Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herausgegeben von Gisela Staupe Band 12
Parahuman Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik Herausgegeben von Karin Harrasser und Susanne Roeßiger
2016
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Publikation entstand im Rahmen des Verbundprojektes "Anthropofakte. Schnittstelle Mensch. Kompensation, Extension und Optimierung durch Artefakte". Ein Forschungsprojekt des Deutschen Hygiene-Museums und d'er Technischen Universität Berlin, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Programm "Die Sprache der Objekte - Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen".
•
DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM DRESDEN
I"
TeChnisc~''IJ universit~: Ber/in
GEFÖRDERT VDM
Bundesministerium tür Bildung
und Forschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Kann Harrasser, Susanne Roeßiger Einfiihrung .......................................................................................................................................
9
WISSEN WIR, WAS EIN TECHNOKÖRPER VERMAG? Zwischen Inklusion und Upgradekultur
Klaus Bi17lstiel Unvermögen, Technik, Körper, Behinderung. Eine unsystematische Reflexion ..............................................................................................
21
Petra Gehnng Pille oder Prothese, Pharmakon oder Symbiont. Zwei widerstreitende Fassungen rur den menschlichen Technokörper ..................
39
Dierk Spreen Der Körper in der Upgradekultur und die Grenzen des neuen Technokonservatismus ..............................................................................................................
49
GERÄTE ZUM HÖREN Ko-Evolution, Teilhabe, Zumutung
Jürgen TchofZ Elektrisches Hören. Technik, Möglichkeiten und Grenzen von Cochlea-Implantaten .............................
69
Reate Ochsner Das Cochlea-Implantat oder: Versprechen und Zumutungen sozialer Teilhabe ............................................................................................................................................
78
6
Uln"ke Bergennann Hören, eine Trajektorie. "Auditiver Kolonialismus" und DeafEthnicity Geräte zum Hören. Ko-Evolution, Teilhabe, Zumutung. Ein Gespräch ..................................................................................................................................
Inhalt
91
105
WIE SPRECHEN WIR ÜBER TECHNOLOGIEN? WIE BLICKEN WIR AUF KÖRPER? Neue Erzählungen und Bilder von Körpern und Technologien
Chnstoph Asmuth Der verklärte Leib. Singularität und Technoromantik ...........................................................................................
121
KennyFnes Die Geschichte meiner Schuhe und die Evolution von Darwins Theorie .............
130
EnnoPark Weil es geht. Hacking the Body .........................................................................................................................
143
training .................................................................................................................................:............
155
Thomas Macho Enge Beziehungen. Über die Arbeiten von hoelb/hoeb .......................................................................................
159
JosifBarla Verschränkungen von Gewicht. Von Verbindungen zu Un/Bestimmtheiten ........................................................................
164
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................................................... Nachweis der Bilder ...................................................................................................................
175 180
Ulrike Bergermann
Hören, eine Trajektorie. "Auditiver Kolonialismus" und DeafEthnicity
Was würde eine "auditive Epistemologie" über die Implikationen des Cochlea-Implantats (CI) in Wissenschaft und Kultur herausbekommen, wenn sie die Angleichung einer gehörlosen Minderheit an die hörende Mehrheitsgesellschaft fur normal hält? Um etwas über diese Technologie, aber auch über die bestehenden Wissensformen zu lernen, müssen die entsprechenden Selbstverständlichkeiten wahrgenommen und kritisch gewendet werden.) Der Protest gegen das CI rückt die geläufigen aisthetischen und akademischen Axiome in ein kritisches Licht. Diese Kritik beginnt im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, zur Zeit des Kampfs um die Anerkennung der Gebärdensprache als gleichberechtigter Sprache, der Entwicklung einer Gehörlosenkultur, wissenschaftlicher Studiengänge, einer auch in Klubs, Theatern und Vereinsheimen etablierten community, mit dem Kampf um bilinguale Erziehung, Dolmetschen, Untertitelungen, mediale Repräsentanz etc. Wenn Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur gleichwertig mit Lautsprachen und der entsprechenden Mehrheitskultur sind, dann sind Gehörlose, ebenso wie Schwerhörige oder CI_Träger_innen, nicht durch ein Defizit gekennzeichnet, nicht durth einen Mangel, sondern sie stellen eine Minderheitenkultur innerhalb einer dominanten Kultur dar. Wenn Gehörlosigkeit kein impairmentist und noch nicht mal eine disabz7ity, sondern eine Variante, Teil einer Kultur, dann stünde zur Debatte, warum gehörlose Kinder implantiert werden. Implantierten Kindern, so die Kritik am CI, werde die Möglichkeit genommen, mit Gebärdensprache aufzuwachsen und damit in eine Gemeinschaft und Kultur hineinzufinden, in der sie eben nicht als defizitär wahrgenommen werden und ihre Potentiale in ihren eigenen Kommunikationsformen voll entfalten können. Die Gegner erwidern, wenn die Kinder nicht früh implantiert würden, wäre kostbare Zeit Zwei Beispiele liefern etwa Beate Ochsner und Robert Stock mit einer Erweiterung der theoretischen Figur der Interpellation (Althusser) um ein nichtsemantisches Hören mit dem CI, die Möglichkeiten des Ein- und Ausschaltens usw. Hiermit kommen die klassische (hörende) Philosophie und die Besonderheit des Denkens mit und um nicht/nur/hörende Settings auf Augenhöhe: Beate Ochsner und Robert Stock 2014: Das Hören des Cochlea-Implantats. In: Historische Anthropologie, 22(3), 408-425, bes. 424, sowie mit einem weiteren Fokus auf die Einsprüche verschiedener Körper an anthropologische, philosophische, mediale Wissensformen: Karin Harrasser 2013: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld: transcript.
92
Uln"ke Bergermann
rur das Erlernen der Lautsprache verloren (auch wenige Monate später nehme der Lernfortschritt schon rapide ab; das gilt allerdings fiir den Gebärdenspracherwerb gleichermaßen). Warum nun angesichts des CIs Begriffe wie "Kolonialismus" und "Deaf genocide"2 benutzt werden, ist zu fragen; warum eine ,taube Ethnie' postuliert wird, während Ethnien global an vielen Stellen Autonomie verlangen und/oder in Nationalismen umschlagen; warum von Kolonialismus und Genozid gesprochen wird, während ein halbes Jahrhundert nach der Dekolonisierungjetzt erst die Restitutionsforderungen der kolonisierten Länder an die alten imperialen Mächte an Nachdruck gewinnen. Haben solche rhetorischen Parallelen das Potential, - auch wenn die Vergleiche hinken (was sie notwendigerweise immer tun) - das geläufige Verständnis von Macht und Dominanzkultur zu erschüttern? Ein "Volk" stützt seine Zusammengehörigkeit auf Verwandtschaft und die Weitergabe von Traditionen. Die Weitergabe der Gehörlosenkultur ist ein zentrales Thema fiir die Gehörlosengemeinschaft. Nach nur wenigen Jahrzehnten, in denen sich diese Kultur etabliert, eigene Traditionsformen und Vergemeinschaftungspraktiken entwickelt hat, die ebenso körperlich begründet wie gerade nicht durch Verwandtschaft bestimmt sind, minimiert sich nun der körperliche Teil dieser Grundlage durch die neuen Technologien.
I. Biopolitik 2.0: DeafEthnicity Die starke identitätspolitische Position, derzufolge Gehörlose nicht nur eine eigene kulturelle und sprachliche Identität haben, sondern aufgrund dieser Kultur, der Sprache und einem eigenen sozialen Zusammenhalt ein eigenes "Volk" bildeten, ein Deqfpeople, eine Deqfworld, eine eigene Ethnie (Deqfethnidty), ist am Ende des 20.Jahrhunderts im Bereich der wissenschaftlichen und aktivistischen DeqfStudies entwickelt worden. Da implantierte Kinder in einer Lautsprachkultur aufWachsen (sollen), Schulen fiir Gehörlose teilweise schließen müssen und der Gehörlosengemeinschaft der Nachwuchs fehlt, vor allem aber: Da Gehörlosigkeit nicht als Behinderung gesehen wird und daher nach Ansicht der Aktivist_innen gesunde Kinder einer Operation unterzogen werden, ohne dass diese sich dafur entscheiden könnten, werden gemäß dieser Logik die Begriffe von "Kolonialismus" und "Genozid" benutzt, um ein "Aussterben" eines "Volks" als eugenische Strategie einer audistischen Dominanzgesellschaft anzuklagen. Die Bezeichnungen der gehörlosen communt"ty changieren zwischen politisch motivierten Begriffen wie "Deqfworld' oder metaphorisch-poetischen wie "visualpeople" bis zu Aneignungen eth2
Mit Bezug auf die UN-Menschenrechte und das Konzept der "Iinguistic human rights (LHRs) of the Deaf': Tove Skutnabb-Kangas 2003: Linguistic genocide and the Deaf [Vortrag beim World Congress qfthe World Federatton qfthe Deaf, Juli 2003]. In: deafzone, http://www.deafzone.ch/fiIe/fiIe-pool/ action/download/fiIe_id/1379. [21.02.2016]. ("Oralism in the education ofDeaf children is Iinguistic genocide").
Horen, eine Tr,!jektone
93
nologischer Konzepte. Ihre begriilliche Inkonsistenz ist lesbar als Kritik an einer Theorieproduktion, die zwischen wissenschaftliche Definitionen und politische Realität einige Übersetzungsschritte eingebaut hat. Sie muss sich schon durch diese Vermischungen provoziert fiihlen, erst recht natürlich durch den VOlwurf des "Völkermords". Harlan Lane ging 2005 von einer eigenen, abgegrenzten "Welt" der Gehörlosen aus 3 und bezeichnet sie als eigenes "Volk"4 mit einer "natürliche [n] visuell-gestische [n] Sprache".5 Schon dieses Kriterium ist allerdings problematisch, denn die (nationalen) Gebärdensprachen haben sich eben nicht "natürlich" in einer Gemeinschaft von Gehörlosen entwickelt, sondern gehen zurück auf die "künstlichen Gebärden", die signes methodtques des französischen Seelsorgers Abee de I'Epee im 18. Jahrhundert, erfunden in Anlehnung an Beobachtungen gehörlos er Kinder (vor allem zweier Schwestern); die Französische Gebärdensprache wurde der Ausgangspunkt fiir die Entwicklung der amerikanischen ASL (American Sign Language) und anderer. Injedem Fall ist die Erzählung vom "natürlichen Ursprung" nicht so einfach zu halten (,angeboren' ist im übrigen keine Gebärdensprache, so wenig wie irgendeine Lautsprache). Interessant ist der Bezug zu der fiir die Ethnologie zentralen Größe "Verwandtschaft", signifikant sind aber auch die bei anderen Autorjnnen überbordenden Vergleiche mit dem Status anderer Minoritäten, mit den Juden, Abon"gtnes, den kolonisierten Völkern, Homosexuellen usw. Ein weiterer Typus von Vergleich ist der mit der Kategorie "race". Alle Vergleiche zielen auf die Debatte um Konstruiertheit oder Natürlichkeit: Was ist den jeweiligen Gruppen ,eigen', was eine Zuschreibung? Was ist körperlich und vorgängig, was wird nur durch gesellschaftliche Hegemonien überhaupt zu einem Merkmal? Solche Fragen sind besonders brisant, wenn gleichzeitig die Konstruiertheit von Merkmalen konstatiert wird, etwa mit diesen Begründungen: ,Behindert' sind Körper nur insofern, als dass sie durch die Mehrheitsgesellschaft dazu gemacht werden, so argumentiert man in der Verwendung des Begriffs disabt7ity anstelle von impairment, "race" existiert nicht in einer biologischen, aber als soziale Wirklichkeit; die Geschlechtsiden3
4
5
Harlan Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf-World. In: Journal ifDerifStudles and DerifEducation, 10:3, Summer 2005, 291-310, http://jdsde.oxfordjournals.org/content/10/3/291.full. [21.02.2016]; ebenfalls in: Linda Komesaroff (Hg.) 2007: Surgical consent. Bioethics and Cochlear Implantation. Washington DC: Gallaudet University Press, 42-68, hier 291. Als Kriterien rur eine Ethnie der Gehörlosen zählt Lane auf: A collective name,fielingifcommunity, nomzsJOrbehavoir; values, knowledge, kinship, customs, social structure, language, artJOnns, history. Lane 2005: Ethnicity, 292. Mit der Ausnahme von Sprache und Geschichte könnte man das rur sehr viele Gruppen bis hin zu Scientology in Anschlag bringen. Eine ausruhrliche Literaturliste der 1990er Jahre bietet Robert Sparrow 2005: Defending Deaf Culture. The Case of Cochlear Implants. In: The Journal if Political Phl70sophy, Bd. 13, Nr. 2, 135-152, v.a. 135. Sparrow Iistet hier bereits Definitionskriterien rur "Deaf culture" auf (shared histmy, unique language (or dialeet), distinctive art, music, literature or cuisine, own inslilulions 10 serve its cultural needs, 140) - Derifculture kommt den Kriterien rur ethnische Kultur jedenfalls schon nahe, denn sie hat im Gegensatz zu Subkulturen ihre eigene(n) Sprache(n), ein eigenes Vokabular und eigene Grammatik sowie shared expenences, shared histmy, distinet set ifinstitutions, own schools, clubs, meetzng places, etc. Und "a visual people". Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf-World, 291.
94
Uln"ke Bergennann
tität entsteht durch performative Akte, die auch zuallererst den Blick auf die Anatomie bestimmen - auch ein Bezug auf die Realitätsmächtigkeit von tinagined communitieswird durchaus in Anspruch genommen, um die Konstruiertheit, also Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Kategorien aufzuzeigen.
LI Natural trajectones Gehörlose sind selten miteinander verwandt (95% aller gehörlosen Kinder haben hörende Eltern), ihre Verwandtschaft (kinship) bestimmt Lane daher als ,,[w]hat is involved is a sense of tribai belonging, not necessarily genetic and blood ties. "6 Hörende Kinder hätten in der Regel eine andere "ethnocultural identity" als ihre Eltern - was impliziert, die Kinder hätten bereits eine Identität.? Wer die Gehörlosen nicht als Ethnie anerkenne, laufe Gefahr, ihren "ethnocide and even genocide" nicht zu sehen. 8 Am liebsten hält sich Lane im Bereich der race-Vergleiche auf, wohl deshalb, weil er sich hier auf eine gefuhlte Parallele antirassistischer polittcal correctness beziehen möchte. Um "DeafEugenics Today"9 zu veranschaulichen, zitiert er zunächst den berühmten ersten gehörlosen Präsidenten der Gallaudet Universität Washington, I. Kingjordan, der auf die Frage im Fernsehinterview, ob er lieber hörend wäre, antwortete: "Das ist so, also würden Sie eine schwarze Person fragen, ob sie lieber weiß wäre ... Ich betrachte mich nicht als jemanden, dem etwas fehlt". 10 Hier geht es noch um eine Selbsteinschätzung, bei der man sich darüber streiten mag, ob jeder fur sich beurteilen soll oder kann, inwieweit er benachteiligt ist oder nicht. Jordan macht durch die Parallele in einem vertrauteren diskursiven Terrain eine implizite Diskriminierung in der Frage deutlich und nimmt sich gleichzeitig die Freiheit heraus, sich über die hegemonialen Bewertungen zu stellen. Das gilt allerdings nicht mehr fur Ebd., 293. Ebd., 294, 296. Ebd., 302. Lane und andere verweisen an dieser Stelle auf die eugenische Politik Alexander Graham Beils und anderer Oralisten seit dem 19. Jahrhundert, die Gehörlosen das Kinderkriegen untersagten, bis hin zur Sterilisation durch die Nationalsozialisten. Auch das Überleben der indianischen Ureinwohner sei durch Gesetzgebungen seit über einhundert Jahren bedroht (zuletzt noch dem u.s. Indian Cht7d Jf7elfore Ac! von 1978: Bei wem dürfen native amencan cht7dren aufwachsen?), das ließe sich auf Gehörlose übertragen, 306. Weitere Vergleiche verweisen auf Pygmäen oder schwarze Kinder bei weißen Adoptiveltern, 305. Auch Alkoholismus oder Homosexualität sei lange beurteilt worden, als könnten die Betroffenen das verhindern, schreibt Lane und zeigt damit nicht nur seine latente Homophobie (anders als Ladd ist er auch gegen eine Bündnispolitik mit dem Queer movemen~, sondern vor allem seinen wilden und in sich inkohärenten Versuch, alle möglichen und unmöglichen argumentativen Raster zu ziehen, auch wenn sie sich gegenseitig widersprechen. 295. - Von ethnocide und lingut"cide spricht auch: Maartje De Meulder 2016: Sign Language Recognition: Tensions between Specificity and Universalism in International Deaf Discourses. In: Micheie Friedner und Annelies Kusters (Hg.): !t's a small world. International deaf spaces and encounters. Washington De: Gallaudet University Press, 160-171. 9 Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf-World, 303. 10 Ebd., 296, zitiert Fine & Fine, 1990.
6 7 8
Hören, eine Trrgektone
95
die folgenden race-Parallelen Lanes, die nicht individuell, sondern universalisierend argumentieren. Normalisierung sei schlicht "unethisch": "Even if children destined to be members of the African American, Hispanic American, Native American, or Deaf American cultures could be converted with biopower into white, Caucasian, hearing males - even if society could accomplish this, it should not." 11 Denn ethnische Vielfalt und die individuelle Wahl einer Ethnie seien ein Menschenrecht. Gesellschaften seien lernfahig, man habe Indianer früher als Wilde betrachtet, Schwarze als Eigentum und Frauen als unselbständig l2 , nun sollten Gehörlose unter den gleichen internationalen juristischen Schutz fallen wie andere, etwa unter die UN-Erklärung der Menschenrechte fur nationale, ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten (2003).13 Der geforderte Minderheitenschutz und die geforderte Wahlfreiheit haben allerdings da ihre Grenzen, wo die DetifWorldbedroht ist. Sich ,seine Ethnie' frei auszusuchen, ist in einer hegemonialen Kultur nicht möglich; man ist nicht immer Präsident in seiner Ethnie. Lane meint, ein neugeborenes, gehörloses Kind sei entsprechend seiner Ausstattung, seines natürlichen Rechts und seiner kulturellen Zugehörigkeit gehörlos: ,,[T]he child's life trajectory is surely headed there [to the Deaf-WorldJ."14 Es geht um die tr~jectory. Die schon im Abwurf angelegte Flugbahn, die Bewegungsrichtung, die im Anfang der Entwicklung schon inhärente Zukunft, die Laufbahn. Hier wird mit Mitteln der Biologie und Natürlichkeit (der Entfaltung des Kindes) gegen Biologie und Natürlichkeit (der Blutsverwandtschaft) argumentiert, mit ethischen Normen und Vorstellungen von Normalität gegen andere ethische Normen/Normalismen. Auch hier werden Behauptungen aufgestellt fir andere Menschen, die man nicht zu ihren Wünschen hat befragen können, und deren Vergleichspersonen nur rückblickend Auskunft über ihr mögliches Wahlverhalten im Kindesalter geben können (viele Gehörlose geben an, ihre Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft gegenüber einem Leben mit CI zu bevorzugen; es handelt sich um ein spekulatives Sprechen, das die Relativität des eigenen Standpunkts nicht berücksichtigtI5). Was nach Abzug all dieser kritischen Erwägungen übrig bleibt, ist der grundsätzliche Einspruch dieser DetifStudtes gegen die Logiken bestehender Gruppendefinitionen (mit ihren Beziehungen auf ,die Natur' oder ,die Kultur'), eine eigene Behauptung dessen, was Natur sei, und der unbedingte Wunsch, einer Minderheit zu Rechten zu verhelfen, deren Grundlage der Autor wohl von einer gewissen Quantität der Minderheit abhän-
11 12 13 14
Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf-World, 304. Ebd., 306. Ebd., 295. Ebd., 306: " ... given its makeup, its natural right and heritage [ ... ] the new born Deaf child is culturally Deaf". 15 Allerdings sind die Selbstaussagen auch von einzelnen CI-Träger_innen wie z.B. Chorost, der die Gehörlosen um ihre Communt"ty, ihre Zusammengehörigkeit, ihre geteilte Sprache beneidet, sehr überzeugend. Michael Chorost 2005: Rebuilt. How Becoming Part Computer Made Me More Human. Boston, New York: Houghton Miffiin, 85, 127 f
96
Uln"ke Bergennann
gig sieht. Allerdings argumentiert er nicht in solchen Abwägungen, sondern universalistisch. Die tendenzielle Gleichsetzung von Unterdrückung mit Vernichtung kann als Provokation Debatten anstoßen. Der Mangel an kritischer Selbstreflexion und an Differenziertheit im Argument ist einem Manifest vielleicht angemessen, fur einen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Beitrag kann es jedoch nicht dabei bleiben.
1.11 Kolonialismus und Endlösungen Kurz nach Lane veröffentlichte Paddy Ladd seinen Text über "Colonialism and Deaf Rights", in dem er die Gehörlosen mit kolonisierten Völkern gleichsetzt und "Sign Language Peoples" (SLP) nennt. 16 Ihre Kolonisierung finde hauptsächlich sprachlich, kulturell und im Sozialstaatswesen statt. Die historisch kolonisierten Völker hätten es mit Missionaren, Goldsuchern, Soldaten, Anthropologen und Sozialarbeitern zu tun gehabt, SLPs mit neuen Missionaren. Die konventionelle postkoloniale Theorie nehme audistischen Kolonialismus allerdings kaum wahr, da er in einem ungewöhnlichen Bereich, dem der Biomedizin, stattfinde. Dabei habe auch der konventionelle Kolonialismus biomedizinische Züge getragen. Bekanntestes Beispiel sind wohl die Schädelvermessungen, anhand derer die Unterschiede zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten legitimiert/untermauert/markiert wurden. 17 Daher schreibt Ladd selbst die eingeforderte Geschichte des audistischen Kolonialismus, des Widerstands dagegen, sowie des Neokolonialismus. Hierzu geht er von einem idealisierten Zustand aus: Seit den 1760er Jahren seien gehörlose Kinder gemeinsam unterrichtet worden, ein Jahrhundert lang, "in their native (signed) languages" I8 - das ist allerdings historisch, wie bereits ausgefuhrt, so nicht ganz richtig. Der Oralismus seit der Mailänder Konferenz 1880 habe diese Szene dann kolonisiert. 19 Erst ein Jahrhundert später habe die "Dekolonisierung" begonnen, die Akzeptanz von Gebärdensprachen zugenommen, eine Radikalisierung fur DetifRights in den 1980erJahren eingesetzt. Die Oralisten seien in die Behörden verschwunden, wo sie dann etwas später fur das Cochlea-Implantat Politik gemacht hätten. 2o In den 1990er Jahren sei das CI als miracle eure (bzonic ear) beworben worden. Die Tt"mes habe die Abschaffung der Taubheit verkündet, alle britischen Medien hätten das CI unkritisch begrüßt, und kein investigativerJournalismus habe je das juristische Manko thematisiert, dass es keine Vorgabe fur die Firmen oder Ärzte gebe, die medizinischen Komplikatio-
16 Paddy Ladd 2007: Cochlear Implantation, Colonialism and DeafRights. In: Linda Komesaroff(Hg.): Surgical consent. Bioethics and Cochlear Implantation. Washington DC: Gallaudet University Press, 1-29. 17 Ebd. 18 Ebd.,3. 19 Ebd. 20 Ebd., 6-11.
Hören, eine Trtfjekton"e
97
nen zu registrieren. 21 Es gibt keine Datenerhebungen über die Nebenwirkungen oder Gefahren der Implantation außer vereinzelten Informationen, die die Firmen selbst geben. Die weltweite "multimillion dollar industry" finanziere nicht nur große Marketingkampagnen, sondern auch Konferenzen, auf denen u.a. das Militär sich über das Enhancementdes menschlichen (soldatischen) Hörens informiere (was gehörlose Kinder zu Versuchskaninchen mache).22 Auch neuere "liberale" Diskurse, die bilinguale Erziehung mit CI unterstützten, ruhrten zur Schließung von Schulen und zu einer "colonization of the mind"2J. Implantierte kehrten teilweise von normalen Schulen wieder auf die rur Gehörlose zurück (diese hätten Probleme wegen eines höheren Prozentsatzes mehrfachbehinderter oder demotivierter Schülerjnnen). CI-Trägerjnnen seien zunächst von der Gehörlosengemeinschaft ausgeschlossen worden und könnten in keiner der Kulturen wirklich zuhause sein; eine "schwierige nte de passage" nennt Ladd das, ohne den Ausschluss der CI-Trägerjnnen wirklich zu kritisieren oder für eine Vielfalt von Hörstatusgruppen zu plädieren.24 Nach den neokolonialen Wellen des Mainstreaming und des CI drohe eine genetische Modifikationswelle, die potentiell eine "oralistische Endlösung" (sie!) darstelle. 25 Auf die Argumentationsstragien der ,natürlichen Sprache' und der Unterdrückungsgeschichte folgen weitere kulturpolitische Register.
LIII Sensory Polztzcs, Cyborgisierung, DeafGat"n Kurz darauf schriebenJoseph Michael Valente, H-Dirksen Bauman und Benjamin Bahan über "Sensory Politics", um der gängigen Gegenüberstellung von "biopower authoritiesl science and technology" und "culture/tiny linguistic minority", Technomacht und Ludditen entgegenzutreten. 26 Dazu verwiesen sie erstens auf die historisch variable Bewertung der Sinne (und entsprechende epistemologische Verschiebungen seit Aristoteles), zweitens auf die unterschiedlichen, auch nichtwestlichen Zählweisen der Sinne (nicht immer sei runf die ,normale' Anzahl gewesen, manche Kulturen zählten auch mehr), drittens seien Sinne nicht rur alle immer mit einem Organ verbunden, viertens zeige Bourdieu, dass die Beurteilung der Sinne dem Abgrenzen von Klassen diene ("Geschmack", 1995), runftens seien Sinne sozial konstruiert (und Indianerkinder in weißen Internaten ihrer Sinne beraubt worden), sechstens seien gerade Sehen und Hören seitJahrhunder-
Ebd., 13 f. Ebd., 15 f. Ebd.,21. Ebd. Ebd. Der Rest des Beitrags umfasst dann sehr konkrete politische Handlungsempfehlungen, Argumentationsstrategien und Bündnisoptionen. 26 Joseph Michael Valente, Benjamin Bahan und H-Dirksen Bauman 2011: Sensory Politics and the Cochlear Implant Debates. In: Raylene Paludneviciene und Irene W. Leigh (Hg.): Cochlear Implants. Evolving Perspectives. Washington DC: University ofGallaudet Press, 245-258. 21 22 23 24 25
98
Uln"ke Bergermann
ten besonderen Disziplinierungen unterworfen (Phonozentrismus, Okularzentrismus), und schließlich hätten siebtens die Gebärden überhaupt erst den Weg zur Sprache geebnet. 27 Im gleichen Jahr publizierte Valente seinen Text gegen die "Cyborgisierung" gehörloser Kinder und platzierte das CI in eine direkte Linie von den "Auslöschungsphantasien" Bells durch Genozid und "Linguizid"28 bis in heutige kolonialistische, phonozentrisehe und verbrecherische Praktiken hinein - dies sei kein Kolonialismus des Landraubs, sondern eines hyperkapitalistischen Raubs "ofyoung deafbodies and minds".29 Nötig sei eine Dekolonisierungsstrategie gegen das "Cochlear implantation empire". Ein drittes Konzept sei noch angeführt: ImJahr 2014 erschien ein umfangreicher Band mit dem Titel DeqfGain (als Gegenbegriff zu "Hearing loss"), in dem Gehörlosigkeit nicht aus einer Perspektive des Mangels, sondern des Gewinns dargestellt wird. Gehörlose könnten differenzierter sehen, ruhlen, visuelle Daten kognitiv besser verarbeiten, eigene Architektur, Design, Literatur, Kunst oder Deqfmusicproduzieren, Vorteile bilingualen Lernens ebenso vorweisen wie bessere Gesichtserkennung, besseres Erinnerungsvermögen und motion processing: Gehörlos-Sein sei "a great brain excercise".30 Neben dem Egalitäts- und Überbietungsdiskurs besteht hier besonders der Anspruch, Kultur und Biologie zu verbinden, aufjede denkbare Weise. Vielfalt sei injeder Hinsicht, in genetischer oder sprachlicher, "gesund", Monokulturen seien "krank" (Ameisen hätten auch 12.000 Arten). Es gebe eine tiefe Verbindung zwischen linguistischer und biologischer Diversität, daher sei Forschung zur biocultural diversity nötig. In quasi naturwissenschaftlicher Argumentation folgt die Rede vom Verlust der Artenvielfalt (Linguisten schätzten, dass 50 bis 90 Prozent der Weltsprachen im 20. Jahrhundert ausgestorben seien) - es gehe um die Gesundheit von Ökosystemen, Sprachensterben destabilisiere die Zukunft des menschlichen Gedeihens, die Aborigines hätten diese Verbindungen von biologischer und kultureller Vielfalt bereits gekannt, und jede Sprache enthielte eigene Wissensformen, Wissenskorpora und Weltanschauungen. Das gelte zumal rur eine visuell-kinetische Sprache. Die Sprache schlechthin habe sich aus Gebärden entwickelt (David Armstrong), Gehörlose hätten einen eigenen Beitrag zur Geschichte der Menschheit vorzuweisen, bei technologischen Innovationen seien Gehörlose als Entwickler an der Spitze. Evolutionsbiologisch betrachtet seien Gehörlose eine Art unter vielen (und wäre Gehörlosigkeit nur eine negative Mutation, wäre das entsprechende Gen schon lange ausgestorben). Der Text schließt mit der Aussage, in einer Welt, in der multinationale Konzerne den 27 Valente et al. 2011: Sensory Politics and the Cochlear Implant Debates, 246-249. 28 Ebd., 642 f. 29 ]oseph Michael Valente 2011: Cyborgization. Deaf Education for Young Children in the Cochlear Implantation Era. In: Qualtiative Inquiry, 17 (7), 639-652, hier 642 f. 30 H-Dirksen Bauman und]osephJ. Murray (Hg.) 2014: DeafGain. Raising the Stakes for Human Diversity. Minneapolis, London: University of Minnesota Press, hier 143. Siehe auch dies. 2014: Deaf Studies im 21.]ahrhundert. ,Deaf-gain' und die Zukunft der menschlichen Diversität. In: Das Zeichen, Zeit.fchnftfor Sprache und Kultur GeMrloser, Nr. 96, 18-41.
Hö'ren, eine Trqjektone
99
Amazonas ausraubten, seien marginale Wissensformen zentral rur das Überleben der Menschheit und wer die Vielfalt ausrotte, lösche die Menschheit aus. 3 ) Es wirkt, als spielten die Autoren: Der Topfhatte kein Loch, und ich habe ihn gar nicht gesehen! Sie argumentieren in Registern, deren Begründungslogiken sich eigentlich ausschließen oder die zumindest nicht alle gleichzeitig in Anschlag gebracht werden können (mal sei die Medizin pro, dann contra der Deqf world anzusehen, mal seien die Institutionen der hörenden Welt eugenisch, dann wieder nicht, mal gilt die kapitalistische Ökonomie als pro, dann als contra Deqfworld).32 Vor allem bleibt die Begründung einer eigenen gehörlosen Identität widersprüchlich und unbestimmt, besonders, was die Frage der Konstruktion von Identität angeht. Mal verweist man auf die Debatte um diversity, derzufolge ein nicht ,normaler' Körper nicht defizitär ist. Es sei erst die Normierung der Mehrheitsgesellschaft, die ihn sein Leben als defizitär erleben lasse (wären alle Gehwege abgeschrägt, könnten sich alle Rollstühle problemlos fortbewegen etc.). Behinderung (disabt7ity) als gesellschaftliches Konstrukt: Diese Logik wird akzeptiert. Gleichzeitig lehnen die DeqfStudies es ab, deqfoess als Teil von disabt7ity zu sehen und entsprechende politische Bündnisse einzugehen. 33 Natürlichkeitskriterien werden in einem Atemzug angerufen und abgelehnt. 34 Lineare Geschichtsschreibung in Riesenmaßstäben wird in Frage gestellt, aber auch selbst betrieben. 35 Normalitätskriterien sollen im DeqfGat"n kritisiert werden, aber werden in diesem Überbietungsdiskurs letztlich bestätigt.
11. Universalität und Ethnologisierung Die strategische Übertragung von Begriffen auf den Gehörlosenkontext beeindruckt oder verärgert aus verschiedenen Gründen. Aber man muss zunächst davon ausgehen, dass sich subalterne Stimmen nie korrekt in einem ,alternen' System werden artikulieren können. Sagt gerade das Unpassende, der Moment der Störung etwas aus? Was könnte
31 Bauman, Murray 2014: DeafGain, xxxix. 32 Ebd., xx-xxix. 33 Valente 2011: Cyborgization, 647. Die Autoren machen zwar bei vielen Philosophen Anleihen, aber die Performativitätstheorien der Gender Studies, deren Differenzierung von sex und gender beim Betrachten von disabtlity und impainnent helfen könnte, wurden bislang ignori
Comments
Report "Trajektorien des Hörens. \"Auditiver Kolonialismus\" und Deaf Ethnicity "