Olga Moskatova · Sandra Beate Reimann Kathrin Schönegg (Hg.)
Jenseits der Repräsentation Körperlichkeiteil der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst
Wilhelm Fink
Inhaltsverzeichnis
Diese Publikation wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Graduiertenkollegs "Das Reale in der Kultur der Moderne" (Konstanz) gefördert. Umschlagabbildung: Courtesy Jennifer West, Filmstill aus Regressive Squirty Sauce Film
(16mm film Ieader squirted and dripped with chocolate sauce, ketchup, mayonnaise & apple jttice) (3'36 Min., DVD projection (transferred from 16mm film), no sound, 2007).
OLGA MosKATOVA, SANDRA BEATE RErMANN, KATHRIN ScHöNEGG Körperlichkeiteil der Abstraktion Eine Einleitung ............................................. .
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ABSTRAKTION ZWISCHEN SPUR UND POTENTIALITÄT TomAs WrLKE Belichtung als Berührung Laszl6 Moholy-Nagys Fotogramme zwischen Spur und Bild ....... · · ·..
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KATHRIN ScHöNEGG Kalkulierte Distanz Zur Autopoiese, Abbildung und Abstraktion in Fotografien nach 1970 . . . .
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MATERIALITÄT: PHYSIS DES ARTEFAKTS Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfaltigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht§§ 53 und 54 UrhG ausdrücldich gestatten.
OLGA MosKATOVA Chronomente Materialität des Films zwischen Essentialismus und Prozessualität ... · · · . ·
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ToMoKo MAMINE Als sich Geist und Materie die Hand gaben" Haptik in den frühen Arbeiten von Gutai ............... · · · · · · · · · · ·
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MARCEL PINKE Materialität der Oberfläche Abstraktion und Figuration in Fraucis Bacons Reclining Figures .... · · · · . ·
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INHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS
KÖRPERALS MEDIUM EINES ABSTRAKTEN AUSDRUCKS
BERND STIEGLER Die Abstraktion der Körperlichkeit Frank Bunker Gilbreth und der Einsatz der Lichtbilder im Kampf um die Zeitökonomie ............................ · · · · · · · · · · · · · · 285
VERONICA PESELMANN Abstraktion zwischen Figur und Grund Zu fotografischen Arbeiten von Liu Bolin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 ALEXANDER ScHWAN Ornamentale Körperschrift Postmodern Dance zwischen Abstraktion und Potentialität . . . . . . . . . . . . . 143 KRISTIN WENZEL The Beginning of Listening Zur Stille in den Künsten.......................................
FRIEDRICH WELTZIEN Zeuge der Zeugung Biochemische Körperkonzeptionen und das abstrakte Bild als Lebewesen .............................. · · · 301
KÖRPERLICHKEIT ALS LEIBLICHKEIT DER REZIPIERENDEN BARBARA LANGE Relationale Situationen Soundinstallationen von Haroon Mirza als Instanzen von Subjektivierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 DIETMAR KüHLER Spiegel der Wahrnehmung Zur Phänomenalität der Si/ver-Installation VII von Wolfgang Tillmans. . . . . 191 SEBASTIAN EGENHOFER Theater der Gestalt Robert Morris und die Grenzen der Phänomenologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 SANDRA BEATE REIMANN innen-außen Topalogisches Raumdenken in Richard Serras Band, Sequence und Cycle . . . 233
ABSTRAKTION ZWISCHEN KUNST UND (NATUR-)WISSENSCHAFT SABINE FLACH ,Und so ist der moderne Künstler ein Wissenschaftler' Das künstlerische Wissen um die Abstralction als Epoche zur Erkundung der Sinnesvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
sehen Bewusstsein und Welt, Konstruktion und Repräsentation, zwischen Interpretativität und Responsivität sowie zwischen Handeln und Zustand" 79 wird in Tillmans' Installationen ein erfahrbarer Raum eröffnet. Die Si/ver-Arbeiten von Wolfgang Tillmans lassen sich demnach nur in gewissem Maße als selbstreferenzielle Bilder interpretieren, denn sie stellen eben nicht nur eine lediglich materielle Reflexion der Frage dar, wo "das Bild zum Bild wird". In ihrer installativen Entgrenzung, in ihrem körperlichen Ausschöpfen aller bildliehen Potenziale fotografischen Materials weisen sie weit über diesen Abstraktionsbegriff hinaus. Stattdessen ermöglichen sie eine Reflexion darüber, wie wir als leibhaftige Wesen mit unserer Umwelt interagieren. Somit unterscheiden sie sich nur auf den ersten Blick von Tillmans' restlichem Werk. Tatsächlich steht auch bei ihnen der Mensch im Mittelpunkt.
79 Schürmann: Sehen als P}'(lxis, a.a.O., S. 11. Die Geschichte der Wahrnehmungstheorie ist vor allem durch zwei einander entgegen gesetzte Pole bestimmt: die perzeptuell/ rezeptiver Sinnesdatentheorien und die kognitiv/konstruierender Produktionstheorien (vgl. diesbez. bspw.: Wiesing, Lambert (Hg.): Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, Frankfurt am Main, 2004; Konersmann, Ralf (Hg.): Kritil< des Sehens, Leipzig, 1997). Mittlerweile kann jedoch von dem Konsens ausgegangen werden, dass für die visuelle Wahrnehmung beide Aspekte gleichermaßen eine entscheidende Rolle spielen: "Responsivität und lnterpretativität des Sehens bilden eine untrennbare Einheit", so Schürmann (S. 22).
SEBASTlAN EGENHOFER
Theater der Gestalt Robert Morris und die Grenzen der Phänomenologie
Schon früh ist die Minimal Art- diese doch programmatisch anti-subjektivistische Kunst - in eine Reflexion und Auseinandersetzung über die Verfassung menschlicher Subjektivität einbezogen worden. Ein Scharnier dieser Wendung stellen die "Notes on Sculpture" (1966/67) von Robert Morris dar, die der phänomenologischen Minimalismusrezeption den Weg gewiesen haben, die diese Wendung zum Subjekt zuerst und am nachhaltigsten vollzogen hat. 1 Da Deutungsversuche ldassischer Art an der opaken Präsenz der minimalistischen Objekte abzugleiten scheinen, tritt die Reflexion auf den aktuellen Wahrnehmungsvollzug und seine eidetisch-allgemeinen Strukturen in den Vordergrund. Das Verhältnis des wahrnehmenden Körpers zum Körper und Raum der Skulptur rückt in den Blick. Die Zeit des Wahrnehmungsvollzugs wird als notwendige Dimension der Werkerfahrung anerkannt und bald, im Moment einer Überschreitung auch des phänomenologischen Horizonts, auf ihr Verhältnis zur historischen Zeit befragt. 2 Im Folgenden werden die Motive und Grenzen dieser reflexiven Wendung untersucht. Ich ziehe dabei Michael Frieds "Art and Objecthood" heran, den neben Morris' "Notes" prägendsten Text der Minimalismusrezeption. Fried hat in seiner Kritik der Minimal Art eine scharfe Unterscheidung zwischen der von der körperlichen Wahrnehmung getragenen und unterlaufenen ,Dauer' und der augenblickshaften Gegenwärtigkeit modernistischer Kunst eingeführt. Im Licht des Friedschen Augenblicks wird sich die minimalistische Präsenz - wie sie die phänomenologische Reflexion als integrales Verhältnis von Wahrnehmungssubjekt und umschließender Situation analysiert- als nur die eine Seite, clie Innenseite einer Bewusstseinsimmanenz erweisen, die vor jeder Reflexion und in uneinholbarer Passivität in präsubjektive Zeit- und Raumstrukturen eingelassen ist. Das Zerfallen der minimalistischen 1 Morris, Robert: "Notes on Sculpture [part 1-3]" [Artforum 1966/67], in: Ders.: Contim10us ProjectAltered Dai!y: The Writings ofRobert Morris, Cambridge (Mass.)/London, 1993, S. 1-39; dt.: "Anmerkungen über Skulptur", in: Stemmrich, Gregor (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel, 1995, S. 92-120. Paradigmatisch für die phänomenologische Wendung sind die Arbeiten von Rosalind Krauss (insb. Passages in Modein Sculpture, London, 1977); ein spätes Beispiel ist Yve-Alain Bois' Essay über Judd (Ders.: "L'Inflexion", in: Donaldjudd (Kat. Ausst., Galerie Lelong) [reperes, cahiersd'artcontemporain, no. 78], Paris 1991, n.p.); dem Modell der phänomenologischen Wendung folgt noch die Minimalismus-Interpretation von Georges Didi-Huberman (Ders.: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München, 1999), die aber den phänomenologischen Subjektbegriff durch den der Psychoanalyse ersetzt. 2 Knapp und (selbst-)ironisch zu dieser weiteren Öffnung: Buchloh, Benjamin: "Periodizing Critics", in: Poster, Hai (Hg.): Discussions in Contempormy Culture I, Seattle, 1987, S. 65-70.
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Gestalt, die Auflösung des geometrischen Vokabulars in den Antiform-Arbeiten der späteren sechziger Jahre wird so als Indiz einer Spaltung lesbar, die die phänomenologische Konzeption verleiblichter Subjektivität je schon unterlaufen hat. Den Leitfaden der folgenden Lektüren werden daher divergente Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit ausmachen.
Blank Form Im Februar 1962 fanden im Living Theatre in New York eine Reihe von Tanzvorführungen und Performances zur Unterstützung von Jackson Mac Lows und La Monte Youngs An Anthology statt. 3 Schon zwei Jahre zuvor hatte Robert Morris für die Sammlung von Wortarbeiten, Kompositionen und Werldmnzepten der sich formierenden Fluxus-Bewegung ein "Blank Form" betiteltes Manifest verfasst, in dem er einen aus heutiger Sicht überraschenden konzeptuellen Rahmen für seine heute ,minimalistisch' genannten Skulpturen umriss. 4
From the subjective point of view there is no such thing as nothing - Blank Form shows this, as weil as might any other situation of deprivation. So long as the form (in the broadest possible sense: situation) is not reduced beyond perception, so long as it perpetuates and upholds itself as being object in the subject's field of perception, the subject reacts to it in many particular ways [... ]. Blank Form is still in the great tradition of artistic weakness-taste. [... ] Blank Form is like life, essentially empty, allowing plenty of room for disquisition on its nature and mocking each in its turn. Blank Form slowly waves a !arge gray flag and laughs about how close it got to the second law of thermodynamics. Some examples for Blank Form sculpture: 1. A column with perfecdy smooth, reetangular surfaces, 2 feet by 2 feet by 8 feet, painted gray. 2. A wall, perfecdy smooth and painted gray, measuring 2 feet by 8 feet by 8 feet. 3. A cabinet with simple construction, painted gray and measuring 1 foot by 2 feet by 6 feet- that is, a cabinet just !arge enough to enter. 5 Während die einfache und reduzierte Form nach Morris' späterer Selbstinterpretation auf "ein maximales Bewusstwerden[] des Objekts" 6 zielt, stellt er sie hier als Versuch der Annäherung an eine Schwelle der Nichtwahrnehmbarkeit, an einen Nichteindruck dar, als Versuch eine möglichst leere, oder, wie er in einem späteren 3 Mac Low, Jackson/Young, La Monte (Hg.): An Anthology ofchance operatiom concept art anti-art indeterminacy improvisation meaningless work natural disasters plans ofaction stories diagrams Music poetry essays dance constructions mathematics compositiom, New York, 1963. 4 Morris, Roben: "Blank Form", in: Haskell, Barbara/Hanhardt, John (Hg.): Blam! The E-plosion ofPop, Minimalism, and Pe1j0rmance 1958-64 (Kat. Ausst., Whitney Museum of American Art, New York), New York, 1984, S. 101. 5 Ebd. 6 Morris: "Anmerkungen über Skulptur", a.a.O., S. 95.
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Interview sagt, möglichst "negative" 7 Skulptur zu machen. In einigen Briefen an John Cage aus demselben Jahr thematisiert Morris die Unüberschreitbarkeit dieser Schwelle, die Unerreichbarkeit des "Nichts". Actually, I can not conceive of nothing happening- l'm not trying to make a logical statement. In fact, a kind of "nothing" image is very important to me and I have said that I want to arrive at zero, although going toward it is like the successive divisions of a line- for the arrival one must go outside the process. [... ] I am able to assign both a negative and positive value to this approach. On the one hand it reflects the desire to get outside by making logical steps (doing next to nothing so that nothing will be a real "next"). [... ] On the positive side there is my feeling about perception itself. You mentioned in your Ietter ofJuly that ,most of what is happening is in nobody's mind': I feel that all of what is happening is in everybody's mind - the statements are not exclusive of one another, I guess it is more a matter of focus. 8 Die Blank Form soll also eine Annäherung an ein Nichtereignis, an eine optische und räumliche ,Stille' sein, die als Resonanzboden für ein auf die Welt überhaupt geöffnetes Wahrnehmen fungiert. John Cage hat Robert Rauschenbergs White Paintings von 1951 so interpretiert, als Empfängerstrukturen des Zufalls der Welt, als "airports for the lights, shadows, and particles" 9 • In Cages 4 '33" (1952), seinem Silent Piece, ist diese Konzeption des Werks als strukturierte Leere in paradigmatischer Reinheit umgesetzt; in der Lecture on Nothinl 0 von 1959 hat Cage die Öffnung auf die Kontingenz des Wirldichen als eine über die kompositorische Praxis hinausreichende ethische Haltung beschrieben, die im Kunstwerk nur exemplifiziert und verdichtet ist. Die "Struktur" 11 des Werks- die Lecture führt es in actu vor -soll nur ein Gefäß sein, das von der Kopräsenz der Welt, mit der es in Berührung 7 Im beschwörenden Ton des schriftlich geführten Interviews: "Should I remernher to/for you the sense that before me stretched eight square feet of as negative a sculpture as it was possible to make?", in: "Golden Memories. W.J.T. Mirehelltalks with Roben Morris", in: Artjorum, Vol. XXXII, No. 8 (April1994), S. 86-91 u. S. 133, hier S. 88f. 8 Morris, Robert: "Letters to John Cage", in: October 81 [Sommer 1997], S. 70-79, hier S. 72. 9 Cage, John: "On Roben Rauschenberg, Artist, and His Work", in: Ders.: Silence, S. 98-108, hier S. 102. Cages Interpretation, die in den 1961 fertig gestellten Rauschenbergessay mündet, hat eine lange Vorgeschichte, die Morris gewiss punktuell bekannt war (s. Joseph, Branden W.: "Robert Morris and John Cage: Reconstructing a Dialogue", in: October 81 [Sommer 1997], S. 5969; Ders.: "White on White", in: Criticallnquhy, Val. 27, No. 1 [Herbst 2000], S. 90-121). Die White Paintings enstanden 1951 während Rauschenbergs Aufenthalt am Black Mountain College, wo Cage unterrichtete; einige von ihnen waren in das dort realisierte multimediale Theater Piece von Cage als Sichtschirme oder Reflektoren integriert (vgl. Kostelanetz, Richard: jolm Cage im Gespräch, Köln, 1989, S. 93f.; zur Entstehung von Rauschenbergs Frühwerk und der Situation am Black Mountain Colleges. auch: Hopps, Walter: Robert Rauschenberg. The Early 1950's, Houston, 1991 [insbes. S. 65f.]). Vermittelt über Cage zeichnet sich die ästhetische Indifferenz der Duchampschen Readymades und die aleatorischen Produktionsverfahren (exemplarisch die Staubzucht) des Großen Glases (1915-23) als eine Wurzel des "artistic weakness taste" ab. 10 Cage,John: "Lecture on Nothing", in: Ders.: Silence, a.a.O., S. 108-126. II Cage unterscheidet die "Struktur", die modulare Einteilung allein der Dauer(n) (durations) musikalischer Komposition wie auch der Lecture selbst, von der "Methode" der Zwölftontechnik, die "each single note" determiniert, aber keine leeren Dauern organisieren kann: "There is too much there there. There is not enough of nothing in it." Ebd., bes. S. 109-114, hier S. 124.
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kommt, gefüllt werden kann. Ist dieses Gefäß im Fall von 4'33" (und der Lecture selbst) eine gebaute Zeitgestalt, die von der Aktualität ihrer Realisierung je neu und anders durchlaufen wird, so ist es doch auch bei Werken, die wie Rauschenbergs White Paintings oder Morris' Blank Forms als statische Objekte im Raum existieren, der Vorübergang der Zeit, in dem sie ihre rezeptive Funktion gewinnen: Es ist die Zeit, die den Staub und die Schatten aber auch die Blicke der Betrachterlinnen apportiert. Im Paradigma Cages ist Zeit nicht als die gegenwartszentrierte Zeit einer intentional beseelten Wahrnehmung bestimmt, sondern als die in der musikalischen Struktur objektivierte, externalisierte Dauer. Morris setzt hier bereits einen anderen Akzent. Wenn der Limes der Nichtperzeption in den hellgrauen Oberflächen der Blank Form materialisiert ist, wird alles was ist, in ein Diesseits fallen, das als das der Wahrnehmbarkeit und damit bereits einer latenten Wahrnehmung bestimmt ist: "I feel that all of what is happening is in everybody's mind." In der Gesamtheit der unbewussten, ldeinen Perzeptionen ist das wahrnehmungsfähige Subjekt auf die Welt überhaupt geöffnet. Die Struktur dieser Öffnung wird mit dem Entzug aletueHer Wahrnehmungsinhalte manifest. 12 Schon die Blank Form fungiert also nicht per se als "Spiegel der Luft", wie Cage von Rauschenbergs White Paintings sagt, 13 sondern als ein Spiegel des Subjekts, als Katalysator, der - indem er der Wahrnehmung die Inhalte entzieht- diese selbst, "[the] feeling about perception itself' in die Aufmerksamkeit rückt. In den ,,Anmerkungen zur Skulptur" wird Morris nachdrücldich diese "positive Seite" betonen. In dem von Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (1945/ engl. 1962) geprägten Text wird die Zeit daher entschieden subjektiviert und vom Wahrnehmungsvollzug her gedacht. Die messbare und antizipativ strukturierbare Zeit - jene ldeinen Stücke von Stille, die Cage zu den drei Sätzen von 4 '33" zusammengesetzt hat wird auf die Bedingung der Existenz des Objekts reduziert, die vom Präsenzhof1 4 eines Wahrnehmungsbewusstseins durchlaufen wird. Schon die Performance, die Morris 1962 im Living Theatre präsentiert, stellt einen Übergang zur späteren Konzeption
dar. Es überrascht daher nicht, dass er das Blank Form Manifest noch vor der Veröffentlichung der Anthology zurückzog. Er hatte den "artistic wealmess taste" inzwischen verloren. Jedoch macht die Performance deutlich, in welcher Weise die aus dem Fluxus- und Musildcontext aufgenommene Zeitkonzeption in Morris' entwickeltem Minimalismus persistiert und im Hintergrund der phänomenologisch gefassten Wahrnehmungspräsenz spürbar bleibt. Ich meine, dass Ft-ieds Allergie gegen die minimalistische Dauer letztlich diesem Kern entropischer Zeit gilt, die jede phänomenale Präsenz unterläuft.
12 Im Fond der petites perceptions ist die Leibnizsche Monade auf die Totalität der Welt bezogen. Vor diesem Hintergrund einer generellen Anwesenheit des Wirldichen für das empfindende Wesen können sich distinkte Empfindungen, bewusste Wahrnehmungen oder Apperzeptionen, die zugleich Kondemationen !deiner Perzeptionen sind, allererst konturieren. In dem schon zitierten retrospektiven Interview von 1994 hat Morris diese Öffnung, als deren Anlass und Resonanzboden seine frühen Skulpturen fungieren sollen, in der tatsächlich Leibnizschen Frage gefasst: "the perpetual question, the whispered conundrum, that has followed me since childhood: why is there something instead of nothing?" ("Golden Memories", a.a.O., S. 86-91 u. S. 133, hier s. 88f.). 13 ]olm Cage disusses 4:33"; http://www.sfmoma.org/explore/multimedia/audio/aop_tour_402 (01.07.2012). 14 Edmund Husserl spricht in den Analysen des inneren Zeitbewusstsein von einem "Hof" (oder "Horizont"), den die je alctuelle, punktförmige Gegenwart in Form des "retentionalen" Bewusstseins der unmittelbaren Vergangenheit und der "protentionalen" Vorzeichung des Stils der unmittelbar bevorstehenden Zukunft um sich bildet (s. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie des Inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), Husserliana Bd. X, hg. von RudolfBoehm, Den Haag, 1966, etwaS. 105; auch 35f.).
Körper, Masse und Zeit Für die Performance-Beiträge im Living Theatre war ein Zeitrahmen von sieben Minuten festgelegt. Morris präsentierte Column: Der Vorhang öffnet sich, eine Säule aus hellgrau gestrichenem Sperrholz, zwei auf zwei Fuß in der Grundfläche, acht Fuß hoch, eine abstrakte Statue, steht für dreieinhalb Minuten. Dann kippt sie um, schlägt auf dem Boden auf und liegt für weitere dreieinhalb Minuten, bis sich der Vorhang schließt. 15 1960 war Column noch als Elan!< Form konzipiert worden, 1961 wurde sie als solche gebaut und bald zu Two Columns- einer stehenden, einer liegenden- verdoppelt. Als Darsteller der Performance war die Säule nur bei der einen Gelegenheit in Gebrauch. 16 Als Skulptur ausgestellt wurde meist nur die zu Two Columns verdoppelte Version, zuerst Anfang 1963 in der Green Gallery. Column in ihrer einmal zeitlich sequenziell, einmal räumlich synchron artikulierten Dopplung- gehört damit zu deninitialenArbeiten von Morris' Minimalismus. Die Theatralität und der Anthropomotphismus, die Michael Fried einige Jahre später am Literalismus, wie er die Minimal Art nennt, wie geheime Übel entdecken wird, 17 sind hier noch explizit. Damit ist auch der nächste historische Kontext angezeigt, in dem Frieds Begriff der Theatralität - ehe er dessen Genealogie zurück ins 18. Jahrhundert verfolgt- situiert werden muss. Denn es ist vor allem der Minimalismus von Morris - überblendet mit dem dunklen Pathos einer berühmten Erzählung Tony Smiths, auf die ich gleich zurückkommen werde -, den Frieds Diagnose der Theatralität und des Anthropomorphismus bestimmt. (Bei Carl Andre und besonders bei Donald Judd findet sie jedenfalls keinen Anhalt, auch wenn Fried, der programmatisch entdifferenzierend verfährt, dies unterstellt. 18) Es 15 Vom "Vorhang" als Markierung von Anfang und Ende der Pe.;formance spricht Rosalind Krauss (Passages inlvfodern Scu!pture, London, 1977, S. 201), während Maurice Berger nur dasAusschalten der Scheinwerfer erwähnt, sodass man annehmen muss, dass der Anfong der Performance durchs Einschalten der Scheinwerfer markiert gewesen ist (Berger, Maurice: Labyrinths. Robert Morris, Minimalism, and the 1960s, New York, 1989, S. 47). 16 Column war hier selbst der Akteur. Morris hatte vorgehabt, in der Säule zu stehen und mit ihr umzufallen, behalf sich aber nach einer Verletzung bei der Probe mit einem Mechanismus. 17 Fried, Michael: "Kunst und Objekthaftigkeit" [Artfomm, Sommer1967], in: Stemmrich: MinimalArt, a.a.O., S. 334-374, bes. S. 342-349. 18 "He cross-referenced Bob Morris, T ony Smith and myself and argued against the mess", schreibt Donald Judd einmal Qudd, Donald: Comp!ete Writings 1959-1975, Halifax/New York, 1975,
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ist vor allem die für die anti-humanistische und anti-expressive Theater-, Tanz- und Performance-Praxis der sechziger Jahre bestimmende Konzeption von Körperlichkeit, die in Frieds Begriff der Theatralität eingegangen ist. 19 Neben den task-performances von Sirnone Porti, Morris' damaliger Frau, die gymnastischen Übungen ähneln und für die Morris einige Bühnenbild-Elemente oder ,Props' baute, die zum Teil Vorentwürfe seiner abstrakten Skulpturen waren, 20 sind Yvonne Rainers Choreografien charakteristisch für die, wie Morris selbst rückblickend schreibt, "Wittgensteinian ,ordinariness'", 21 die von der Generation nach Merce Cunningham in die Tanzpraxis eingeführt wurde. In Rainers Trio A (The Mind IsaMuseie part I, 1966), einem der paradigmatischen Stücke des minimalistischen Tanzes, ist der Körper der Tänzerin in dem gleichmäßig raschen, spieluhrartigen Ablauf als Masse im Raum exponiert, als Material, das der Schwerkraft und den Gesetzen der Mechanik unterliegt. Der Bewegungsablauf ist ein gespannt kontrollierter Taumel. Der Körper ist tätig, aber er ist nicht das Organon einer Ausdrucksbewegung des Subjekts. Die Hierarchie von Intention und Material ist eher umgekehrt. Die Äußerlichkeit des Körpers, seine Physis gewinnt ein durchdringendes Primat - the mind is a muscle, wie der Titel sagt. "If my rage at the impoverishment of ideas, narcissism, and disguised sexual exhibitionism of most dancing", schreibt Rainer 1968, "can be considered puritan moralizing, it is also true that I love the body- its actual weight, mass, and unenhanced physicality. "22 Die "unsublimierte Physikalität", das "wirldiche Gewicht" des Körpers ist das Element der tänzerischen Artikulation. In diese dem Ausdruck vorausliegende "inerte" 23 Materialität tragen die Wiederholung und Rhythmisierung der Bewegungen eine Struktur ein, die der Zeit als der Form des inneren Sinns, der psychischen Zeit gegenüber heteronom bleibt. Der Hiatus der Intentionalität, die den Körper beseelt, bildet sich hier erst im zweiten Atemzug. Der Körper ist als plastisches Material eingesetzt, das behandelt werden kann wie andere Materialien auch: Während Richard Serra oder Mor-
ris selbst ab 1967 im Vollzug des Bruchs mit der geometrischen Syntax des Minimalismus bald Gummi, Filz und Blei hängen, falten, werfen, anlehnen etc. 24 und die Materialien so in ihren physischen Eigenschaften und in Bezug zur Gravitation exponieren, setzt etwa Bruce Nauman in seinen frühen Performances - wie Slow Angle Walk (Beckett Walk) oder Wall!Floot· Positions (beide 1968) - den Körper selbst als plastisches Material ein. Wenn Morris' frühe Skulptur anthropomorph und theatralisch ist, dann im Sinn dieser nonexpressiven Theatralität, die auch die frühe Performance im Living Theatre auszeichnet. Die einzige Bewegung in dem pathetischen !deinen Drama, in dem es offenbar um Leben und Tod geht, ist die passive des Falls, keine Handlung, sondern ein emblematischer Energieverlust. Das hellgraue Prisma ist die Maske, mit der der physische Körper des Subjekts verschmilzt. Eher als dass hier der heimliche Anthropomorphismus einer prima fade abstral{ten Skulptur zu entdecken wäre, 25 behauptet sich die geometrische Form Emblem toter Materie- über den lebendigen Körper. Die Physikalität des Körpers hat die Expressivität des Subjekts absorbiert. Und in Morris' Performance kehrt die bewusstlose Bewegung - verdichtet in dem einen Moment des Sturzes oder Falls der Säule- zweifellos nicht ins Paradies der Grazie zurück wie in Kleists Marionettentheater und vielleicht in Yvonne Rainers Tanz.
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S. 198). Fried spricht die Vermischung der Positionen von Morris und Judd selbst an: Um den Text nicht "mit einer Unzahl von Fußnoten [zu] übersäen", habe er "nicht immer angegeben, welcher von ihnen einen bestimmten Satz gesagt oder geschrieben hat" (Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 367, Anm. 2). Zu diesem Umfeld allgemein: Strickland, Edward: Minimalism: Origins, Bloomington/Indianapolis, 1993; zu den Bezügen von Morris' frühem Minimalismus zur Musik-, Tanz-, und Performance-Szene s. Krauss, Rosalind: "Mechanical Ballets: light, motion, theater", in: Dies.: Passages, a.a.O., S. 201-242; und Dies.: "The Mind/Body Problem: Robert Morris in Series", in: Robert Morris- The Mind/Body Problem (Kat. Ausst.), New York, 1994, S. 2-17; weiter: Michelson, Annette: "Robert Morris: An Aesthetics ofTransgression", in: Robert Morris (Kat. Ausst.). Washington/Detroit, 1969/70, S. 7-89; Dies.: "Frameworks", in: Kat. Ausst. Robert Morris The Mind!Body Problem, a.a.O., S. 50-61. So ist die schiefe Ebene, die in Fortis S!ant Board (1961) mithilfe von Seilen bestiegen werden sollte, 1964 zu Untitled {'.Va!l-Floor-Slab) geworden. Zu Fortis frühen Arbeiten siehe Porti, Simone: Handbook in Motion, Halifax/New York, 1974 (zu S!ant Board dort S. 56f.). Morris, Robert: "Solecisms of Sight: Specular Speculations", in: October 104 [Winter 2003], S. 31-41, hier S. 34. Programmtext zur Aufführung von "The Mind is a Muscle", April 1968, zit. nach: Rainer, Yvonne: A Women Who ... Essays, Interviews, Scripts, Baltimore/London, 1999, S. 41. Ebd.
Presence und presentness Für Michael Fried ist es diese opake Präsenz und dieses Gewicht eines Körpers, der in und als Teil der Welt existiert, von der authentische Kunst sich selbst und - in raren Momenten der Epiphanie des Sinns- ihre Betrachter befreien soll, indem sie ihre Materialität überblendet oder sublimiert. Auch das abstrakte Werk, das in der Folge der modernistischen Verpflichtung zu Selbstreflexion und Medienspezifik steht, die Fried wie vor ihm Greenberg zunächst mit Blick auf das Leitmedium der Malerei entwickelt, soll die Präsenz seines Trägers zwar "anerkennen", sie aber nicht in ihrer Buchstäblichkeit exponieren, sondern in "ein Medium [... ] der Überzeugung"26 verwandeln. Der Literalismus dagegen geht,aus einer "schon vom Theater korrumpiert[en]" 27 Lektüre der modernistischen Verpflichtung hervor. Er lässt die ,,Anerkennung" zur "Hypostasierung" werden. 28 Er lässt unter dem Bild oder 24 Siehe die Verb-Liste Serras von 1967-68 (http://www.moma.org/explore/inside_out/2011/ 10/20/to-collect/ (23.06.2012). 25 Siehe Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., bes. S. 345-349. 26 Siehe die Eingangsdefinition von "the viability of shape as such" in Fried, Michael: "Shape as form: Frank Stella's Irregular Polygons" [1966], in: Ders.: Art arid Objecthood· essays and reviews, Chicago, 1998, S. 77-99, hier S. 77. Zum Verhältnis von Form als bloßer Eigenschaft eines Gegenstandes (im Literalismus) und der "bildhaften" Form im authentischen Modernismus s. "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 338f. u. S. 354f. 27 Ebd., S. 355. 28 Das Verhältnis von acknow!edgement (dem legitimen Auftrag der modernistischen Malerei) und hypostatization des Trägers (der Korruption des Minimalismus) ist das zentrale Thema in Frieds "Shape as Form" (a.a.O.). Er kommt in der "Introduction" zur Sammlung seiner Essays auf die
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Phänomen, der Sinngestalt des Werks, jenes träge Objekts aufsteigen, das bloß passiv in der Welt gegeben ist. 29 Theatralität meint in Frieds Text daher (unter anderem) die Zurschaustellung dieser passiven Existenz- zugunsren eines Effekts von "Gegenwart". Theatral ist die Aussetzung der Skulptur als raumverdrängendes Volumen im Volumen des Raums, der in gleicher Weise den Körper des Subjekts, nicht aber dessen Blick umschließt. Dem entgegen würde die authentische modernistische Kunst die bloße Existenz ihrer materiellen Residuen in der Welt wie die körperliche Existenz des Subjekts im Moment einer Emphase des Sinns und der "Überzeugung" 30 unterbrechen oder überblenden, in einem Moment, der sich der zeitlichen und kausalen Determinierung entzieht und die Sphäre dessen, was bloß ist, übersteigt. Die Friedsche Dichotomie von Kunst und Objekthaftigkeit läuft so letztlich auf den in sich gespaltenen Punkt einer Präsenz zu, die einmal zur presentness (Gegenwärtigkeit) des modernistischen Werks und seiner augenblickshaften Erfahrung wird, andererseits zur theatralen presence (Gegenwart) des minimalistischen (literalistischen) Objekts und der unscharf begrenzten Konfrontation mit der von ihm geschaffenen "Situation". 31 Diese Dichotomie hat weit ausgreifende Vor- und Rückbezüge. Man kann sie etwa im Kontrast von Frieds Interpretation der Pollocksehen drip paintings als Initiation einer rein optischen, abstrakt-illusionistischen Malerei, die bei Morris Louis, Kenneth Noland oder Jules Olitski ihre Verwirldichung Hinde, zur Pollock-Rezeption von Künstlern der sechziger Jahre, die an seinen drip paintings gerade die heterogene, unsublimierte Materialität und die Prozesshaftigkeit interessierte, wiederfinden. 32 Ebenso ist Frieds Erleichterung über die Wiederkehr und Stärkung der ikonischen Diffirenz in den Irregular Polyhedrons Frank Stellas33 vor dem Hintergrund seiner Opposition gegen die materialistische (oder
literalistische) Lektüre von dessen frühen Streifenbildern durch Donald Judd und besonders durch Carl Andre zu sehen, mit dem Fried, wie er rückblickend sagt, um "Stellas Seele stritt" .34 Und schließlich ist diese Dichotomie im für "Art and Objecthood" bestimmenden Gegensatz der farbigen und manchmal filigranen Skulpturen Anthony Caros zur blockhaften Präsenz der minimalistischen Objekte konzentriert. Vor allem sieht Fried bei Caro ein alternatives Modell von Körperlichkeit realisiert: eine Konzentration nicht auf die Opazität und das Gewicht, sondern auf die Gestik und auf die "Leistung von Gesten", auf die "unzähligen Arten Weisen [des menschlichen Körpers], etwas zu bedeuten". 35 Die verwirldichende Materialität dieses Bedeutens soll dabei in gewissem Sinn nivelliert sein, die Materialität wird in der Syntax aufgehoben: "Eine typische Caro-Skulptur besteht [consists]", schreibt Fried, "aus dem wechselseitigen und unverhüllten Nebeneinander [juxtaposition] der Stahlträger, Doppel-T-Träger, Zylinder, Rohre, Bleche und Gitter, die sie vereinigt, und nicht aus dem zusammengesetzten Objekt, das sie bilden. "36 Wie hängt diese Aufhebung der Materialität in der Syntax mit dem Konzept der presentness modernistischer Kunst zusammen? In dem Motto, das Fried seinem Essay voranstellt, hat er einen theologischen Interpretationsrahmen für die instantane ästhetische Erfahrung umrissen, an den der berühmte Schlusssatz des Texts - "Presentness is grace." -wieder anschließt. Aus einer Biografie des puritanischen Theologen Jonathan Edwards zitiert Fried:
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Schwierigkeiten dieser Unterscheidung zurück (Fried: Art ttnd Objecthood: essays ttnd reviews (a.a.O.), bes. S. 37 u. S. 65, Anm. 47). Fried sieht die Hypostasierung in Greenbergs Konzeption des Modernismus angelegt, in der Tendenz zu einer ahistorischen (und positivistischen) Identifikation der Essenz des Mediums mit den Eigenschaften des "material support", Er versucht seine eigene Konzeption des Modernismus, die auf einer Verschränkung von Essenz und Konvention beruht, von diesem fatalen Telcologismus freizuhalten (s. dazu Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit" (a.a.O.), bes. Anm. 5, S. 367369; Ders.: "How Modernism Worlcs: A response toT.]. Clark", in: Critical lnquiry, Vol. 9, Nr. 1, Sept. 1982, S. 217-234. "To compel conviction" - das ist Frieds Formel für die zentrale Aufgabe von Kunst. Welche "Überzeugung"? Die Überzeugung, dass das in Frage stehende Werk, dem Vergleich mit den Meisterwerken der Vergangenheit aushalten kann, deren "Qualität außer Zweifel steht" (Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 368). Siehe bes. dieAbschnitte III und IV (Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 342-348. Maßgeblich zu dieser Dichotomie Krauss, Rosalind: The Optical Uncomcious, Cambridge (Mass.)/London, 1993; dort bes. Kapitel 6, das der Pollode-Rezeption in prozessual geöffneten Werkformen der sechziger Jahre gewidmet ist. Die Opposition von Frieds und Judds PollockInterpretationhabe ich andernorts ausgearbeitet ("Zwei Spezifitäten: Vom Medium zum Material. Die Passage Pollocb", in: Egenhofer, Sebastian: Abstraktion- Kapitalimus- Subjektivität. Die Wahrheitsjimktion des Werks in der Modeme, München, 2008, S. 241-267). "Stella's undertaking in these paintings is therapeutic: to restore shape to health" (Fried: "Shape as form: Frank Stella's Irregular Polygons", a.a.O., S. 77f.). Die in dieser Gesundung "implizierte
[W]enn die ganze Welt vernichtet würde, [ ... ] und eine neue Welt würde erschaffen, wäre sie, auch wenn sie in jedem Detail von der gleichen Beschaffenheit wäre [ ... ], doch nicht dieselbe. Daher, weil es eine Kontinuität gibt, nämlich die Zeit, "bin ich sicher, daß die Welt in jedem Moment aufs neue existiert, daß die Existenz der Dinge in jedem Moment endet und in jedem Moment erneuert wird." Es ist die unverrückbare Gewißheit, daß "wir in jedem Moment den gleichen Gottesbeweis sehen, den wir gesehen hätten, hätten wir Ihn im Anfang bei der Erschaffung der Welt gesehen. " 37
Auf diesen Moment eines beständig erneuerten Anfangs, in dem wir Zeuge der Weltschöpfung in actu werden, soll der Augenblick ästhetischer Erfahrung durchlässig sein. Eine Skulptur wie Anthony Caros Hopscotch (1962) (Abb. 2) scheint mir gut zu illustrieren, wie Fried diese Durchlässigkeit denkt. In der Konstellation von Stahlröhren, Leisten und Profilblechen, die dem Gesetz der Schwerkraft ,Kranld1eit'" (ebd.) ist die literalistische Auffassung der pikturalen Form. 34 Siehe "Theories of Artafter Minimalisms and Pop", in: Foster, Hai (Hg.): DisCimions in Contempormy Cu!ture ], a.a.O., S. 79. 35 Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 357. 36 Ebd., S. 356 ("Art and Objecthood", in: Ders.: Art and Objecthood· essays ttnd reviews, a.a.O., S. 148-172, hierS. 161). ' 37 Ebd., S. 334; aus Mille!", Perry:]onathan Edwards. Fried nimmt die Aura, die Perry Miller diesem Gedanken durch den Vorsatz ("In seinen Tagebüchern verfolgte und erprobte Edwards of Gedankengänge, von denen er nur wenig in den Druck gehen ließ") verleiht, ungebrochen auf. Dass es der gleichen Kraft oder Macht bedarf, die Welt zu erschaffen wie sie von Moment zu Moment in der Existenz zu erhalten, ist jedoch ein Grundgedanke der neuzeitlichen Metaphysik. Für eine ldassische Formulierung etwa bei Descartes siehe Ders.: Medittttiones de prima phi/osophia, lat.dt., Hamburg, 1992, S. 89 (3. Med., § 31).
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torlampen nichts weiß, der beständigen Zeugung einer Welt aus dem Nichts bei, die dem Edwardschen Gottesbeweis exakt entspricht.
Die schlechte Unendlichkeit Das Gegenbild zu dieser Beziehung von Augenblick und Ewigkeit - oder von Augenblick und welterzeugender Kraft - entnimmt Michael Fried der Erzählung Tony Smiths von einer nächtlichen Fahrt auf einer nicht fertiggestellten Autobahn außerhalb New Yorks. Denn hier ist der Apparat, der die Erfahrung, eine leere Erfahrung zudem, die nichts als die Perspektivierung ihrer eigenen Endlosigkeit zum Gehalt hat, produziert, emphatisch präsent. "Die Nacht war dunkel, und es gab da keine Beleuchtung, keine Fahrbahn- oder Seitenmarkierung, keine Leitplanken, überhaupt nichts außer dem dunklen Asphalt, der durch die flache Landschaft lief [... ]. Diese Fahrt war eine Offenbarung. Die Straße und ein großer Teil der Landschaft war künstlich, und doch konnte man es nicht als ein Kunstwerk bezeichnen. [... ] Ich dachte mir, es sollte !dar sein, daß das das Ende der Kunst ist. Die meiste Malerei sieht danach sehr bildhaft aus. Man kann es in keinen Ausdruck fassen, man muss es einfach erleben. "39 Abb. 2: Anthony Caro, Hopscotch, 1962, 250 x 213,5 x 475 cm; Aluminium, Privatsammlung, London.
zuwider nicht in sich zusammenfallt, scheint in der Tat der Kausalnexus, der von Moment zu Moment weiterwirkt und so die materielle Kontinuität der Wirklichkeit generiert, suspendiert. Die Konstellation der Elemente, das "Nebeneinander", aus dem die Skulptur "besteht", induziert den umgebenden Raum mit der Illusion einer in einem flüchtigen Moment angehaltenen Zeit. Natürlich wissen wir, dass die materiellen Verbindungsstellen der so antistatisch organisierten Elemente unter Höchstspannung stehen und dass keineswegs Gott sondern die Schweißpunkte das Gebilde von Moment zu Moment im Schweben halten. Die Illusion aber ist die einer Kraftwirkung, die diese Konstellation (nicht die materiellen Elemente) von Moment zu Moment je neu erzeugt. Die Gnade der presentness käme einem Vergessen der realen Konstitution dieses Scheins in der materiellen Wirldichkeit gleich. Sie ist ein Augenblick, in dem das endliche Bewusstsein sich im Element der Illusion von den Ketten der Kausalität befreit. Dass Fried als ein Modell für die von der materiellen Dauer erlöste Gegenwärtigkeit das Kino anführt (das essenziell antitheatral ist), 38 ist folgerichtig: ist doch das Vergessen der materiellen Apparate, die die Filmillusion erzeugen, für das ldassische Erzählkino konstitutiv. So wohnt der Filmbetrachter, der von Filmspulen und Projek38 Vgl. Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 360.
"Most painting Iooks pretty pictorial after that. There is no way to frame it, you just have to experience it. "40 Der Projektor ist hier mit dem bildlosen Filmstreifen der leeren Straße gefüllt, deren Heranrasen im Schweinwerferlicht zum Bild "reine[r] Beharrlichkeit" erstarrt. 41 Diese in Gleichförmigkeit erstarrende Bewegung wird für Fried zum Emblem der von der Endlosigkeit der gefallenen Zeit getragenen minimalistischen Präsenz. Er projiziert die Struktur dieser Erfahrung, die aus der bildhaften, vom Rahmen historisch wandelbarer aber als solcher irreduzibler Konventionen eingefassten Kunst hinausführt, auf die minimalistischen Objekte, die in der selben Weise "unerschöpflich" seien, "endlos, wie es eine Straße sein könnte: wenn sie beispielsweise im Kreis führt. "42 Sicherlich trifft Fried hier einen entscheidehden Punkt. Der Minimalismus kennt tatsächlich nur die sinnliche Dauer der schon geschaffenen Wirldichkeit. Ihm ist die Kontinuität vom Kausalzusammenhang allseitig vernetzter Ursache-Wirkungsverhältnisse garantiert, die den wahrnehmenden Körper einbeziehen. Der Moment 39 Zit. nach Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 350. 40 Fried: ,,Art and Objecthood", a.a.O., S. 158; im Zusammenhang in: Wagstaff, Samuel: "Talking with Tony Smith" [Artfomm, Dez. 1966], Wiederabdr. in: Batt~ock, Gregory: MinimalArt. A Citical Anthology, Berkeley/Los Angeles/London, 1995 (urspr. New York, 1968), S. 381-386, hier S. 386. Smiths "Erfahrung" dieses rahmenlosen Raums und der "Bildhaftigkeit" der meisten Malerei hat einen Vorläufer in Barnett Newmans Reaktion auf die indianischen Grabhügel in Miamisburg (s. Newman, Barnett: Selected Writings and Intewiews, hg. v. John P. O'Neill, Berkeley, Los Aügeles, 1992, S. 174f. 41 Ebd., S. 352. 42 Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 363.
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einer erlösten Aufmerksamkeit für den ästhetischen Sinn wird von der dumpfen Präsenz des minimalistischen Objekts beständig in die Widerständigkeit der Situation und in den wahrnehmenden Körper zurückgeholt. Die Avantgarde der sechziger Jahre hat bekanntlich überwiegend für diese Verkörperlichung Partei ergriffen. Der Minimalismus aber ist hier nur ein erster Schritt. Denn offensichtlich ist die minimalistische Situation, so sehr sie in die mundane Zeit gebunden ist, durch eine Statik oder Starre ausgezeichnet, die durchaus auch als Abschirmung von der vergehenden Zeit gelesen werden kann, als Verdichtung oder Kristallisation eines Moments, wie es besonders die permanenten Installationen Donald Judds nahelegen, die er ab Ende der sechziger Jahre zu konzipieren beginnt. Aber auch die Prozessund Performance-Kunst der späteren sechziger Jahre hat die Zeit eher als Vektor alctiver Transformation ,verkrusteter' sozialer Verhältnisse gesehen, denn als Horizont der Endlosigkeit und des Verfalls. Robert Smithson, Apologet der Entropie und einer der schärfsten Kritiker Frieds, 43 war vielleicht der einzige, der einen Pakt mit der trägen Macht der schlechten Unendlichkeit geschlossen hat. Dies wird vor allem in seinen Texten deutlich, am schönsten in einem Diavortrag über ein Hotel in Mexiko, Hotel Palenque, das in Smithsons improvisierter Reportage zur selbstverdauenden Maschine wird. Das Hotel, das gleichzeitig und bis zur Ununterscheidbarkeit weitergebaut, verändert und abgerissen wird, steht für einen Kreislauf der Abfälle, der entropischen Verschleifung - Allegorie der ewigen Wiederkehr in einer ironisch-schäbigen Form: Dort hinten, wäre da nicht der Rauch der Brandrodung, würde man die Maya-Tempel sehen, von denen einige typische Details hier im Hotel wiederauftauchen. Palenque, die Stadt der Schlange, figuriert hier als ein Atopos am Rand ,Amerikas' wie andere Orte Smithsons am Rand der Städte. Dieser Diavortrag wie der Report über die Monuments ofPassaic (1967), Reste von Industrieanlagen in der Umgebung New Yorks oder der Essay über die verfallenden Steinbrüche in New Jersey (The Crystal Land, 1966), die Smithson mit Donald Judd besucht und für dessen allzu bereinigtes und von Historizität befreites ,KristallLand' als vergifteten Hintergrund einblendet, 44 die paradigmatischen Textarbeiten Smithsons insgesamt evozieren Orte der "Stagnation"- eines seiner Lieblingsworte -,sie schreiben den Kreis der kapitalistischen Ökonomie, der sich in der Gegenwart der geglätteten minimalistischen Produkte ausdrückt und reflektiert, in den Horizont der Entropie, in die sich erweiternde Spirale der ökologischen Verwüstung ein. Stagnation, entropischer Verfall, Unterwerfung unter die Schwerkraft- das sind Themen einer Kunst, die nicht nur den Gedanken der Erlösung aufgegeben hat, sondern für die auch das Hier und Jetzt phänomenaler Präsenz, die Iaborhaft berei-
43 Sicherlich hat Smithson dem Modethema der Entropie, das schon in Morris "Blank Form" Manifest auftaucht ("the second law of thermodynamics"), von seinen Fotos von Industrieruinen (1966/67) bis zur Spiral]etty (1972) die stärksten Bilder und Texte gewidmet. Für seine beißende Kritik an Fried s. den "Leserbrief' [Artforum Ocrober 1967], in: Ders.: Gesammelte Schriften, Wien/Köln, 2000, S. 96. 44 Siehe Smithson, Robert: "Hotel Palenque", "Fahrt zu den Monumenten von Passaic, New Jersey", "Das Kristall-Land", alle in Smithson, Gesammelte Schriften, s. vorige Anm.
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Abb. 3: Robert Morris, Untitled (Threadwaste), 1968, Garn, Spiegel, Asphalt, Holz, Filz, Kupfer, Blei und Stahl, Maße variabel.
nigte minimalistische Situation brüchig geworden ist. "Dennoch vermute ich", so zitiert Smithson im Kontext der Analyse einer der ,kristallinen' Plexiglasboxen Judds einen Physiker, "daß wir uns nicht ganz wohl dabei fühlen, wenn wir sagen müssen, daß der Kristall ein Gebilde von größerer Unordnung ist als die Flüssigkeit, der er entstammt. "45 Smithson hat darauf gesetzt, "daß große Kunst von der Verdorbenheit ,weiß', während ,natürliche' Kunst an ihrer eigenen Verdorbenheit unschuldig ist, eben weil sie geistlos und gedankenlos ist?" 46 Kunst soll das Chaos nicht zur Form erheben, sondern zeigen "daß es da ist:'Y Fried hat gespürt, dass schon im Minimalismus entgegen dem Anschein durchdringender geometraler Disziplin etwas von diesem Chaos anwesend ist, dessen Entbindung die Entwicklung der post-minimalistischen Plastik zeigt (Abb.3: Untit/ed. Threadwaste (1969)). Ich möchte im Folgenden die Logik der Desintegration der Form oder Gestalt vor dem Hintergrund von Morris ldassischen phänomenologischen Analysen in den 45 Ebd., S. 36. 46 Ebd., S. 66. 47 Ebd., S. 215.
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Notes on Sculpture48 und der Friedschen Diagnose der monströsen Dauer der minimalistischen Objekte nachzeichnen.
Theater der Gestalt Der Raum von Morris' frühen minimalistischen Objekten ist als Handlungsraum entworfen, auch wenn sich nichts rührt. Ein Blick in seine Plywood Show in der Green Gallery zeigt ein stummes statuarischen Ballet (Abb. 1). Die grauen Volumen lehnen, sitzen, stützen sich an Wand und Boden ab. Es ist ein Theater des verbal begriffenen Seins, eine statische Aufführung ohne Narration und Textbuch. Was geschieht; ist das akzentlose Sichzeigen der einfachen, in Licht und Schatten exponierten Skulpturen. In dieses Theater ist das rezipierende Subjekt in eigentümlicher Weise eingelassen. Es ist der Wahrnehmungsvollzug des/r Betrachters/in, der das Ereignis des Sichzeigens der Objekte aktiviert. In manchen Arbeiten des Übergangs zwischen Performance und skulpturaler Installation ist dieses interalctive Verhältnis zum Betrachersubjekt noch explizit geregelt, wie in Box for Standing oder in PassageWtty (1961), einer Arbeit, die die Korridore Naumans vorwegnimmt, sowie in mehreren Portalen, von denen eines (Pine Portal with Mirrors, 1961) an den Innenseiten mit Spiegeln versehen ist, sodass der/die Betrachter/in beim Durchschreiten des Portals einen unendlichen virtuellen Seitenraum durchquert. Der performative Bezug zur Skulptur ist hier noch literarisch oder allegorisch überblendet und gelenkt. Spätere Arbeiten hat Morris durch die wechselnde Anordnung ihrer Elemente noch immer in eine Art von Performance einbezogen, deren Motor einmal er selbst, sein eigener Körper blieb, wie im Fall der täglich von ihm umarrangierten Fiberglasvolumen in der Castelli Gallery (Continuous Project Altered Daily, 1.-22. März 1969), oder die durch ein ganzes Aufbauteam mithilfe von Kränen und Seilzügen in Gang gehalten wurde, wie im Fall einer Ausstellung im Whitney Museum, deren Auf- und Abbau in die Ausstellungszeit selbst verlegt wurde. 49 Die eigentlich minimalistischen Arbeiten wie die Two Columns, die L-Beams, Slab, Cloud oder Corner Piece (beide in Abb. 1) bieten keine derartige Handlungsanweisung mehr. Der Präsenzhof der Wahrnehmung durchläuft das Geschehen ihrer Exposition. Die Einfachheit der Objekte bietet der Wahrnehmung dabei den Widerstand eines invarianten Pols. Gerade dadurch erfährt sie sich in ihrem Tätigsein. Sie wird nicht zum momenthaften Auffassen des in sich sinnvollen Werks, wie nach Fried die Wahrnehmung einer
48 Morris: ,,Anmerkungen über Skulptur", a.a.O., S. 92-120; die Teile I und II der Notes erschienen im Februar und Oktober 1966, Teil III zusammen mit Frieds "Art and Objecthood" im Sommer 1967 (jeweils in Artforum). Teil VI ("Notes on Sculpture, Part IV: Beyond Objects", Artforum, April 1969) erschien nach Morris' "Anti-Form"-Essay (Artforum, April1968), seiner programmatischen Absage an die geometrisch-formale Syntax der Minimal Art. Dass Morris hier auf den Titel der früheren Folge zurückgreift, unterstreicht die Logik des Schritts vom statischen Objekt zum Prozess oder zum Feld- also über die Morphologie des Minimalismus hinaus. 49 Siehe dazu Michelson, Annette: "Drei Anmerkungen zu einer Ausstellung als Kunstwerk", in: Stemmrich: lvfinimalArt, a.a.O., S. 239-244.
Abb. 1: Robert Morris, Ausstellung in der Green Gallery, New York, Dezember 1964 bis Januar 1965.
Skulptur von Caro, die in jedem Augenblick "gänzlich manifest" sei. 50 Die Zeitstruktur der theatralen Situation erscheint daher wesentlich zweideutig: Die Verbalität ihres Sichzeigens verleiht der Präsenz der Objekte einerseits die Insistenz einer eigenen Zeitlichkeit; andererseits erscheint sie als abhängig von der aktiven Apperzeption durch den Betrachter, die das stumt;ne und statische Theater durchlaufen muss, um seine Bilder zu aktualisieren. Wie ist das Verhältnis dieser Trennung und dieser Angewiesenheit zu denken? Wie verknüpfen sie sich? Als ihr Scharnier oder Angelpunkt zeichnet sich in den "Anmerkungen zur Skulptur" die "Gestalt" oder "unitary form" ab. Ihr kommt in der Konzeption, die Morris von der Wahrnehmung der "besseren neuen Arbeiten'\ womit er seine eigenen meint, 51 entwirft, eine so zentrale wie ambivalente Funktion zu: Gerade ihre 50 Fried: "Kunst und Objekthaftigkeit", a.a.O., S. 365. 51 Morris nennt den ganzen Text hindurch keine Namen. Qualitätskriterien, Entwicldungstendenzen werden als objektive Tatbestände im Grau und Grau einer halbwissenschaftliehen Prosa vorgestellt. Es ist aber nicht schwer, die Namen einzusetzen. Der Text steckt vor allem voller Invektiven gegen Judd und ist offensichtlich eine Selbstdarstellung von Morris' eigenen Arbeiten im Licht historisch-theoretischer Plausibilität. Es ist erstaunlich, dass die "Notes'' trotzdieser deutlich polemischen Funktion zum kanonischen Text der Minimalismusrezeption insgesamt gewor-
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Einfachheit ist es, die eine Spaltung der Erfahrung des Werks in die Wahrnehmung selbst und in eine Reflexion motiviert, die die irreduzible Nichtübereinstimmung zwischen der aspekthaften, zeitlich und räumlich gebundenen Wahrnehmung und dem Sein des Objekts entdeckt, ohne die Kluft, die sie trennt, adäquat repräsentieren zu können. Gerade die Einfachheit der Gestalt zwingt dazu, diese Spaltung, die eine Grundstruktur aller Wal1rnehmung ist, auf sich zu nehmen.
Einige der besten neuen Arbeiten sind im Hinblick auf die Oberflächenbeschaffenheit offener und neutraler und daher empfänglicher für die wechselnden Kontexte des Raums und des Lichts, in denen sie existieren. Sie spiegeln nachhaltiger diese beiden Eigenschaften und werden merldicher von ihnen verändert. In gewissem Sinn nehmen sie diese beiden Dinge in sich auf, da ihre Veränderung eine Funktion von deren Veränderung ist. Selbst ihre unveränderlichste Eigenschaft, die Form, bleibt nicht konstant. Denn der Betrachter verändert beständig die Form, indem er seine Position relativ zur Arbeit wechselt .57
Bei den einfacheren regelmäßigen Polyedern wie Kuben und Pyramiden braucht man sich nicht um das Objekt herumzubewegen, damit der Eindruck des Ganzen, der Gestalt, entsteht. Man sieht und "glaubt" sofort, daß das Muster, das man im Kopf hat, dem existierenden Faktum des Objekts entsprichtY
Oder: "Charakteristisch für eine Gestalt ist, daß in dem Augenblick, da sie zustande gekommen ist, alle Informationen über sie qua Gestalt ausgeschöpft sind. "53 In "Part I" der "Notes" liegt der Akzent von Morris Reflexionen auf dieser Prägnanz und Stärke der Gestalt - auf der ,Plötzlichkeit' ihrer Einheit und auf der Stärkung der Gegenwart des Werks, die damit verbunden ist. "Die einfacheren, regelmäßigen und unregelmäßigen Polyeder leisten ein Maximum an Widerstand dagegen, daß man ihnen als Objekten mit getrennten Teilen begegnet. " 54 Bei dieser Einfachheit setzt die Reflexion auf die perspektivische Relationalität von Wahrnehmung und Situation an, die den phänomenologischen Rezeptionsansatz im Ganzen prägt. "Einfachheit der Form ist nicht unbedingt das gleiche wie Einfachheit der Erfahrung. Einheitliche Formen verringern nicht die Beziehungen. Sie ordnen sie" 55 , schreibt Morris am Ende von "Part I". Und in "Part II" heißt es weiter: Die besseren neuen Arbeiten nehmen die Beziehungen aus der Arbeit heraus und machen sie zu einer Funktion von Raum, Licht und Gesichtsfeld des Betrachters. [... ) Man ist sich stärker als früher dessen bewußt, daß man selber die Beziehungen herstellt, indem man das Objekt aus verschiedenen Positionen, unter wechselnden Lichtbedingungen und in unterschiedlichen räumlichen Zusammenhängen erfaßt. 56
Die Relationalität, die in der part-to-part composition zur simultan erfaßbaren Struktur des Werks gehört, ist verlagert in das Relationsgeschehen zwischen dem/r bewegten Betrachter/in und dem Objekt oder den Objekten. Jede Wendung des Blicks, jeder Schritt löst Schwärme von Abschattungsvariationen im Phänomenbereich aus.
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den sind. Mit 20 Jahren Verspätung hat man gemerkt, dass Judd in die dominante Interpretation mit ihrer Betonung von Zeit und Körperlichkeit nicht passt - und daraus tendenziell ihm den Vorwurf gemacht. Morris: "Anmerkungen über Skulptur", a.a.O., S. 97. Ebd., S. 100. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Ebd., S. 105.
Über lange Zeit ist eine Reflexion dieses Typs ein Hauptweg der Analyse minimalistischer Objekte gewesen. So hat man die Möglichkeit gefunden, ihre stumme Präsenz zum Reden zu bringen. Morris hatte sich über diese Möglichkeit noch gewundert. Seltsamerweise gestattet es gerade ihre Stärke der konstanten, bekannten Form, der Gestalt, daß sich ein solches Bewußtsein bei diesen Arbeiten stärker geltend macht als bei früherer Skulptur. Eine figurative Barockbronze sieht von jeder Seite anders aus. Ebenso ein 180 cm großer Kubus. Die konstante Form des Kubus behält man im Gedächtnis, doch erfährt der Betrachter sie niemals tatsächlich, sondern als einen Sachverhalt, auf den sich die tatsächlichen wechselnden perspektivischen Ansichten beziehen. Es gibt zwei unterschiedliche Bedingungen: die bekannte Konstante und die erfahrene Variable. Eine derartige Trennung findet bei der Erfahrung der Bronze nicht statt. 58
Transzendentaler Widerstand. Der amorphe Kern der Gestalt Hier kündigt sich der Umschlag an, der zu der Selbstüberschreitung der phänomenologischen Minimalismus-Rezeption führt, zur Auflösung der Integrität der Gestalt. Eingeführt als Ermöglichung eines unmittelbaren ,Wissens' vom Objekt wird die Gestalt nun zum Pol eines unaufhebbaren Entzugs. Gerade die Tatsache, dass man "sieht und sofort ,glaubt', daß das Muster, das man im Kopf hat, dem existierenden Faktum des Objekts entspricht" ,59 macht deutlich, dass der Aspekt, unter dem dieses Objekt sich zeigt, dem Muster nicht und nie entspricht. Die Gestalt verweist in ein unzugängliches Jenseits der Phänomenalität. Denn was ist das "Muster" und wie "hat man [es] im Kopf'? Ist es die immaterielle ,Zeichnung' der Geometrie des Objekts? Vielleicht würde Morris ~as bejahen. Aber auch die geometrische Gestalt ist relativ zum Standpunkt des Betrachters. Die Regeln der perspektivischen Abschattung beherrschen nicht nur die sinnlich-rezeptive Wahrnehmung, sondern auch das spontane Vorstellen von geometrisch-transparenten Raumfiguren. Das als Zeichnung der Kanten vorgestellte "Muster" wird zwar die Abschattungssequenzen verständlich und vorhersagbar machen, in die das Objekt 57 Ebd., S. 107. 58 Ebd. (Übers. variiert; vgl. "Notes on Sculpture", a.a.O., S. 16). 59 Ebd., S. 97 (Zit. umgestellt).
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sich für die Wahrnehmung hüllt, aber diese Zeichnung ist dem als nicht-relatives (transzendentes) Korrelat seiner Ansichten gedachten Objekt nicht wesentlich näher als diese Ansichten selbst. In Part 111 der Anmerkungen wendet sich Morris verstärkt diesem Entzug zu.
meldet sich die Struktur einer primordialen Passivität, die jedem Wahrnehmungsvollzug zu Grund liegt. Diese Dialektik von Erscheinung und Entzug, die Fried in den beschwörenden Hinweisen auf die Hohlheit der minimalistischen Objekte und die Unheimlichkeit und Unabschließbarkeit der Begegnung mit ihnen evoziert, gibt Morris' phänomenologischem Formalismus die Spannung. Die ldinische Bereinigung der Wahrnehmungssituation zielt darauf, zugleich mit der Abschattungssequenz, dem Video der je besonderen Werkerfahrung, das zum Material der phänomenologischen Analyse wird - die nicht erscheinenden Pole der Konstellation erfahrbar zu machen, zwischen denen sich diese und jede Wahrnehmung räumlicher Objekte überhaupt vollzieht. Die phänomenologische Immanenz wird so an ihre Grenze geführt. Der Präsenzhof der Wahrnehmung erfahrt sein passives Eingelassensein ins Schonsein des Raums, der gleichgültig gegenüber jedem Wahrnehmungsvollzug ist. Und er erweist sich als bloßer Fleck einer intentional belichteten Aktualität, die überspannt und getragen von der verrinnenden Zeit, auf die die Gegenwart geöffnet ist und von der sie konstituiert wird, wie es Morris bevor sein Interesse an der Phänomenologie einsetzte, von Cage aufgenommen hatte.
Man erfährt die Aspekte; das Ganze nimmt man an oder man konstruiert es. Dennoch geht man davon aus, daß das konstruierte "Ding" wirklicher ist als die illusorischen und wechselnden Aspekte, die durch sich verändernde Blickperspektiven und Beleuchtungen geboten werden. Wir erfassen die Gesamtheit eines Objekts nur als das, was aus zufälligen Ansichten unter wechselnden Bedingungen konstruiert wird. Dennoch ist dieses Verfahren, das Objekt aus unmittelbaren Sinnesdaten "aufZubauen", homogen. In dem ganzen Vorgang trifft man aufkeinen Punkt, in dem irgendwelche Licht- oder Perspektivbedingungen auf eine Existenzsphäre verwiesen, die sich von der unter anderen Blickwinkeln und Bedingungen manifest gewordenen unterschiede. 60
So erfährt die Wahrnehmung an diesen einfachsten Objekten ihre konstitutive Begrenztheit. "Die konstante Form des Kubus behält man im Gedächtnis", hatte Morris in "Part II" geschrieben - was ungenau ist, sofern man sie weder je gesehen noch vorgestellt hat, sie ist ein der Anschauung entzogenes Konstrukt, das zum Gegenstand nur des Denkens werden kann. Dieses Konstrukt ist und hat keine Form. Es ist ein transzendenter Pol der Wahrnehmung, ein Strukturmoment ihrer Endlichkeit, und zugleich das volle Objekt selbst, das im Wahrnehmungsvollzug den Film seiner Erscheinung, die kontingente, aber geregelte Sequenz seiner Phänomenalisierung produziert und sich dadurch bestimmt. Dieses volle Objekt ist unerschöpflich - weil es gegenüber der Abfolge seiner Abschattungen oder Aspekte höherdimensional ist. Es enthält eine unendliche Variabilität seines Erscheinens bereit. Die Verfilmung des Objekts kann endlos weiterlaufen wie eine Straße, die im Kreis führt. Während die gute Unendlichkeit der Kunst Methexis am Absoluten ist, momenthafter Einfall des Sinns, der die Bedingungen der temporalen Existenz seiner Träger überstrahlt, ist die Erfahrung der literalistischen Objekte an die Zeit- und Raumstelle eines wahrnehmenden Körpers gebunden und ist nichts anderes als die gestraffte Entfaltung der Struktur der Endlichkeit oder Perspektivität der Wahrnehmung überhaupt. Das volle Objekt ist der entzogene Pol, der in Kooperation mit dem wahrnehmenden Subjekt alle seine Aspekte hervorbringt; es ist der Träger der Bilder, in denen es sich verhüllt und die es mit dem Index der Nichtigkeit und Kontingenz versieht. Die Wahrnehmung rührt hier an die Schwelle einer nicht-schematisierbaren Differenz. Und diese Berührung, diese Blindheit, wird als das Wesen der sinnlichen Erfahrung selbst begreiflich. Indem das Gewusstsein der Gestalt den akuten Aspekt übergreift und immer schon übergriffen hat, erfährt die Wahrnehmung sich als Nicht-Wissen, als Grenze des Wissens. Weil sie intentional auf den Gegenstand als solchen bezogen ist, erfahrt sie ihre Endlichkeit. In dem Übergriff auf den unbekannten, in die Anschauung nicht einholbaren Träger der Abschattungsvarianz 60 Ebd., S. 109f. (Übers. variiert; vgl. "Notes on Sculpture", a.a.O., S. 23).
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Phänomenalität und Rekurrenz. Die Ur-Passivität des Leibs Erst hier wird der von Fried diagnostizierte Anthropomorphismus in seiner wesentlichen Dimension greifbar. Es zeigt sich eine gewisse Symmetrie, die die ihrerseits unzeneißliehe und unübersteigbare Korrelation zwischen der Skulptur als der einheitlichen Gestalt oder "unitary form" und dem Wahrnehmungssubjekt unterläuft und allererst aufspannt. Eine Symmetrie, deren Element jedoch nicht das Maß (die Metrie) ist, nicht der Lichtstrahl und die Reflexion, sondern ein vorreflexives Äußerlich- oder Außer-sich-Sein, das Schon-im-Raum-Sein von Betrachtersubjekt und Objekt. Diese Symmetrie etabliert sich nicht in der reflexiven Beziehung des Sehens zum erscheinenden Objekt, sondern in dem Element der vorgängigen Faktizität des Daseins beider Körper, ihrer Kopräsenz im Raum, der noch nicht Bildraum oder Form der Anschauung ist. Die Entdeckung der res extensa geht hier der Konstitution des cogito und der Subjektivierung des Raums um ein Minimum voraus. In der Erfahrung des Werks als einer bereinigten und vereinfachten Situation von Wahrnehmung überhaupt gewinnt das Subjekt eine Art seitlichen Einblick in dep, vor-zeitigen oder un-zeitigen Schub seiner eigenen Konstitution. Es ist Subjekt der Situation- dieser unterworfen, ehe es in einem intentionalen Wahrnehmungsalct auf sie gerichtet ist. Dieses Unterworfensein hat Emmanuel Levinas "Rekurrenz" genannt: 61 ein ,Ge61 Siebe bes. das Kap. IV, "Die Stellvertretung", in Levinas, Emmanuel: jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München, 1998, S. 219-288). Zur Affinität dieser Konzeption der Geburt des Subjekts in radikaler Passivität mit der Lacan'schen Psychoanalyse, s. Critchley, Simon: "The Original Traumatism: Levinas and Psychoanalysis"; und: Ders.: "Das Ding: Lacan and Levinas", beide in: Ders.: Ethics- Politics- Subjectivity: Essays on Derrida, Levinas and Contempormy French Thought, London/New York, 1999, S. 183-197 u. 198-216.
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stauchtsein' des Subjekts in die Materialität seines Körpers, das in keine phänomenologische Reflexion einholbar ist, da es quer zu der Reflexionsbeziehung von ,urquellendem' Jetzt und dem Ego der Apperzeption - dem Zentrum der phänomenologisch gefassten Bewusstseinsgegenwart- steht. 62 Die "An-archie" 63 der Rekurrenz dringt in der minimalistischen Situation an den Rand eines reflexiv geschärften Wahrnehmungsbewusstsein vor. Die diffuse Sichtbarkeit, in die es mit jenen voluminösen und so belanglosen Objekten eingelassen ist, ertappt das Subjekt in dem Moment, da es noch nicht Selbst und doch schon da ist- in der Fülle möglicher Blicke, die der Raum als solcher ist. Das eigene Sehen, von der Oberfläche des Objekts zurückgeworfen, trifft mit dessen Blick- und notwendig nach ihm, denn es muss die ,doppelte Distanz' zurüddegen- aus einem radikalen Außen die eigene Haut, den eigenen Körper als präreflexive Materie, die mit der der Situation wesenhaft gleichartig ist. Das ist der monströse Moment, an den die phänomenologische Reflexion hier rührt. Und die Beunruhigung Frieds über das "Hohlsein" der Objekte, über ihr unbestimmtes "Warten" im halbdunlden Raum- Motive, deren Wertung die affirmative Rezeption des Minimalismus bis zu Didi-Hubermanns metapsychologisch armierter Phänomenologie umkehren wird64 - entspringt an dieser Schwelle, an der die phänomenologische Erfahrung nicht mehr Reflexion und nicht mehr eigentlich phänomenologisch ist, da sie eine Materie berührt, die dem Licht, in dem sie erscheint, vorausgeht. Die Friedsche ,Anthropomorphie' bräuchte also einen anderen Namen. Es ist eine Beziehung, die eine Gleichheit diesseits oder unterhalb der Form, des Maßes oder der Maßhaftigkeit selbst evoziert. Der Mensch käme gerade nicht in der Integrität seiner Gestalt, in seiner stabilen Morphologie ins Spiel, sondern gerät in den Sog einer Desintegration oder Zerstückelung. Die Rekurrenz stößt auf den Körper, der der abgewandten Seite des Phänomens entspricht, auf den nie gegenwärtigen Körper, der hinter den Bildern des Bewusstseins verharrt. Dieser Körper ist nicht der Leib der Husserl'schen und MerleauPonty'schen Phänomenologie, er ist dessen andere Seite. Morris stößt auf die homogene Oberfläche der im Wahrnehmungsvollzug produzierten Phänomenalität. Aber indem er diese Phänomenalität- jenes potentiell endlose Video- um den Block der wesenhaft nicht erscheinenden Gestalt wickelt, um diesen transzendentalen Widerstand, wird die Wahrnehmung ihrer Produktivität und ihrer konstitutiven Blindheit gewahr. Und die Bewegung, die aus dieser Berührung der Differenz geblendet zurüddcommt auf den Leib, ist keine immanente Reflexion mehr. Die Rekurrenz ist die Erschütterung der phänomenologischen Immanenz selbst, die den Spalt der Un-Zeit offenhält, in der das Subjekt schon ist, schon passive oder pathische Ma-
62 Vgl. Levinas: "Die Stellvertretung", a.a.O., bes. S. 230f., 241-243. Zur Busserlsehen Bestimmung des Jetzt als "Urquellpunkt" der Bewusstseinsgegenwart s. exemplarisch Husserl: Zur Phänomenologie des Inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), a.a.O., S. 371. 63 Vgl. ~evi~as: "Die St~llvertretung", a.a.O., bes. S. 222-227; die Un-Zeitigkeit der so gefassten KonstitutiOn des Subjekts vor der Gegenwart und vor jeder "erinnerbare[n] Vergangenheit" (S. 232) ist im ganzen Kapitel zentral. 64 Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, a.a.O.
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terie ist, ehe es sich vernimmt. 65 Deshalb bleibt es unzureichend, von der Prozessualität des Wahrnehmungsvollzugs im Minimalismus zu sprechen. Wenn die Wahrnehmung hier in einer spezifischen Weise als prozessuale ausgezeichnet ist - und nicht nur "in der Zeit existiert", 66 wie Morris unbestimmt sagt-, dann durch das Ineinandergreifen von Rekurrenz und Reflexion, aus dem die Zeit der Erfahrung hervorgeht, das Gewebe der gelebten Wirldichkeit selbst. Die Zeit der Wahrnehmung ist hier mit der Zeit der Spaltung des Subjekts verschränkt. Frieds Text ist für die Rezeption prägend geworden, weil er diese Struktur auf seine Weise sichtbar macht. Die minimalistische Präsenz ist unterlaufen vom SchonSein der präreflexiven materiellen Existenz. Nur ein Gott, der die Welt jeden Augenblick neu erschafft, würde die Trägheit dieser Materie absolut aufheben. Die Zeitkonstitution des endlichen Bewusstseins ist dagegen -wie jede Art der Konstitution bildliehen Scheins- auf das Verhältnis zu dieser Faktizität, dem Schon-Sein der Welt und des Körpers, der zur Welt gehört, angewiesen und kommt aus deren Andrang auf sich zurück. Davon befreit nur eine ganz und gar absorptive Kunst, die den Betrachter die theatrale Gegenwart des eigenen Leibs vergessen und ihn aufgehen lässt, in der "supreme fiction", dass nichts als der Schein des Bildes sei, der mit dem Feld des Sehens zusammenfällt. 67 Ich glaube nicht, dass es bedeutender Kunst je um die Anregung zu solchen Träumereien geht, aber man versteht, warum das Aufschlagen von Morris Column Fried besonders erschreckt. Die minimalistische Situation strahlt auf den Körper des Betrachters zurück. Und sie spaltet ihn in die Innenseite oder Rückseite und die phänomenale Außenseite der performativen Wahrnehmung und der Handlung selbst. Von dieser Spaltung aus werden Morris frühe Skulpturen, die exemplarisch erscheinen für die Einübung in eine zwar kinästhetisch bewohnte, aber geometrale und eidetische Perspektive, wie sie Husserl in Ding und Raum analysiert hat, zu Paradigmen einer Reflexion auf eine Leiblichkeit, die den Zusammenhalt der guten Gestalt verliert. Die Orientierung der maßgeblichen Rezeption wechselt daher rasch von Husserl zu Merlau-Ponty und von da zur Lacanschen "Umstülpung" des Felds des Wahrnehmungsbewusstseins selbst. 68 Parallel dazu hat sich der Körper, der in Yvonne Rainers Tanz in einer fast ldassizistischen Plastizität erscheint, desintegriert. I.t;1 den Anti-Form-Arbeiten der späten 65 Siehe zu dieser "[t]raumatische[n] Passivität" Levinas: "Die Stellvertretung", a.a.O., bes. S. 243251 (zit. S. 245). 66 Morris: "Anmerkungen ... ", a.a.O., S. 107 (Übers. variiert; vgl. "Notes ... ", a.a.O., S. 16). 67 Siehe zu dieser Supreme Fiction, die Fried von Diderots Spaziergängen in den Landschaften Vernets aus entfaltet, Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age ofDiderot, Chicago/London, 1988, bes. S. 92-109. Zur steten Rückholung dieses Spaziergängers durch den "schweigenden Motor des Blicks": Melville, Stephen: "Notes on the Reemergence of Allegory, the Forgetting ofModernism, the Necessiry ofRhetoric, and the Condition ofPubliciry in Art and Criticism", in: October, no. 19 (Winter 1981), S. 55-92, hier. S. 65; und Collins, George: "Incidence oflnstant and Flux on Temporaland Pictorial Objects, Listeners and Spectators", in: Tekhnema4, http://teldmema.free.fr/4Collins.htm (03.07.2012). 68 So bei Rosalind Krauss, die in Passages in Modern Sculpture (1977) noch aufHusserl verweist, der ihr in The Optical Unconscious (1993) als cartesianischer Idealist gilt. Dort stellen die Psychoanalyse Lacans, das Bataille'sche Informe und der organlose Kö1pervon Deleuze/Guattari Modelle der Inversion des optischen Modernismus bereit.
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sechziger Jahre ist das von Fried evozierte dunlde Innere aus der Schale der geometralen Volumen gebrochen. Der viszerale Körper besetzt bei Eva Hesse den Ausstellungsraum oder findet in den vielleicht allzu folgerichtigen Pollockrepliken in "varied materials" von Barry Le Va und Morris selbst seine Reflexion. Auf der anderen Seite bleibt die minimalistische Bühne der wenn auch hohle Boden für den Absprung der Performance-Art in den Raum der bewussten politischen Handlung, während die Institutionskritik nach den Rahmungen und den ökonomischen und politischen Konstitutionsbedingungen dieser Bühne selbst und der Bühnenpräsenz fragt.
SANDRA BEATE REIMANN
innen-außen Topalogisches Raumdenken in Richard Serras Band, Sequence und Cycle*
Der Mensch schreitet geradeaus, weil er ein Ziel hat; er weiß, wohin er geht, er hat sich für eine Richtung entschieden und schreitet in ihr geradeaus. Der Esel geht im Zickzack, döst ein wenig, blöde vor Hitze und zerstreut, geht im Zickzack, um den großen Steinen auszuweichen, um sich den Anstieg sanfter zu machen, um den Schatten zu suchen. Er strengt sich so wenig wie möglich an. Der Mensch beherrscht sein Gefühl durch die Vernunft. Er bändigt seine Gefühle und seine Instinkte um des vorgefaßten Zieles willen. Er zwingt mit seinem Verstand das Tier in sich selbst zum Gehorsam. Sein Verstand baut Regeln auf, die das Ergebnis der Erfahrung sind. Le Corbusier
Diese Vorstellungen von der idealen Raumgestaltung, mit denen Le Corbusier sein 1925 auf Französisch erschienenes radikales Manifest Urbanisme 1 beginnen und im weiteren in dem bekannten Satz "Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg der Menschen" 2 kulminieren lässt, verdeutlichen das moderne Paradigma einer rationalen Formensprache. 3 Le Corbusier positioniert in seiner Polemik den krummen "Weg der Esel" als eine Figur der Resistenz gegenüber Modernität: 4 Er steht für lnstinkthaftigkeit, Zufall, Willkür, Ungerichtetheit,
* Für wichtige Anregungen und die Diskussion dieses Beitrages danke ich Friedrich Teja Bach, Gabriel Hubmann, Wolfram Piehier und Rainer SchützeicheL Le Corbusier: Urbanisme, Paris, 1925. Dt.: Le Corbusier: Städtebau, übers. und hg. von Hans Hildebrandt, Stuttgart, 1979, insb. S. 5f. 2 Le Corbusier: Städtebau, a.a.O., S. 10. 3 Diese Engführung der Moderne hat Le Corbusier selbst forciert u. a. über die von ihm mitinitiierten Congres Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM), womit auch alternative Positionen in den Hintergrund gerückt sind. Siehe: Mumford, Eric: Defining Urban Design. CIAM Architects and the Fonnation ofa Discipline. 1937-69, New Haven, 2009, insb. S. 2-17. Davon divergierende Positionen in der Architektur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden unter dem Stichwort der "anderen" Moderne in der Architekturforschung ins Licht gerückt, bzw. wiederentdeckt. Siehe bspw.: Bauwelt, Jg. 74 (1983), H. 41: Eine andere Moderne; Magnago Lampugnani, Vittorio/Schneider, Romana (Hg.): Moderne Architektur in Deutschland 1900-1950. Reform und Tradition, Stuttgart, 1992; Lichtenstein, Claude: 0. R. Sa!visberg. Die andere Moderne, Zürich, 1995; Pehnt, Wolfgang: Rudolf Schwarz. Architekt einer anderen Moderne, OstfildernRuit, 1997; Krauskopf, Kai/Lippert, Hans-Georg/Zaschke, Kerstin (Hg.): Neue Tradition. Konzepte einer antimodernen Modeme in Deutschland von1920 bis 1960, Dresden, 2009. 4 Zur Figur des Esels und dessen Funktion in Le Corbusiers modernistischer Polemik (wie auch bei Claude Levi-Strauss und Jacques Derrida) vgl.: Ingraham, Catherine: "The Burdeus ofLinearity", in: Whiteman, John/Kipnis,Jeffrey/Burde, Richard (Hg.): Strategies in architectura! thinking, Chicago/Cambridge, 1992, S. 130-147, hier S. 131 u. S. 136f. und Ingraham, Catherine: "The
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Report "Theater der Gestalt. Robert Morris und die Grenzen der Phänomenologie "