Tractatus, „Schmäh“ und Sprachkritik: Überlegungen zu einer alternativen Genealogie der Wiener Modernen.

May 26, 2017 | Author: Sabine Müller | Category: Fin de siècle Vienna, Sprachkritik, Wiener Moderne, Wiener Schmäh
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Sabine Müller (Wien) Tractatus, „Schmäh“ und Sprachkritik: Überlegungen zu einer alternativen Genealogie der Wiener Modernen1

Mit den Werten „Reichtum, Reinigkeit und Glanz“ als oberstem Maßstab verfolgte die aufklärerische Sprachkritik des 18. Jahrhunderts hohe Ziele.2 Ausgehend von der Überzeugung, dass klares Denken von der Verwendung einer klaren Sprache abhänge, definierte man sprachliche Ideale und Normen und bemühte sich um eine flächendeckende Durchsetzung einheitlich „vernünftiger“ Standards. Die Ambivalenzen, die das Projekt der sprachlichen Homogenisierung entfaltete und Moderne in Antimoderne kippen ließen, führten dazu, dass den Gefahren der modernen Sprachkritik häufig eine positiv konnotierte Erinnerung an eine vor- und eine postmoderne (oder postkoloniale) Sprachkritik gegenübergestellt wird. Verwiesen wird dabei zum einen auf eine Tradition der Polyphonie in der Nachfolge der „karnevalesken Volkskultur“ (Bachtin), in der sich die politische Ohnmacht vormoderner Unterschichten durch Verkehrung oder Profanierung der Sprech- und Sprachregeln der Herrschenden artikulierte. Zum anderen werden Texte und kulturelle Praktiken hervorgehoben, die Sprachkritik als Kritik an der Abbildtheorie der Sprache verstehen und statt Homogenisierung die Anerkennung sprachlicher Vielfalt fordern. Hiermit wird genau jene Korrektur eingemahnt, die Ludwig Wittgenstein – zentrale Bezugsgröße der modernen wie der postmodernen Sprachkritik – an seinem Tractatus logico-philosophicus (1921) vornahm, um mit den Philosophischen Untersuchungen (1953) das Repräsentationsmodell der Sprache durch das Konzept inkommensurabler „Sprachspiele“ zu ersetzen – ein Schritt, der einen ebenso paradoxen wie prekären Prozess der Metaphorisierung mehrsprachiger Kommunikationen und Lebensräume einleitete. Besonders deutlich, aber auch in einer besonderen Form zeigt sich diese Interpretationsfigur in der Deutung dessen, was gemeinhin als „Wiener Moderne“ bezeichnet wird: in ihren hochkulturellen Ausprägungen verbunden mit den Namen „Hofmannsthal und Schnitzler, Freud und Mahler“,3 „Kraus [...], Loos und Wittgenstein“,4 mit „Theodor Herzls Zionismus [und] Skandale[n] um Secession und Schönberg-Konzerte“;5 aufseiten des popular- und subkulturellen „anderen

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Wien um 1900“ herum6 assoziiert mit spezifisch „dissonanten Stimmen“7 des Vergnügens und der Widersetzlichkeit, die in der Alltagskultur ebenso zu finden gewesen seien wie in den großen Tagen und Gesten des Massenprotests. Lange Zeit galt es als legitim, die starken sprachkritischen und -skeptischen Züge der Wiener Moderne als Teil einer allgemeinen Entwicklung im deutschsprachigen (oder europäischen) Raum zu deuten, in der die aufklärerische Tradition neuzeitlicher Rationalität fortgeführt, wiederbelebt oder radikalisiert werde. So wurde etwa Karl Kraus nicht nur als „wichtigste[r] Vertreter der Sprachkritik in Deutschland“8 gedeutet, sondern auch als Nachfahre von René Descartes oder des Sprachdenkens von Humboldt und Herder. Fritz Mauthner und Hugo von Hofmannsthal galten in diesem Kontext als Repräsentanten einer seit Goethe und Karl Philipp Moritz „produktiven Sprachkrise“.9 Insbesondere seit Jean-François Lyotards berühmtem Auftakt10 mehren sich die Einsprüche gegen dieses Ordnungsmodell, wobei nicht nur eine angemessene Differenzierung zwischen deutscher und österreichischer (Kultur-)Geschichte gefordert, sondern auch ein gewichtiges Bündel historiografischer Prämissen in Frage gestellt wird. Die historischen Arbeiten, die in diesem Kontext entstanden, gelangten im Hinblick auf die Eigenheiten der Wiener Moderne zu einem dementsprechend anderen Ergebnis: Sie erklären sie entweder mit dem vergleichsweise hohen Einfluss vormoderner Traditionen der Polyphonie, oder sie begründen ihre besonderen Züge mit der – ebenfalls vergleichsweise hohen – inneren Heterogenität des habsburgischen Staatsgebildes, seiner sprachlichen und ethnischen Vielfalt.11 Als relevanter Faktor für die Herausbildung der sprachkritischen Tradition gilt dabei nicht nur das Überdauern einer vormodernen, nicht-homogenisierten, von gelebter Zwei- oder Mehrsprachigkeit getragenen „Plurikulturalität“ (Anil Bhatti); in die Analyse mit einbezogen werden auch Antworten auf deren prekäre Politisierung in Form anti-moderner Reaktionen auf Versuche der Vereinheitlichung.12 Die Sprachsensibilität der Wiener Moderne wird in diesem Rahmen folglich mit zwei sehr unterschiedlichen Entwicklungen in Verbindung gebracht: mit den Schattenseiten der Dialektik der Aufklärung, aber auch mit dem Fortbestehen einer kulturell und sprachlich polyphonen Lebenswelt, die von der „staatsnationalen“ Modernisierung nicht erfasst wurde oder ihr widerstand. Vergleicht man die genannten Interpretationslinien, zeigt sich ein nicht unbekanntes Muster.13 Während der erste Strang den positiven Bezug der Wiener Moderne zur aufklärerischen Sprachkritik hervorhebt, ihre Kontinuität zu den Projekten

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der neuzeitlichen Rationalität, betont die zweite Deutungstradition die (konstruktiven wie destruktiven) Widerstände gegen dieselbe Tradition: Ihr Augenmerk gilt all jenen Aspekte, die bezeugen, dass die Wiener Moderne keine moderne, sondern eine postmoderne Problemlage – eine „condition postmoderne“ (Lyotard) – zum Ausdruck brachte.14 Trotz aller Unvereinbarkeiten stimmen beide Perspektiven in einem Punkt überein: Beide legen ihren Argumentationen das eingangs skizzierte triadische, zeitlich linear gedachte Modell einer 1) vormodernen, 2) modernen und 3) postmodernen Sprachkritik zugrunde. Diese gemeinsame Prämisse ermöglichte es freilich auch, dass der Forschungsgegenstand Wiener Moderne – wenn auch nicht immer explizit und intendiert – zum Schauplatz von Auseinandersetzungen über das Pro und Kontra von Moderne und Postmoderne werden konnte.

Post-/Moderne Sprachkritik, „innere Zweisprachigkeit“ und kommunikatives Gedächtnis Die folgenden Überlegungen basieren auf der These, dass sich diese Pattstellung lockern und in Richtung neuer Fragen öffnen lässt, wenn man den Gegenstand aus der Perspektive des „kommunikativen Gedächtnisses“ betrachtet: wenn man also die Wiener Moderne und die Geschichte der Sprachkritik aus dem Blickwinkel jener „traditionellen Gesprächssituationen und Sprechsitten“ beleuchtet, die sich nach Jan Assmann „gewissermaßen naturwüchsig oder ‚autopoietisch’“15 überliefern und deshalb lange Zeit nur selten in den Fokus archivierender Interessen und Instanzen gerieten. Wissenschaftsgeschichtlich ist die bisherige Vernachlässigung der Geschichte der gesprochenen Sprache in der Erforschung der Wiener Moderne leicht nachvollziehbar, sie ist die Folge eines verfehlten Austauschs mit guten Gründen. Denn erst im Laufe der 1960er Jahre, als sich die Diskussion zwischen Vertretern von Strukturalismus und Poststrukturalismus – und bald auch Moderne und Postmoderne – formierte, griff vor allem die angloamerikanische Linguistik die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins auf, um Schritt für Schritt das reale Sprechen beziehungsweise Sprechhandeln als Forschungsgegenstand zu entdekken.16 In denselben Jahren also, in denen die Kulturwissenschaften vom linguistic turn erfasst wurden und sich grundlegend neu orientierten, bahnte sich in der Linguistik ein pragmatic turn an, der wiederum die Fundamente der Sprachwissenschaft tiefgreifend veränderte. Diese zeitliche Parallelität brachte es auch mit sich,

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dass das interdisziplinäre Potenzial beider Entwicklungen bislang noch keineswegs ausgeschöpft ist. Im Hinblick auf Fragen des kommunikativen Gedächtnisses ist zunächst von Bedeutung, dass erst mit der Pragmalinguistik der 1970er Jahre ein systematisches Erfassen und Auswerten zeitgenössischer Sprachwirklichkeiten einsetzte. Die hieraus entstehende Gesprächslinguistik entschied, die Dialogizität der gesprochenen Sprache als konstitutiven Faktor anzuerkennen und damit die monologischen und textzentrierten Prämissen aus der Frühzeit der Nationalphilologien explizit und endgültig zu verabschieden.17 Die historische Gesprächsforschung rückte schließlich jene Problematik in den Blick, die im vorliegenden Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist: die Frage nach der vergangenen Gesprächswirklichkeit. Zwar gilt seitdem die Geschichte der alltäglichen, institutionellen oder medialen Kommunikation als legitimer Gegenstand von Forschung und Archivierung; dennoch werden Historiker der gesprochenen Kommunikation – und damit auch des kommunikativen Gedächtnisses – überwiegend und irreversibel darauf angewiesen bleiben, ihren Gegenstand aus schriftlichen Quellen zu rekonstruieren.18 Die Diskussion über die modernen oder postmodernen Züge der Wiener Moderne aus der Perspektive der historischen Gesprächslinguistik zu betrachten, verlangt zunächst eine Korrektur des zugrunde gelegten Sprachbegriffs, in der Folge ein verändertes Konzept von Mehrsprachigkeit. Denn wenn die Konversationsforschung Verfahren der Gesprächssteuerung, Verständnissicherung und gemeinsamen Sinn konstituierung zu rekonstruieren versucht, oder wenn sie die regulierende Kraft von Kommunikationsinstitutionen hinterfragt, so rückt sie Aspekte des Sprachhandelns in den Mittelpunkt, die sich nicht an die von nationalen Linguistiken erstellten Grenzen halten. Die untersuchten Praktiken und Konventionen sind mit dem problematischen Verhältnis von Sprache und (nationaler, kultureller oder ethnischer) Zugehörigkeit zwar verbunden. Die Frage nach den Traditionen des Handelns durch Sprechen wird von der Konversationslinguistik jedoch über jene nach dem jeweils verwendeten sprachlichen Korpus gestellt: Es geht ihr um das sprachenübergreifende Sprechen, nonverbale Techniken der Kommunikation miteingeschlossen. Etwas Ähnliches gilt für die gängigen Kennzahlen von Mehrsprachigkeit, wie etwa Menge und Dichte geläufiger Umgangssprachen in einem definierten Territorium: Wenn beispielsweise für die Habsburgermonarchie die entsprechenden Statistiken – trotz anzunehmender Verzerrungen – einen unvergleichlich hohen Anteil mehrsprachiger Personen ausweisen, so ist dies für die his-

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torische Kommunikationslinguistik nur dann von Bedeutung, wenn sich hierdurch besondere Formen des Sprechhandelns herausgebildet haben. Diese Sprech- oder „Verkehrsformen“19 lassen sich mentalitäts- und kulturgeschichtlich zwar einem konkreten Raum zuordnen, sie transzendieren jedoch genau jene Vorstellung isolierter, in sich logischer Sprachsysteme, die von der Sprachkritik der Aufklärung erfunden und den Nationalphilologien des 19. Jahrhunderts festgeschrieben wurde. Genau an dieser Stelle sind die Errungenschaften der historischen Gesprächsforschung freilich kritisch weiterzudenken: Die Konzentration auf metasprachliche Kommunikationsformen arbeitet nicht nur der eingangs angesprochenen Metaphorisierung realer Mehrsprachigkeit zu. Vor allem versäumt sie danach zu fragen, welche Wechselwirkung zwischen verschiedenen Modellen des kommunikativen Handelns und der Ein-, Zwei- oder gar Vielsprachigkeit jener Räume und Praktiken besteht, die diese Formen hervorbringen und tradieren. Vor dem skizzierten Hintergrund wird ein Punkt sichtbar, der in der Debatte über die moderne oder postmoderne „condition“ der Wiener Moderne nur implizit präsent ist und als eine Art missing link in den jeweiligen Argumentationsketten bezeichnet werden kann: Denn welche Formen der Alltagskommunikation aus der Konfrontation von Normierungsinteressen mit einer über Jahrhunderte gewachsenen ethnischen und sprachlichen Vielfalt letztlich entstanden, wie sie über das Medium der sprechhandelnden Interaktion eingeübt und weitergegeben wurden, und welche Rolle in diesem Prozess die verschiedenen Traditionen und Figuren der Sprachkritik spielten – all dies sind Fragen, die sich nicht theoretisch und allgemein beantworten lassen, sondern nur durch einen empirisch-historischen Blick auf den Einzelfall. Leslie Bodi formulierte im Hinblick auf die Besonderheiten der habsburgischen Sprachnormierung eine These, die für eine Annäherung an das angesprochene missing link als wertvoller Ausgangspunkt dienen kann.20 Am Beispiel von Joseph von Sonnenfels’ Lehrbuch Über den Geschäftsstil (1784), das bis 1848 als verpflichtende Arbeitsgrundlage für angehende Staatsdiener galt, demonstriert er, wie die zukünftige Beamtenschaft – eine der wichtigsten Trägerschichten der Modernisierung – nicht in erster Linie zur Verwendung einer einheitlichen Sprache angehalten, sondern in einem „double speak“ geschult worden sei. Kernanliegen des Lehrbuchs sei die Vermittlung der Fähigkeit gewesen, so gewandt wie möglich zwischen zwei Sprachregistern zu wechseln: zwischen einem an Gottsched angelehnten Register der Normierung (deutlich, schlicht und zentralisiert) und einem

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Sprech- beziehungsweise Schreibstil, der das hierarchische Prinzip des tradierten „Kanzleygepränges“ weitertrug und nichts anderes bezweckte als „Verdunkelung und geschickte opportunistische Anpassung an die Gegebenheiten“.21 Gerade diese Kompromisshaltung habe das Sprechen der Obrigkeiten allerdings „parodieanfällig“ werden lassen, habe Skepsis, Ironie und Sprachkritik gefördert und den Versuch der sprachlichen Verein heitlichung in die Standardisierung einer „innere[n] Zweisprachigkeit“ verwandelt: Der „Sprachmanipulation von oben“ stellte sich ab nun eine „entlarvende Sprachkritik von unten“ gegenüber, die zu einer Konstante der österreichischen Literatur- und Kulturgeschichte werden sollte.22 Rückt man Bodis These des habsburgischen double speak in den Horizont der Gesprächslinguistik, so stellt sich nicht nur die Frage, wie die Beamtenschaft die beiden Sprachregister in der mündlichen Kommunikation ausbalancierte; zu bedenken ist auch, dass vonseiten der jeweils Verwalteten entsprechende Techniken des Umgangs – der Interpretation und des Agierens – entwickelt und erlernt werden mussten. Historisch entscheidend sind somit die Muster, Typen und Regeln der (sprechhandelnd prozessierten) Interaktion, die von der Schulung im double speak hervorgebracht wurden. Denn auch wenn die geschriebene Literatur mit der „Broschürenflut“ des josephinischen Jahrzehnts zu einer Tradition der Sprachkritik beitrug,23 so ist dennoch anzunehmen, dass sich diese Tradition nicht ohne alltagskulturelles, schriftfernes Fundament verfestigen konnte, zumindest nicht in jenem Maße, wie von den angesprochenen Studien zur Wiener Moderne oder zur österreichischen Kultur der Sprachskepsis beschrieben. Erst vor diesem Hintergrund zeigt sich, wie und an welcher Stelle das eingangs genannte triadische Modell der Sprachkritik mit seiner Unterteilung von vormodern, modern und postmodern zu erweitern ist, um zu einer alternativen Genealogie der Wiener Moderne(n) zu gelangen, die den wertbehafteten Streitpunkt modern versus postmodern differenziert und Mischformen ebenso zu untersuchen ermöglicht wie die Gleichzeitigkeit ‚ungleichzeitiger’ Stilformationen.24 Denn wenn man annimmt, dass sich aus dem von Bodi analysierten double speak nicht nur eine literale, sondern auch eine gesprochene und interaktive Tradition der Sprachkritik gebildet hat, so ist genau diese das gesuchte missing link: Sie ist das verbindende Element zwischen einer vormodernen, aus der Zeit (oder Schicht) der primären Mündlichkeit stammenden polyphonen Sprachkritik (1), der mit der Schriftsprache verbundenen, auf Vereinheitlichung und Eindeutigkeit zielenden modernen Sprachkritik der Aufklärung (2) und schließlich der als postmodern be-

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zeichneten Sprachkritik im Zeichen des „Sprachspiels“ (3). Damit ist sie aber auch jenes gemeinsame Bindeglied zwischen moderner und postmoderner, hoch- und popularkultureller Sprachkritik, das als Ausgangspunkt für neue Fragen an die Geschichte dienen könnte und sollte. Im Folgenden soll das, was umgangssprachlich als „Wiener Schmäh“ bezeichnet wird, als in mehrfacher Hinsicht exemplarisches Beispiel eines solchen missing link näher betrachtet werden: erstens um zu fragen, ob es sich hierbei um eine vierte, historiografisch lediglich zu ergänzende Tradition der Sprachkritik handelt oder eher um ein Dazwischen, eine überlieferte Fertigkeit in-between Moderne, Prä- und Postmoderne; zweitens um zu erörtern, welche – theoretischen und historischen – Schlussfolgerungen es hieraus zu ziehen gilt, und dies nicht zuletzt hinsichtlich eines korrigierten Blicks auf die Geschichte der Wiener Modernen.

Der „Wiener Schmäh“ – fremdenfeindlich oder fehlerfreundlich? Die Alt-Wien-Nostalgie, die seit Jahrhunderten in Krisensituationen beharrlich wiederkehrt, ist belegtermaßen die Sehnsucht nach einer „Stadt, die niemals war“ – so der Titel einer Ausstellung im Wien-Museum25 im Jahr 2004. Dass der so genannte „Schmäh“ einen zentralen Kern dieses Nie-Gewesenen darstellt, steht außer Streit, heißt umgekehrt aber nicht, dass an seiner historischen wie gegenwärtigen Realität gezweifelt werden soll. Dieses Spezifikum der Wiener Kommunikationskultur zu definieren oder gar in seinen historischen Funktionen zu rekonstruieren, ist allerdings nicht nur aufgrund der dünnen Quellenlage eine schwierige Aufgabe, sondern auch deshalb, weil kaum auf nennenswerte Vorarbeiten zurückgegriffen werden kann. Ein Grund hierfür ist sicherlich die Vorbelastung jener Wissenschaften, die sich mit – wie es lange Zeit hieß – „volksnahen“ Phänomenen beschäftigten. Welch prekäre Aufgabe etwa der „Humor“ in der deutschen Geschichte übernahm und wie sehr sich die durch ihn „fingierte Versöhnung“ nach 1945, „nach Auschwitz“ verbietet, daran erinnerte nicht nur Theodor W. Adorno mit Nachdruck.26 Auch folgende Passage aus der Einleitung zu einer 1943 publizierten Anthologie mit dem Titel Wiener Volks-Humor gibt einen Eindruck davon, wogegen sich Helmut Qualtingers Herr Karl (1961), H.C.Artmann und Fernsehserien wie Ein echter Wiener geht nicht unter (1975–79) oder Kottan ermittelt (1976–84) richteten:

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Der Harfenist aus Urahndls-Zeiten und der Volkssänger aus Großvaters-Tagen sind hinübergegangen in den ewig blauen Himmel der „guten, alten Zeit“. Jetzt sind sie dort vereint mit dem entschwundenen Wiener Fiaker, dem „Wasserer“, dem sagenhaft feschen Wäschermädel, dem unwiderstehlichen Deutschmeister, mit dem Rastelbinder, dem Salamutschi aus dem Prater, der drallen böhmischen Köchin, der „g’stellten“ hannakischen Amme, mit – ja mit all dem bunten, lebensvollen, üppigen Abbild der vielfältigen Völkerfamilien des großen Reiches, dessen Söhne und Töchter sich an der „schönen, blauen Donau“ einfanden und, – wenn deren Volksvertreter im Parlamente noch so sehr miteinander rauften – sich in Strauß’schen Walzerklängen fanden, sich in leichtest gelöster „Sprachenfrage“ verstanden. Wien hielt mit seiner unendlichen Musik, seinem übernationalen Humor alle, die die Donau herab und herauf, zur Donau von Norden oder von Süden kamen, lange zusammen; der Wiener Genius setzte sein Bestes daran: Seine Landschaft, seinen Wein, seine Musik, seine Wohllebigkeit, seinen Fleiß, sein Gemüt – seinen Humor. [...] Wiens Kraft, Macht und Dämonie war die Gabe der Atomisierung, Mengung und Neuformung; das stärkste Bindemittel der vielen im Kessel des Werdens brodelnden Völkermischung, zugesetzt vom EwigGewaltigen über Himmel und Erde, über Leben und Tod, war das gnadenvolle Arkanum: Humor. [...] Die Eigenart „wienerisch“ ist ein Ergebnis von Humor. Je humorvoller, desto reinrassiger wienerisch!27

Angesichts dieser Vorgeschichte ist es nachvollziehbar, dass es lange Zeit auch für anerkannte Historiker wie Jacques Le Goff als ausgemacht galt, das Lachen oder „den riesigen Bereich des Komischen“ explizit der Ästhetik zuzuordnen,28 in deren Rahmen auch entsprechende theoretische Zugänge und historische Studien erarbeitet wurden und bereitstehen.29 Aber bereits der Versuch einer etymologischen Klärung des Begriffs Schmäh verweist auf eine dem Gegenstand inhärente Problematik, die nur sehr entfernt als ästhetisch bezeichnet werden kann. Denn bezüglich seines Ursprungs liegen zwei Deutungen in Konkurrenz, die umfassende soziound kulturhistorische Problematiken tangieren. Während die einen den Schmäh auf das jiddische schmuo (Gerücht, Erzählung, Geschwätz) zurückführen, das – im Gegensatz zum negativ konnotierten Schmus – über das Rotwelsche semantisch in Richtung von „Schmeichelei“ und „gewitzter Rede“ gewendet wurde, betonen andere die Beziehung zum Wortfeld Schmach–schmähen–Schmähschrift und damit nicht nur den feindseligen Aspekt, sondern auch den deutschen Ursprung des Terminus.30 Allein die Begriffsgeschichte des Schmähs treibt also in ein Vexierspiel, in die heikle Frage nach einer jüdischen oder deutschen „Herkunft“. Der doppelte etymologische Ursprung des Schmähs muss jedoch nicht zwingend als Problem betrachtet werden, sondern lässt sich auch gerade durch sein Verweisen auf Gegensätze und Konflikte als historische Aussage interpretieren, oder besser: als deren

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(doppelbödiger) Ausdruck. Denn nach Bachtin operiert das Lachen nicht nur mit dem Verfahren des Zitats, der verfremdenden Aneignung, sondern auch mit dem Prinzip der „Mesalliance“: Es kombiniert auf eine „illegitime“ Weise konträre semantische Felder oder verschränkt Wortbestände aus Sprachen von Ethnien, die durch ein Spannungsverhältnis miteinander verbunden sind.31 Das Entstehen und Überdauern des Begriffs (Wiener) Schmäh im heutigen Sinn verdankt sich aus dieser Sicht seinem Balancieren auf dem schmalen Grat zwischen jüdisch und deutsch einerseits, freund- und feindseliger Annäherung andererseits: Er bewahrt die Erinnerung an ethnisch, sprachlich und sozioökonomisch heterogene Kollektive und an Aushandlungsprozesse mit entsprechenden Chancen und Risiken. Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Etymologien nimmt es nicht wunder, dass auch die Versuche, sich dem Wesen des Wiener Schmähs zu nähern, zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. So betont etwa Albert Lichtblau in einem kurzen Essay mit dem Titel „‚A Hetz muaß sein’! Der Wiener und seine Fremden“ jene aggressive Facette des Schmähs, auf die der Begriff der „Hetz“ bereits hindeutet: Der Wiener Schmäh stehe in einer Tradition des Volksvergnügens, die sich paradigmatisch in dem (bis ins späte 18. Jahrhundert üblichen) Spektakel der „Tierhetze“ verkörpere.32 Kennzeichen der sich hier artikulierenden Mentalität sei die kollektive Lust an öffentlich inszenierten Sadismen und an der Bildung von Hierarchien zwischen höher- und minderwertigem Leben, gepaart mit einer libidinösen Besetzung des Abgewerteten, wie sie sich exemplarisch im „Ashanti-Fieber“ (Peter Altenberg) während der Völkerschauen im Wiener Prater zeigte. Genau diese Kippfigur charakterisiere nicht nur die Beziehung des Wieners zu „seinen Fremden“, sondern auch seine besondere Form des Humors: „Selbsthaß, Ausgrenzung, Abgrenzung, Eigenliebe und Unsicherheit sind die psychologischen Ressourcen, mit denen der Wiener intuitiv die Pointen seines Schmähs speist.“33 Diese gefährliche Ambivalenz führt Lichtblau darauf zurück, dass bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Hälfte der Einwohner Wiens „Zuagraste“ gewesen seien, der Wiener „ein Fremder geworden“ war, ein Umstand, der dem Geist des 19. Jahrhunderts mit seinem Sog zur Begründung authentischer Kollektive zutiefst widersprach. Im Schmäh habe die als Spannung empfundene Unsicherheit im Umgang mit dem Fremden im Eigenen ein Medium verbalen Ausagierens gefunden: Er sei ein liebevoll-bösartiges „Spiel mit Aggression“, eine „Annäherung durch Provokation“, die ein höchst zweischneidiges Angebot auf Verbrüderung enthalte – Aufnahme in die Gemeinschaft auf der Basis von Unterwerfung und Assimilation. Aktualisiert

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wurde dieses Potenzial zunächst im Ruf nach einem „Deutschen Wien“, der in den 1880er Jahren von den Christlich-Sozialen angestimmt und von Karl Lueger zu einem vorläufigen Höhepunkt gebracht wurde. Zu einem „schauderhaften Ende“ sei der Wiener Schmäh schließlich mit der „Hetz“ der „Judenhatz“ gekommen: Das Bürsten der Straßen und Gehsteige durch als jüdisch identifizierte Wiener habe sich „zum größten Vergnügen der Zuschauer“ ereignet. Kurz: Im März 1938 habe der „gute“ Schmäh Wien „endgültig verlassen.“34 Dieser (exemplarisch zitierten) Betonung der fremdenfeindlichen Aspekte der Wiener Lachkultur stehen eine Vielzahl von Deutungen gegenüber, die den Schmäh mit einer besonderen Form von Freundlichkeit in Beziehung setzen, etwa mit der Freude, anderen durch galante Worte Erfreuliches zu sagen, wenn auch nur augenzwinkernd. Die Anrede mit „gnädige Frau“, dem noch hinzugefügt wird: „Sie schauen heute wieder entzückend aus“, durch einen freundlichen Verkäufer erfreut, auch wenn die so Titulierte alles andere als „gnädig“ und „entzückend“ sein mag. Aber ihr geht eine Sonne auf und sie ist betört vom Charme dieses Wieners. Und ohne einen Schwindel gibt es kein Seelenheil für den Wiener.35

Man spiele die Inszenierung, so Roland Girtler, und nehme sich dabei nicht immer ganz ernst: „Falsch sind die Menschen überall auf der Welt. In Österreich sind sie eben angenehm falsch.“36 Dieser „kleine Schwindel“ erleichtere den sozialen Austausch, denn er beinhalte die Einladung, sich an der Inszenierung von Identität und Alterität zu beteiligen; schließlich habe der Wiener „durch Jahrhunderte gelernt, mit Fremden umzugehen und ihnen ein weites Herz zu öffnen.“37 Viele der positiven Bezugnahmen bringen das „angenehme Falschsein“ des Wiener Schmähs mit einer Entwicklung in Verbindung, die Peter Hersche in einer Studie zum „europäischen Barockzeitalter“ als „alternativen Pfad in die Moderne“ analysierte, der von den katholischen Staaten Europas beschritten worden sei und sich – verglichen mit der Entwicklung in den protestantischen Ländern – durch eine besondere „Fehlerfreundlichkeit“, „Mußepräferenz“ und eine entsprechende Tradition barocker Kunst und Kultur auszeichne.38 Bereits in der ersten berühmten Auseinandersetzung zwischen Berliner und Wiener Vertretern der Aufklärung wird deutlich, dass es vor allem die alltagskulturellen, die low culture-Facetten des barocken Lebensstils waren, an denen sich Nord und Süd unterschieden beziehungsweise unterschieden wissen wollten. So warf Friedrich Nicolai den Wienern in seiner berühmten Reisebeschreibung von 1781 nicht nur „Fress-, Trink- und

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Prunksucht“ vor, sondern auch „religiöse Andächtelei und Heuchelei, kurz: einen für das katholische Süddeutschland überhaupt typischen Hang zur Sinnlichkeit“.39 Die Wiener konterten, dass diese Sicht der Feder eines „typischen Vertreter[s] jener protestantischen Norddeutschen“ entstamme, die „einem beschränkten Rationalismus verhaftet“ seien und „auf einem Besuch in Wien und Österreich wenig sehen und nichts verstehen.“40 Zunehmend avancierte seit dieser Fehde das teils satirisch vorgebrachte, teils nostalgisch verbrämende Bild der sinnesfreudig-gemütlichen Haupt- und Residenzstadt Wien zum abrufbaren identity marker gegenüber dem „verständigen Berlin“: „Wir trinken Wein; Sie besingen ihn. Wir heyrathen unsre schönen Mädchen; Sie – petrarchisieren von ihnen. Wir küssen den Busen, der uns gefällt; Sie machen Sinngedichte auf ihn. [...] Welcher von beyden ist nun der Vernünftigere?“41 Eine zentrale Rolle in der Vermittlung dieser Wiener Werte spielt ein signifikantes Ensemble subalterner Typen, das den als Zumutung empfundenen Ansprüchen der meist als preußisch (später gerne als amerikanisch) präsentierten Moderne mit exemplarischen Formen von Renitenz begegnet. An erster Stelle ist hier der Typus des nur mäßig freundlichen und eifrigen Kellners zu nennen, vor dem nach wie vor jeder Wien-Reiseführer warnt, freilich nicht ohne darauf hinzuweisen, dass das „Granteln“ des Kaffeehauspersonals bereits der äußerste Punkt seines Aufbegehrens ist: Denn wenn es kippt, dann nur in eine ebenso typische, augenzwinkernde „Selbstironie“42 – ins formgewandte Schmäh-Führen. Eine nicht minder bedeutende Funktion erfüllt die Figur des misanthropischen, unberechenbaren Beamten, den der Wiener Heimatfilm der 1950er Jahre nicht zufällig mit dem positiven Gegenbild des großherzig-fürsorglichen k.u.k. Hofrats zu überblenden versuchte. Eine ebenso wichtige wie schillernde Figur, deren Karriere sie ihrem elastischen Verhältnis zu Wahrheit, Eigentum, Recht und nicht zuletzt zum weiblichen Geschlecht verdankt, ist der Wiener „Strizzi“, dessen kleine Mesalliancen quer durch das gesellschaftliche Gefüge die soziale Ordnung weniger stören als in neuem Glanz erstrahlen lassen, der jedoch, genau genommen, dem Berufsstand der Zuhälter zuzuordnen ist. Vielleicht gerade deswegen bündelt sich in seinem Bild einer der zentralen Topoi des Schmäh-Typenarsenals: eine gelassen-verspielte Ignoranz gegenüber all jenen Pflichten, Zwängen, Normen und Subjektivitätsentwürfen, die der Modernisierungsprozess den Individuen in seinem disziplinierenden Zugriff auferlegt. Dass dem Strizzi eine kongeniale Ausprägung des Exekutivbeamten zur Seite gewachsen ist, die im frühen Wien-Krimi beginnt und in Kottan

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und Trautmann seine Nachfahren findet, bezeugt nur die Bedeutung seiner Figur beziehungsweise Fiktion. Die vielleicht privilegierteste Rolle im Reigen der repräsentativen Subalternen kommt der Figur des Dienstmanns zu, die – verkörpert durch Hans Moser in Franz Antels Film Hallo Dienstmann! (1952) – zumindest im deutschsprachigen Raum unvergesslich wurde. Auch wenn er beim Ausüben seiner Funktion viele Wünsche offenlässt, so gelingt es seinem persönlichen Engagement ums Allgemeinmenschliche und seinem komisch-grotesken Umgang mit der eigenen Überforderung, alle Forderungen nach einer Rationalisierung des Dienstleistungsgewerbes restlos zu desavouieren. Warum schnell sein, wenn es auch langsam geht? Warum rebellieren, wenn auf das Wohlwollen der Obrigkeiten – neben manch verzeihlicher despotischer Eskapade – letztlich doch Verlass ist. In diesen Formeln lässt sich in etwa die Moral des skizzierten Typen-Repertoires resümieren. Dass sich diese Botschaft so häufig mit Komik, Ironie oder Schmäh verbindet, das Machtgefälle also mit Lachen ‚bewältigt’ wird, hierfür hat Egyd Gstättner den schönen Begriff der „Übersprungsliebenswürdigkeit“ geprägt: „Liebenswürdigkeit auf der Basis von Aussichtslosigkeit.“43

Vorannahmen: Heterogenität – Mentalität – Identität Beide der zugespitzt wiedergegebenen Positionen zum Wiener Schmäh – die Betonung seiner Fremdenfeindlichkeit einerseits, seiner Fehlerfreundlichkeit andererseits – teilen drei Prämissen, die im Hinblick auf das missing link in der Geschichte der Sprachkritik von zentraler Bedeutung sind. Zunächst verbindet sie die Annahme, dass es sich beim Schmäh um eine Umgangsform des Wieners mit (vorläufigen) Nicht-Wienern handelt, er also auf die Geschichte der Urbanisierung und das Aufeinandertreffen ethnisch, sprachlich und kulturell heterogener Bevölkerungsgruppen zurückzuführen ist. Zweitens gehen beide Sichtweisen davon aus, dass die Besonderheiten des österreichischen Modernisierungsprozesses und die spezifischen Ambivalenzen der österreichischen Aufklärung die Herausbildung dieser Tradition prägten: Beide interpretieren den Wiener Schmäh als Reaktion auf Ohnmachtserfahrungen, die durch die besondere politische Kultur Österreichs beziehungsweise der Habsburgermonarchie – die hier herrschende „Untertanengesinnung“ – bedingt seien. Der Salzburger Historiker Ernst Hanisch fasste 1984

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die wichtigsten Züge und Ursachen für die (bis zu diesem Zeitpunkt) in Österreich nur mangelhaft entwickelte demokratische Kultur in erstaunlicher Offenheit und Kürze zusammen.44 Ausgangspunkt seiner Überlegungen, die auch in seine bekannte Monografie Der lange Schatten des Staates (1994) eingingen, ist eine Studie, die zu dem Schluss gelangte, dass Österreich im Vergleich mit der BRD, der Schweiz, den Niederlanden, den USA und Großbritannien „die deutlichsten Züge einer ‚Untertanen kultur’“ aufweise, einer Mentalität, die gekennzeichnet sei von einem hohen Vertrauen in die politischen Eliten und „einem geringen Glauben an die eigene Fähigkeit, etwas verändern zu können“.45 Dass sich das Vertrauen in jegliche Form von Obrigkeit in Österreich als beharrlicher erwies als anderswo, führt Hanisch auf den habsburgischen Staatsbildungsprozess des 17. Jahrhunderts zurück, der aufgrund seiner doppelten Frontstellung gegen das Osmanische Heer einerseits, den Protestantismus andererseits, eine anachronistisch enge Koalition zwischen den absolutistischen Monarchen, dem Militär, der Bürokratie und der Kirche hervorgebracht habe.46 Dieser strategisch bedingte Zusammenhalt von Staat und Kirche ermöglichte es wiederum, dass die Gegenreformation kompromissloser durchgreifen konnte als in jedem anderen europäischen Land. Zudem wurde die religiöse Disziplinierung und Unterwerfung von einem Kompensationsprojekt begleitet, das bis heute als Synonym für österreichische Kultur gilt – dem Barock. Seiner Ästhetik gelang es, die Einbußen an persönlicher und politischer Freiheit gerade deshalb vergessen zu lassen, weil sie dieselbe Struktur aufwies wie das politische System: scharf durchhierarchisiert einerseits, theatral-zeremoniell verspielt andererseits. Lässt man rein ökonomische Faktoren beiseite, war es vor allem dieses spezifische Zusammenspiel von barocker und absolutistischer Repräsentation im doppelten (politischen und kulturellen) Sinn, das die Herausbildung eines maßgeblichen liberalen Bürgertums und damit einer bürgerlichen beziehungsweise „kritischen Öffentlichkeit“ im Habermas’schen Sinn behinderte. An deren Stelle, als dritte Kraft zwischen Herr und Untertan, schob sich – forciert im Gefolge der mariatheresianisch-josephinischen Reformen – eine Beamtenklasse, die sich als Heer „gehorsamer Rebellen“47 jedoch nicht dem Dienst am Bürger widmete, sondern in erster Linie einen „einheitlichen Untertanenverband“ schuf und verwaltete.48 Eva Kreisky formulierte es noch eine Spur schärfer: In Österreich hätten sich „bürokratische Unkultur“ und „bürokratische Untertanenmentalität [...] über Jahrhunderte aufeinander eingespielt“ und kämen „nicht mehr voneinander los.“49 Der Fortschritt, den die Etablierung bürokratischer Strukturen potenziell

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ermöglichte, nämlich durch Formalisierung und Vereinheitlichung der Willkür der Herrschenden und der Kontingenz des modernen Lebens Grenzen zu ziehen, sei auf diese Weise verspielt worden: Das österreichische Amtsgeheimnis schütze nicht den Bürger, sondern eine patriarchal-nepotistische und lobbyistische Beziehungs-, Interventions- und Bestechungskultur – ein antidemokratisches Erbe, das Österreich bis heute (1984) präge.50 Während den beiden erstgenannten Prämissen – der Schmäh als Produkt der Urbanisierung sowie der Besonderheiten des österreichischen Modernisierungsprozesses – zugestimmt werden kann, ist die dritte Vorannahme, die von den zitierten Positionen geteilt wird, jener Punkt, den es zu korrigieren gilt: Beide Sichtweisen interpretieren den Schmäh als Element von Identitätskonstruktionen. Hiermit privilegieren sie einerseits die Frage nach kollektiven Selbst- und Fremdbildern, Auto- und Heterostereotypen gegenüber jener nach dem kommunikativen (oder systemischen) Handeln, erklären andererseits die Entstehung und Tradierung dieser besonderen Kommunikationskultur zu einem territorialen Spezifikum Wiens und der deutschen (beziehungsweise österreichischen) Sprache. Mögliche Wechselwirkungen zwischen Zentrum und Peripherie, metasprachlichem Sprechhandeln und Mehrsprachigkeit werden dadurch ebenso ausgeblendet wie eventuelle Parallelentwicklungen. Dankenswert deutlich bezog in diesem Punkt Peter Burke Stellung, indem er anmerkte, dass das Identitätsproblem zwar ein nur „allzu aktuelles Thema“ darstelle.51 Aber gerade weil es als selbstverständlich zu gelten habe, dass es sich bei Selbst- und Fremdbildern um Artefakte handle, sei die Annahme „erfundener“ oder „konstruierter“ Identitäten entsprechend problematisch, denn „[d]ie überlieferte Geschichte legt keineswegs nahe, dass kollektive Identitäten nach Belieben erfunden oder konstruiert werden können. Einige Konstruktionsversuche gelingen, andere scheitern, und es ist die Aufgabe von Historikern herauszufinden, woran das liegt.“52 Ebensowenig dürften Identitäten als „in sich vielfältige“ oder „relative“ abgehakt werden: Das Warum der jeweils geltenden Hierarchie verschiedener Entwürfe sei die entscheidende Frage, „mit der sich Historiker ernsthaft befassen sollten, so schwer sie auch zu beantworten sein mag.“ Den Zugang, den Burke zur Lösung dieser Fragen vorschlägt, veranschaulicht er an einer Studie von Lawrence Rosen mit dem treffenden Titel Bargaining for Reality (1984). In anthropologischer Kleinstarbeit habe Rosen eindrucksvoll nachgewiesen, „dass trotz aller Bemühungen um eine klare und scharfe Abgrenzung“

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Identitäten nicht nur deshalb „fragile“ Gebilde darstellen, weil sie als Medien der Signalisierung und Stilisierung „kontextspezifisch“ seien „in dem Sinne, dass sich dieselben Personen in unterschiedlichen Situationen verschieden darstellen.“ Fragil seien sie vor allem darum, weil sie als „negotiable“ Entwürfe aus Verhandlungen hervorgehen, in denen „knowledge not of rules but of cases“ gefragt sei – „since knowledge both allows and emerges from involvements.“53 Wissen und Interesse bilden folglich den entscheidenden Rahmen für jenes Aushandeln, das über validierte „involvements“ oder die Forderung nach weiteren „creative articulations“ Identitätsentwürfe als ephemere Ergebnisse hervorbringt. Im Folgenden wird der „Wiener“ Schmäh als Beispiel einer eben solchen Praxis der „negotiation“ interpretiert, mit der Besonderheit freilich, dass er sich einem plurikulturellen Entstehungskontext verdankt, der von einer zentral gelenkten und autokratisch verordneten, auf ökonomisch-technische Modernität zielenden Homogenisierung herausgefordert wurde. Nicht zuletzt aus diesem Grund setzt die Analyse – verglichen etwa mit Sigmund Freuds Witz-Theorie – bei einer in mehrfachem Sinn peripheren Quelle an.

Bargaining for Reality auf einer galizischen Behörde Eva Kreisky schloss ihr oben zitiertes Plädoyer für eine Politologie und Historiografie bürokratischer Kulturen mit folgenden Worten: Nicht zufällig kursierte in der Monarchie ein Witz über die Österreichische Verwaltung, der etwa so lautete: Ein galizischer Kaufmann beschwert sich über seine Schwierigkeiten mit der österreichischen Bürokratie. Von der russischen Bürokratie wüßte er, die nimmt, von der preußischen wüßte er ganz bestimmt, die nimmt nicht, aber bei der österreichischen, da wüßte er nie, nimmt sie oder nimmt sie nicht.54

Indem der Aufsatz mit diesem Bonmot endet, legt er nahe, dass der kursierende Witz eine Reaktion der von der Willkür der österreichischen Verwaltung Betroffenen war, mit dem sie sich etwas Luft verschafften. Unterstellt wird dabei, dass der Beamte den Kaufmann bewusst – aus Sadismus oder auch schlicht, um den Preis nach oben zu treiben – im Unklaren darüber lässt, ob er käuflich ist oder nicht. Auch wenn man der Vorannahme zustimmt, dass die österreichische Verwaltung in den Kronländern diese Macht besaß und sie auch in dieser Form ausspielte, so ergibt sich dennoch ein anderes Bild, wenn man den Witz nicht mit Blick auf das

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Wesen der Bürokratie betrachtet, sondern danach fragt, was die berichtete Beschwerde des Kaufmanns überhaupt zu einem Witz werden ließ, das heißt, welche Funktion der Text bei seiner Erfindung wie bei seiner Tradierung erfüllte. Denn die Feststellung, dass sich die bürokratische Kultur der Russen, Preußen und der Habsburger voneinander unterschieden, mag historisch korrekt sein, erzeugt als solche jedoch noch keinen Lachanreiz. Demgegenüber spricht vieles dafür, dass es die von der Erzählung ausgesparte Leerstelle war – die konkrete Begegnung, die Interaktion auf dem Amt –, die von den Zuhörern imaginär zu einer komischen, Ängste und Nöte verlachenden Szene ergänzt werden konnte und auf diese Weise Gelächter auslöste. Der Druck, von dem man sich damit freilachte, reagierte auf eine offensichtlich weit verbreitete negative Erfahrung mit den Organen der österreichischen Verwaltung: Gerade jene Institution, die als Inbegriff bürgerlich-moderner Rationalisierung, sprachlicher Klarheit und transparenter Machtverhältnisse gelten wollte, als Hort berechenbarer Formeln und Formulare, der Rechtssicherheit und -gleichheit, gerade diese Institution hatte man als Gebilde kennengelernt, das noch undurchsichtiger und bedrohlicher sein konnte als Behörden, in denen erkennbar vormoderne, etwa „russische“ Verhältnisse herrschten. Der Witz erzählt somit nicht zuletzt von den Herausforderungen, die das Projekt der nationalen Homogenisierung für plurikulturelle Regionen mit sich brachte: Die zunehmende Bedeutung nationaler Zugehörigkeit als komplexitätsreduzierender Kategorie steigerte umgekehrt auch die Anforderung an Kommunikationen in von Heterogenität geprägten sozialen Räumen, einfachste Alltagsituationen miteingeschlossen. Folglich sind es auch erst die Details, die den Kaufmann in eine komische Figur und das Erzählte in einen Witz verwandeln und die den Adressaten ebenfalls gut bekannt gewesen sein müssen. Denn will der Kaufmann vermeiden, die Kommunikation mit einem irreversiblen Fehler zu eröffnen, muss er zunächst in Erfahrung bringen, welcher Art von Beamten er gegenübersteht, da die nationale Zugehörigkeit – dem zeitgenössischen Trend zuwiderlaufend – noch keinen Rückschluss auf dessen Wesen zulässt. Genau dies ist jedoch eine Frage, die sich nicht im Amtston, in einem eindeutig agierenden Gesprächsmodus formulieren lässt: Mit einer klaren Anfrage würde der Kaufmann seinem Gegenüber explizit Korrumpierbarkeit unterstellen, was dieser wiederum gezwungen wäre, empört zurückzuweisen. Zu einer zweifelsfreien Antwort, ob der Beamte „nimmt“ oder „nicht nimmt“, kann der Kaufmann auf keinem geraden Weg gelangen; will er eindeutiges Wissen, ist

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er vielmehr genötigt, sich zu verrenken, zu winden oder andere groteske Körperszenarien zu durchleben. Dabei ist der stärkste Fall an Groteske wohl jener, in dem ihm eigentlich gar keine Gefahr droht, er sich aber verhält, als wäre sie vorhanden. So könnte der Beamte dem Kaufmann zum Beispiel signalisieren, dass er „nicht nimmt“. Das Problem ist nur, dass auch ein eindeutiges Signal vonseiten einer Person, die in der Sonnenfels’schen Technik des double speak geschult ist, nicht Eindeutigkeit bedeutet, sondern diese nur signalisiert. Dies kann wiederum zweierlei heißen, nämlich dass es sich um einen besonders ehrlichen oder eben besonders boshaften Beamten handelt. Was auch immer der Beamte also zu verstehen gibt, für den Kaufmann bleiben die Unsicherheit und das Risiko, sich falsch zu verhalten, bestehen. Mit einem Anliegen eine österreichische Behörde in Galizien zu betreten, verlangte also, dass man sich eine Verhaltensweise oder Technik einfallen ließ, mit der diese Herausforderung bewältigt werden konnte. Und die Erinnerung genau daran – groteske Fehlschläge und souveräne Zickzackkurse inklusive – dürfte die Aufgabe sein, die der Witz und seine Tradierung für jene gesellschaftliche Gruppe erfüllten, die ihn erfand und kursieren ließ. Eine denkbare kreative Antwort auf das Problem könnte darin bestehen, dass der Kaufmann Chuzpe zeigt – er könnte mit dem Beamten ein „vernünftiges“ Gespräch darüber eröffnen, wie dieser dem Phänomen der Korruption im Allgemeinen, insbesondere natürlich im Speziellen gegenübersteht. Grundlage für das Gelingen dieser Strategie ist freilich, dass er die eigene Rede auf eine Weise unter Anführungszeichen stellt, die es ihm erlaubt, beim ersten Anzeichen einer zu erwartenden negativen Reaktion so zu tun, als hätte er soeben nicht versucht, den Beamten zu bestechen. Der Kaufmann muss also – mögliche Sprechakte zitierend – probehandeln: Es muss ihm gelingen, sich in aller Selbstverständlichkeit von einem ehrlichen in einen kriminellen Geschäftsmann zu verwandeln und notfalls sofort wieder zurück, unterbrochen eventuell durch Verhandlungen über die Höhe der Schmiergeldzahlung. Bedingung für den Erfolg dieser Strategie ist freilich, dass sein Gegenüber diese Form des Rollenspiels akzeptiert, dass sie nicht als Affront zurückgewiesen wird. Das geforderte spielerische Sprechhandeln auf der Basis einer ironischen Rollendistanz zu vollziehen, wäre in diesem Fall somit wenig aussichtsreich: Ein genereller, zu allen investierten Rollen gleich bleibender innerlicher Abstand dürfte das Risiko sogar noch erhöhen, da er als Signal der Indifferenz im gegebenen Machtgefälle nur als Anmaßung gelesen werden kann. Gefragt ist vielmehr ein Kommunikationsmodus, der das Verwaltungsorgan nicht

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verärgert, sondern von seiner Herkunft und Haltung her klar indiziert, dass die Hierarchie zwischen befugtem Beamten und bittstellendem Kaufmann nicht in Frage gestellt wird. Nicht nur in diesem, sondern auch in allen anderen möglichen Verläufen der Interaktion ist der Kaufmann folglich gut beraten, an genau jene soziokulturelle Tradition anzuknüpfen, deren Verdrängung sich die Aufklärung mit der Vereinheitlichung sprachlicher und rechtlicher Standards zum Ziel setzte: an das karnevaleske Rollenspiel der vormodernen Unterschichten und deren signifikante, als Polyphonie der Beherrschten wiedererkennbare, von „unten“ nach „oben“ gesprochene Form der mehrsinnig-flexiblen Rede. Dieser Sprechstil tradierte sich nicht nur in den offiziellen Ausnahmezeiten des Karnevals, sondern war auch im Alltag fest verankert und zwar, wie sowohl Michail Bachtin als auch Richard Sennett betonen, in der auf „vormodernen“ Marktplätzen oder Bazaren üblichen spielerischen Verhandlungskultur – im Feilschen um den für beide Teile des Geschäfts akzeptablen Preis.55 Das traditionelle Bargaining basierte dabei zum einen auf dem legitimen gemeinsamen Einverständnis zwischen Käufer und Verkäufer, den eigenen Vorteil zu maximieren, zum anderen darauf, die jeweils getätigte eigene Äußerung solange als bewegliche Position zu verstehen, bis ein Konsens beziehungsweise – um an die These von Lawrence Rosen zu erinnern – eine gemeinsame „Realität“ gefunden war. Das Probehandeln des galizischen Kaufmanns findet unter signifikant anderen Bedingungen statt, da er sich als Antragsteller auf einer modernen Behörde befindet, von deren Entscheid er abhängig ist und auf der Feilschen wie Nutzenmaximierung – zumindest offiziell – als illegitime Verhaltensweisen gelten. Im Gegensatz zum Sprechhandeln der Bazar-Situation hat das Spielen auf dem galizischen Amt somit auf zwei Ebenen zu erfolgen: In einer ersten Etappe wird um die Regeln gespielt, nach denen der „Handel“ beziehungsweise die Interaktion vollzogen werden soll (ob modern und rechtskonform, oder vormodern und damit rechtswidrig), im zweiten Schritt werden die konkreten Konditionen ausgehandelt. Gefordert ist folglich ein Anknüpfen an die Traditionen zweistimmiger Rede, die sie dem Kontext gemäß modernisiert: Der Kaufmann hat zu berücksichtigen, dass es in der ersten Runde des Spiels nicht um (relative) Optimierung, sondern um (absolutes) Verstehen geht: Er muss den Beamten und dessen Absichten richtig lesen. Auch wenn also spielerisch-zweistimmig vorzugehen ist, bleibt das Ziel ein hermeneutisches – die korrekte Interpretation, das Verstehen der Intentionen des Gegenübers.

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Im Gegensatz zur „vernunftgemäßen“ Verhandlung, dem Ideal der Sprachnormierer, wäre das Verwenden einer klaren, „reinen“ und eindeutigen Sprache in diesem Falle allerdings genau jene Technik, die das Vorhaben scheitern lässt. Sollte der Witz über die Nöte eines Kaufmanns in Galizien nicht grundlos überliefert worden sein, so wuchsen der aufklärerischen Sprachkritik in der Habsburgermonarchie justament auf den öffentlichen Ämtern – in einer der wichtigsten Institutionen der Zentralisierung und Homogenisierung – ihre größten Widersacher heran. Noch komplexer wird die Situation, wenn man berücksichtigt, dass auch das behördliche Vollzugsorgan in dieser Interaktion agiert und zwar nachdem es in seiner Ausbildung nicht nur mit einem gewissen Normenwissen ausgestattet wurde, sondern auch ein spezielles Training in Sachen Ambivalenz und Sprachspiel erhielt. Bezieht man in die Interpretation des Witzes die Handlungsoptionen des Beamten mit ein, zeigt sich, dass die Situation nicht nur dem Kaufmann abverlangt, sich eine neue Form der Kommunikation anzutrainieren: Auch für das Verwaltungspersonal bestünde der optimale Weg darin, die aus vormodernen Konstellationen tradierte Fähigkeit, mit Sprachen, Rollen und Machtpositionen zu spielen, auf eine analoge Weise zu modernisieren. Denn wenn die ambivalente Vorgabe durch das Sonnenfels’sche Lehrbuch den mäandernden Stil der Beamtenschaft „parodieanfällig“ (Leslie Bodi) werden ließ, so galt dies nicht nur für die schriftliche, sondern umso mehr für die gesprochene Kommunikation: Hier lief die Verwaltung Gefahr, dass sie die Geringschätzung der jeweils Adressierten unvermittelt, face to face erreichte. Auch der Beamte, von dem der Witz erzählt, ist also gut beraten, seine ambivalenten Vorgaben zitierbar zu halten, also mit dem „Kanzleygepränge“ wie mit der nüchtern-präzisen Formulierung aus einem gewissen Abstand heraus zu operieren, um dem augenzwinkernd probehandelnden Kaufmann gegenüber nicht in die Rolle des Unterlegenen zu geraten. Wenn nun sowohl der Kaufmann als auch der Beamte double speak praktizieren – und diesen Gesprächsstil, weil für beide von Vorteil, vielleicht auch zunehmend zur Regel werden lassen –, liegt ein besonderer Fall dessen vor, was seit Talcott Parsons als das Problem der „doppelten Kontingenz“ bekannt ist: Es begegnen sich zwei Personen, die füreinander jeweils eine black box darstellen, weshalb jede Vorabinvestition in einen möglichen Konsens ein Risiko darstellt, das beide zu vermeiden tendieren.56 Dass dennoch soziales Handeln – und damit auch die Entstehung von sozialen Systemen – nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, erklärte Parsons damit, dass es die Unterstellung eines gemeinsamen Wertesys-

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tems ist, die Akteur A das Risiko eingehen lässt, die Präferenzen von Akteur B als einschätzbar einzustufen. Nur aus diesem Grund ist es für ihn naheliegender, eine Interaktion beziehungsweise „Verständigung“ zu eröffnen, als es zu unterlassen. Niklas Luhmann kritisierte an dieser Deutung, dass sie nicht nur den prozessualen Aspekt der Kommunikation vernachlässige, sondern vor allem Veränderungen im Regelsystem oder gar die Neubildung von Subsystemen nicht erklären könne.57 Was das Argument der unverzichtbaren Annahme eines gemeinsamen Wertesystems freilich ebenfalls ausblendet, sind Situationen, in denen die Beteiligten gar keine gemeinsamen Werte benötigen, sondern lediglich zu verabreden haben, welcher Werterahmen gelten soll, um konkrete wechselseitige Handlungsanschlüsse zu ermöglichen.58 An eine ebensolche Situation erinnert der Witz über die österreichischen Behörden in Galizien, genauer gesagt: Er erinnert an die Herausforderung, sich an ein geeignetes, das Risiko beider Akteure minimierendes Kommunikationsmuster heranzutasten, das Aspekte bekannter Gesprächsmodelle adaptierte, kombinierte, Fehlendes durch trial and error hinzuerfand und die sich hieraus ergebende Figur einübte, um sie schließlich zu tradieren. Beherrschen beide (oder alle) Beteiligten dieses besondere, passgerecht entwickelte Spiel der doppelten Kontingenz und spielen sie ihr Können auch aus, in diesem besonderen Fall tritt ein, was den Witz vom Schmäh unterscheidet: Der Witz ist monologisch und läuft auf eine Pointe zu, der eine Bedeutung zugrunde liegt, die von einem genau definierten, über Inund Exklusion entscheidenden Blickwinkel verstanden werden muss. Der Schmäh hingegen rennt: Er ereignet sich im dialogischen Prozess und ermöglicht Handlungsanschlüsse zwischen Personen oder Gruppen, die gerade nicht geneigt sind, über denselben Witz zu lachen, da sie in unterschiedlichen Regelsystemen und Sprachspielen beheimatet sind. Im vorliegenden, paradigmatisch ausinterpretierten Fall organisiert der Schmäh eine Interaktion, in der Vertreter der beiden zentralen Trägerschichten der Modernisierung ein Sprachspiel laufen lassen, das gleichzeitig vor- und postmoderne Züge trägt, um letztlich doch „kommensurabel“ zu enden – wenn auch nicht einheitlich, so doch mit Einigkeit im Einzelfall. Auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich, wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass es sich beim Schmäh lediglich um eine – modernisierungstheoretisch und aus Sicht des triadischen Modells der Sprachkritik – ungewohnte Kopplung handelt: Ratio und Spiel, Kalkül und Theatralität, vor allem aber vor-, post- und moderne Sprachkritik bilden keinen Gegensatz, sondern verschränken sich – je

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nach Bedarf, Interesse und Können. Letzteres, das Können, bezieht sich darauf, die per se gegebene innere Ambivalenz der Kopplung durch eine Form des Ausdrucks – eine verbale Wendung, eine körperliche Haltung, eine Geste – in ihrer Dynamik aufzuhalten beziehungsweise aufzuheben. Gelingt dies nicht, entwickeln sich jene Kombinationen von Berechnung und Inszenierung,59 deren Spektrum durch die oben skizzierten zentralen Interpretationsstränge des Wiener Schmähs gekennzeichnet ist: Projektion der in Aggression transformierten unverarbeiteten Herausforderungen nach außen über den Weg des ausgrenzenden ‚Schmähs’, der im fremdenfeindlichen Witz seine Pointe findet (1); oder Wendung nach innen, in die durch Passivität, Ziellosigkeit und Unterordnung gekennzeichnete „Liebenswürdigkeit auf der Basis von Aussichtslosigkeit“ (2).60 Wird der Prozess des rennenden, aushandelnden Schmähs abgebrochen oder verkürzt, trägt die Herausforderung der Vielfalt somit zur Prägung von Verhaltensweisen bei, die mit der so genannten österreichischen „Untertanenmentalität“ im Bunde stehen.

Schlussfolgerungen: Mehrsprachigkeiten in der Geschichte der Wiener Modernen In der hier vorgeschlagenen Definition ist der (Wiener) Schmäh als Produkt eines modernen Homogenisierungsprojekts zu verstehen, das in einem plurikulturellen Territorium an seine Grenzen stößt: Denn das gängige Rezept der Komplexitätsreduktion durch das Prinzip nationaler Identität stiftet in einem ethnisch und kulturell heterogenen sozialen Raum mehr Probleme als es löst (der Russe, der Preuße, mehrere Österreicher). Der Schmäh antwortet auf diese Herausforderung, indem er zwei Stränge der Sprachkritik miteinander verknüpft: Er kombiniert das popularkulturelle Register der karnevalesk-polyphonen Sprachkritik der Vormoderne mit dem hochkulturellen hermeneutischen Blick der modernen Sprachkritik. Gerade weil er sich in Situationen und Konstellationen herausbildet, in denen die Handelnden eine einheitliche oder eindeutige Sprache verwenden sollten, sie dies jedoch – aus verschiedensten Gründen – nicht können, ist er ein Produkt der Sprachnormierung, wenn auch ein ungeplantes. Zugleich scheint er mit dem Prinzip der fragmentierten Rollen und der Problematik der Unübersetzbarkeit zentrale Züge jenes Sprachspiels vorwegzunehmen, das man gemeinhin als postmodern bezeichnet. Betrachtet man den Schmäh mit Blick auf eine Reihe zentraler Begriffspaa-

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re der Moderne-Postmoderne-Debatte, zeigt sich freilich, dass er exakt zwischen den sprachphilosophischen Idealen von Moderne und Postmoderne situiert ist: Als In-between-Kompetenz agiert er – mit einem offenen Ende – in die Dialektik der Aufklärung und ihre Ambivalenzen hinein. Dies gilt sowohl für die besondere Verschränkung von Rationalität und Theatralität, Vernunft und Spiel, die er inszeniert, als auch für die hieraus folgenden Relationen zwischen Legitimität und Wahrheit, Formalisierung und Demokratisierung, Heterogenität und Rationalisierung, die von ethnisch und sprachlich komplexen, von Mehrsprachigkeit und Plurikulturalität gekennzeichneten Verhältnissen in der Ära der Nationalstaatsbildung ebenso herausgefordert wurden und werden wie von der aktuellen „postnationalen Konstellation“ (Habermas). Dass sich der Schmäh (in der vorgeschlagenen Definition) einem von realer Mehrsprachkeit geprägten und folglich monarchieweit zu findenden Entstehungskontext verdankt, bedeutet nicht, dass die Bedingungen für seine Tradierung ebenfalls gleichmäßig gegeben waren und sind. Der Schmäh wurde nicht zufällig zum „Wiener“ beziehungsweise im Wienerischen vermittelten Schmäh: Denn er ist Teil und Ausdruck von jenem besonderen „Gedächtnis der Städte“ das sich – Moritz Csákys schöner und wichtiger Studie zufolge – im „zentraleuropäischen“ Wien auf besondere Weise verkörperte.61 In Wien verdichteten sich die angesprochenen Herausforderungen von Sprachenvielfalt, Plurikulturalität und Moderne und formierten sich zu einem Milieu, das den konstruktiven Varianten des ein-, zwei- oder mehrsprachig agierenden Schmähs einen ebenso guten Nährboden bereitstellte wie seinen xenophoben und zerstörerischen Ausprägungen. Gerade weil dieses besondere „Gedächtnis“ eine besondere historiografische Aufmerksamkeit verlangt, sei noch an einen letzten revisionsbedürftigen Aspekt in der Genaologie der Wiener Modernen erinnert. Der Kampf eines Kaufmanns auf einer österreichischen Behörde in Galizien konnte nur deshalb zu einem landesweit zirkulierenden Witz avancieren, weil das Positiv zu dem zerlachten Zerrbild moderner Öffentlichkeit allgemein verständlich war: die Sehnsucht nach einer Öffentlichkeit, die sich nicht auf Beamtenstuben beschränkte (1), und die Forderungen jener, denen eine ökonomische Moderne verordnet, eine politische Modernisierung jedoch verwehrt wurde (2). Eine zivilgesellschaftliche Spielart „innerer Zweisprachigkeit“ (Bodi), also die Fähigkeit, zwischen Schmäh und deliberativer Rede, zwischen Aus- und Verhandeln je nach Erfordernis zu switchen, diese Form

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der Mehrsprachigkeit mag nicht die am stärksten verbreitete gewesen sein. Umso wichtiger ist es, ihr nachzuspüren.

Anmerkungen 1

Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen des vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Akademie der Wissenschaften geförderten Projekts „Das Wiener Sprachspiel in Aktion. Schmäh und Tractatus zwischen Wahrzeichen und Palimpsest“. 2 Beate Leweling, Reichtum, Reinigkeit und Glanz – Sprachkritische Konzeptionen in der Sprachreflexion des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte, Frankfurt/Main u.a. 2005. 3 Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München–Zürich 1994, o.S. (amerikan. Original 1981). 4 Allan Janik, Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, München–Zürich 1987, S.80 (amerikan. Original 1973). 5 Gotthart Wunberg, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, S.11–79, hier S.11. 6 Wolfgang Maderthaner, Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/Main–New York 1999; Wolfgang Maderthaner, Das andere Wien des Fin de Siècle – Drei Studien, in: Ders., Kultur – Macht – Geschichte. Studien zur Wiener Stadtkultur im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2005, S.27–69. 7 W. Maderthaner, L. Musner, Anarchie der Vorstadt, S.13. 8 Silvio Vietta, Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik. Descartes – Georg Büchner – Arno Holz – Karl Kraus, München 1981, S.68. 9 Vgl. u.a. Vietta, Neuzeitliche Rationalität; Helmut Arntzen, Sprachdenken und Sprachkritik, in: Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 8: Jahrhundertwende: Vom Naturalismus zum Expressionismus 1880–1918, hg. v. Frank Trommler, Reinbek b. H. 1982, S.247–259; Dirk Göttsche, Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa, Frankfurt/ Main 1987; Waldemar Fromm, An den Grenzen der Sprache. Über das Sagbare und das Unsagbare in Literatur und Ästhetik der Aufklärung, der Romantik und der Moderne, Freiburg i. Br.–Berlin 2006, insbesondere S.433–494. 10 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986. 11 Vgl. u.a. Moritz Csáky u.a., Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen. Zentraleuropas Paradigmen für die Moderne, in: Ders., Astrid Kury, Ulrich Tragatschnig (Hg.), Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, Innsbruck–Wien–Bozen 2004, S.13–43; Wendelin Schmidt-Dengler, Vom Staat, der keiner war, zur Literatur, die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literaturgeschichte, in: Rudolf Muhr, Richard Schrodt, Peter Wiesinger (Hg.), Österreichisches Deutsch: Linguistische, sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen, Wien 1995, S.39–51; Ders., Klaus Zeyringer, Komische Diskurse und literarische Strategien. Komik in der österreichischen Literatur. Eine Einleitung, in: Dies., Johann Sonnleitner (Hg.), Komik in der österreichischen Literatur, Berlin 1996, S.9–19; Beatrix Müller-Kampel, Hanswurst, Bernadon, Kasperl. Österreichische Gegenentwürfe zum norddeutsch-protestantischen Aufklärungsparadigma, in: Ebd., S.33–55.

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12 Vgl. u.a. Anil Bhatti, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, in: Moritz Csáky, Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch (Hg.), Habsburg postkolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck, Wien, Bozen 2003, S.55–68; Johannes Feichtinger, Habsburg (post-)colonial. Anmerkungen zur Inneren Kolonisierung in Zentraleuropa, in: Ebd., S.13–31; Peter Stachel, Ein Staat, der an einem Sprachfehler zu Grunde ging. Die „Vielsprachigkeit“ des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen, in: Ders., Johannes Feichtinger (Hg.), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck– Wien–Bozen 2001, S.11–45. 13 Von einer vergleichbaren Interpretationslogik ist etwa auch die Debatte um eine „österreichische Tradition“ der Philosophie gekennzeichnet. 14 Vgl. exemplarisch Kristóf Nyíri, Österreich und das Entstehen der Postmoderne, in: Ders., Vernetztes Wissen: Philosophie im Zeitalter des Internets, Wien 2004, S.15–31. 15 Jan Assmann, Körper und Schrift als Gedächtnisspeicher, in: Moritz Csáky, Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Bd. 2: Die Erfi ndung des Ursprungs – Die Systematisierung der Zeit, Wien 2001, S.199–213, hier S.204. 16 Vgl. Jörg Hagemann, Eckard Rolf, Die Bedeutung der Sprechakttheorie für die Gesprächsforschung, in: Klaus Brinker u.a. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin–New York 2001, S.885–896, insbesondere S.886; Helmuth Feilke, Die pragmatische Wende in der Textlinguistik, in: Brinker u.a. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik, S.64–83. 17 Johannes Schwitalla, Gesprochene-Sprache-Forschung und ihre Entwicklung zu einer Gesprächsanalyse, in: Klaus Brinker u.a. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2. Halbband: Gesprächslinguistik, Berlin–New York 2001, S.896– 903, hier S.898. 18 Vgl. Helmut Rehbock, Ansätze und Möglichkeiten einer historischen Gesprächsforschung, in: Brinker u.a. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik, S.961–970; Johannes Schwitalla, Gesprochene-Sprache-Forschung und ihre Entwicklung zu einer Gesprächsanalyse, in: Brinker u.a. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik, S.896–903. Zu verschiedenen ergiebigen Quellentypen und den Herausforderungen der Interpretation vgl. ebda, S.962–964. 19 Joachim Gessinger, Sprache und Bürgertum. Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsformen im Deutschland des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1980. 20 Leslie Bodi, Sprachregelung als Kulturgeschichte. Sonnenfels: Über den Geschäftsstil (1784) und die Ausbildung der österreichischen Mentalität, in: Gotthart Wunberg, Dieter A. Binder (Hg.), Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung, Wien–Köln–Weimar 1996, S.122–148. 21 Ebd., S.140. 22 Ebd., S.138–141. 23 Vgl. Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795, Wien–Köln–Weimar 21995. 24 Für diesen Gedanken – die Überwindung der Linearität von Prä- zu Postmoderne und die neu zu betrachtende Zeitlichkeit kommunikativer und ästhetischer ‚Stile’ –, aber auch für viele weitere wertvolle und motivierende Hinweise danke ich Anil Bhatti (Delhi). 25 Wolfgang Kos, Christian Rapp (Hg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, Wien 2004. 26 Theodor W. Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: Ders., Noten zur Literatur [1974], Frankfurt/Main 1981, S.281–324. 27 Rudolf Holzer (Hg.), Wiener Volkshumor. Band 1: Harfenisten und Volkssänger, Wien 1943, S.5. –

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Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum es bis in die 1950er Jahre dauerte, bis der Begriff des Schmähs jenen des Wiener Humors nicht nur in der gesprochenen Sprache, sondern auch in schriftlichen Quellen, in der Literatur und insbesondere in der massenmedialen Präsenz ablöste. Jacques Le Goff, Lachen im Mittelalter, in: Jan Bremmer, Herman Roodenburg (Hg.), Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute [1997], Darmstadt 1999, S.41–56, hier S.45. Einen Eindruck von der Fülle der hier geleisteten Arbeit vermitteln die Beiträge zu den Lemmata „Komisch“, „Ironie“, „Spiel“ und „Witz“ in Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. 7 Bde, Stuttgart 2000–2005. Für literatur- bzw. theatergeschichtliche Zugriffe seien beispielhaft noch genannt Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hg.), Das Komische. München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), und Maske und Kothurn 51 (1996), Heft 4: Komik. Ästhetik, Theorien, Strategien. Beiträge zur VII. internationalen Konferenz der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Wien–Köln–Weimar 1996. Vgl. Hans Peter Althaus, Chuzpe, Schmus & Tacheles. Jiddische Wortgeschichten, München 2004, S.78; Peter Wehle, Sprechen Sie Wienerisch? Von Adaxl bis Zwutschkerl, Wien 22003, S.265. Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs [1929], Frankfurt/Main–Berlin–Wien 1985, S.136–138. Albert Lichtblau, „A Hetz muaß sein!“ Der Wiener und seine Fremden, zitiert nach: http://www. sbg.ac.at/ges/people/lichtblau/hetz.htm, letzter Zugriff am 8.9.2010. Zitate hier und im Folgenden ebd. Ebd. Roland Girtler, Über die Heiterkeit des österreichischen Charmes, in: Die große Homepage vom österreichischen Charme, http://www.charmingaustria.at/de, letzter Zugriff am 10.9.2009. Der zitierte Text war in den Jahren 2008/2009 Teil einer Offensive der Österreich-Werbung, die den Wiener Schmäh – eingedeutscht und territorial ausdehnt zum „österreichischen Charme“ – in den Mittelpunkt einer internationalen Marketingstrategie rückte. Zurzeit ist hiervon nur noch das Schlagwort „Charming Austria“ als untergeordnetes Moment einer neuen Österreich-Präsentation in Umlauf. Ebd. Ebd. Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg 2006. Kai Kauffmann, Gemütliches Wien und verständiges Berlin. Entwicklung kultureller Stereotypen 1780–1880, in: Kos, Rapp (Hg.), Alt-Wien, S.39–45, hier S.39. Ebd. Johann Friedel, Briefe aus Wien verschiedenen Inhalts an einen Freund in Berlin [1784], zit. n. Kauffmann, Gemütliches Wien, S.40. Hugo von Hofmannsthal, Preusse und Österreicher [1917], in: Ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II (1914–1924), Frankfurt/Main 1979, S.459–461, hier S.460. Egyd Gstättner, Übersprungsliebenswürdigkeit, in: Die große Homepage vom österreichischen Charme, http://www.charmingaustria.at/de, letzter Zugriff am 10.9.2009. Ernst Hanisch, Historische Überhänge in der österreichischen politischen Kultur, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (1984), H.1. S.15–19. Ebda, S.15. Vgl. ebda, S.16.

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47 Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780–1848, Wien– Köln–Weimar 1991. 48 Vgl. Hanisch, Überhänge, S.17. 49 Eva Kreisky, Bürokratie als Kultur? Über den Bürokraten in uns und neben uns, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (1984) H.1, S.27–33, hier S.30. 50 Vgl. ebda, S.33. 51 Peter Burke, Sprache und Identität im Italien der frühen Neuzeit, in: Ders., Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin 1994, S.7–30, hier S.9. Ich übergehe an dieser Stelle die umfassende Debatte zur Frage, inwieweit „komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden“ können. Vgl. u.a. Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? in: Ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt/ Main 1976, S.92–126; Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek b. Hamburg 2000. 52 Ebda, S.11. 53 Lawrence Rosen, Bargaining for Reality: The Construction of Social Relations in a Muslim Community, Chicago 1984, S.192. 54 Kreisky, Bürokratie als Kultur?, S.33. 55 Vgl. Michail M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur [1965], Frankfurt/ Main 1986; Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität [1974], Frankfurt/Main 1986. 56 Vgl. Talcott Parsons, Edward Shils, Toward a General Theory of Action. Cambridge (Mass.) 1951; Alois Hahn, Kommunikation und Kontingenz, in: Gerhart von Graevenitz (Hg.), Kontingenz. München 1998 (Poetik und Hermeneutik XVII), S.493–521, hier S.494. 57 Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1984, S.149–152. 58 Vgl. zu dieser Diskussion Uwe Sander, Die Bindung der Unverbindlichkeit. Mediatisierte Kommunikation in modernen Gesellschaften, Frankfurt/Main 1998. 59 Nach Anil Bhatti sind es genau diese Kombinationen von Berechnung und Inszenierung mit ihrer „seltsam komplexen Verschränkung von Macht und Interesse“, die den Schmäh zu einem für „plurikulturelle raum-zeitliche Konfigurationen von Kommunikation“ exemplarischen Interaktionsmodus werden lassen; weshalb auch ein „produktiver Vergleich“ mit „anderen Autoritären, durch sprachliche und kulturelle Komplexität gekennzeichneten Staaten (etwa Indien) und deren Beamtenklasse“ lohnenswert wäre. – So Anil Bhatti in einer Email an die Verfasserin vom 3.11.2010. 60 Das deutlichste Bild dieser Kippfigur – des In- und Gegeneinander der beiden möglichen NichtBewältigungen der Herausforderung – zeichneten Carl Merz und Helmut Qualtinger mit ihrem Herrn Karl, der damit zu Recht zum Sinnbild einer besonderen Form des österreichischen Faschismus wurde. 61 Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien–Köln–Weimar 2010.

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