Frikel: „Den Paru aufwärts“ (o. J.), Archiv MPEG, Nachlass Frikel, Caixa 1, Pasta 5, Seite 6. Während die mittleren Flussläufe des Trombetasbeckens im Rahmen von Umsiedlungsaktionen weitgehend aufgegeben werden mussten, leben die Hixkaryana immer noch am Mittellauf des Nhamundá (Caixeta de Queiroz 2010: o. S.). 3 Vgl. Martins 2010. Ein kleinerer Teil seiner frühen archäologischen Sammlungen gelangte wohl auch in den Besitz privater Sammler, wie z. B. Charles Townsend. 4 Elise Fittkau (persönliche Mitteilung, 7. 2. 2014). 5 Das zwölf Objekte umfassende Konvolut übernahm das Musée du quai Branly aus der Amerika-Sammlung des Musée de l’Homme (Inv.-Nr.: 71.1881.34). 6 Suriname, das ehemalige Niederländisch-Guayana, verwaltete sich ab 1954 als gleichberechtigter Teil der Niederlande selbständig und erlangte 1975 die volle Unabhängigkeit. 7 Diese Siedlungskonzentration hat sich mittlerweile wieder aufgelöst und es gibt heute 30 patas und aldeias mit einer Bewohnerzahl, die zwischen 5 und 300 Personen liegt (persönliche Mitteilung Bruder Paul Protásio Stücker, 30. 12. 2013). 8 Elke Bujok (persönliche Mitteilung, 9. 10. 2012). 9 Das MPEG besitzt ebenfalls ein solches Tanzkostüm, das jedoch bei persönlichen Recherchen im Jahr 2012 nicht mehr vollständig aufgefunden werden konnte. 10 Vgl. die Beiträge von Kapfhammer und Scholz/Mans sowie Hoffmann, im Druck a. 11 Laut Frikel („Notas sobre a situação atual dos índios Xikrin do Rio Caeteté“ [1963], Archiv MPEG, Nachlass Frikel, Caixa I, Pasta 2,3) gab es um 1950 mehrere Gruppen, anders jedoch Giannini (2001: o. S.), die nur von zwei Xikrín-Gruppen ausgeht, jeweils eine am Rio Bacajá und am Rio Cateté. 12 Frikel: „Notas sobre a situação atual dos índios Xikrin do Rio Caeteté“ (1963), Archiv MPEG, Nachlass Frikel, Caixa I, Pasta 2,3. 13 Anders als Frikel datiert Giannini (2001: o. S.) die Abwanderung bereits auf das Jahr 1926 und benennt als Ursache für den Aufbruch Angst vor einer gewaltsamen Begegnung mit den Kayapó-Gorotiré, zu denen seit langer Zeit ein feindliches Verhältnis bestand. 14 Frikel: Reisebericht (1963), Archiv MPEG, Nachlass Frikel, Caixa I, Pasta 2,6, Blatt 2 (dt. Übers. v. d. Verf.) 15 Frikel: Plano de viagem (1963), Archiv MPEG, Nachlass Frikel, Caixa I, Pasta 2,5. 16 René Fuerst (persönliche Mitteilung, 26. 10. 2012). 17 Frikel: Reisebericht an das MPEG (1973), Archiv MPEG, Nachlass Frikel, Caixa 1, Pasta 1, Seite 1 (dt. Übers. v. d. Verf.). 18 Nimuendajú (1948: 312) verweist auf João de Souza, der 1747 am Rio Arinos auf fünf indigene Gruppen traf, unter denen auch Apiaká gewesen sein könnten. 19 Frikel, Archiv MPEG, Nachlass Frikel, Caixa 1, Pasta 1, Blatt 1. 20 Vgl. Frikel: Reisebericht an das MPEG (1973), Archiv MPEG, Nachlass Frikel, Caixa 1, Pasta 1, Seite 1. 1 2
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„Man stelle sich eine Bevölkerung vor, welche 1842 2000 Personen zählte, 200 im Jahre 1884, 150 im Jahre 1896, 52 in Jahre 1916 […]“ (Stolze Lima 2001). Für eine der einst machtvollsten indianischen Gruppen am Rio Xingu ist diese dürre Statistik lediglich der erste Teil einer Trajektorie, die über Kriegsgefangenschaft, Asyl oder wohl eher Leibeigenschaft bei einem Kautschuk baron und erneute Flucht an den Oberen Xingu führte, wo man sich den Angriffen anderer indigener Gruppen erwehren musste, die ihrerseits nicht weniger unter Druck standen. Die Yudjá oder Juruna, von denen hier die Rede ist, leben heute großenteils im Einzugsbereich des multiethnischen Indianergebiets am Oberen Xingu im brasilianischen Amazonasgebiet und zählen wieder etwa 350 Menschen. „Experten des Weltuntergangs“ nannte Eduardo Viveiros de Castro, tonangebender Anthropologe Brasiliens, die Indianer Amazoniens (2013), ein Erfahrungsschatz, der sich aus Mythologie nicht weniger als aus leidvollem Erleben über Generationen hinweg speist: „Selã’ã wurde zornig und wollte mit den Weißen Schluss machen. Der Fluss war versiegt. […] Die Sonne war erloschen, alles lag im Finstern. Die wenigen Juruna, die überlebt hatten, retteten sich unter einen großen Felssturz, ringsum starben alle [Selã’ã hatte erneut einen Himmel einstürzen lassen]. Denen unter dem Felssturz gelang es, mit einem Stück Holz erneut ein Himmelsgewölbe auszuhöhlen. Dort vermehrten sich die Überlebenden wieder. Selã’ã aber ließ sie wissen: ‚Wenn die Índios wieder verschwinden, wenn die Índios von den Inseln [im Xingu] verschwinden, dann lasse ich den letzten Himmel einstürzen!‘“ (Stolze Lima 2001)
Der leere Tanzmantel Bei den mit den Yudjá eng verwandten Xipaya, deren Kosmologie und weit mehr noch historisches Schicksal von Dezimierung und Marginalisierung dem der Yudjá sehr ähnelt, wohnten in den Felswänden, die den Xingu säumen und wo die Yudjá den letzten Weltuntergang überlebten, die Totenseelen Iánãi. Die Iánãi liebten es, ab und an die Lebenden zu besuchen, um mit ihnen zu feiern und caxirí (Maniokbier) zu trinken. Den Blicken der Festteilnehmer entzogen versammelten sich die Totengeister lautstark im Inneren eines Hauses, in dem sich nur noch der Schamane befand. Von sich aus nicht fähig, körperlich in Erscheinung zu treten, besetzten die Iánãi den Körper des Medizinmannes. In einem Tanzmantel aus dicken Baumwollstricken mit einer Federkrone aus Papageienfedern und einem Saum aus schwarzen Mutumfedern, der den Körper des Tänzers vollkommen verhüllte, trat der Schamane vor das Haus, um begleitet von Flötenbläsern
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Tanz der Totengeister, Xipaya, Nimuendajú (1918/19) (Foto angefragt !)
zu tanzen und zu singen. Über mehrere Tage hinweg verkörperte der Schamane in einer überwältigenden Tanzperformance viele Dutzende von Geistern bzw. Totenseelen, darunter viele, deren Lebensschicksal den Festteilnehmern noch bestens vertraut war (Nimuendajú 1921/22). In der Sammlung Fittkau befindet sich ein solcher Tanzmantel der Yudjá, der mit dem der Xipaya identisch zu sein scheint. Jedoch bleibt dieser Mantel leer, bloße Hülle, nicht so sehr, weil er in das Depot eines europäischen Museums verbracht worden ist, als vielmehr, weil die Yudjá es heutzutage aufgeben haben, selbst schamanistisch tätig zu werden. In ihrem Bedürfnis nach spirituellem Beistand wenden sie sich an die Schamanen ihrer neuen Nachbarn am Oberen Xingu, die Kayabí. Jedoch hören die Museumsobjekte, wie die Totenseelen der Xipaya, nicht auf, sich bemerkbar zu machen, und drängen dem Publikum ihre Geschichten auf. „Historische Objekte sind Zeugen, Dinge, die damals dort waren. Sie tragen die Spuren ihrer Hersteller in ihrem Geflecht, ihren Texturen und Formen und haben die zwingende Eigenschaft, jenen, die in der Gegenwart leben, ihre Verbindungen zur Vergangenheit vor Augen zu führen“ (Phillips 2005: 108) Es ist angebracht, diese Geschichten zu hören, denn sie sind den Sammlern und Sammlerinnen mit auf den weiten Weg gegeben worden von Menschen, die erfahren mussten, was es heißt, wenn alles einstürzt und hinweggerissen wird. Nicht zuletzt darin liegt die Botschaft, die – so Viveiros de Castro (2013) – indigene Völker für uns bereithaben, denn sie wissen, was es heißt, dass die eigene Welt untergeht. Den ethnographischen Sammlungen sind somit „Muster“ eingeprägt. Zum einen lassen sie scheinbar deutlich die epistemologischen Parameter hervortreten, welche lokale Partikularismen unter das Joch des westlichen Herrschaftswissens zwingen. Zum anderen scheint durch diese Folie der westlichen Ordnung der Dinge das Musterwerk indigener Beziehungen zwischen Menschen, der Umwelt und den Dingen nach wie vor durch. Die Sammlung Fittkau vereint in einem deutlich erkennbaren Kernbestand Dinge indigener Kulturen Amazoniens, welche zweierlei miteinander verbindet: Die Objekte wurden zu einem Zeitpunkt gesammelt, als das Trauma des Kontakts mit der nicht indigenen Hegemonialgesellschaft erst kurz zurücklag. Gleichzeitig lieferten unmittelbar anschließende Feldforschungen (Stolze Lima 2012; Viveiros de Castro 1986; Fausto 2001) bei einer Reihe dieser Gruppen (Yudjá, Araweté, Parakanã) gerade jene bahnbrechenden Erkenntnisse zur Kosmologie der Indianer Amazoniens, die nicht nur innerhalb der Fachdisziplin den State of the Art definieren, sondern weit darüber hinaus Eingang in die aktuellen Diskussionen um eine AlterModernity gefunden haben.
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Arteíndia Um diese in die Sammlungen eingeschriebenen „Muster“ besser zu erkennen und so die in dieses „Muster“ eingewobene „Wahrheit“ erzählen zu können (vgl. Lonetree 2009), hilft es schon, die Umstände des Erwerbs näher zu betrachten. Die Sammlung Fittkau ist keine „Raubkunst“. Ein Großteil der Objekte jener Ethnien, denen in diesem Beitrag unser Interesse gilt, wurde offenbar ganz einfach in den Artíndia-Läden erworben, welche die Indianerbehörde FUNAI damals unterhielt. An touristisch exponierten Orten brasilianischer Städte konnte man bis vor einigen Jahren noch Kunsthandwerk amazonischer Indianer erstehen, die selbst weitab von den Metropolen lebten. Allerdings war die Herstellung von artesanato (Kunsthandwerk) durch die Indianer für die Behörde Teil eines Regimes der Sozialdisziplinierung, welches selbst wiederum einem umfassenderen Regime des Fortschritts und der Entwicklung eingeschrieben war. Unter wirtschaftlichen Druck geraten, beschloss das Militärregime unter General Médici in den 1970er Jahren ein gewaltiges Entwicklungsprogramm aufzulegen, das den amazonischen Raum erschließen sollte (Davis 1977; Müller 1975). Neben geopolitischen Erwägungen der Militärs spielte dabei vor allem eine euphorisch propagierte Entwicklungsutopie eine Rolle, deren Verwirklichung unter dem Schlachtruf „Marsch nach Westen“ (marcha para o oeste) vorangetrieben werden sollte. Sinnbildlich für diesen Aufbruch standen die Trassen riesiger Straßenbauprojekte, die durch den „menschenleeren“ Dschungel geschlagen werden sollten; manche wurden nie verwirklicht (Perimetral Norte), manche wurden realisiert, blieben jedoch weitgehend dysfunktional (Transamazônica), auf manchen Straßen, wie etwa der BR-163 Cuiabá–Santarém, rollt bis heute das weiße Gold der Sojabohnen aus dem Mato Grosso. Immer aber stellte sich heraus, dass die Wälder keineswegs menschenleer waren und Opfer durch Auslöschung und Vertreibung der wahren Bewohner des Waldes stillschweigend in Kauf genommen wurden.1 Die Indios waren dem Fortschritt im Weg und sollten – bestenfalls – von ihrer mit einer solchen Moderne inkompatiblen Lebensweise „emanzipiert“ (Viveiros de Castro 2006) werden. Bei diesem „Emanzipationsprojekt“ kam nun die Indianerbehörde FUNAI ins Spiel, die eigene Abteilungen und Strategien zu entwickeln hatte, wie mit indianischen Gruppen zu verfahren sei, die den vorrückenden „Entwicklungsfronten“ im Wege standen. Die gängige Vorgehensweise war die Einrichtung einer „Anlockungsfront“ (Frente de Atração), wo durch Auslegen von Geschenken (v. a. der begehrten Metallwaren) ein gewaltloser Kontakt hergestellt werden sollte, um die Phase der „Befriedung“ (pacificação) einzuleiten. Dann erfolgte die Umsiedlung bzw. Konzentration in ein einziges oder einige wenige besser kontrollierbare Dörfer bzw. Ansiedlungen rund um den FUNAI-„Posten“. Dort sollten die „wilden“ Verweigerer (Münzel 1978) zu einer Art Kleinbauerntum (campesinato) umerzogen werden.
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Sprechendes Beispiel für diese Strategien sind die heute ca. 1500 Carib-sprachigen Waimirí-Atroarí oder Kinja, deren Gebiet durch den Bau der BR-174 Manaus–Boa Vista durchschnitten sowie vom Rückstau des Manaus versorgenden Wasserkraftwerks Balbina überflutet wurde und den Begehrlichkeiten privater Bergbauunternehmen ausgesetzt war. Nach heftigem Widerstand unterwarfen sich die Waimirí-Atroarí an der Frente de Atração dem rigiden Arbeitsregime der FUNAI, das die Waldbewohner zur Produktion kommerzialisierbarer Waren anhielt, neben Agrarprodukten eben auch Kunsthandwerk. Die materielle Kultur wurde also in verkäufliche Ware transformiert, die Waimirí-Atroarí fertigten artesanato ausschließlich auf Anweisung der FUNAI-Funktionäre an, welche zudem den mit dem Verkaufserlös finanzierten Ankauf von Industriewaren monopolisierten. In Manaus wurde die Ware zu einem vielfachen Preis vor allem an ausländische Kunden und Brasilianer aus dem Süden weiterverkauft, vor Ort spiegelte die magere Entlohnung der indianischen Handwerker die Hierarchien des neuen Systems wider. Nach außen rechtfertigte die FUNAI die niedrigen Preise mit dem Argument, das „Basteln“ von Kunsthandwerk sei schließlich eine Freizeitbeschäftigung (Baines 1991). Der Begriff „Befriedung“ (pacificação) impliziert eine gewalttätige Vorgeschichte. Die FUNAI wurde aber nicht aktiv, um eine etwaige „naturgegebene“ kriegerische Disposition der Waldindianer zu unterlaufen, sondern Gruppen wie die Waimirí-Atroarí blickten bereits auf jahrzehntelange traumatische Erfahrungen mit der nicht indianischen Welt zurück.
Trauma Die von der FUNAI vorangetragenen „Anlockungs- und Befriedungsfronten“ waren trotz ihrer grundstürzenden Folgen für die betroffenen indianischen Gruppen ihrerseits bereits Gegenmaßnahmen, um noch schlimmere Folgen zu verhindern. Mit diesen Strategien intervenierte die Staatlichkeit in diesen extrem peripher gelegenen „gewaltoffenen“ Räumen, wo Akteure der extraktivistischen Raubwirtschaft in Warlord-Manier ihre Interessen rücksichtslos durchzusetzen pflegten. Standen in einem bestimmten Areal meist noch isoliert lebende indianische Gruppen der Ressourcenerschließung im Wege, organisierte man mit gedungenen Totschlägern sogenannte correrías – etwa: „Verfolgungsjagden“ – in der eindeutigen Absicht, diese Gruppen physisch auszulöschen. Es steht zu befürchten, dass die Zahl derartiger Massaker in diesen Regionen peripherer Staatlichkeit jede Vorstellungskraft übersteigt. Ein Übergriff von geradezu teuflischer Grausamkeit wurde jedoch als Massacre do Paralelo 11 („Massaker vom 11. Breitengrad“) publik. Betroffen waren die Cinta Larga (Eigenbezeichnung Matetamãe, Angehörige der Tupí-MondéSprachfamilie), so genannt nach ihren breiten Hüftgürteln aus Rindenbast.
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Die heute in der Terra Indígena Roosevelt in den Bundesstaaten Rondônia und Mato Grosso lebenden Cinta Larga blickten bereits auf eine lange Reihe gewaltsamer Zusammenstöße mit Neo-Brasilianern zurück, als sich die Lage infolge des Baus der Bundesstraße 364 von Cuiabá nach Porto Velho zuspitzte. Um die gewaltsame Gegenwehr der Cinta Larga endgültig zu brechen, organisierte 1963 Francisco de Brito, der für die Kautschukfirma Arruda & Junqueira arbeitete, zwei „Expeditionen“. Auf der ersten ließ Brito aus einem Flugzeug vergifteten Zucker und Dynamitstangen auf ein Cinta-Larga-Dorf abwerfen, in dem gerade ein Fest gefeiert wurde. Auf der zweiten Expedition rückte man zu Fuß vor, bis man schließlich nach zwei Monaten auf der Höhe des Paralelo 11 auf ein Dorf stieß, das noch nicht von Bewohnern (fluchtartig) verlassen worden war. Etwa sieben Personen wurden mit unvorstellbarer Grausamkeit ermordet: Eine Frau wurde von ihren Häschern lebendig an den Füßen aufgehängt, um ihren Körper mit der Machete mitten durchzuhacken. Diese Mordtaten wurden nur bekannt, weil einer der Beteiligten Anzeige beim SPI (der Vorläuferbehörde der FUNAI) erstattete, aus Ärger darüber, dass das ihm zustehende Blutgeld nicht ausgezahlt worden sei. Trotz internationalen Echos wurden die Drahtzieher nie gerichtlich belangt (Equipe de edição da Enciclopédia Povos Indígenas no Brasil o. J.). Wie bei anderen Ethnien Amazoniens auch ist die folgende Annäherung der Cinta Larga an die Außenposten der brasilianischen Indianerbehörden aus diesen traumatischen Vorgeschichten heraus zu verstehen. Gleichwohl ist der rohstoffreiche Lebensraum der Cinta Larga und anderer Gruppen im südwestlichen Amazonasgebiet (etwa der Zoró, der Karitiana, der Uru-Eu-Wau-Wau oder der Warí) bis heute Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen geblieben. Derart hinterhältige Mordanschläge überlebten auch nur wenige der Gê-sprachigen Tapayúna (Beiço-de-Pau) vom Rio Arinos, Mato Grosso. Wie so vielen anderen wurde auch ihnen der Rohstoffreichtum ihres angestammten Gebietes zum Verhängnis, in das immer mehr Gummizapfer, Holzfäller und Goldsucher vorzudringen begannen. In den 1970er Jahren wurde die Gruppe Opfer eines Anschlages, als Invasoren – ganz so, als handele es sich bei den Indios nicht um Menschen, sondern um Ungeziefer – mit Gift versetztes Fleisch auslegten. Die 41 Überlebenden des Terroranschlags wurden in den Xingu-Park deportiert, wo sie abermals in getrennten Gruppen teils bei ihren Verwandten, den K~ısêdjê (Suyá), teils bei den Mebêngôkre-Kayapó unterkamen. Die heute etwa 160 Tapayúna schafften es nicht mehr, ein eigenes Dorf zu gründen (Equipe de edição da Enciclopédia Povos Indígenas no Brasil 2011). Der berühmte Xingu-Park (Parque Indígena do Xingu) war bereits in vorkolonialer Zeit ein Ort eines multikulturellen Zusammenlebens einer ganzen Reihe indigener Ethnien, die dort nach innen eine erkennbar homogene kulturelle Identität entwickelt hatten sowie durchaus festgefügte Feindbilder, was die ihrem Gebiet benachbarten Ethnien betraf. Während der großen Straßenbauprojekte des „Marsches nach Westen“, als durchschnittlich eine isolierte Gruppe pro Jahr ihr
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Schicksal ereilte, wurde der Xingu-Park zunehmend zum Auffanglager für ganze amazonische Kulturen, die anderswo dem Fortschritt im Wege standen: die Ikpeng (Txicão), Teile der Yudjá (Juruna) und Kayabí, die K~ısêdjê (Suyá), die Tapayúna (Beiço-dePau) und schließlich die Panará. Die Panará, wie sich herausstellte, die letzten Überlebenden der sogenannten „südlichen Kayapó“, bereits seit dem 19. Jahrhundert auf der Flucht vor den Kolonisten und als „ausgestorben“ geltend, gerieten beim Bau der Straße Cuiabá–Santarém, die ihr Rückzugsgebiet durchqueren sollte, als „Índios Gigantes“ in den Fokus der Sensationspresse, die reißerisch von den „Riesen“ berichtete, die sich der verkehrstechnischen Erschließung ihrer Region in den Weg stellten. In Wahrheit waren die Panará weder von außergewöhnlicher Körpergröße, noch hatten Bettelnde Panará am Straßenrand sie den Hauch einer Chance. Vermutlich bereits zermürbt durch die jahrelangen Versuche der Behörden, die Panará mit den üblichen „Attraktions- und Pazifizierungsmechanismen“ zu stellen, auf die man aus indigener Perspektive nur mit ständigen Fluchtbewegungen zu reagieren wusste, und bereits geschwächt durch eingeschleppte Krankheiten, akzeptierten die Panará den Kontakt 1973. Was folgte, war eine Tragödie biblischen Ausmaßes: Innerhalb kürzester Zeit verloren die Panará zwei Drittel ihrer Bevölkerung durch Infektionskrankheiten, der noch am Leben gebliebene Rest vegetierte bettelnd und sich prostituierend am Rande der Straßenbaustellen. „Wir waren im Dorf, als alle anfingen zu sterben. Die übrig blieben, liefen in den Wald, aber da starben noch mehr. Wir waren krank und schwach und dann schafften wir es nicht mehr, die Toten zu begraben. Sie verwesten am Boden. Die Aasgeier haben alles aufgefressen.“ (Akè Panará; Equipe de edição da Enciclopédia Povos Indígenas no Brasil 2004) Die Gebrüder Villas-Bôas, die als sogenannte sertanistas („Waldläufer“) – meist in Teams mit bereits „kontaktierten“ Indianern – die Aufgabe übernahmen, „on the ground“ zu den isolierten Gruppen vorzudringen, deren Aufenthaltsorte man zuvor bereits mittels Luftaufklärung ausgekundschaftet hatte, organisierten nun die Deportation der Panará in den Xingu-Park. Den
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[[Bild: http://img.socioambiental.org/d/226061-13/panara_6.jpg]] ???? Flugzeugen der brasilianischen Luftwaffe entstiegen halb verhungerte, von Parasiten befallene Elendsgestalten, die längst nicht mehr begreifen konnten, was mit ihnen geschah. Nachdem sie ein paar Jahre als ungeliebte Parias zwischen den Dörfern der übrigen Neuankömmlinge im Park herumgeschubst worden waren, geschah das Unglaubliche: Die Panará erholten sich nicht nur gesundheitlich so weit, dass sie wieder ein eigenes Dorf anlegen konnten; sie hatten auch Ankunft im Xingu-Park offenbar nie ihren Traum aufgegeben, wieder in ihr Gebiet am Rio Peixoto zurückzukehren. Mit ausschlaggebend war die Tatsache, dass diese Menschen – mitnichten die primitiven Totschläger-Monster, zu denen sie die Sensationspresse verzerrt hatte – eine äußert diversifizierte Landwirtschaft gepflegt hatten, im Vergleich zu der ihnen die Möglichkeiten im Xingu-Park armselig erschienen. Die Sehnsucht nach ihrer „Terra Boa“ war so stark, dass sie nichts unversucht ließen, um wieder dorthin zurückziehen zu können. Obwohl inzwischen Teile ihres Gebiets durch Goldprospektion ökologisch völlig verwüstet worden waren, konnte ein intakt gebliebenes Teilgebiet 1993 als Terra Indígena legalisiert werden. Mit beispielloser Resilienz unter widrigsten Umständen schafften es die Panará, in ihren Garten Eden zurückkehren – soweit noch etwas von ihm übrig war (Equipe de edição da Enciclopédia Povos Indígenas no Brasil 2004; Ewart 2013).
Kosmographie des Kontakts Die zurückgezogen lebenden Waldindianer verarbeiteten ihre Erfahrungen mit der Außenwelt in den Begriffen ihres eigenen Welterklärungssystems. Die Kosmographie des Kontakts äußerte sich zunehmend in einer Krise des Schamanismus, also innerhalb jenes Kontextes, in dem die entsprechenden Spezialisten das Gelingen bzw. Scheitern der Beziehungen zwischen menschlichen und nicht menschlichen Domänen auslegen. Als die Waimirí-Atroarí aus ihrer Isolation geholt werden sollten, weil sie diversen Entwicklungsprojekten im Wege standen, begannen sie die plötzlich auftretenden verheerenden Epidemien mit den Besuchen der Angehörigen des FUNAI-Teams
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in Verbindung zu bringen. In einer Kosmologie, die so gut wie keine natürliche Todesursache anerkennt, wurden die Epidemien als Attacken von Schadenzauberern von außen interpretiert, wogegen die Waimirí-Atroarí sich ihrerseits aggressiv zur Wehr setzten, indem sie die FUNAIVorposten angriffen, wobei es zu Todesfällen unter den Weißen kam. Intern war das Leben von Angst (medo) bestimmt. Baines (2002) berichtet, wie eine der Überlebenden am ganzen Leibe zu zittern begann, wenn sie an das Massensterben, die Kämpfe der Dörfer untereinander, die Angriffe auf die Vorposten der FUNAI, die verzweifelte Flucht erinnert wurde. Ein junger Mann schilderte dem Anthropologen in rudimentärem Portugiesisch eine Situation, die die WaimiríAtroarí nicht mehr unter Kontrolle hatten: „Die Zivilisierten2 töteten. Gift. Die Zivilisierten verschossen Hexerei-Pfeile. Gift. Vater ganz heiß, krank. Mutter ganz heiß. Fieber, hat Fieber, viel Katarrh. Fieber. Krank. Kopf tut weh […] Capitão nahm Pfeile. Nicht mehr alle haben Frau. Frau gestorben. Pfeile, viele Pfeile, Speere […]“ (Baines 2002) In den von der FUNAI-Verwaltung nicht gern gesehenen schamanistischen Sitzungen, wo ähnlich wie bei den Xipaya der Schamane am Waldrand eine Art Geister-Theater aufführte, indem er in sämtlichen Rollen mit dem Publikum kommunizierte, traten nun auch die Geister der Weißen auf und wurden mit den Epidemien sowie den Konflikten mit den Institutionen des Nationalstaats assoziiert. Die Arara vom Rio Irirí in Pará, zu denen der Kontakt sich erst Anfang der 1980er Jahre konsolidiert hatte, verknüpfen in ihrer Kosmographie des Kontakts den Fluss von materiellen Gütern mit moralischen Werten, die aus ihrem Narrativ vom Anbeginn und Untergang der Welt erschlossen werden. Infolge des Auftretens böser Geister (in Gestalt feindlicher Indianergruppen) kam es zu einer kosmischen Katastrophe, das Himmelsgewölbe stürzte ein und die heutigen Menschen (die Arara) treiben über das Wasser, dazu verurteilt, auf den Scherben einer zerbrochenen Kalebasse zu leben. Die heutige Erde ist das Ergebnis dieser primordialen Tragödie, verantwortlich für die Instabilität der Welt und für die Spannungen und Aggressionen zwischen den sozialen Gruppen. Nur das Gebot des „Maßhaltens“ kann verhindern, dass sich das Kataklysma wiederholt. Als die „Anlockungsfront“ der FUNAI in Unkenntnis der ethnischen Zugehörigkeit der Flüchtigen Angehörige der Kayapó im Kontaktteam einsetzte, brach unter den Arara erst recht Panik aus, da sich aus ihrer Perspektive nun herausstellte, dass die Weißen mit ihren Erzfeinden, den Kayapó, gemeinsame Sache machten. Erst ein Strategiewechsel der FUNAI im Sinne einer Annäherung durch Überhäufen mit Geschenken (namoro) brachte die Wende und die Arara ließen sich auf freundschaftliche Beziehungen ein, indem sie ihrerseits eigene Artefakte für die neuen Dinge eintauschten.
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Indem sie den Schöpfungsmythos neu erzählten, so ihr Ethnograph Teixeira-Pinto (2000), fanden die Arara einen Ort für die Weißen: Nach der anfänglichen Katastrophe waren die Weißen zwar ebenfalls vom Himmel gefallen, dann aber zurückgekehrt, um bei der Gottheit Akuanduba zu leben, von der sie all die materiellen Güter erhielten, die sie heute besitzen. Die Arara hingegen, eingeschüchtert vor Angst, versteckten sich vor der Gottheit und den Weißen unter den Kalebassenscherben des Himmels, blieben „verlassen“, mussten das Feuer vom Fischotter stehlen und, zusammen mit dem Faultier, lernen, die wenigen Dinge, die sie brauchten, selbst herzustellen. Heute, so Teixeira-Pinto (2000) weiter, rätseln die Arara, warum die Quelle von Industriegütern wieder versiegte. Die Knappheit der Güter beschwöre die Gefahr von Egoismus herauf, der schon einmal den Streit ausgelöst hatte, der zum Einsturz des Himmels führte. In vielen amazonischen Narrativen des Kontakts wird auf uns eigenartig anmutende Weise technisches Wissen mit dem Thema der Unsterblichkeit bzw. dem Verlust derselben verknüpft. Mythen vom „Ursprung des kurzen Lebens“ werden auf die Kontaktsituation angewandt, hier wie dort gilt eine falsch getroffene Wahl als Grund für den Verlust der Unsterblichkeit bzw. als Grund für die unterlegene Position (Viveiros de Castro 2006). Für die Parakanã, Tupí‑Guaraní-sprachige Waldbewohner des Gebiets zwischen dem Rio Pacajá und dem Rio Tocantins in Pará, sind das vorrangige Kennzeichen für die Schöpfungskraft der Weißen die Objekte, die sie herstellen. Diese Dinge gelten ihnen als Zeichen machtvoller Handlungsfähigkeit und als Belege für schamanistische Kapazitäten. Für die Parakanã ist (auch technologische) Handlungsfähigkeit das Resultat einer ereignisreichen Interaktion mit Manifestationen des „Anderen“ (Tieren, Feinden und anderen Wesenheiten) in deren Bedingung als Personen. In die Wege geleitet werden diese Interaktionen von den „Träumern“, der Traum ist integraler Bestandteil der alltäglichen Lebenswelt. Die Verbreitung von Objekten ist dieser Logik zufolge Zeichen eines reichen onirischen Lebens und die Verheißung von Unsterblichkeit (im Sinne einer Überfülle an Schöpfungskraft). In tragischer Verkennung der Umstände der Kontaktsituation baten die Parakanã anfangs die FUNAI-Männer mehrfach, ihre Angehörigen aus den Knochen in den Gräbern dieser jüngst an den eingeschleppten Krankheiten Verstorbenen wiederzubeleben (Fausto 2002).
Theorie Und doch waren es gerade diese kleinen, misshandelten Kulturen, denen sich eine neue brasilianische Ethnologie widmete und diese so selbst zu emanzipieren begann. Eine ältere Strömung der brasilianischen Anthropologie hatte sich an einer Ethnologie des interethnischen Kontaktes
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abgearbeitet, der zufolge – so die eher pessimistischen Prognosen – eine indianische Identität auf Dauer „zerrieben“ werde.3 Anstatt das Augenmerk auf – negativ besetzte – Hybridformen zu richten, wollte die neue Ethnologie die Kernbedingungen der amazonischen Weltsicht(en) herausarbeiten, auch wenn man mit Gesellschaften mit traumatischer Vorgeschichte konfrontiert war. So lautete der Titel der Dissertation von Regina Polo Müller über die Asuriní, einer weiteren Tupí-Guaraní-sprachigen Gruppe, die im Tumult der Erschließung des Gebiets am Mittleren Xingu (Santos und Andrade 1990) unter den geschilderten Verhältnissen kontaktiert worden ist: „Wie zweiundfünfzig Menschen eine indianische Gesellschaft reproduzieren“ (Müller 1987). Wie sich in Tânia Stolze Limas Feldforschung bei den auf eine kleine Gruppe zusammengeschmolzenen Yudjá (Juruna) zeigt, waren die Anthropologen und Anthropologinnen von der Resilienz des amazonischen Weltbildes gegenüber Verfolgung und Vertreibung überzeugt: „Es erscheint mir nicht mehr plausibel, dass die Dinge so stattgefunden haben, also dass sich ein Teil der konstitutiven Beziehungen dieses Systems infolge der Tragödie aufgelöst hat. Ich glaube nicht, dass der Tod der Menschen die Zerstörung des Systems nach sich gezogen hat, sondern vielmehr, dass dieses in einer reduzierten Form weiter funktioniert hat.“ (Stolze Lima 2005: 79; Hervorhebung W.K.) Stolze Limas Feldforschung war bahnbrechend für die neue brasilianische Ethnologie, noch mehr jedoch die von Eduardo Viveiros de Castro bei den wiederum Tupí-Guaraní-sprachigen Araweté oder Bïde (Viveiros de Castro 1986). Das Schicksal der Araweté ist von denselben traumatischen Umwälzungen gekennzeichnet wie das der übrigen hier erwähnten Indianergruppen. Die Straßenbauarbeiten lösten Chaos unter den am Mittleren Xingu lebenden isolierten Indios aus. Auf der Flucht vor den Attacken anderer versprengter Gruppen ergaben sich die Araweté 1976 der FUNAI. Diese schickte die ohnehin durch Hunger und Krankheiten geschwächte Gruppe auf einen regelrechten Todesmarsch durch den Wald, um sie an einem 100 Kilometer entfernten Posten unterzubringen. 66 Personen starben unterwegs, viele davon, weil sie sich – erblindet durch eine infektiöse Konjunktivitis, die sie sich in der Kontaktsituation zugezogen hatten – im Wald verirrten und dort zu Tode kamen (Viveiros de Castro 2003). Brasilianische Ethnologen und Ethnologinnen widmeten den betroffenen Gruppen, nachdem diese einmal zur Ruhe gekommen waren, jene Feldforschungen, welche nicht nur die erstaunliche Komplexität des Weltbildes dieser Waldbewohner enthüllten, sondern auch die soziologischen und philosophischen Theorien, die daraus hervorgingen, in die internationalen Debatten um mögliche Alternativen zur Krise der westlichen Moderne einfließen ließen (vgl. Latour 2008).
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Die materielle Kultur nun der Araweté, wie sie auch in der Sammlung Fittkau repräsentiert ist, ist schlicht, fängt aber die Grundprinzipien ihres Weltbildes ein. Neben den Waffen wie Pfeil und Bogen sind Rassel und Frauenrock zu nennen. Die aus Arumã-Binsen geflochtene Rassel (aray) ist das Kommunikations- und Transformationsmittel par excellence des Schamanen (peye). Obwohl nur einige wenige Personen als „starke“ Schamanen gelten, die imstande sind, zu den Maï-Göttern zu reisen, ist doch jeder Araweté-Mann ein wenig peye. Die Rassel ist Statussymbol der verheirateten Männer mit Kindern, der „Rasselherren“ (aray ñã). Das Pendant zu Waffen und Rassel der Männer ist der Innengürtel (ii re) aus Baumwolle, den alle Frauen von der Pubertät an tragen.4 Die Kleidung der Frauen besteht zudem aus einem etwas weiteren Überrock, einer Schärpe zum Tragen der Babys sowie einem Kopftuch, alles mit Urucum rot gefärbt. Wie die Rassel transportiert der Frauengürtel starke sexuelle Konnotationen, die über die bloße Gender-Identität hinausgehen. Allerdings ist eine Ehe bei den Araweté erst dann perfekt, wenn sich zu dem jungen Paar ein weiteres gesellt. Diese Freundschaftsbeziehung (apiri-pihã) gilt den Araweté als die beste aller Welten (Viveiros de Castro 2003). Das umfassendere Dorfleben entfaltet seine ganze Ästhetik dann, wenn diese kleinen sozialen Einheiten (die Araweté-Version einer Familie) ein Bierfest veranstalten, bei dem die Menschen „herausgeputzt wie die Götter“ (Maï heri) auftreten, rot bemalt und mit Federn und Flaum geschmückt, der mit duftendem Harz aufgeklebt wird. Die wichtigste symbolische Referenz des Bierfestes ist der Krieg: Die Tötung eines Feindes wurde einst immer mit einem Bierfest begangen. Der transzendente Gehalt des Kriegswesens wiederum wird in den kosmologischen und ontologischen Vorstellungen klar: Die „Götter“ (Maï hete) sind einerseits ideale Araweté, andererseits gefährliche Kannibalen, welche die Totenseelen, indem sie sie kochen und verzehren, in unsterbliche Wesen verwandeln. In den nächtlichen Gesängen der Schamanen steigen diese Himmelswesen zur Erde nieder und manifestieren sich im Gesang und im Klang der Rassel. Abermals bereitet der Schamane in kunstvoller Weise eine Bühne für die unterschiedlichen Perspektiven der auftretenden Akteure: für Götter und Totenseelen und schließlich den Schamanen und Sänger selbst (Viveiros de Castro 2003). Dieser „Perspektivismus“ (Viveiros de Castro) hat nun – und dies ist eine der wesentlichen Erkenntnisse über das Weltbild der Amazonasindianer – zur Voraussetzung, dass auch nicht menschlichen Wesen (z. B. Tieren) ein eigener Standpunkt zuerkannt wird. Die (menschliche) Kultur, so Viveiros de Castro, eigne demzufolge allen Wesen, nur die Körper bzw. die
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körperlichen Hüllen seien unterschiedlich. Die amazonischen Kulturen setzten dem westlichen „Multikulturalismus“ – eine Natur, viele Kulturen – einen radikalen „Multinaturalismus“ – eine Kultur, viele Naturen – entgegen. Das Verhältnis der in einem solchen Weltbild zueinander in Beziehung tretenden Wesenheiten folge einer „prädativen“ Logik – das Gefälle der Perspektive sei davon bestimmt, wer Jäger, wer Beute sei – was wiederum eine „phagische“ Logik impliziere, nach dem Motto: „Sag mir, mit wem du was wie zubereitet isst, dann sag ich dir, wer du bist“ (Viveiros de Castro 2004, 2011, 2012). Viveiros de Castro sieht die Relevanz dieser alternativen Kosmologien weniger darin, dass sich – wie etwa in der gegenwärtigen Animismus-Debatte (Kapfhammer 2012) – eine alternative Umweltethik daraus ableiten ließe, als vielmehr in der Tatsache, dass eine radikale Alterität überhaupt denkbar ist, die Pfadabhängigkeit vom katastrophalen Wachstumsdogma des Westens überhaupt als überwindbar gedacht werden kann. Viveiros de Castro setzt hier dezidiert auf die indigenen Völker, welche trotz Genozid und Marginalisierung den UN-Kategorien zufolge immer noch mehr Personen zählten als etwa die USA Einwohner (Viveiros de Castro 2013; Instituto Humanitas Unisinos 2013). Viveiros de Castro (2006) zögert nicht, diese „Anthropologie kulturell radikaler Alterität“ in einer Art „strategischem Exotismus“ zu instrumentalisieren, um eine AlterModernity erst denkbar zu machen. So faszinierend die Erschließung amazonischer Weltbilder für die aktuelle ökologische Debatte sein mag, so darf meines Erachtens die traumatische Vorgeschichte dieser Gruppen nicht aus dem Blick geraten, deren kosmologische Prinzipien hier zu einer allfälligen Kritik der westlichen Moderne destilliert werden. Viveiros de Castro (2013) selbst erklärt die Amerindianer nicht zuletzt deshalb zu „natürlichen“ Bundesgenossen, weil sie, Experten des Weltuntergangs, bereits wüssten, was es bedeutet, wenn die eigene Welt vernichtet worden ist.
Das Anliegen Inspiriert wurde dieser Versuch, einen spezifischen Teil der Sammlung Fittkau in einen letztendlich politischen Zusammenhang zu stellen, von der Beobachtung, dass es etwa in Nordamerika, wo die Kuratierung von ethnographischen Ausstellungen längst von Indigenen selbst übernommen wird, den Kuratoren und Kuratorinnen oft kaum darum ging, die kulturelle Semantik der gezeigten Objekte vor einem nicht indianischen Publikum auszubreiten, also das westliche Klassifikationsprojekt durch eine emische Sicht zu ergänzen oder zu ersetzen, als vielmehr die Objekte zu einer Art Katalysatoren dafür werden zu lassen, Geschichten von Trauer und Trauma zu erzählen. Der einzige Weg, so die indianische Anthropologin Amy Lonetree, vom historischen
Trauma befreit zu werden, sei es, die Wahrheit zu erzählen, das Leiden zu dokumentieren und die Täter zu benennen. Es seien die Objekte, die den Überlebenswillen ihrer Hersteller und Herstellerinnen während der „Zeit der Tränen“ (Crying Time) ins Licht rückten (Lonetree 2009). Es wäre sehr wünschenswert, wenn die einzigartige Sammlung Fittkau auch einer solchen Bestimmung zugeführt werden könnte. Die Rede ist hier nicht von einer „Reklamation“ (reclaiming) im Sinne einer Rückführung der Objekte, sondern einer „Reklamation“ im Sinne der belgischen Philosophin Isabelle Stengers: „Reclaiming means recovering what we have been separated from, but not in the sense that we just can get it back. Recovering means recovering from the very separation itself, regenerating, what this separation has poisoned. […] A poisoned milieu must be reclaimed. […] Reclaiming the past is not a matter of resurrecting it as it was, of dreaming to make some ‘true’, ‘authentic’ tradition come alive. It is rather a matter of reactivating it.“ (Stengers 2012) Eine der Best Practices, zu einem solchen „Community Healing“ (Lonetree 2009) beitragen zu können, ist die Zusammenarbeit von Museen mit den Herkunftsgemeinden (source communities); Museumsarbeit als „therapeutisches“ (Phillips 2011) Verfahren, welches nicht nur die Herkunftsgemeinden der Sammlung bitter nötig haben, sondern letztendlich alle Akteure dieses einzigartigen Lebensraumes Amazonien.5 Ich bin sicher, dass ein solches Anliegen auch im Sinne Ernst Josef Fittkaus gewesen wäre.
Die jüngst zur Aufarbeitung der Militärdiktatur eingerichtete Nationale Wahrheitskommission (Commissão Nacional de Verdade, CNV) kam zu dem Schluss, dass der Straßenbau ca. 8.000 Opfer unter der indianischen Bevölkerung gefordert haben muss (Lima 2013). 2 „civilizados“. Der Begriff wird im amazonischen Hinterland heute noch ganz selbstverständlich von Indianern wie Nichtindianern verwendet. 3 Ein Schlüsselbegriff dieser Ethnologie war „fricção“, die „Reibung“, die im Kontakt der indianischen Kulturen mit den Weißen entsteht und diese à la longue schließlich zermürbt (Ribeiro 1982; Ramos 1990). 4 Die Rassel der Männer und der Innengürtel der Frauen können nicht vererbt werden, sondern müssen nach dem Tod der Besitzer verbrannt werden. Solche Gebote stellen eine kulturell sensible Museologie vor die Frage, ob und wie solche Objekte überhaupt ausgestellt werden können (vgl. dazu die Polemik von Davi Kopenawa in Kopenawa und Albert 2013: 345 ff.). 5 Dies gilt umso mehr, als viele der in diesem Beitrag genannten indianischen Kulturen, nachdem sie das Desaster des „Marsches nach Westen“ mit knapper Not überstanden haben, heute erneut bedroht sind durch eine Neuauflage von Megaprojekten wie etwa dem Belo-Monte-Staudamm am Rio Xingu. 1
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Im März 2014 hatte ich auf Einladung der Kuratorin Gabriele Herzog-Schröder und Wolfgang Kapfhammers die Gelegenheit, eine Sammlung indigener Artefakte vom Rio Negro des deutschen Sammlers und Forschers Ernst Josef Fittkau aus den 1960er Jahren im Staatlichen Museum für Völkerkunde München zu besuchen. Professor Fittkau war Anfang der 1960er Jahre Mitarbeiter des Nationalen Instituts zur Erforschung Amazoniens INPA (Instituto Nacional de Pesquisas da Amazônia) mit Sitz in Manaus, Brasilien, wo auch ich Forschungen für meine Master-Arbeit durchgeführt habe (Lima Barreto 2013, Lima Barreto und Mendes dos Santos 2013). In diesem Text möchte ich die mythologische Einbettung des Federdiadems bahsá busa, der Fischfallen und anderer Artefakte der Sammlung aufzeigen, ihre Bedeutung und die Vorsichtsmaßnahmen, welche sie in ihrem alltäglichen Gebrauch erfordern. Auf die technische Beschreibung ihrer Fertigung werde ich ebenso verzichten wie auf eine Reflexion zu ihrer Kosmologie. Mein Großvater, Ponciano Barreto, war am oberen Rio Tiquié einer der angesehensten yai, ein pagé oder Schamane. Er verstarb in den 1990er Jahren und nach seinem Tod übernahm mein Vater, Ovídio Barreto, seine Rolle; er wirkt noch heute als ein religiöser Spezialist, der kumu1 genannt wird. Ich selbst wurde, seit ich fünf Jahre alt war, von meinen Eltern dazu angehalten, den Weg einer konventionellen Ausbildung einzuschlagen. Im Augenblick bin ich Master der Sozialanthropologie der Universität des Bundesstaats Amazonas (Mestrado em Antropologia Social, UFAM). Während meines Werdegangs verlor ich nie den Kontakt zu meiner Familie; ich kenne die mythologischen Erzählungen und beherrsche meine Muttersprache. Als Master, Forscher und Kenner der Wissenstradition der Tukano kann ich den Dialog zwischen der indigenen und der wissenschaftlichen Welt vorantreiben. Die Erklärung für den Ursprung der Welt, den Ursprung der Menschen, den Ursprung der Dinge und kulturellen Praktiken wird in einem Bündel mythischer Erzählungen ausgebreitet, welche als die Grundlage allen indigenen Wissens erachtet werden. Es sind die Mythen, auf die die Menschen zurückgreifen, um ihren Lebensraum zu verstehen und zu ordnen, um mit ihrer sozialen Umwelt in Beziehung zu treten sowie mit den unsichtbaren Menschen, den wai-mahsã, zu kommunizieren, welche die Bereiche der Erde, des Wassers, des Waldes und des Himmels bewohnen. Die wai-mahsã sind Wesen, welche dieselben Eigenschaften und Fähigkeiten wie die Menschen besitzen, einschließlich ihrer Gestalt, jedoch für gewöhnliche Menschen im Alltag unsichtbar bleiben. Sie können nur von schamanischen Experten, den yai und den kumu, in deren Träumen gesehen werden. Sie sind als Wächter oder Beschützer für die Umwelten verantwortlich, in denen die Tiere – die „Haustiere“ der wai-mahsã – vorkommen. Sie sind also nicht die „Herren“ oder „Besitzer“ der Tiere, sondern die „Herren“ über deren Territorien. Die wai-mahsã kommen in großer Zahl in der Natur vor und können sich in bestimmten Situationen in der Gestalt von Tieren, Felsen oder Pflanzen zeigen, wobei sie deren Eigenschaften und Fähigkeiten annehmen.
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