atlas Marianus“ des Jesuiten Wilhelm Gumppenberg, in: Zeitschrift für historische Forschung 40 (2013), H. 2, 227–255, hier 234. Wilhelm Gumppenberg, Marianischer Atlas, Ingolstadt 1658, An den Leser, § 6 (ohne Paginierung). Zitiert nach Ghermani (wie Anm. 67), 234. Vgl. Wilhelm Gumppenberg, Atlas Marianus. Sive De Imaginibus Deiparae per orbem christianum miraculosis, Ingolstadt 1657, Lectori, § 6 (ohne Paginierung): „Sentiet sane, qui sic sentit Magnes lapis ijs pollet viribus, ut quam annulo virtutem tractivam ingeneravit, illam propagare annulus iste possit in filios & nepotes, id est, in sequentes annulos; sic annulus annulum, perpetuâ catenâ tenebit sine amplexu. Certum est virtutem è Maria exijsse, quae in imaginem eius miraculosam immigravit, & fidelium opinio est antiqua, recenti quoque experientiâ comprobata, solo quandoque cantactu propagari virutem illam miraculosam in alias atque alias, quae simili contactu sacrantur: quidni & Ectypa miraculosis prototypis B. Virginis similia habeant quiddam opinione vulgi grandius!“ Vgl. Belting (wie Anm. 10), 72.

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tactus).71 Der enge Bezug zur leibhaftigen Maria als Prototyp des Ur-Bildnisses durch den Maler und Evangelisten Lukas war ein wichtiger Grundstein für die seit dem Spätmittelalter anwachsenden Marienwallfahrten, die sich in der hochkonjunkturellen Phase der posttridentinischen Gnadenbilder größter Beliebtheit erfreuten. Es gibt reichlich frühneuzeitliche Quellen, die dieser Sichtweise auf die Übertragungskräfte vom Prototypen auf die Bilder widersprechen. Selbst in Bezug auf die Marienwallfahrten und die entsprechenden Gnadenbilder wie dem erwähnten Passauer Mariahilf-Bild wurde von bildtheologischer Seite stets argumentiert, dass nicht das Bild Gnaden spende, sondern Gott selbst am Gläubigen. In seiner Dogmatik über das Pilgerwesen von 1759 betont beispielsweise der Benediktiner Norbert Pampichler, dass die Berührung und das Küssen der Gnadenbilder nicht mit dem Glauben verbunden seien, dass in den Gegenständen irgendeine übernatürliche Kraft innewohne. Immer handelt Gott, nie das Bild.72 Auch für andere Bildtheologen war die Wallfahrt lediglich ein traditioneller Ritus, der wie die Prozessionen Teil kirchlicher Traditionen sei, die auf das Vorbild der alttestamentlichen Prozession mit der Bundeslade zurückgehen.73 Zahllos sind die theologischen Argumente, die den Bilderkult legitimierten, indem sie das Gnadenbild als nicht heilsnotwendig einstuften, denn immer handelt Gott am Bild vorbei direkt am Gläubigen.74 Dem widersprechen wiederum die bildlichen Darstellungen, die sich mit der heilswirksamen Kraft der Gnadenbilder beschäftigen. Seit dem 14. Jahrhundert, also seit der Reaktivierung der Impetustheorie auch im theologischen und ökonomischen Diskurs, entwickelte sich in den Bilderzählungen der Darstellungsmodus der Kraftstrahlen, die Gott mit den Menschen heilswirksam verbinden. In Giottos Franziskuszyklus etwa ist es die Szene der Stigmatisation, in der der Heilige die Wundmale durch eine bildliche Kreuzeserscheinung am Himmel erhält, die ihre wirkmächtigen Strahlen auf die Extremitäten des Einsiedlers sendet. Diese vereinzelt in den Sakralbildern wiederkehrenden Kraftstrahlen, die eine Wesensänderung herbeiführen, traten dann vor allem in posttridentinischer Zeit massiv auf. Dem seit dem 17. Jahrhundert zum Topos verfestigten Darstellungsmodus für die Übertragungswege der göttlichen bzw. heiligen und gnadenspendenden Kräfte entsprechen im Wesentlichen sowohl Schnur (Lorenzetti) bzw. Kette (Merian) als Vehikel der Übertragungskräfte als 71 72 73 74

Vgl. Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002, 253. Vgl. hierzu ausführlich Hecht (wie Anm. 7), 150–152. Vgl. Johannes Molanus, De Picturis Et Imaginibus Sacris, Löwen 1570, Cap. XXVI, fol. 57r–57v, zitiert nach Hecht (wie Anm. 7), 153. Vgl. hierzu den reichen Überblick bei Hecht: ebd., 150–162.

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Abbildung 7: Andrea Pozzo, Deckenfresko (Detail), S. Ignazio, Rom, 1694. Veröffentlicht in: Eugenia Bianchi, Andrea Pozzo (1642–1709). Pittore e prospettico in Italia settentrionale, Trient 2009, 27.

auch Gumppenbergs wissenschaftliche Begründung der virtus der Gnadenbilder. Der zur Sichtbarkeit gebrachte Übertragungsweg der Kräfte durch die Darstellung mechanischer Hilfsmittel ist in Bildthemen der Propaganda fide häufig anzutreffen. Lichtstrahlen und Spiegel sind hierfür die sinnfälligen Symbole und mustergültig in Andra Pozzos (1642–1709) Deckenfresko von S. Ignazio in Rom zum Einsatz gebracht (1694; Abb. 7).

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Abbildung 8: Burkhard Schramm, Die menschliche Seele betrachtet die Passion Christi. Speculum Passionis. Das ist Spiegel deß bitteren Leydens unnd Sterbens Jesu Christi, Frontispiz, Salzburg 1663. Veröffentlicht in: Christian Hecht, Katholische Bildtheologie der Frühen Neuzeit. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 2012, 92.

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In dessen Zentrum ist in den Tiefen des gleißenden Lichthimmels Christus mit dem Kreuz zu erkennen, der aus seiner Seitenwunde einen Lichtstrahl entwickelt, welcher den hl. Ignatius ins Herz trifft, der wiederum den gespendeten Lichtstrahl missionarisch in die vier Erdteile aussendet. Ein fünfter leuchtet in der Mittelachse in seiner bildperspektivischen Ausrichtung senkrecht nach unten auf den von einem schwebenden Engel gehaltenen Spiegel. Dieser leitet die himmlische Gnadenspende in Form des gespiegelten Lichtstrahls auf den Betrachter im Kirchenraum. Symbolisch erscheint auf der Spiegelfläche das Jesuitenmonogramm. Wir sehen darin eine bildgewordene heilswirksame Kraft, die ja per se nicht sichtbar ist, die Pozzo jedoch in den Lichtstrahlen sichtbar macht und in der Spiegelfläche zum Bild werden lässt. Die Verwendung des kunsttheoretisch hoch komplexen Spiegels ist dabei besonders durchdacht. Denn das Spiegelbild ist ein Bild, das auf die Anwesenheit des Prototyps angewiesen ist. Während das gemalte Bild etwas repräsentiert, was im Moment seiner Betrachtung nicht mehr anwesend ist, besteht das Spiegelbild nur wegen der leibhaftigen Präsenz des Dargestellten.75 Im Spiegelbild gerät die Wesensähnlichkeit zu nahezu vollkommener Deckungsgleichheit. Die Druckgraphik trug zur weiten Verbreitung dieser Bildformel bei, indem sie die heilswirksame Kraft der Gnadenbilder thematisierte, welche ihre virtus von den Prototypen im Himmel in Form der bekannten Kraftstrahlen selbst empfangen. Beliebt in solchen Darstellungen waren verschiedene Varianten der Spiegelmetapher: Hierzu zählt etwa Burkhard Schramms „Speculum Passionis“ von 1663 (Abb. 8), auf dessen Frontispiz die fromme Frau nicht die ‚reale‘ Passionsszene im Hintergrund betrachtet, sondern gebannt auf das vor ihr stehende Spiegelbild blickt, das für die Quasi-Identität von Urbild und Abbild steht.76 Die Übertragungskräfte kommen ähnlich affirmativ und kunsttheoretisch ausgefeilt auch in einem Stich zum Tragen, der noch einmal zurück zu Cranachs Innsbrucker Madonna führt. Auf dem Frontispiz eines Thesenblatts der Innsbrucker Universität (1674, Abb. 9) ist das Kaiserpaar vor der Kulisse von Innsbruck zu erkennen. Über ihnen schwebt von Engeln getragen im Zentrum die CranachMadonna, von der zwei mächtige Gnadenstrahlen ausgehen und auf je einen Ovalspiegel links und rechts treffen, in dem sich die Cranach-Madonna spiegelt, und als weitere Gnadenbilder lenken beide Spiegel die auf sie übertragene virtus weiter auf das Kaiserpaar. Um die Bildhaftigkeit des Spiegelbildes zu untermauern, hat der Stecher das Madonnen75 76

Vgl. Victor I. Stoichita, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998, 209–223. Dies und das folgende Beispiel bei Hecht (wie Anm. 7), 93–96.

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Abbildung 9: Anonym, Thesenblatt der Innsbrucker Universität (1674). Veröffentlicht in: Eckhard Leuschner, Das Gnadenbild zwischen Ästhetik und Bildtheologie. Zur frühen grafischen Reproduktion der Madonna von Mariahilf, in: Jörg Probst (Hg.), Reproduk­ tion, Berlin 2011, 15–33.

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bild auf den Spiegelflächen seitenrichtig (nicht spiegelverkehrt) abgebildet. Schließlich sei auf ein weiteres Monumentalfresko hingewiesen (Abb. 10), auf dem Franz Joseph Spiegler in Zwiefalten (1751) das Gnadenbild als Spiegelbild thematisierte, das, von Kraftstrahlen getroffen und aufgeladen, seine Heilswirksamkeit an den hl. Benedikt weitergibt. Das Bildthema ist die Verehrung der Gottesmutter über das Medium ihrer Marienbilder. Und die Gnadenstrahlen gehen von Maria aus auf das Marienbild und treffen dann erst auf den Protagonisten, von dem aus schließlich ein Flammenregen auf die gläubige Gemeinde niedergeht. Die heilige Muttergottes handelt ebenso wie ihr Bild. Das Gnadenbild ist ihr Medium, das nicht nur sichtbar macht, sondern vielmehr durch die Übertragungskausalität Heilswirksamkeit vom Prototypen erhält und in einem zweiten Schritt entfaltet.

5. Zusammenfassung Die frühneuzeitlichen Kraftgesetze ließen die Übertragung der virtus vom Prototypen auf sein Spiegelbild/Porträt unvermeidlich erscheinen. Die vis impressa war Teil eines anerkannten Naturgesetzes, an dem insbesondere das Porträt nicht vorbei kam. Zwar konnte man den heiligen Prototypen und/oder die Entstehungslegende seines Ur-Bildnisses anzweifeln. Wurden sie jedoch akzeptiert, war die Übertragungskausalität ihrer Kräfte nicht mehr zu leugnen. Die Impetustheorie des Philoponos, die – nachdem sie auf den Index gesetzt worden war – Ende des 13. Jahrhunderts reaktualisiert und zum Kapitalbegriff erweitert wurde, lieferte die Grundlage auch für das Verständnis von der Kraft der (Gnaden-)Bilder. Kräfte erzeugten im vormodernen Weltbild mechanische Bewegung ebenso wie qualitative Veränderungen beispielsweise des Kapitals oder künstlicher Erzeugnisse aus den Bereichen der Kunst und des Handwerks. Wissenschaftsgeschichtlich entscheidend war die Lehre von der Übertragungskausalität. Durch sie wurden die fernwirksame Magie und Sympathie als Ursachen änigmatischer Kraftwege im Laufe des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts zunehmend ersetzt durch das Wissen um die Fähigkeit von Körpern, selbst Kraft aufzunehmen und eigenmächtig weiterzugeben. Mit der Kraftübertragung durch gegenseitige Berührung von Körpern, Menschen, Tieren oder Dingen war ein Naturgesetz beschrieben, das in den Forschungen Keplers, Galileis, Newtons oder Leibnitz’ weiter entwickelt wurde. Doch ist vor dem Hintergrund der mechanischen Wissenschaften im historischen Rückblick übersehen worden, dass das Prinzip der Übertragungskausalität auch jenseits der

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Abb. 10: Franz Joseph Spiegler, Deckenfresko, Zwiefalten, 1751. Veröffentlicht in: Christian Hecht, Katholische Bildtheologie der Frühen Neuzeit. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 2012, 94.

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Mechanik und Mathematik seine Gültigkeit besaß. Abgesehen vom Kapital, das seit Olivis Werttheorie im späten 13. Jahrhundert die samenartige Kraft des Geldes bis heute definiert, haben vor allem die enzyklopädischen Weltbilder der posttridentinischen Zeit mit neuplatonischem Einschlag den neuen Kraftbegriff in ihr System integriert. Und es ist kein Zufall, dass im lateinischen Begriff der virtus Kraft und Tugend zusammenfallen. Beiden kommen die Qualitäten eines Wirkungspotenzials zu, das in erster Linie nicht sittlich konnotiert ist, sondern verändernd, bewegend oder anstoßend. Entscheidend am frühneuzeitlichen virtus-Begriff für die Gattung des Gnadenbildes ist dessen Kraftpotenzial, das Bilder heilswirksam macht. Gnadenbilder, die virtus besaßen, waren mit ihren Prototypen, den Heiligen, also wesensähnlich und behielten jenen Status, der ihnen bereits auf dem Konzil von Nicäa zugestanden worden war. In diesem Zusammenhang muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die Kraft der Bilder und damit ihre Wesensähnlichkeit zu jenen Heiligen, die sie darstellen, nicht mit irgendeiner Form der Realpräsenz zu verwechseln sind. Nicäa hat diese bereits abgestritten, und auch im posttridentinischen Bildverständnis ist sie ein Tabu. Die Kraft der Bilder, insbesondere der Gnadenbilder, ist Ausdruck ihres Anteils an der Heiligkeit der Dargestellten; die Gnadenbilder sind nicht die Dargestellten, sondern enthalten lediglich deren virtus, vergleichbar etwa einem Produkt, das ökonomisch gesehen eine andere Währung der entäußerten Kraft seines Herstellers ist. In diesem Zusammenhang verdient die Predigt des Kapuziners Jordan von Wasserburg (1724) besondere Aufmerksamkeit, der über das Hammerthaler Mariengnadenbild in der Augustinerkirche (heute Hl.-Geist-Kirche) in München dozierte.77 Darin machte er das Problemfeld auf, dass ein Gnadenbild trotz seiner Heilswirksamkeit nicht zu den von Trient festgelegten Sakramenten gezählt werden könne. Jordan umschrieb die virtus des Gnadenbildes daher als „mariologisches Sakrament“, das aber nur wesensähnlich und nicht wesensgleich ist. Das Sakrament der Eucharistie setzt Zeichen und Bezeichnetes restlos gleich, ohne Differenz, auch wenn sie anschaulich verschieden bleiben (Hostie und Fleisch, Wein und Blut). Zeichen und Gnade sind im Sakrament zu einer einzigen Wirklichkeit zusammengeschlossen. Dem Gnadenbild bleibt diese letzte Konsequenz verschlossen. Das wissenschaftsgeschichtliche Dispositiv lässt das Bilderdekret von Trient insofern in einem neuen Licht erscheinen, als das hier ins Zentrum gerückte virtus-Verbot anachronistisch anmutet. Indem sowohl die Philosophie/Theologie als auch die Mathematik den virtus-Begriff im 77

Zur Predigt Jordans von Wasserburg vgl. ausführlich Henkel (wie Anm. 9), 78–81.

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neuen Sinn der Übertragungskausalität zur Anwendung brachten, ist es umso erstaunlicher, dass ausgerechnet das Trienter Bilderdekret dem Stand der Wissenschaft nicht Rechnung trug und sich calvinistischen Bilddefinitionen anschloss. Denn wie das Beispiel Gumppenbergs von 1657 und die barocken Bildprogramme exemplarisch zeigen, wurden im Gegensatz zu Trient und im Einklang mit dem damaligen Stand der Forschung der katholische Himmel und seine Bilder als Medien in das Kausalverhältnis der Kraftübertragung gesetzt, um dem Gnadenbild seine ebenso wissenschaftliche wie visuelle Legitimation zu geben. Im Gegenzug dazu gab es reichlich theoretische und bildtheologische Versuche, jedwedem Bild Heilswirksamkeit abzusprechen und jede Form der Bild-virtus zu leugnen. Diese Kritiker bewiesen ihre Linientreue zu Trient. Ihre Argumente gegen die Kraft der Bilder jedoch blieben kraftlos, denn sie bestanden aus traditionellen Topoi, die seit dem 8. Jahrhundert kursierten und immer wieder neu aufgelegt wurden. Das sich wandelnde Weltbild und der sich damit verändernde virtus-Begriff wurden von ihnen jedoch nicht berücksichtigt. So gesehen sind das Trienter Bilderdekret und sein Versuch, die Kraft der Bilder zu verbieten, ein rückwärtsgewandter Entwicklungsschritt. Zwar ist die Legitimation des Gnadenbildes im Sinne von Nicäa an sich auch keine neue Erfindung, doch konnte sie in den aktuellen Fortschritt der neuen Wissenschaften und eines neuen Kraftverständnisses ohne Schwierigkeiten integriert werden. Mit dem virtus-Verbot hat Trient dem Versuch geschadet, normative Grundlagen für eine dogmatische Erneuerung der Kirche zu schaffen.78 Das Bilderdekret kappte den Anschluss an den Fortschritt und drohte, alten Traditionen der Bildpraxis, die durch Nicäa legitimiert waren, ein jähes Ende zu bereiten. Denn es war anachronistisch bildfeindlich, weshalb vermutlich selbst die Konzilskongregation dazu eine distanzierte Haltung einnahm. Bilder und insbesondere Gnadenbilder konnten mittels eines damals modernen virtus-Begriffs aus dem mittlerweile zwielichtigen Bereich okkulter und magischer Bildpraxis befreit und einer gesitteten Bilderverehrung zugeführt werden. Das ist vermutlich der Grund für den verstörenden Aufschwung des Gnadenbildes. Dass er nicht allein Folge einer enthemmten Volksfrömmigkeit war, sondern auch gesteuert wurde, dafür sprechen die von der jüngsten Forschung zusammengetragenen Indizien. Die Beleuchtung der legitimatorischen und ideengeschichtlichen Hintergründe im Widerspruch zu Trient und im Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie ist ein Forschungsde78

Zur umstrittenen Bedeutung Trients für den Prozess der Konfessionalisierung vgl. Wolfgang Reinhard/Paolo Prodi (Hgg.), Das Konzil und die Moderne, Berlin 1995; Paolo Prodi, Il paradigma tridentino. Un’epoca della storia della Chiesa, Brescia 2010.

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siderat. Vor dem begriffsgeschichtlichen Hintergrund der virtus der Bilder ist vorerst festzuhalten, dass in der Missachtung des Trienter Bilderdekrets und der Pflege des Gnadenbildes der fortschrittliche Gedanke lag, der nicht mit einem Rückfall ins Mittelalter zu verwechseln ist. Vielmehr ist das Dekret über seine frankreichpolitischen Ursachen hinaus auch ein deutlicher Hinweis auf den Mythos der Trienter Einheitlichkeit, die für das Bilderdekret einmal mehr nicht existierte. Die Konzilskongregation sanktionierte das Kultbild gegen ein offensichtlich unliebsames Dekret. Seine konzilskonforme Auslegung beschränkte sich auf die theoretische Beschäftigung mit dem Kultbild in den Publikationen eines Johannes Molanus oder Gabriele Paleotti. Sie wirken bis heute und künden von einem vermeintlich normativen Potential, vor dessen Hintergrund jedes Gnadenbild der posttridentinischen Zeit als Devianz erscheinen muss. Doch das Gegenteil ist der Fall: In der Bildpraxis blieb alles beim Alten. Und das Gnadenbild erlebte seine Hochkonjunktur, die von den Konzilsvätern nicht übersehen wurde, weil ihnen etwa die Bilder unwichtig gewesen wären, wie heute bisweilen gemunkelt wird. Zu vermuten ist vielmehr, dass außerhalb der – was den virtus-Begriff angeht – fiktionalen Bildtheologie reichlich Legitimationsargumente für die Kraft der Gnadenbilder zu finden waren. So gesehen gründet der Mythos „Trient“ hinsichtlich des virtus-Verbots auf der bildtheologischen Expertise, die unmittelbar nach den Konzilsbeschlüssen in den erwähnten Schriften in Umlauf gebracht wurde. Ihre Normkonformität wurde jedoch von der Bildpraxis der Zeit konterkariert, da letztere das Kultbild zelebrierte und eine dreifache Legitimation genießen konnte: institutionell durch die Kongregation, wissenschaftsgeschichtlich durch den neuzeitlichen Kraftbegriff und bildtheoretisch (nicht bildtheologisch) durch die Porträttheorie.79 Dieser Widerspruch zwischen Theorie und Praxis schmälert den Wert der Bildtheologen mitnichten, zumal sie sich nicht nur mit der Wundertätigkeit von Bildern zu beschäftigen hatten. Über die Frage der Bild-virtus hinaus geht das Trienter Bilderdekret auch auf ikonographische und didaktische Probleme ein mit dem Ziel, unangemessene Bildthemen und Darstellungsmodi von der Liturgie auszuschließen sowie aus sakralen und profanen Räumen zu verbannen.80 79

80

Der porträttheoretische Kontext konnte im vorliegenden Artikel nur skizziert werden. Ergänzend hierzu vgl. Philipp Zitzlsperger, Über die Kraft der Bilder – Sakrale und profane Porträts im Zeitalter von Trient, in: Eva Krems/Sigrid Ruby (Hgg.), Das Porträt (im Druck); ders., Distanz und Präsenz. Das Porträt in der Frühneuzeit zwischen Repräsentation und Realpräsenz, in: Mark Hengerer (Hg.), Abwesenheit beobachten. Zu Kommunikation auf Distanz in der Frühen Neuzeit, Konstanz 2013, 41–78. Zum Dekorumsproblem nach Trient vgl. jüngst Michela Catto, Istruire ed educare: il concilio di Trento e la societè cattolica, in: Domizio Cattoi/Domenica Primerano

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Die Bildtheologie lenkte entsprechend ihre Aufmerksamkeit auch und vor allem auf das aus der antiken Rhetorik übernommene Trivium des docere, movere und delectare, um über die Angemessenheit der Darstellungen in den imagine sacre et profane (G. Paleotti) zu belehren und die Irrtümer zu benennen. Die Problematik des wundertätigen Heiligenbildes war folglich nur eines von drei großen bildrelevanten Trienter Themen, deren Einfluss auf die Bildpraxis bis heute umstritten ist.81 Unumstritten jedoch bleibt das Trienter virtus-Verbot, dessen Umsetzbarkeit aussichtslos war vor dem Hintergrund einer langen Kultbildtradition und eines verwissenschaftlichten Kraftbegriffs, der das frühneuzeitliche Weltbild und Kultbild zunehmend prägte.

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(Hgg.), Arte e persuasion. La strategia delle immagini dopo il concilio di Trento, Trient 2014, 24–31. Vgl. hierzu mit zahlreichen Beispielen und Forschungsstand Hecht (wie Anm. 7).

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Trienter Dissimulation und Venezianischer Eklat Geistliche und weltliche Gewalt nach dem Konzil von Trient Gegen Venedig griff das nachtridentinische Papsttum im Mai 1606 zu seinem schärfsten Zwangsmittel: Über das gesamte Territorium wurde das Interdikt, die völlige Gottesdienstsperre auf unbestimmte Zeit verhängt.1 Kein öffentliches Begräbnis sollte nach dem Willen Roms mehr stattfinden, kein Gottesdienst in Anwesenheit des Kirchenvolks. Begleitet wurde diese Auseinandersetzung von einem Propaganda- und Schriftenkrieg.2 Auf der einen Seite die Vordenker des gegenreformatorischen Roms, auf der anderen Seite ein Servitenpater, der wie kein anderer dieses päpstliche System von innen heraus angegriffen hat: Paolo Sarpi (1552–1623).3 Für diesen rätselhaften frühneuzeitlichen Intellektuellen ging es in diesem Konflikt noch um mehr als die Frage, wem die jurisdiktionellen Rechte über die Kirche in Venedig zustünden: Für ihn wurde das Wesen des gegenreformatorischen, tridentinischen Katholizismus darin offenbar. Seine historischen Werke, die er in den folgenden Jahren verfasste, behandelten folgerichtig nicht nur die Geschichte des Interdikts über Venedig 1606/07, sondern er schrieb auch einen Traktat über die Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens4 und natürlich vor allem seine Geschichte des Konzils von Trient.5 1

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Vgl. William James Bouwsma, Venice and the Defense of Republican Liberty. Renaissance Values in the Age of the Counter Reformation, Berkeley/Los Angeles 1968; Raccolta degli scritti usciti fuori in istampata e scritti a mano, nella causa del P. Paolo V lo’signori venetiani. I–II, Coira 1607; Corrado Pin, Paolo Sarpi senza maschera: l’avvio della lotta politica dopo l’Interdetto del 1606, in: Marie Viallon (Hg.), Paolo Sarpi. Politique et religion en Europe, Paris 2010, 55–103. Vgl. Ivone Cacciavillani, Paolo Sarpi. La guerra delle scritture del 1606 e la nascita della nuova Europa, Venedig 2005. Vgl. David Wootton, Paolo Sarpi. Between Renaissance an Enlightenment, Cambridge u. a. 1983; Vittorio Frajese, Sarpi scettico. Stato e Chiesa a Venezia tra Cinque e Seicento, Bologna 1994. Vgl. ders., A treatise of ecclesiastical benefices and revenues containing, among other very curious particulars, hg. von Tobias Jenkins, Westminster 1974. Vgl. ders., Istoria del Concilio tridentino. Nella quale se scoprono tutti gl’artifici della Corte di Roma, per impedire che né la verità di dogma si palesasse, né la ri-



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