\"Topischer Sozialismus. Zur Exodus-Konzeption bei Gustav Landauer und Martin Buber\", 93-108 in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 11(1), 2014.

June 29, 2017 | Author: Eva von Redecker | Category: Critical Theory, Revolutions, Anarchist Studies, Historical Materialism, Gustav Landauer, Utopian Socialism
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Description

WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 11. Jg., Heft 1, 2014 Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, und der Gesellschaft für Sozialforschung, Frankfurt am Main, von: Sidonia Blättler Axel Honneth Juliane Rebentisch Ferdinand Sutterlüty In Verbindung mit: Klaus Günther Kai-Olaf Maiwald Sighard Neckel Stephan Voswinkel Internationaler Beirat: Seyla Benhabib, New Haven José Brunner, Tel Aviv Kenichi Mishima, Tokio Yves Sintomer, Paris Peter Wagner, Barcelona Redaktionsanschrift: Dr. Sidonia Blättler Senckenberganlage 26 D-60325 Frankfurt am Main Tel.: +49 (0)69 756183-16 Email: [email protected] Die Forschung des Instituts für Sozialforschung wird durch die institutionelle Förderung der Stadt Frankfurt am Main und des Landes Hessen ermöglicht.

Abonnenten- und Anzeigenbetreuung: Campus Verlag GmbH Barbara Müller Kurfürstenstr. 49 D-60486 Frankfurt am Main Tel.: +49 (0)69 976516-812 Email: [email protected] Die Jahrgänge 1 bis 10 sind im Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel, erschienen. Bezugsmöglichkeiten: Jährlich erscheinen zwei Hefte. Jahresabonnement privat/Buchhandel (print): 24 €, Einzelheft (print): 14 €, Jahresabonnement Bibliotheken (print oder digital): 48 €, Jahresabonnement Bibliotheken (print und digital): 60 €. Alle Preise zuzüglich Versandkosten. Alle Preise und Versandkosten unterliegen der Preisbindung. Die Kündigung des Abonnements muss spätestens sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums schriftlich erfolgen. ISBN: 978-3-593-50113-0, ISSN 1860-2177 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2014 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Gestaltung: Martha Stutteregger, Wien Satz: Ina Walter, Institut für Sozialforschung Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH Gedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC). Printed in Germany Dieses Heft ist auch als E-Book erschienen. www.campus.de

Inhalt

Studien 3 25 45

Judith Butler: Körperliche Verletzbarkeit, Bündnisse und Street Politics Susanne Krasmann: Der Aufstieg der Drohnen. Über das Zusammenspiel von Ethik und Ökonomie in der Praxis des gezielten Tötens Axel Honneth: Die Krankheiten der Gesellschaft. Annäherung an einen nahezu unmöglichen Begriff

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Stichwort: Exodus. Leben jenseits von Staat und Konsum? Hg. von Daniel Loick

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Isabelle Fremeaux: Exodus und Utopie. Ein Streifzug Margarita Tsomou: Last Exit. Zum Aufschwung solidarischer Ökonomien im Griechenland der Krise Eva von Redecker: Topischer Sozialismus. Zur Exodus-Konzeption bei Gustav Landauer und Martin Buber Juliane Rebentisch: Option exit. Kleine politische Landkarte des Entzugs Roundtable: Exodus als Streik. Daniel Loick im Gespräch mit Diedrich Diederichsen, Rahel Jaeggi und Isabell Lorey

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Eingriffe 131 147 163

Ferdinand Sutterlüty: Die Waffen der Schwachen. Widerstandskulturen im Werk von James C. Scott Kenichi Mishima: Eine Moderne – viele Modernen. Zwischen normativem Leitbild, Verbrechen und Widerstand Cass R. Sunstein: Albert O. Hirschman – ein origineller Denker unserer Zeit

Mitteilungen aus dem IfS

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IfS Working Papers Workshopbericht: Modernizations and Emancipation. Comparative Critical Studies Between Germany and Brazil Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2014

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Autorinnen und Autoren

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Eva von Redecker

Topischer Sozialismus. Zur Exodus-Konzeption bei Gustav Landauer und Martin Buber Exodus Das Exodus-Motiv, als Paradigma für Revolution verwendet, setzt andere Schwerpunkte als der Klassenkampfbegriff.1 Nicht die direkte Konfrontation mit den Unterdrückern, sondern der Auszug aus ihrer Gesellschaft, kein plötzlicher Wandel, sondern ein langes Herumirren in der Wüste, kein vorausgehendes Klassenbewusstsein, sondern ein Bundesschluss nach zähen Auseinandersetzungen, Milch, Honig und einzuhaltende Gebote statt einer klassenlosen Gesellschaft. In seiner Studie Exodus and Revolution kontrastiert Michael Walzer das Exodus-Modell noch auf einer übergeordneten Ebene mit anderen Imaginationen von Revolution. Der geschichtliche, innerweltliche Charakter der Exodus-Geschichte, ihr »tough realism« (Walzer 1985: 121) hinsichtlich menschlichen Verhaltens, schütze sie vor der messianischen Verlockung (ebd.: 135), der auch die säkulare revolutionäre Politik seiner Meinung nach immer wieder ausgesetzt ist.2 Die Tatsache, dass die Exodus-Metaphorik räumlich angelegt ist – es geht darum, von einem Ort zu einem anderen zu gelangen –, entkoppele sie von teleologischen Geschichtsauffassungen, insbesondere verhindere sie, das Revolutionsgeschehen in Vorstellungen apokalyptischer Zeitlichkeit aufgehen zu lassen. Das endzeitliche Phantasma, nicht nur in der Geschichte bestimmten Übeln, sondern der Geschichte als solcher entkommen zu können – »a deliverance not only from Egypt, but from Sinai and Canaan, too« (ebd.: 136) –, nährt nach Walzer einen Messianismus, dessen politische Manifestation nicht nur das Abwarten, sondern auch das Erzwingen der letzten Tage darstellen könne: »If messianism outlives religious faith, it still inhabits the apocalyptic framework that faith established. Hence the readiness of messianic militants to welcome, even to initiate, the terrors that precede the Last Days; and hence the will to sin, to risk any crime for the sake of the end.« (Ebd.: 145) Die Skepsis gegenüber dem »apokalyptischen Moment« revolutionärer Politik ist fraglos einem Lernprozess aus ihrer Geschichte geschuldet. Spätestens seitdem die Russische Revolution in ungeheurem Maßstab den terreur der Französischen re-inszenierte (vgl. hierzu ausführlich und eindrücklich Adamczak 2011), scheint ein Revolutionsbegriff, der nicht dazu verführt, den eigenen Kampf als endzeitlich und alle Mittel heiligend zu verstehen, ein

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drängendes Desiderat. So einleuchtend die antiapokalyptischen Vorkehrungen sind, so leicht gerät ihnen hingegen aus dem Blick, dass der Exodus-Begriff selbst, in seiner räumlichen statt zeitlichen Imagination, problematische Konnotationen aufbringt. Die Motivation zum Auszug aus Ägypten bildet schließlich von Anfang an die verheißene Eroberung Kanaans, so dass der Exodus die martialische Komponente lediglich zu verschieben scheint. Selbst wenn man die Analogie auf die in den Büchern Mose erzählte Geschichten beschränkte und Josuas eigentlichen Eroberungsfeldzug in Kanaan beiseite ließe,3 blieben da die Feldzüge gegen diverse Stämme, wie etwa dem des Königs Og, zu dem es in Bubers Übersetzung der Schrift aus dem Hebräischen heißt: »ER sprach zu Mosche: Fürchte ihn nimmer, / denn in deine Hand gebe ich ihn, all sein Volk und sein Land, / du sollst ihm tun wie Du Sfichon dem Amoritenkönig tatest [...] . / Sie schlugen ihn, seine Söhne und sein Volk, / ohne auch nur einen entkommen ihm zu lassen, / und eroberten sein Land.« (Buber und Rosenzweig 1981 [1954]: 429) Man mag sich fragen, ob es nicht doch besser gewesen wäre, die Ägypter zu bekämpfen als die Kanaaniten und Transjordanier auszurotten. Die biblischen israelitischen Feldzüge wurden durch archäologische Forschung zwar als reine Erfindung erwiesen (vgl. Dever 2003: 23–75), nichtsdestotrotz scheint das Exodus-Modell nur schwer von seinen kolonialistischen Implikationen ablösbar zu sein. Die von Paolo Virno als Kapitalflüchtlinge beschworenen nordamerikanischen Pioniere (Virno und Ricciardi 2005: 18) unterstreichen dieses Bild ebenso wie die vielleicht ausdrücklichste moderne Wiederaneignung des Exodus-Narrativs: der »große Treck« der Buren aus dem britischen Mandatsgebiet in Südafrika und die Gründung der Republik Transvaal. Als wört-

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Für ausgesprochen hilfreiche und großzügige kritische Kommentare zu diesem Text danke ich Raymond Geuss, Rahel Jaeggi und Daniel Loick. Dass nicht nur revolutionäre, sondern auch imperiale Politik von einem »apokalyptischen Unbewussten« getrieben sein kann, demonstriert Catherine Keller in ihrer beeindruckenden Studie der US-Politik nach 9/11 (Keller 2005). Das Buch Exodus ist das zweite der fünf Bücher Mose, die insgesamt den Pentateuch ausmachen. Darin wird die Geschichte der Israeliten vom Auszug aus Ägypten bis zur Errichtung von Zelttempel und Bundeslade nach Moses Verkündung der Zehn Gebote erzählt. Die Bücher drei bis fünf enthalten neben religiösen Vorschriften auch die weiteren Geschehnisse in der Wüste, die Niederschlagung des Korach-Aufstandes und Feldzüge gegen etliche Stämme. Im fünften Buch wird schließlich von Moses Tod vor dem Einzug nach Kanaan berichtet. Als letzte Ver fügung übergibt er Josua die Führung, der dann die im Buch Josua berichtete eigentliche Eroberung Kanaans vornimmt. In der hebräischen Bibel gibt es diese Einteilungen nicht, Buber hält sich in seiner Übersetzung an die Gepflogenheit, als »Überschrift« jeweils die ersten Wörter eines Abschnittes zu wählen. Das Buch Exodus heißt bei ihm deshalb »Buch der Namen«. Streng genommen könnte man also die Exodus-Geschichte in der Wüste vor den Feldzügen enden lassen. Da aber die fremden Stämme bereits in der Verheißung des Landes zu Beginn des Buchs der Namen erwähnt werden, kann der Kampf gegen sie kaum als überraschendes, unvorhergesehenes Ergebnis des Auszugs aus Ägypten angesehen werden. Vgl. etwa die folgende Formulierung über Landauer als »im Hofe des Gefängnisses von Stadelheim [...] erschlagen und zerstampft von armen Tieren, die er erlösen wollte« (Michel 1980: 35).

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lich genommene Anweisung zum Ortswechsel ist mit dem Motiv somit wenig anzufangen. Bereits Walzer löst streng genommen in seiner Exodus-Aneignung die räumliche Metaphorik ein Stück weit zugunsten einer zeitlichen auf: Das eigentliche Kanaan der Verheißung werde erst erreicht, wenn alle Kinder Israel sich an den Bund hielten und Tugenden übten, insbesondere die dem Eingedenken an die eigene Erfahrung in Ägypten verpflichtete der sozialen Gerechtigkeit (Walzer 1985: 108). Diese Verheißung scheint indessen immer noch wenig Aussichten für die Opfer unterwegs bereitzuhalten. In Auseinandersetzung mit einem sehr spezifischen deutsch-jüdischen Textkorpus versuche ich im Folgenden, eine alternative Exodus-Konzeption zu skizzieren. Die historische Position, der ich mich hauptsächlich zuwenden will, ist die kommunistisch-anarchistische Gustav Landauers. Der deutsch-jüdische Publizist, Agitator und Übersetzer lebte genau die Zeitspanne des deutschen Kaiserreichs, von 1871 bis 1919. Während sein Nachruhm sich überwiegend auf einige ikonisierende Beschwörungen seines »Märtyrertodes« für die Münchener Räterepublik beläuft,4 war unter seinen Zeitgenoss_innen sein Werk breit bekannt und hat Denker wie Walter Benjamin und Martin Buber informiert. Letzterer stand in einer direkten Schülerbeziehung zu Landauer und versuchte in Pfade in Utopia dessen Position weiter zu verteidigen. Die revolutionstheoretische Alternative, die Buber bereits eine Generation vor Walzer auf ein »Moskau oder Jerusalem?« zuzuspitzen suchte (Buber 1950: 233), wird von Landauer selbst allerdings auf interessante Weise reformuliert und unterlaufen – ganz direkt, indem er eine diasporische Definition der jüdischen Gemeinschaft (Landauer 1997: 174) verficht und in einem Brief an Buber im Februar 1918 nicht nur von seiner mangelnden Palästina-Sehnsucht schreibt, sondern auch, dass es ihm trotz allem lieber sei, dass Bronstein in Russland als Trotzki wirke, als dass er an der Universität von Jaffa unterrichten würde (vgl. Löwy 1992: 137). Aber auch indirekt, indem er der ExodusKonzeption – gegenüber Klassenkampf und historischem Materialismus – nicht die räumliche Metaphorik, sondern eine andere Zeitlichkeit entlehnt. Nicht erst im Gelobten Land soll auf dessen wahre Realisierung zu hoffen sein, sondern bereits der Auszug im Hier und Jetzt ist Aufbruch in die ungewisse Zeit – er kann zur besseren Zukunft am selben Ort führen, kann sich aber auch (»in der Wüste«) verlieren oder im Nachhinein als nichts anderes als die leicht variierte Verlängerung der (»ägyptischen«) Herrschaft entpuppen. Solche Temporalisierung politischer Terminologie ist kein Einzelfall. Nachdem »Fortschritt« bereits im 18. Jahrhundert von einem rein räumlichen zu einem Zeit-Begriff wurde, sind im 19. Jahrhundert weitere Begriffe verzeitlicht worden. Insbesondere »Utopie« – zunächst ein rein räumlicher Begriff und über die Inselliteratur seinerseits eng mit kolonialistischen Phantasien verwoben – begann erst Anfang des 19. Jahrhunderts die semantische Wendung von einem Un-Ort zum Zukunftsbild zu nehmen (vgl. Hölscher 1990: 768 f.). Das Exodus-Modell gibt für dieses Zukunftsbild nun eine bestimmte Zeitstruktur vor: Es soll nicht als Resultat der abzuwartenden Revolution erhofft, sondern antizipierend verwirklicht werden, um damit dem Wandel Vorschub zu leisten. Ob dieser Verschränkung liegt es nahe, das Exodus-Modell der Tradition des utopischen Sozialismus zuzuordnen, wie es Buber in

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Pfade in Utopia vornimmt. Ich werde einleitend diese Kontextualisierung aufgreifen und Buber in seiner Argumentation gegen die gängige Verurteilung der utopischen Positionen von Seiten des wissenschaftlichen Sozialismus folgen. Bubers Punkte – dass Wandel auf Vorwegnahme angewiesen sei und dass der wissenschaftliche Sozialismus selbst ein »Utopieproblem« habe – werden dann ins Werk Landauers zurückverfolgt und in dessen Terminologie ausführlicher dargelegt, nicht zuletzt, um das Bubersche Landauer-Bild stellenweise zu revidieren. Die größte Stärke Landauers scheint mir weniger in seiner Aufwertung utopischer Energie zu liegen, die Buber als prophetische im Gegensatz zur apokalyptischen Haltung stark zu machen sucht (Buber 1950: 23 f.), als vielmehr in seiner »praxistheoretisch« zu nennenden Einsicht, dass die Bildung alternativer Beziehungsweisen transformativ ausschlaggebend, dass die Revolution für ihre Machbarkeit auf Antizipationen angewiesen ist. Landauers »Sozialismus der Tat« oder des »Hier und Jetzt« möchte ich als »topischen« Sozialismus charakterisieren, der sich aus einem bestimmten Verständnis gesellschaftlicher Reproduktion und Transformation ergibt. »Revolution« ist in diesem Modell in der Tat sehr gut mit dem Exodus-Motiv zu erläutern, allerdings bleibt auch dieser Auszug topisch: vor Ort und nicht in ein gelobtes Land, antiapokalyptisch den falschen Zuständen entgegenarbeitend und nicht ihnen den Rücken kehrend.

Utopienachweisvarianten Utopisch im schlechten Sinne sind die Vorschläge von Owen, Fourier oder Proudhon aus marxistischer Sicht deshalb, weil sie am Reißbrett ihrer Imagination Alternativen stipulieren, die sie dann modellhaft verwirklicht sehen wollten. Eher ein Real-Life-Playmobil-Spiel privilegierter Männer als ein emanzipatives gesellschaftliches Projekt. Diese »Musterexperimente« waren aus Sicht des wissenschaftlichen Sozialismus deshalb »zur Utopie verdammt« (Engels 1973 [1880]: 194), weil ihnen der »reale Boden« fehlte (ebd.: 201); keinerlei gesellschaftliche Tendenzen wiesen in die Richtung idyllischer Siedlungskomplexe arbeitsamer Bürger. Die eigene Wissenschaftlichkeit gegen die Utopie der anderen auszuspielen ist indessen keine originale Taktik von Marx und Engels – ironischerweise hatte sie bereits der erste sogenannte utopische Sozialist, Saint-Simon, mit derselben Vehemenz gegen seine Vorgänger vorgebracht (vgl. Hölscher 1990: 779). Auch wenn Marx und Engels hinsichtlich der relativen Wirkungslosigkeit frühsozialistischer Experimente recht behielten, so können Nachgeborene wiederum mit demselben Recht diese Analyse gegen Marx’ eigenen dialektischen Revolutionsbegriff verlängern. Bereits Lenin sah, dass Marx die Tendenz der Arbeiterschaft, ein revolutionäres Klassenbewusstsein auszubilden, überschätzt hatte, und die 5

»Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.« (Marx 1972 [1885]: 134)

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kritische Theorie ist schließlich darauf gebaut, das Ausbleiben der Revolution in Westeuropa zu verstehen und zu analysieren, ohne von dem Anspruch abzulassen, dass sie die rationalere Alternative dargestellt hätte (hierzu ausführlicher: Geuss 2004). Im Zuge poststrukturalistischer und intersektionaler Analysen des Sozialen wurde schließlich die Vorstellung eines eindeutigen Primats der Produktionsverhältnisse über andere Aspekte des Sozialen, wie Marx sie etwa in seiner Streitschrift gegen Proudhon annimmt,5 unhaltbar. Diese Teleologie und Totalität des Sozialen problematisiert indessen auch schon Buber, wenn er den marxistischen Utopievorwurf auf zweierlei Weise umkehrt. Zum einen, so Buber, lasse Marx außer Acht, dass »menschliche Bestrebungen« – Praxis – auch einen Aspekt dessen darstellten, was als gesellschaftliche Tendenzen zu zählen habe. Zum anderen verschleiere Marx seine eigene Angewiesenheit auf »Utopie«, die sich letztlich als viel größer herausstelle als die derjenigen, die auf konkret antizipierte Gegenentwürfe setzten (Buber 1950: 25). Der erste Punkt lässt sich als eine Neubestimmung dessen deuten, was in der marxistischen Tradition die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Faktoren der Revolution ausmacht. Objektiv ist nach Marx die fortschreitende Entwicklung der Produktivkräfte, der Mittel zur menschlichen Bedürfniserfüllung, die schließlich in einen Widerspruch zur jeweiligen gesellschaftlichen Organisationsform – den Produktionsverhältnissen – gerät (Marx 1972 [1885]: 134 und 1961 [1859]: 9). Um das Potential der industriellen Produktion voll auszuschöpfen, musste die Gesellschaft sich laut Marx’ Analyse von einem um die Privilegien der Feudalherren organisierten Institutionengefüge verabschieden und eine bürgerliche Verfassung geben. Aber selbst die gesteigerte Produktivität im liberalen Kapitalismus mit seinen entfremdeten Arbeitsverhältnissen werde irgendwann zum Hemmnis der größeren Produktivität, die der Kommunismus nach Marx verspricht. Der Durchbruch könne allerdings erst eintreten, wenn seine materielle Grundlage vollends entwickelt sei: »Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten.« (Marx 1972 [1885]: 181) Dieser Durchbruch, genau wie der letzte, in der Französischen Revolution kulminierende, hat aber auch eine »subjektive« Seite, nämlich diejenige der den Klassenkampf ausführenden Akteur_innen (Marx und Engels 1972 [1848]: 468). Marx’ Maßstab für die Angemessenheit revolutionärer Bestrebungen ist nun das Passungsverhältnis der subjektiven Anstrengung mit den objektiven Gegebenheiten. Nur solche Versuche, die sich in die Widerspruchsdynamik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen eintragen lassen, gelten als sinnvoll und erfolgversprechend, alle anderen sind »spanische Schlösser« (ebd.: 491) und reaktionär, da sie dem geschichtlich sich verschärfenden Klassengegensatz in die Speichen greifen (Marx 1972 [1885]: 140). Demgegenüber vertritt Buber, dass gerade Landauer derjenige war, der erkannt habe, dass die erfolgreiche kommunistische Revolution noch auf ganz andere Vorbedingungen angewiesen sei als die Reife der Produktivkraftentwicklung und das Klassenbewusstsein der Arbeiter_innenklasse.

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Landauers Analysen und Entwürfe sind durchweg von der Sorge um die richtige Einschätzung der objektiven Gegebenheiten getragen – er versteht darunter indessen eine andere Schnittmenge von Faktoren: Allem voran beschäftigt ihn, was in der Marxschen Tradition stellenweise unproblematisch subjektiv verfügbar erscheint, die Handlungsfähigkeit der historischen Akteur_innen. Die Schaffung von alternativer Sozialität im Kleinen, in der »Topie«, lässt sich insofern mit Landauer als Arbeit an den Bedingungen der Revolution verstehen: Nur wo ihr entsprechende Praktiken und Subjektivitäten bereits vorbereitet und eingeübt sind, hat diese aus Sicht des vielleicht revolutionsskeptischsten Revolutionärs leise Erfolgsaussichten. Der Vorwurf, dies vernachlässigt zu haben, dient denn auch als Grundlage für den zweiten Punkt in Bubers Vindikation: dass letztlich die marxistische Orthodoxie ein »Utopieproblem« habe. Sie unterliege einer utopischen Zeitlichkeit, die Anleihen bei der apokalyptischen Dynamik mache (Buber 1950: 25). In diesem Fall ist die Eschatologie-Warnung also nicht moralisch motiviert wie in der erwähnten Walzerschen Fassung, sondern handlungstheoretisch. Das Problem sei nicht, dass ein »apokalyptisches Unbewusstes« (Keller 2005: viii) die Akteur_innen zu fatalen Mitteln greifen lasse, sondern dass es sie in der falschen Hoffnung wiege, nach der Revolution würden sich die richtigen Verhältnisse wie von selbst einstellen. Nur aufgrund einer verdeckten, apokalyptisch strukturierten Eschatologie falle es den wissenschaftlichen Marxist_innen nicht auf, dass sie die Entstehungsbedingungen einer freien, klassenlosen Gesellschaft in oder nach der Revolution nicht nachweisen können. So diagnostiziert Buber: »Der Punkt, an dem bei Marx die utopisierte Apokalyptik aufbricht und alle ökonomisch-wissenschaftliche Topik in reine Utopik umschlägt, ist die Wandlung aller Dinge nach der sozialen Revolution. Die Utopie der sogenannten Utopisten ist vorrevolutionär, die marxistische ist nachrevolutionär.« (Buber 1950: 25)6 Im Nachvollzug der detaillierteren Fassung der beiden hier angerissenen Punkte im Werk Gustav Landauers wird sich erweisen, inwiefern die Propagierung der »vorrevolutionären Utopie« selbst noch eine vereinseitigende Beschreibung des utopischen Sozialismus darstellt. Ein neubestimmter Revolutionsbegriff kündigt nämlich die Linearität der vorund nachrevolutionären Zeitlichkeit auf und basiert zudem nur auf denjenigen »Utopien«, die im Zuge des Exodus bereits »topisch« geworden sind.

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Fast bis in den Wortlaut hinein findet sich dieses Argument auch in einem Vortrag, den Bernstein 1897 vor der britischen Fabian Society hielt: »Es gibt indes noch eine andere Art Utopismus, der leider nicht ausgestorben ist. Dieser besteht in dem entgegengesetzten Extrem des alten Utopismus. Man vermeidet ängstlich alles Eingehen auf die zukünftige Gesellschaftsorganisation, unterstellt aber dafür einen jähen Sprung von der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft. Was in der ersteren geschieht ist alles nur Flickerei, Palliativ und ›kapitalistisch‹, die Lösung bringt die sozialistische Gesellschaft, wenn nicht in einem Tage, so doch in kürzester Zeit.« Zit. in: Hölscher (1990: 781).

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Topie und Restrukturierung Buber lässt den utopischen Sozialismus in Landauer seine Krönung finden, da dieser den entscheidenden Schritt über seine Vorgänger hinaus gemacht habe, die Restrukturierung der Gesellschaft als vorrevolutionäre Aufgabe anzusetzen (Buber 1950: 80). Weil es in Pfade in Utopia aber auch um eine Affirmation der Tradition als ganzer, von Saint-Simon über Fourier, Owen und Kropotkin, geht, bleibt das Werk in weiten Strecken einer Apologie der utopischen Ideen und Visionen gewidmet und stellt auch Landauer sehr stark als prophetischen Prediger dar. Hierzu steht in einigem Widerspruch, mit welcher Häme Landauer gemeinhin das »Ausdreschen leerer Worthülsen« bedachte und wie er die ganze sozialistische Agitation auf eine der Tat umgestellt sehen wollte – im Sinne der Kropotkinschen, nicht-terroristischen Deutung der »Propaganda der Tat«: als exemplarische Verwirklichung von Alternativen. Bei solchen Beispielen handelt es sich nun gerade nicht darum, »ein neues, vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren« (Engels 1973 [1880]: 194), sondern um die Arbeit von innen, aus dem heraus, was revolutionäres Subjekt und Objekt zugleich darstellt, den gesellschaftlichen Beziehungsweisen (Adamczak 2012). Dabei kommt episodischen Verwirklichungen sozialistischer Formen eine ausschlaggebende Stellung zu. Die Momente des Exodus sind bei Landauer lokal und wiedererkennbar vorgestellt, weshalb mir der Titel »topischer Sozialismus« eine bündige Charakterisierung zu sein scheint. Während das adjektiv »topisch« – örtlich, aber auch einen bestimmten Topos ausdrückend – eigentlich von »Topos« abgeleitet ist, findet sich im Werk Landauers und auch Bubers zudem die Wortschöpfung der »Topie«. »Topisch« sind nach Buber alle wirklichen, nüchternen, auch wissenschaftlicher Betrachtung zugänglichen Phänomene – eben die Dinge, die nicht bloß den Status einer Utopie, einer »tektonisch fest um ein Wunschbild zentrierten Phantasie« (Buber 1950: 19) besitzen. So kommt Buber an einer Stelle selbst zu dem Schluss, dass der utopische Sozialismus auch als der topische bezeichnet werden könne: »[…] er ist nicht ›ortlos‹, sondern will sich jeweils am gegebenen Orte und unter den gegebenen Bedingungen, also gerade ›hier und jetzt‹ in dem hier und jetzt möglichen Maße verwirklichen.« (Ebd.: 139) Während die Topie bei Buber also das objektiv Bestehende gegen das subjektiv Gewünschte abgrenzt, nutzt Landauer den Begriff, um stabile, integrierte Gesellschaftsformen von Zeiten des Umbruchs abzugrenzen. Man könne, so Landauer, davon sprechen, dass jede Topie irgendwann von einer Utopie, die sich aus den bestehenden Problemen und den Erinnerungen an alle vorausgegangenen Utopien speise, unterbrochen werde, um sich dann nach einer Zeit der Dynamik und Unruhe, der Revolution, in eine neue Topie zu verfestigen (Landauer 1907: 13 f.). Während Landauer diese Schematik sofort ironisierend wieder zurücknimmt – polemisiert er doch sein Werk hindurch ständig gegen die Reifizierung durch sozialtheoretische Kategorien (vgl. ebd.: 8) –, hält er an der Redeweise von Topien als integrierten, aber nicht zentralisierten und homogenen gesellschaftlichen Blütezeiten fest. Topien umfassen

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alle gesellschaftlichen Strukturen – »das gesamte Mitleben« (ebd.: 12) –, insofern diese von einem gemeinschaftlichen Geist durchdrungen sind. In der von Kropotkin übernommenen Romantisierung macht Landauer überhaupt nur eine einzige solche Phase in der westeuropäischen Geschichte aus, das Mittelalter (vgl. Kropotkin 1908 [1902]: 140 ff.).7 Die normativen Kategorien, die Landauer entwickelt, um Sozialität zu beschreiben, lassen sich indessen auch von diesem Beispiel ablösen. Hinderlicher ist dabei, dass er als Terminus für gesellschaftliche Integration ausgerechnet »Geist« gewählt hat. Während die meisten Interpret_ innen diesen Begriff schlicht umschiffen und Buber ihn allzu stark in eine religiös-kommunitaristische Richtung liest, scheint mir doch gerade ein näheres Hinsehen auf Landauers idiosynkratische Verwendung von »Geist« die Irritation aufzulösen. Die Grundfrage, die Landauer als Anarchist dringend zu beantworten sucht, ist die nach den gesellschaftlichen Bindungskräften – denn ein staatlich artikulierter Vertrag soll es ja gerade nicht sein. Zudem ist Landauer trotz aller Gemeinschaftsvisionen dezidiert kein Kommunitarist oder normativer Funktionalist, der das Teilen bestimmter Werte voraussetzt, um Vergemeinschaftung gelingen zu lassen. Philosophische oder weltanschauliche Übereinstimmung als Grundlage für Gemeinschaft hält er schlicht für »Schwatz, Tand, Reaktion« (Landauer 1967 [1908]: 139; vgl. auch 1907: 43 f.). Landauer bietet drei Alternativen an, die soziale Integration und kollektive Organisation sichern können: Geist, Zwang und Wahn. Die Definition von »Geist« ergibt sich dabei in Abgrenzung zum »Zwang«. »Geist« bezeichnet eine Gemeinschaft, die auf innerer, nicht äußerer Notwendigkeit, auf freier, nicht erzwungener Zugehörigkeit basiert. Die Kategorie des Wahns nimmt eine ambivalente Mittelstellung zwischen Geist und Zwang ein. Landauer lässt darunter Ideologie, Religion, Masseneuphorie und auch Utopien fallen und gesteht zu, dass diese, wenn auch dem Zwang verwandter als dem Geist, durchaus eine nützliche Rolle in Umbruchphasen spielen können, aber dennoch kritisiert und aufgeklärt werden müssen, da sie Solidarität letztlich doch nur auf tönerne Füße stellen. Landauers Anschauungsmaterial ist häufig dem von ihm übersetzten Buch Kropotkins Gegenseitige Hilfe entliehen. Dort erklärt sich auch die Mittelalter-Begeisterung, die im Grunde gänzlich auf das Gildeprinzip als Beispiel für nicht-staatliche, selbst gewählte, egalitäre Vergemeinschaftung zurückzuführen ist. Die freie Vereinbarung einer Interessenoder Schicksalsgemeinschaft, sich für die Dauer ihres Beisammenseins als Gleiche anzusehen, gegenseitig ihre Konflikte zu schlichten und vor allem füreinander zu bürgen, wie sie sich etwa im Hansa-Schwur einer Schiffsbesatzung äußere (Landauer 1907: 49; Kropotkin 1908 [1902]: 156), ist für Landauer ein perfektes Beispiel für »Geist« (und käme im Exodus-

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Landauers Geschichtsbild ist nicht nur konstruktivistisch, sondern auch dezidiert antiteleologisch. Vgl. etwa: »Wir müssen diesen ganzen Zeitstandpunkt verlassen, wo dann immer alle früheren Zeiten zu uns her gravitieren.« (Landauer 1907: 30); »Es dürfte keinem anständigen Menschen mehr erlaubt sein, von Weltgeschichte zu reden, wenn er nur armselige Reste uns bekannter Geschichten von Menschenvölkern meinte« (Landauer 1967 [1908]: 29).

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Geschehen dem Moment des Bundesschlusses gleich; vgl. Walzer 1985: 71 ff.). Bei der so vorgestellten Gildezugehörigkeit, anders als bei der Staatsangehörigkeit im Sinne der Vertragstheorien, anders aber auch als im Zunftwesen, handelt es sich um ein Prinzip multiplizierbarer Mitgliedschaft. Gerade dass man vielen Zusammenschlüssen zugleich angehöre, dass man sich letztlich in unzähligen Mitgliedschaften wiederfinde, entspricht nach Landauer der fundamentalen Sozialität menschlichen Lebens am besten. Die Gemeinschaftsvorstellung der Gilde ist somit keine traditionale. Die Gilde (oder was Landauer und Kropotkin dafür halten) entsteht in frei eingegangener Abmachung von Menschen, die sich eher zufällig zusammenfinden – eben zum Beispiel als Reisegesellschaft – und sich dann entschließen, sich egalitär und solidarisch zu organisieren. Buber entwickelte in einer seiner allerersten Schriften Alte und Neue Gemeinschaft − hierzu auf Tönnies’ Unterscheidung zwischen traditioneller »Gemeinschaft« und moderner »Gesellschaft« rekurrierend − den Begriff der »postsocialen Gemeinschaft« (Buber: 1976 [1900]: 54). Zeigt sich, dass solche Vereinbarungen doch durch äußere Notwendigkeit eingegangen worden oder intern nicht mutualistisch verfasst sind, sind sie nach Landauers Kategorien eben auch keine Instanzen von Geist mehr, sondern von Zwang. Leicht fällt Landauer indessen auch terminologisch die genaue Abgrenzung zwischen Geist und Zwang als Bindungsprinzip nicht, denn auch der Geist soll ja mit einer Art Zwang, die Landauer mitunter auch »Zug« nennt, wirken: »Was ich Geist, verbindenden Geist oder Gemeingeist nenne, ist etwas, was ich in mir spüre, in allen Menschen vorhanden weiß und in bestimmten Perioden der Menschengeschichte besonders stark hervortreten sehe. Er ist nie etwas anderes als Natur, wäre aber in wissenschaftlicher Sprache gewiß nicht Naturtrieb zu nennen, da dieser Geist vielmehr eine komplizierte Verbindung von zu Gefühl gewordenen Erfahrungen vieler Geschlechter, Interessewahrung und Vernunft ist. Dieser Geist lebt als Gleiches in den Individuen und schafft darum in den hohen Zeiten aus der Spontaneität, der Freiwilligkeit heraus Gemeinden, Korporationen, Verbände.« (Landauer 1921: 33 f.) Geist wäre demnach eine Art zweite Natur gewordener Mutualismus. Landauer selbst verwendet neben der Kropotkinschen Kategorie der gegenseitigen Hilfe als Synonyme Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit (Landauer 1907: 112) sowie Anarchie: »Und diese Gewalt des Geistes wird an die Stelle der brutalen Fuchtel treten. Das eben bedeutet mir das Wort, das ich so selten, aber doch manchmal anwende, wo ich nur sicher bin, dass man seinen positiven Gehalt nicht verkennt: Anarchie.« (Landauer 1977 [1924]: 178) So vage der Geistbegriff ist, so wichtig scheint doch die Eroberung eines begrifflichen Ortes, der jenseits von entweder inhaltlicher Übereinstimmung in den Überzeugungen oder formaler Institutionalisierung solidarische Sozialität ansiedelbar macht. Zudem erlaubt er Landauer, das konstruktive Pendant zur anarchistischen Destruktionsarbeit auszuweisen: Die Abschaffung von Zwang ist nur die eine Seite der Medaille, auf der anderen müssen neue Formen von freier Verbundenheit erschaffen werden. Buber prägt hierfür den Begriff der Restrukturierung, wobei er unter »Struktur« etwas sehr spezielles fasst: lokale lebendige Institutionen, in etwa das, was Landauer als Zusammenschlüsse durch Geist bezeichnet.

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»Unter Struktur einer Gesellschaft ist ihre Gesellschaftshaltigkeit, Gemeinschaftshaltigkeit zu verstehen: strukturreich ist eine Gesellschaft in dem Maße zu nennen, als sie sich aus echten Gesellschaften, d. h. aus Orts- und Werkgemeinschaften zusammensetzt.« (Buber 1950: 30) Mit Restrukturierung ist nicht die Um-Strukturierung, sondern überhaupt erst die Schaffung (oder, wenn eine an das Gildewesen glaubt, Neuerschaffung) solcher anarchistischer Strukturen gemeint. Als modernes Pendant diskutiert Buber schließlich neben Kommunen und Kooperativen am ausführlichsten die Räte (ebd.: 179). Die praxistheoretisch interessante Pointe besteht in Landauers Beharren darauf, dass der »Geist« oder die Solidarität eben keine subjektive Haltung sei, sondern immer erst das Ergebnis entsprechender Praktiken, entsprechender Restrukturierung. Dies ist der Aspekt, den Buber zwar nicht gänzlich übersieht, aber doch in seiner Verteidigung der utopischen Phantasie nicht gebührend betont. Für Landauer geht der Idee die ihr entsprechende Praxis voraus: »Und ein Realpolitiker wäre etwa, wer die Idee erst dann in seinen Kopf aufnimmt, wenn sie sich draußen in den Bedingungen ihre Wirklichkeit geschaffen hat.« (Landauer 1921: 265) Zu den materiellen Bedingungen der gelingenden Revolution gehören somit auch die Praktiken und Institutionen, die dem mutualistischen Geist vorarbeiten.

Neue Gemeinschaft, Sozialistischer Bund und Champagner-Revolutionen Die Vehemenz, mit der Landauer immer wieder betont, dass der Weg und angeblich sogar die Beine erst vom Gehen kämen, dass verbindender Geist erst entstehe, »wenn die Gebilde da sind, aus denen er herausleben […] kann« (Landauer 1907: 108), verdankt sich unter anderem seiner Enttäuschung mit den Lebensreformprojekten der Jahrhundertwende. Die »Neue Gemeinschaft« der Gebrüder Hart in Berlin-Friedrichshagen, der Landauer nahestand, hatte er anfänglich begeistert begrüßt, dann aber entrüstet als individualistische Eskapade zurückgewiesen. Die Läuterung und Umbildung eines vermeintlichen inneren Menschens hielt er für ein hoffnungsloses und zynisches Unterfangen, wo sie nicht lediglich der Nebeneffekt der Bildung neuer gesellschaftlicher Beziehungsformen, wirtschaftlicher Subsistenz und allgemeiner Transformationsbestrebungen war (vgl. Landauer 1978 [1903]). Landauers eigenes Organ zur Propagierung dieser Emanzipationsbestrebungen war der Sozialistische Bund. Im Frühsommer 1908 hatte er vor der »Agitationskommission« der »Anarchisten Berlins und Umgebung« einen programmatischen Vortrag gehalten und in den Zwölf Artikeln des Sozialistischen Bundes zur Diskussion zusammengefasst (vgl. Matzigkeit 1995: 188). Das vom Bund angestrebte Ziel war eine »Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit«, zu denen sich alle arbeitenden Menschen nach Belieben zusammenschließen sollten. Solange »Grund und Boden nicht durch andere Mittel als den Kauf in die Hände der Sozialisten« kämen, bestünden die Aufgaben der Mitglieder der einzelnen Gruppen in Propaganda, Sammlung und der Pionierarbeit in Siedlungen auf dem Land, auf denen

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exemplarisch »Gerechtigkeit« und »freudige Arbeit« vorgelebt werden sollten. Direkt im Anschluss an die Sitzung meldeten sich die ersten Anwärter_innen auf Mitgliedschaft und in den nächsten Jahren bildeten sich ungefähr 20 Lokalgruppen, darunter auch zwei von Margarethe Faas-Hardegger angeregte in der Schweiz sowie eine notorisch skandalträchtige um Erich Mühsam in München. Zu seinen besten Zeiten zählte der Bund ungefähr 1 000 Mitglieder. Unter den Berliner Gruppen ragte als intellektuelles Zentrum diejenige um Martin Buber, Gustav Landauer und Erich Gutkind heraus (vgl. ebd.: 199). Für Landauer und Buber stellten sich die vom Sozialistischen Bund propagierten Praktiken des restrukturierenden Exodus als Antwort auf das transformationstheoretische Dilemma dar, das ihre Revolutionskritik dem zeitgenössischen »wissenschaftlichen« Marxismus ankreidete. Landauer hielt beide Stränge des marxistischen Revolutionsszenarios, historisch-materialistische Teleologie und Klassenkampf, für unplausibel. Er glaubte weder an die progressive Wirkung der Produktivkraftentwicklung – »Alte Weiber prophezeiten aus dem Kaffeesatz, Karl Marx prophezeite aus dem Dampf.« (Landauer 1967 [1908]: 98) – noch traute er dem offenen revolutionären Kampf die Fähigkeit zu, eine freiheitliche und gerechte Neuordnung der Gesellschaft instituieren zu können. Was bei Buber der Vorwurf des postrevolutionären Utopismus ist, ist bei Landauer die Kritik der Klassenkampfdialektik als »Wunderglaube«: »Das Wunder, an das der Aberglaube, wie er sich auch nenne, glaubt, das Wunder, das Materialismus und Mechanismus annehmen: dass das Große ohne große Anstrengung komme und dass der ausgewachsene Sozialismus nicht aus den Kindheitsanfängen des Sozialismus, sondern aus der Riesenmissgeburt des Kapitalismus erwachse, dieses Wunder kommt nicht, und bald werden jetzt die Menschen den Glauben daran nicht mehr kennen.« (Landauer 1977 [1924]: 87 f.) Wiederum analog zu Bubers Apokalyptik-Diagnose kritisiert Landauer eine Art schizophrener Zeitlichkeit in der orthodox-marxistischen Perspektive. Die objektiv sich vollziehen sollende Entwicklung der Produktivkräfte banne die Akteur_innen in ein träges Rinnsal eintöniger Zeit, um sie dann plötzlich in der Revolution zu entfesseln und mit der Einsetzung einer Zukunft zu betrauen, deren Ressourcen noch gänzlich ausstehen: »Weil sie gar nicht daran denken, ihre Ideen Schritt für Schritt, Stein um Stein zu verwirklichen, darum gibt es nur zweierlei für sie: das wie ein träges Rinnsal fortschreitende Einerlei ihres gegenwärtigen erbärmlichen Zustands, ihre langsame Wirklichkeit, oder den fieberhaften Traum einer Augenblicksverwandlung, wo aus Nacht Licht, aus Schlamm Gold werden soll […]! Nur immer rasch, nur immer plötzlich, nur immer zauberhaft, märchenhaft, wundervoll!« (Ebd.: 40) Es ist diese Dissoziation von Gegenwart und Zukunft, die Landauer im topischen Sozialismus zu überwinden beziehungsweise sogar umzukehren sucht. Es gelte, »den Magierstrich zwischen Gegenwart und Zukunft zu entfernen« und mit dem zu beginnen, was er als die eigentliche revolutionäre Arbeit ansah, nämlich die Etablierung und Einübung sozialistischer Praktiken: »Wir sagen: umgekehrt wird ein Schuh daraus! Wir warten nicht auf die Revolution, damit dann der Sozialismus beginne; sondern wir fangen an, den Sozialismus zur Wirklichkeit zu machen, damit dadurch der große Umschwung komme.« (Ebd.: 92)

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Landauer und Buber gehen davon aus, dass die Gesamtgesellschaft sich überhaupt nur restrukturieren kann, wenn es antizipierte Brückenköpfe der postrevolutionären Ordnung gibt. Die Momente des Exodus werden so zum entscheidenden Mittel, das Paradox der postrevolutionären Utopie zu unterlaufen. Im Schoße der alten Gesellschaft müssen nicht nur die Produktivkräfte, sondern auch die praktischen Kompetenzen und Beziehungsweisen heranreifen, mit denen sich die »neue« Gesellschaft erhalten will. Solange Revolutionen nicht die Verteidigungskämpfe solcher ihnen voraus etablierten neuen Strukturen sind, gesteht Landauer ihnen keine direkte transformative Wirkung zu; sie seien »nicht viel anderes […] als Champagner für einen schwer Leidenden, der nach tödlicher Krankheit und in vielen Rückfällen sehr langsam genesen will« (Landauer 1907: 59). Champagner, wenn auch nicht die vielversprechendste Kur, ist dennoch nicht zu verachten. Die episodischen, letztlich scheiternden Revolutionen haben nach Landauer nämlich zumindest die wichtige Funktion, »ein Bad des Geistes« zu sein und in der revolutionären Erfahrung – »dass es in der Revolution ein reiches, zusammengedrängtes, fast spritziges Leben ist« – »das Gefühl der positiven Einigung« zu vermitteln (ebd.: 111). Als Revolutionen müssen diese Erhebungen nichtsdestotrotz scheitern, oft genug sogar in völliger Verkehrung ihrer Ziele. Buber konstatiert dieses Dilemma, dem der topische Sozialismus entgegenarbeiten soll, folgendermaßen: »Die Tragödie der Revolutionen: daß sie, auf das positive Ziel hin betrachtet, das Gegenteil des gerade von den ehrlichsten und leidenschaftlichsten Revolutionären Herbeigesehnten zur Folge haben, wenn und weil das Angestrebte nicht schon vorrevolutionär so weit vorgebildet war, daß die revolutionäre Aktion ihm nur noch den vollen Entfaltungsraum zu erringen hat.« (Buber 1950: 77 f.)

Mühen der Ebene Die naheliegendsten Zweifel am Modell eines restrukturierenden Exodus diskutiert Buber selbst bereits ausführlich in Pfade in Utopia: das Problem der Kooptation. Erweisen sich nicht vermeintlich alternative Entwürfe im Nachhinein oft lediglich als Stimuli für die bestehende Ordnung, sind Kooperativen und Kommunen nicht noch immer entweder eingegangen oder nahezu ununterscheidbar von kapitalistischen Unternehmen oder familiären Zwangsgemeinschaften geworden? Bubers Strategie, für derartiges Scheitern die kollektive Selbstsucht der Beteiligten verantwortlich zu machen (Buber 1950: 126), greift offensichtlich zu kurz. Affektiv äußern sich die Vorbehalte oft in einer gereizten Ablehnung der Euphorie für das Lokale (so zum Beispiel Sharzer 2011), die sich an geeigneten Beispielen auslässt. Man denke nur an das Begrünen von Baumscheiben – eine Variante des urban gardening, bei der die Erdflächen um Bäume auf dem Bürgersteig mit Erde aufgefüllt und bepflanzt werden. Stabilisierung von Mietpreisen und die Ermöglichung alternativer Lebensentwürfe würden hier vermutlich besser durch das gezielte Platzieren von Hundekot und Spritzbestecken

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erzielt; eigentlich müsste es aber darum gehen, den Wohnungsmarkt der Privatwirtschaft zu entziehen. Natürlich läuft solche Polemik immer auf Beispielübertrumpfung hinaus: Wer hätte je behauptet, dass die Freizeitbeschäftigung von Latte macchiato-Müttern eine anarchistische Praxis sei – die Permakultur des feministischen Syndikats und die in der griechischen Krise neugeschaffenen Commons hingegen! – usw. Systematisch richten sich die Einwände gegen die topische Vorwegnahme entweder gegen den Inhalt oder gegen den Modus der Vorwegnahme: Gerade die entscheidenden, die wirklich revolutionären Beziehungen würden sich nicht vorwegnehmen lassen. Entweder weil sich praktisch das Maßstabsproblem stelle – solidarische Wirtschaft ist im Kleinen eben etwas ganz anderes als gesellschaftsweit, direkte Demokratie mag im Hausprojekt funktionieren, aber nicht im ganzen Land etc. Oder weil, wie zum Beispiel Bakunin annahm, bereits die dem Bestehenden entsprungene Imagination derartig kontaminiert sei, dass sie lediglich mit der Aufgabe des Zerstörens, nicht mit der des Aufbaus betraut werden könne. An der zweiten Variante des Einwands offenbart sich schon, dass eine kategorische Ablehnung gradueller Verbesserung selbst nicht plausibel machen kann, woher jemals das Neue kommen soll. Was die Maßstabsfrage angeht, wäre der anarchistische Antwortversuch vermutlich zwiespältig: Da die Zielvorstellung ja durchaus eine dezentrale Gesellschaft von Gesellschaften ist, würde im Zweifelsfall abgestritten, dass die Organisation und Kontrolle »des Ganzen« etwas sei, das angestrebt und eingeübt werden sollte. Andererseits sind beispielsweise die Produktions- und Distributionswege von Open Source-Software oder die Präsenz eines digitalen Commons wie Wikipedia (vgl. Wright 2010: 194 ff.) gute Beispiele dafür, dass Restrukturierung nicht nur heißen muss, darüber Bescheid zu wissen, was im Nachbargarten los ist. Zudem lässt sich hier mit einer Uneindeutigkeit dessen, was eigentlich Vorwegnahme und Einübung wäre, operieren. Mit den postrevolutionären identische Beziehungen werden sich schwerlich formen lassen, aber das, was als Imperfektion der Vorwegnahmen erscheint, ist gleichzeitig ihre Tugend: Übergangsstufe zu sein. Insofern ließe sich auf die Frage des Maßstabes auch antworten, dass es zumindest dabei helfen wird, Milliarden von Menschen demokratisch zu organisieren, wenn viele unter ihnen, zumindest in Haushalten, Vereinen und sozialen Bewegungen, darin schon erfahren sind. Letztlich ist die einzig konsequente Form, in der der Einwand der unmöglichen Vorwegnahme auftritt, die eines Reduktionismus auf eine Makrostruktur. Solange kapitalistische Produktionsverhältnisse bestehen, müsste man auf dieser Linie behaupten, seien alle Beziehungen verdinglicht und von Konkurrenz beherrscht, am Tag nach deren Abschaffung werde sich Solidarität automatisch einstellen. Diese Position fiele allerdings hinter die theoretische Ausgangssituation zurück, vor deren Hintergrund hier überhaupt erst das Exodus-Modell plausibel gemacht wurde, und damit hinter eine Debatte, die in diesem Aufsatz nur selektiv entlang der Argumente Bubers und Landauers re-inszeniert wurde. Die zweite Version des Einwandes würde nicht bestreiten, dass Vorwegnahmen dem Inhalt nach möglich sind, sondern vertreten, dass diese aufgrund ihres lokalen, partikularen Charakters notwendig zum Scheitern verurteilt seien. Wenn der Sozialismus in nur einem

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Land unmöglich ist, wie soll er da in einer Landkommune gelingen? Die Liste der gescheiterten Projekte ist dabei jedoch kein hinreichendes Indiz. Es scheint banal, zu bekräftigen, dass Restrukturierungsversuche scheitern können. Revolutionen haben keine bessere Bilanz aufzuweisen. Und so, wie in der Arbeiterbewegung der erzieherische Wert auch gescheiterter Revolutionen betont wird (vgl. Luxemburg 1982 [1904]: 88), ließe sich auch von episodischen Alternativen sagen, dass in ihnen bestimmte Muster geprägt, geübt und propagiert wurden, die zuvor weniger Realität besaßen. Die heikle Frage ist, ob sie überhaupt jemals gelingen und sich zu einer grundlegenden Transformation fügen können. Dieser Frage zuvorkommend, lautet derselbe Einwand in stärkerer Form, dass die lokalen Initiativen sogar als solche – und nicht erst im Scheitern – kontraproduktiv seien, weil sie ein bloßes Ventil darstellten und somit die bestehende Gesellschaft stabilisierten, sogar Kräfte und Aufmerksamkeit vom »eigentlichen Kampf« abzögen. Insoweit der »eigentliche Kampf« nicht ohnehin ein Phantasma ist, lässt sich dem entgegenhalten, dass es hier wieder hauptsächlich auf die Phänomenologie der Beispiele ankommt. Solidarische Beziehungen und Netzwerke, genauso wie Häuser und Gemüsegärten, können auch Ressourcen für den Kampf bereitstellen – in Virnos Formulierung: »The conflict is engaged starting from what we have constituted through fleeing in order to defend social relations and new forms of life out of which we are already making experience. To the ancient idea of fleeing to better attack is added the certainty that the fight will be all the more effective if one has something else to lose besides one’s own chains.« (Virno und Ricciardi 2005: 20) Ich glaube nicht, dass sich ein allgemeines Kriterium zur Unterscheidung zwischen progressiven und kontraproduktiven Exodus-Politiken finden lässt. Wenn dem so ist, ist die Debatte auf der kategorischen Ebene eigentlich falsch angesiedelt – alle Bedenken und Einwände scheinen sinnvoller kanalisiert, wenn sie als Kritik und Selbstkritik die jeweiligen Praktiken und ihre politische Beziehung zu bestehenden Strukturen begleiten, als wenn sie a priori Defätismus predigen. Landauer lässt sich auch in Anspruch nehmen, um eine Haltung zu analysieren, die mitunter durchscheint, wenn vermeintlich die Illusionen der (U-)Topisten angegriffen werden, nämlich ein spezifischer Heroismus, dem die »Mühen der Ebenen« (Brecht 1993 [1949]: 205) ebenso widerstreben wie das Eingeständnis, es immer mit nur unreinen, relativen und vorläufigen Alternativen zu tun zu haben. Während Virno sich im obigen Zitat darum bemüht, auch den Exodus in militantes Vokabular zu kleiden, verknüpft Landauer seine Vorbehalte gegen die rasche und plötzliche Revolution mit einer generellen Skepsis gegenüber heroischen und martialischen Politikauffassungen. Auf Nachfrage eines Freundes zur Frage des Heroismus in Landauers Aufruf zum Sozialismus äußert dieser sich wie folgt: »Es ist ganz richtig: in dem Aufruf geht Heroisches neben Unheroischem her. Müßte ich aber wählen – so wie ich es nicht muß – was mir das Wichtigste wäre, so würde ich sagen: das Unheroische, das ganz stille, schlichte, geräuschlose, der Beginn der rechten Wirtschaft. […] Die heroische Lebensauffassung erwächst auf einer Lüge« (Landauer 1929: I, 376). Was Landauer hier als die »Lüge« der heroischen Lebensauffassung andeutet, entwickelt er andernorts in Auseinandersetzung mit Nietzsche und den stark von ihm inspirierten ex-

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pressionistischen Selbstverwirklichungsentwürfen der Jahrhundertwende, eine Auseinandersetzung, die Landauer selbst bereits in Zusammenhang mit einer Kritik an Männlichkeitsnormen brachte. Inmitten der allgemeinen Kriegsbegeisterung, die ja bekanntlich auch weite Kreise des Sozialismus einbegriff, erläuterte Landauer 1914 in Korrespondenz mit einem anderen Genossen seine Kritik an der scheinbar selbstlosen Seite des Heroismus, der Opferbereitschaft, die er ebenfalls für ein fehlgeleitetes Handlungsmuster hielt: »Nichts ist verkehrter, als an eine lebendige, einmalige Situation ein Schema anzulegen, und wäre es auch das der größten Beispiele, das Opferschema. Manchmal ist das Opfer durchaus nicht das Schwerste. Aushalten um des Amtes willen, das einem geworden ist, sei’s klein oder groß – das tut not jetzt. […] Und da man uns braucht, müssen wir leben, um zu wirken. […] Ich glaube, Heine erzählt irgendwo von einem Matrosen, der ohne sichtbaren Grund, mitten im Frieden auf die Mastspitze klettert und ins Meer springt mit dem Ruf: ›Ich sterbe für Admiral Jackson!‹. Das ist das typische Beispiel für das Opfer ohne Sinn und Folge. Alle Achtung vor diesem verlassenen Matrosen, aber Achtung auch vor dem, der weiter auf der Galeere bleibt, in der Hoffnung, bald an einem Schiff mitzimmern zu helfen, das die Namen ›Freiheit und Schönheit‹ trägt.« (Landauer 1929: II, 12) Was bei Landauer »auf der Galeere bleiben« ist und in der bereits erwähnten Brechtschen Metapher die »Mühen der Ebenen« ausmacht, findet eine bemerkenswerte Resonanz in feministischen Revolutionsentwürfen, etwa in der von der schwarzen Feministin Francis Beal geprägten Wendung des »Living for the revolution«: »We must begin to understand that a revolution entails not only the willingness to lay our lives on the firing line and get killed. In some ways, this is an easy commitment to make. To die for the revolution is a one-shot deal; to live for the revolution means taking on the more difficult commitment of changing our day-to-day life patterns.« (Zit. in: Springer 2005: 1) Die schwierigere Verpflichtung einzugehen, Tag für Tag die Muster des Alltagslebens zu ändern, scheint eine gute Formulierung für das abzugeben, was sich in der Tradition von Landauer und Buber als Exodus bezeichnen lässt. Ob hieraus auch tatsächlich Veränderung erwächst, hängt wiederum nicht von der subjektiven Entscheidung ab, diese Verpflichtung einzugehen, sondern von den Kontexten, in denen solche Praktiken sich bewegen. Das Phantasma, eine gegen das Scheitern immunisierte Alternative finden zu können, soziale Beziehungen überhaupt daran messen zu können, ob sie gänzlich über den Verdacht der Kontamination mit dem Bestehenden erhaben sind, scheint von einer ähnlichen Überhebung getragen, wie die Hoffnung, in einem heroischen Handstreich »das Ganze« verändern oder mit einem völlig isolierten Opfertod ein Zeichen setzen zu wollen. Wenn man den herrschenden Bedingungen eine relative, aber keine ökonomistisch-kategorische Übermacht gegenüber alternativen Beziehungsweisen einräumt, dann ist die Möglichkeit des Scheiterns, die Korrumpierbarkeit, zugleich auch die Bedingung eines nicht unmöglichen Gelingens des Exodus: Eben weil soziale Praktiken aufeinander einwirken, eben weil sie nicht hermetisch gegen die Mehrheitsgesellschaft abschließbar sind, können – könnten – sie diese auch verändern.

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