Subjektivierung in Relationen Ein Versuch über die relationistische Explikation von Sinn G ESA L INDEMANN
Unter Subjektivierung verstehe ich, dass sich eine Entität X für sich selbst und für andere als eine verstehbare, intelligible oder sinnhaft einzuordnende Entität darstellt. Dies erfolgt, indem sich X in ihrer Darstellung für sich selbst und für andere an vorgegebenen Regeln bzw. Normen orientiert. X stellt sich einer Regel entsprechend dar – etwa der Regel, die für gültige und überzeugende Darstellungen von Verkäuferinnen oder Professorinnen gilt. Zumindest für einige – vielleicht sogar alle – dieser Darstellungen gilt, dass sie authentisch ausgeführt werden müssen, d.h. X muss sich nicht nur als ein bestimmtes Subjekt darstellen, sondern auch so, dass sie dieses Subjekt authentisch ist. Dass X es selbst ist, die diese Darstellungsleistungen vor sich und vor anderen vollbringt, wird ebenfalls in sozialen Prozessen zur Darstellung gebracht. X wird nämlich sowohl von sich selbst als auch von anderen dafür verantwortlich gemacht, wenn die Darstellung nicht gelingt. D.h., wenn die Subjektivierung nicht in der geforderten Weise verläuft. Diesem Verständnis zufolge ist Subjektivierung als ein normativer Sachverhalt zu verstehen. Es gibt Entitäten, von denen in sozialen Prozessen normativ erwartet wird, dass sie sich subjektivieren und dass sie dies in einer regelgemäßen Weise tun. Bei einer Vorlesung richtet sich die Subjektivierungserwartung z.B. an die Professorin und nicht an das Mikrofon bzw. die Mikrofonanlage. Dies gilt auch dann, wenn es die Technik ist, die eine misslingende Darstellung als professorales Subjekt verursacht. Nicht das Mikrofon, sondern die Professorin wird um
Entschuldigung dafür bitten, dass die Darstellung nicht gelungen ist und nach Erklärungen suchen. Der so als Subjektivierung beschriebene Sachverhalt wird mit jeweils unterschiedlichen Akzentsetzungen in verschiedenen Theorieansätzen verhandelt. In einer poststrukturalistischen Perspektive würde man davon sprechen, dass die vorgegebenen Normen ›zitiert‹ werden, dass Subjekte sich unter vorgegebene Subjektformen und die damit verbundenen Normen unterwerfen und dabei einen Teil ihrer selbst verwerfen müssen. 1 Die Ethnomethodologie benennt einen ähnlichen Sachverhalt, wenn sie die Herstellung und Reproduktion sozialer Formen in den Blick nimmt und untersucht, wie sich Akteure dabei wechselseitig unterstützen, kontrollieren und normalisieren. 2 In einer systemtheoretischen Perspektive wäre X damit beschäftigt, sich orientiert an personalen Formen selbst zu sozialisieren, 3 wodurch eine Selbstbindung für weitere Kommunikationen entsteht. In allen Fällen wird Bezug genommen auf aufeinanderbezogene Darstellungsund Interpretationsleistungen. Durch diese Leistungen wird eine sinnhafte Welt geschaffen, von der gilt, dass sie für alle Beteiligten eine in gleicher Weise sinnhaft geordnete Welt ist, in der alle Beteiligten selbst sinnhaft eingeordnet werden können. Unabhängig davon, wie Subjektivierung im Detail gedacht wird, wird in dieser Perspektive darauf verzichtet, ein handelndes Subjekt vorauszusetzen. Vielmehr wird danach gefragt, wie aus einer Entität X ein handelndes Subjekt mit einer bestimmten Identität wird. Implizit wird dabei allerdings die Unterscheidung zwischen mindestens zwei Sorten von Entitäten angenommen, nämlich zwischen einerseits denjenigen Entitäten, von denen normativ erwartet wird, dass sie sich subjektivieren, und
1
Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. 2007. Für sehr gute Diskussion der Subjekttheorie Butlers im Vergleich mit Foucault vgl. Hauskeller, Christine: Das paradoxe Subjekt. Unterwerfung und Widerstand bei Judith Butler und Michel Foucault, Tübingen 2000.
2
Garfinkel, Harold: »Common sense knowledge of social structures: The documentary method of interpretation in lay and professional fact finding«, in: ders., Studies in Ethnomethodolgy, Englewood Cliffs, NJ 1967, S. 76-103.
3
Luhmann, Niklas: »Die Autopoiesis des Bewußtseins«, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 1995 [1987], S. 86ff.
andererseits denjenigen Entitäten, von denen dies nicht zu erwarten ist. Mit der Umstellung von Subjekt auf Subjektivierung wird es zu einem kontinuierlich ablaufenden Prozess, sich zu einem geformten Subjekt zu machen. Ein Subjekt nicht zu sein, sondern sich in einem fortlaufenden Prozess dazu zu machen, heißt aber auch, kontinuierlich die Unterscheidung zwischen sich subjektivierenden X-Entitäten und anderen Entitäten zu vollziehen. Diese kontinuierlich zu reproduzierende Grundlage von Subjektivierung wird in den bisherigen Ansätzen nicht thematisiert. Sie explizit zum Gegenstand zu machen, wäre eine Bereicherung für das Programm der Subjektivierungsanalyse. Dass es sinnvoll ist, diese Unterscheidung in den Blick zu nehmen, zeigt das schon erwähnte Beispiel der Professorin, deren erfolgreiche Selbstdarstellung als eine Vorlesung haltende Professorin aufgrund einer technischen Störung der Mikrofonanlage misslingt. In diesem Fall machen sowohl die Professorin als auch die Studierenden zunächst die Professorin für die misslingende Subjektivierung verantwortlich. Dies ist daran zu erkennen, dass diese sich entschuldigt, nach Gründen für das Versagen sucht etc. All dies wird von der Mikrofonanlage nicht erwartet. Das Beispiel verweist auf zweierlei: Einerseits sind Subjektivierungsleistungen auf technische Artefakte angewiesen, andererseits werden im beschriebenen Fall die technischen Artefakte nicht selbst subjektiviert. Wenn es nicht von vornherein als geklärt gilt, von welchen X-Entitäten Subjektivierungsleistungen zu erwarten sind, geht es um zwei Fragen. Erstens: Wie wird in ablaufenden Subjektivierungsprozessen die Unterscheidung zwischen zu subjektivierenden Entitäten und anderem getroffen? Zweitens: Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise kommt technischen Artefakten eine Bedeutung für Subjektivierungsleistungen zu? Die zweite Frage verweist auf die Bedeutung von Verkörperung und Technik für die Analyse von Subjektivierungsprozessen. Dies habe ich an anderer Stelle bereits ausführlich untersucht mit besonderem Bezug auf den Körper und mit Bezug auf den Zusammenhang von Verkörperung und Technik. 4 Ich werde mich hier auf die erste Frage konzentrieren.
4
Vgl.
Lindemann, Gesa: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im
Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, Wiesbaden 2011 u. dies.: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist 2009, Kap. 5.
Die Argumentation ist in drei Schritten aufgebaut. Zunächst entfalte ich den Vorschlag, die Grenzen des Kreises derjenigen, von denen Subjektivierung erwartet wird, kontingent zu setzen. Dies beinhaltet eine grundlegende Erweiterung des Problemhorizonts soziologischer Forschung um das »Problem der Kontingenz der Mitwelt« (1). Die Einbeziehung dieses Problems erfordert einen spezifischen Zuschnitt sozialtheoretischer Konzepte. Nicht der Handlungs-, sondern der Kommunikationsbegriff steht im Mittelpunkt und dieser muss triadisch konzeptualisiert werden. Im Sinne einer Weiterentwicklung des Kommunikationsbegriffs Luhmanns 5 stelle ich daher im zweiten Abschnitt einen neuen triadisch strukturierten Kommunikationsbegriffs vor (2). Daran anschließend arbeite ich die im triadischen Kommunikationsbegriff angelegte Struktur sozialer Reflexivität heraus und entfalte die darin angelegten Implikationen für die Subjektivierungsanalyse unter den strukturellen Bedingungen moderner Vergesellschaftung (3).
1. D AS P ROBLEM DER K ONTINGENZ DER M ITWELT Wenn man es als eine offene und nur empirisch zu beantwortende Frage versteht, von welchen Entitäten zu erwarten ist, dass sie sich subjektivieren, wird eine implizite Voraussetzung von Subjektivierungsanalysen deutlich. Es wird nämlich implizit und unbefragt davon ausgegangen, dass nur von lebendigen Menschen zu fordern ist, sich zu subjektivieren. Damit gelten Menschen als natürliche Voraussetzung eines Vergesellschaftungsprozesses, der sich durch Subjektivierung strukturiert. Diese Annahme gilt es einzuklammern und selbst als ein bemerkenswertes Phänomen zu begreifen. Als klassische Vertreter dieser Fragerichtung können Plessner, Kelsen und Luckmann gelten. 6 Kelsen und Luckmann
Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975 [1928]; Kelsen, Hans: Vergeltung und Kausalität, Wien/Köln/Graz 1982 [1941]; Luckmann, Thomas: »Über die Grenzen der Sozialwelt«, in: Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn, München/Wien/Zürich 1980 [1970], S.
zufolge ist es ein Spezifikum der westlich-europäisch geprägten Moderne, dass nur lebende Menschen soziale Akteure sein können. Kelsen rekonstruiert in einer geistesgeschichtlichen Untersuchung, wie Naturdinge in der westlichen Moderne den Status eines sozialen Akteurs verloren haben. Natürliche Dinge und technische Artefakte werden zwar als materiell wirksam betrachtet, jedoch würden sie in der Moderne als Wesen angesehen, bei denen es sich nicht um ein soziales Gegenüber mit Intentionen und Erwartungen handelt. Kelsen zeigt auf, wie der Aspekt der Vergeltung, der in vormodernen Auffassungen der Beziehung zu Naturdingen und Artefakten noch enthalten war, zunehmend verschwindet. Die Beziehungen zu Naturdingen und Artefakten wurden desozialisiert. Luckmanns Ansatz folgt methodisch Husserl, wenn er in transzendentaltheoretischer Perspektive das Argument entfaltet, dass die Projektion des anderen Ich a priori nicht auf lebende Menschen beschränkt werden kann. Anhand eines reichhaltigen ethnologischen Materials legt er dar, dass in nicht-modernen Gesellschaften auch Tiere, Pflanzen oder Götter und Verstorbene den Status von allgemein anerkannten Akteuren
56-92. Auch die Arbeiten von Bruno Latour – ders.: Wir sind nie modern gewesen, Berlin 1995 [1991] – und anderen – Woolgar, Steve/Latour, Bruno: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, London/Beverly Hills 1979; Callon, Michel: »Some Elements of a sociology of translation. Domestication of the scallops and the fishermen of St Brieuc Bay«, in: John Law (Hg.), Power, Action and Belief. A new sociology of knowledge?, London 1986, S. 196-233 – sind in diese Richtung interpretiert worden. Denn letztgenannte Autoren verwenden einen weiten Akteursbegriff (vgl. Latour, Bruno: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford/New York 2005), der auch nichtmenschliche Entitäten einbezieht. Latour versucht, auf dieser Grundlage die »Verfassung der Moderne« (B. Latour: Wir sind modern gewesen) zu rekonstruieren. Dabei bleibt er aber insofern einer anthropologisch orientierten akteurszentrierten Theorie verhaftet, als er implizit menschliche Akteure in den Mittelpunkt stellt, denen die Macht zuerkannt wird, im Weiteren auch anderen Entitäten einen Akteursstatus zuzuschreiben (vgl. Lindemann, Gesa: »On Latourʼs social theory and theory of society, and his contribution to saving the world«, in: Human Studies 34 [2011], Nr. 1, S. 93-110). Im Unterschied zu Luckmann und Kelsen wird auf diese Weise die Frage nach den Grenzen der Sozialwelt nicht ernsthaft gestellt.
einnehmen können. Luckmann sieht richtig, dass die Frage nach den Grenzen der Sozialwelt mit dem Problem des anderen Ich zusammenhängt, d.h. mit der Frage, wie entschieden wird, welche Entitäten als ein Alter Ego anzuerkennen sind. Dass er bei der Bearbeitung dieser Frage transzendentaltheoretisch argumentiert, ist allerdings problematisch. Bereits Schütz hatte gezeigt, dass sich das Problem des anderen Ich transzendentaltheoretisch nicht lösen lässt. 7 Wenn es auch aus methodischen Gründen nicht sinnvoll ist, der Argumentation Luckmanns direkt zu folgen, so bleiben doch zwei wichtige Einsichten von ihm erhalten: seine Kritik des methodologischen Ethnozentrismus und die Annahme eines Zusammenhangs zwischen einerseits der Grenzziehung soziale Personen/Anderes und andererseits der Differenzierungsstruktur einer Gesellschaft. Um diese Einsichten weiterzuentwickeln, ist es erforderlich, sie im Rahmen einer mundanen Theorie des anderen Ich bzw. einer mundanen Theorie der kontingenten Grenzen der Sozialwelt zu reformulieren. Als Bezugspunkt für eine solche Theorie begreife ich Helmuth Plessners Theorie der Mitwelt, die er im Rahmen der Theorie der exzentrischen Positionalität entwickelt. 8 »Exzentrische Positionalität« besagt, dass sich die Umweltbeziehung von exzentrisch strukturierten Wesen in dreifacher Weise ausdifferenziert. Ein exzentrisches Selbst ist erlebend und wirkend auf seine Umwelt bezogen und zugleich erlebt es das eigene Erleben. Insofern hat ein exzentrisches Selbst eine Innenwelt, es unterscheidet sich nicht nur von der Außenwelt, sondern erlebt diese als eine ihm objektiv gegenüberstehende Welt und es erfährt sich als Glied der Mitwelt. Die Mitwelt bezeichnet eine Sphäre des wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins exzentrischer Wesen. Aufgrund ihres wechselseitigen Bezuges übernehmen exzentrische Selbste wechselseitig ihre Positionen, d.h., ein exzentrisch-positionales Selbst
7
Eine sehr gute Darstellung der Auseinandersetzung von Schütz mit Husserl in dieser Frage findet sich bei Lüdtke, Nico: »Intersubjektivität bei Schütz - oder: Ist die Frage nach dem Anderen aus der Phänomenologie entlassen?«, in: Jürgen Raab/Michaela Pfadenhauer/Peter Stegmaier/Jochen Dreher/Bernt Schnettler (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden 2008, S. 187-197.
8
H. Plessner: Die Stufen des Organischen, 300ff.
verhält sich aus der Perspektive anderer zu sich und zu anderen. Folglich ist sowohl der Selbstbezug als auch der Bezug auf die Außenwelt und auf andere darüber vermittelt, dass sich ein exzentrisches Wesen als Glied einer Mitwelt erfährt. 9 Wesen, die in einer solchen Beziehung zu anderen und zu sich selbst stehen, bezeichnet Plessner als »Personen«. 10 Für die hier behandelten Probleme ist entscheidend, dass die Theorie der Mitwelt nicht von vornherein festlegt, wer ein Glied der Mitwelt sein kann, d.h., es steht nicht von vornherein fest, wer in den Kreis der Personen gehört und was aus diesem Kreis ausgeschlossen ist. 11 Folgerichtig unterscheidet Plessner die Mitwelt im Allgemeinen, die »Wirsphäre«, und eine je historisch aus der »Wirsphäre ausgesonderte Gruppe oder Gemeinschaft, die zu sich Wir sagen kann«. 12 Die Mitwelt als »Wirsphäre« im Allgemeinen ist die Bedingung dafür, sich als Glied einer Mitwelt in seiner Stellung erfassen zu können. 13 Davon zu unterscheiden ist der Sachverhalt, dass Personen sich als Glied einer bestimmten historisch ausdifferenzierten Mitwelt erfassen. Entsprechend gilt es als Charakteristikum einer je historischen Mitwelt, wie die Mitwelt konkret beschränkt wird, d.h., wie je historisch der Kreis möglicher Personen begrenzt wird. Die Mitwelttheorie eröffnet eine Frageperspektive, die es systematisch zu einem empirischen Problem macht, wie der Kreis legitimer sozialer Personen beschränkt wird. Dies führt im Weiteren zu einer gesellschaftstheoretisch relevanten Frage: Lassen sich Gesellschaften danach unterscheiden, wie die je konkrete Mitwelt begrenzt wird und wie der Prozess personaler Vergesellschaftung strukturiert wird? Eine konkrete Beschränkung der Mitwelt muss als eine strukturelle Bedingung des Prozesses personaler Vergesellschaftung angesehen werden. Denn der Umgang mit Personen unterscheidet sich praktisch vom Umgang mit Nichtpersonen. Personen gehen z.B. davon aus, dass andere Personen Erwartungen entwickeln, die zu erwarten und zu deuten sind. Dies bildet
9
Vgl. H. Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 304; vgl. auch G. Lindemann:
10
H. Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 301.
11
Vgl. ebd., S. 301.
12
Ebd., S. 303.
13
Vgl. ebd.
Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 2.
die Grundlage einer wechselseitigen Bezugnahme und Abstimmung. Im Umgang mit Nichtpersonen kommt dagegen der Sachverhalt nicht vor, dass die Erwartungen des Gegenübers zu erwarten und zu deuten sind. Die Grenzziehung zwischen Personen und Nichtpersonen legt also auf grundlegende Weise fest, wie der Vollzug personaler Vergesellschaftung praktisch verläuft. Insofern muss diese Grenzziehung als institutionelle Strukturierung des Vollzugs von Vergesellschaftung begriffen werden. Um sich den Status der Theorie der Mitwelt im Allgemeinen im Unterschied zur je historischen gesellschaftlichen Mitwelt zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, sich die Funktion des Theorems der reinen doppelten Kontingenz im Unterschied zur empirisch beobachtbaren eingeschränkten doppelten Kontingenz zu vergegenwärtigen. Reine doppelte Kontingenz ist empirisch nicht beobachtbar. 14 Das Theorem doppelter Kontingenz formuliert vielmehr ein Problem und begreift soziale Phänomene als dessen Lösung. Insofern fungiert das Theorem der doppelten Kontingenz als eine beobachtungsleitende Annahme, die dazu anhält, soziale Phänomene als Lösungen eines bestimmten Problems zu begreifen. In analoger Weise fungiert die Theorie der Mitwelt im Allgemeinen als beobachtungsleitende Annahme. Sie führt dazu, faktische Begrenzungen des Kreises sozialer Personen als Lösung des Problems der Unbestimmtheit der Begrenzung des Kreises sozialer Personen zu verstehen. Analog zum Problem der doppelten Kontingenz spreche ich hier vom »Problem der Kontingenz der Mitwelt«. Dessen Lösung besteht in der Etablierung von Grenzinstitutionen mit Bezug auf die reguliert wird, wie der Kreis sozialer Personen beschränkt wird. 15 Weiterhin lässt es die Theorie Mitwelt offen, ob die voreinander und füreinander vollzogenen personalen (Selbst-)Darstellungen so interpretiert werden, dass Personen als Subjekte für ihre (Selbst-)Darstellungen verantwortlich gemacht werden und sich selbst verantwortlich machen. Nur im letzteren Fall handelte es sich um personale Verhältnisse, die durch Subjektivierungen strukturiert sind. Subjektivierung scheint auf den ersten Blick ein universales Phänomen zu sein. Demnach würden sich
14
Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, Kap. 3; vgl. auch den Betrag von Rainhard Schulz in diesem Band.
15
Lindemann,
Gesa:
»Gesellschaftliche
Grenzregime
und
soziale
Differenzierung«, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), Nr. 2, S. 92-112.
Gesellschaften danach unterscheiden, wie sich Menschen zu Subjekten machen, indem sie sich bestimmte Subjektformen aneignen. Letztere würden als gesellschaftlich akzeptierte Formen der Selbstdarstellung gelten. Wenn Subjektivierung in dieser Weise als allgemein vorkommend angesehen würde, müsste es auch als allgemein gültig angesehen werden, dass Normen bzw. allgemein soziale Ordnung aufrechterhalten werden, indem ein agierendes X als ein handelndes Subjekt gilt, das für seine Taten subjektiv verantwortlich ist. Es scheint mir fraglich zu sein, ob Subjektivierung in diesem Sinn tatsächlich ein universales Phänomen darstellt. Denn es gibt gesellschaftliche Verhältnisse, in denen es nicht darauf ankommt, wer für eine Tat subjektiv verantwortlich ist. Normativ nicht erwartetes Verhalten kann auch darauf hin beobachtet werden, wie es die Welt in Unordnung bringt. Es kommt dann nur noch darauf an, dass jemand einen Ausgleich leistet, der das Gleichgewicht der Welt wieder herstellt. In einem solchen Fall ist es unerheblich, wer für eine Tat subjektiv verantwortlich war, es kommt nur darauf an, dass und wie der Ausgleich geschaffen wird. 16 Wenn man Subjektivierung versteht als Vollzug subjektiv zu verantwortender Selbstdarstellungen, wie es Ethnomethodologie und Poststrukturalismus machen, ist diese eng mit der Idee verknüpft, dass es individuelle Verantwortlichkeit, 17 somit auch eine schuldhafte Verfehlung
16
Vgl. Achter, Victor: Geburt der Strafe, Frankfurt a.M. 1951.
17
Das folgende Zitat bringt dies sehr schön zum Ausdruck: »Ich kann nicht genau erklären warum ich gerade so geworden bin, und meine Bemühungen um eine narrative Rekonstruktion unterliegen einer ständigen Überarbeitung. In mir und an mir ist etwas, von dem ich keine Rechenschaft abgeben kann« (J. Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 57). Eine solche Formulierung setzt voraus, dass man anerkennt, subjektiv verantwortlich zu sein und deshalb Rechenschaft über sein
Leben
abgeben
muss.
Sich
für
eine
umfassende
biografische
Rekonstruktion verantwortlich zu fühlen, kommt vermutlich nur bei Leuten vor, die sich für wichtig halten oder von denen gefordert wird, es für wichtig zu halten,
eine
biografische
Rekonstruktion
anbieten
zu
können.
Die
Ethnomethodologie nimmt sozusagen eine alltägliche Verantwortlichkeit in den Blick. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen auf den Fuß getreten bin, aber es ist so eng hier, dass man gar nicht weiß, wohin man treten soll.« Auch das ist eine kleine biografische Rekonstruktion, mit der man sich für einen
und damit eine mögliche Strafe geben kann. Hierbei handelt es sich aber um historisch kontingente Sachverhalte. In den Gebieten Mittel- und Westeuropas wurde die Vorstellung, dass es Akteure gibt, die subjektiv für ihre Taten verantwortlich sind, erst im 12. und 13. Jahrhundert im säkularen Recht durchgesetzt. 18 Erst dadurch wird die die Subjektivierung kennzeichnende Verbindung von Tat und subjektiver Verantwortung für die Tat hergestellt. Erst hiermit wird eine Tat unausweichlich immer auch zu einer subjektiv zu verantwortenden Selbstdarstellung. Die hier vorgeschlagene Perspektive der Kontingenz der Mitwelt führt also mit Bezug auf Subjektivierung zu einer zweifachen Historisierung: 1. Es wird als historisch veränderlich begriffen, welche Entitäten normativ als soziale Personen anzuerkennen sind; 2. es wird als historisch kontingent gesetzt, dass soziale Personen ihr Verhältnis zueinander durch Subjektivierung strukturieren. Die Gesellschaftsordnung, die sich in Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend durchzusetzen beginnt, zeichnet sich strukturell durch zwei Merkmale aus: Nur lebende Menschen sind allgemein verbindlich als soziale Personen anzuerkennen und soziale Personen machen sich wechselseitig subjektiv für Taten verantwortlich, damit wird individuierende Subjektivierung zu einer tragenden Struktur der Herstellung und Reproduktion von Ordnung.
2. T RIADISCH - RELATIONISTISCHER K OMMUNIKATIONSBEGRIFF Als Ausgangspunkt dient mir der Kommunikationsbegriff Luhmanns. 19 Dieser beschreibt, wie das Problem der doppelten Kontingenz kommunikativ gelöst werden kann. Allerdings erweist sich dieser Kommunikationsbegriff nicht mehr als ausreichend, um das Problem der Kontingenz der Mitwelt zu bearbeiten. Die Analyse des Problems der Kontingenz der Mitwelt macht es vielmehr erforderlich, von einer
Normverstoß verantwortlich macht und um Vergebung bittet. Für alltägliche kleine Leute reicht das aus. 18
Vgl. V. Achter: Geburt der Strafe u. G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 3.
19
N. Luhmann: Soziale Systeme, Kap. 4.
triadischen Sozialitätskonzeption auszugehen. Denn nur, wenn man die Ego-Alter-Konstellation um Dritte, d.h. um Tertius, erweitert, lässt sich die Emergenz einer institutionellen Regel der Grenzziehung begreifen und empirisch rekonstruieren. 20 Strukturell weist die Ego-Alter-Konstellation, in der sich Kommunikation ereignet, folgende Merkmale auf: 1. Erwartungs-Erwartungen: Ego erwartet die Erwartungen von Alter Ego und orientiert seine eigenen Aktivitäten an diesen erwarteten Erwartungen. 2. Doppelte Kontingenz: Für Ego ist es unsicher, wie Alter sich im Weiteren verhält, was Alter erwartet usw. (= einfache Kontingenz). Da Ego seine eigenen Aktivitäten und auch sein weiteres Erwarten davon abhängig macht, was Alter erwartet, wird für Ego zusätzlich sein eigenes Verhalten, sein eigenes Erwarten unsicher (= doppelte Kontingenz). Diese Situation wird durch Kommunikation aufgelöst. Ego interpretiert die Aktivitäten versuchshalber und macht sich im Weiteren von Alters Reaktionen abhängig. Ordnung entsteht damit zunächst in der Zeitdimension. Es ist ein Charakteristikum dieses Kommunikationsbegriffs, dass er nicht bei der Mitteilungshandlung ansetzt, sondern bei der von Ego vorgenommenen Deutung von Alters sichtbarem Verhalten als kommunikative Handlung. 21 In diesem Sinne wird danach gefragt, ob eine Entität A (Alterposition) eine erfahrbare Mitteilungshandlung produziert, die von einer anderen Entität B (Egoposition) als Hinweis darauf gedeutet wird, dass A eine Information mitteilt und damit eine Erwartung an B richtet. Der Unterschied zwischen dem dyadischen und dem triadischen Kommunikationsbegriff besteht darin, dass der letztere eine Objektivierung der Relation zwischen Ego und Alter erlaubt. Ego deutet die Mitteilungshandlung Alters mit Bezug auf die Erwartung, die Tertius an den Vollzug dieser Deutung hat. Wenn B (Egoposition) die Deutung nicht einfach nur vollzieht, sondern die Deutung als eine versteht, die vor Tertius stattfindet, wird die Deutung objektiviert; sie existiert für Ego, insofern Ego die Perspektive von Tertius auf den Vollzug der Deutung übernimmt. Dies
20
G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 6.2.
21
N. Luhmann: Soziale Systeme, Kap. 4.
ermöglicht es, eine Regel der Anerkennung zu etablieren, durch die festgelegt wird, wie Entitäten als kommunikative Entitäten, die als solche anzuerkennen sind, identifiziert werden können. 22 Diese Regel ist die Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt. Die Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt erfolgt durch eine Ordnungsbildung, die in der Sozialdimension ansetzt. Im Rahmen einer dyadischen Konstellation wäre das Problem nicht lösbar. Selbst wenn man annehmen würde, es gäbe bereits eine Regel, müsste Ego diese gegenüber dem fraglichen Alter Ego allein anwenden. Eine nur durch den Akteur selbst kontrollierte Regelanwendung wäre aber willkürlich und würde daher zu keinem konsistenten Ergebnis führen. Dies ist das von Wittgenstein aufgezeigte Problem der privaten Regelbefolgung. Diese sei nicht möglich, denn einer »Regel ›privatim‹ zu folgen«, heißt nicht der Regel zu folgen, sondern nur »der Regel zu folgen glauben«. 23 Der systematische Bezug auf den Dritten ist also aus zwei Gründen erforderlich: 1. Nur im Rahmen einer triadischen Konstellation kann eine Regel der Anerkennung institutionalisiert werden; 2. Ego kann nur mit Bezug auf Tertius sinnvoll dieser Regel folgen. Im Rahmen solcher triadischen Vollzüge werden die Bedingungen geschaffen, unter denen Entitäten als Personen gedeutet werden, die sich in der Kommunikation für sich und andere darstellen. Die Frage danach, wer die Grenze zwischen sozialen Personen und anderem zieht, lässt sich zunächst nur formal beantworten. Alle diejenigen, die funktional in der Position von Ego sind, vollziehen eine grenzziehende Deutung. Diese Deutung ist nicht beliebig, denn sie ist über Tertius vermittelt orientiert an einer Regel. Die operativ relevanten Einheiten, die den Vollzug der Grenzziehung tragen sind Ego-Alter-Tertius. Die Grenzziehung erfolgt nicht als Tat eines Individuums, sondern sie erfolgt in einer Relation, deren reflexive Vollzugstruktur eine Musterbildung durch Objektivierung
22
Vgl. Lindemann, Gesa: »Die Emergenzfunktion des Dritten – ihre Bedeutung für die Analyse der Ordnung einer funktional differenzierten Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), Nr. 6, S. 493-511.
23
Beide Zitate: Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1977 S. 128.
ermöglicht. Dass die Musterbildung tatsächlich erfolgt und wie sie erfolgt, lässt sich nur im Rahmen empirischer Forschungen in den Blick nehmen. Theoretisch lässt sich nur begründen, dass soziale Ordnungen solche Muster ausbilden müssen. Denn es ist für Akteure praktisch relevant, zwischen solchen Entitäten zu unterscheiden, deren Erwartungen zu erwarten sind, und solchen Entitäten, bei denen das nicht der Fall ist. Durch solche Deutungen wird im Feld die Unterscheidung getroffen zwischen denjenigen Entitäten, die in einer generalisiert gültigen Weise soziale Personen sind, und solchen Entitäten, die sporadisch oder idiosynkratischerweise Personen sind. 24 Für moderne Gesellschaften gilt, dass nur lebende Menschen soziale Personen sein können. Dies lässt sich empirisch anhand der Grenzziehungen am Lebensanfang und am Lebensende aufzeigen. Die kommunikativen Positionen von Ego-AlterTertius werden hier eingenommen von einem Patienten, bei dem es fraglich ist, ob er noch lebt (Alterposition), von Medizinern, die die Lebenszeichen des Patienten deuten (Egoposition) und dabei eine Beobachtung durch andere Kollegen und durch Juristen antizipieren (Tertiusposition). Die Grenzziehung entspricht einer sachlichen Feststellung: Bei diesem menschlichen Körper handelt es sich um einen lebendigen Körper. Dass nur lebende Menschen die Ego-Alter-Tertius-Positionen übernehmen, ist ein Merkmal der modernen Gesellschaft. In vormodernen Gesellschaften können die Positionen von Ego-Alter-Tertius auch von Geistern oder anderen nicht-menschlichen Wesen eingenommen werden. Relevant ist die triadische Struktur der Kommunikation, die eine Objektivierung der Regel ermöglicht. Die Struktur des modernen Vergesellschaftungsprozesses zeichnet sich zentral durch zwei Merkmale aus: 1. Nur lebendige Menschen können in einer generalisiert gültigen Weise soziale Personen sein; 2. Die kommunikative Darstellung beinhaltet immer einen Verweis auf die subjektive Verantwortlichkeit für die Darstellung. D.h., in der mit Bezug auf Tertius vollzogenen Deutung durch Ego wird Alter Ego subjektiviert. Da dieser Sachverhalt in der Darstellung Alters antizipiert wird, stellt sich Alter für eine beobachtete Deutung dar, von der er eine Subjektivierungsforderung erwartet.
24
G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 6.2.
Derartig subjektivierten Personen steht es frei, sporadisch auch andere Entitäten als soziale Personen zu behandeln und sie zu subjektivieren. In diesem Sinne können etwa Haustiere oder technische Artefakte sporadisch den Status einer sozialen Person zugesprochen bekommen und für ihre Taten subjektiv verantwortlich gemacht werden. Dies hat jedoch keine allgemeine Gültigkeit und der Subjektstatus kann dem Tier bzw. dem Artefakt nach Belieben auch wieder entzogen werden. Dabei ist insgesamt zu beachten, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen generalisiert anerkannten und daher sich subjektivierenden Personen und idiosynkratischen Personen, die den personalen Status lediglich sporadisch innehaben, um eine feldinterne Unterscheidung handelt. Es handelt sich nicht um eine Unterscheidung, die die soziologische Beobachterin trifft, sondern um eine Unterscheidung, welche die soziologische Beobachterin als einen Sachverhalt im Feld beobachtet. Die Berücksichtigung der Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt führt zu einer Erweiterung des soziologischen Deutungsbegriffs. Es geht 1. um eine fundierende Deutung, durch die festgelegt wird, welche Entität als kommunizierend anzuerkennen ist, und 2. um eine im engeren Sinne kommunikative Deutung, d.h. die Deutung der Mitteilungshandlung. Bislang wurde in der soziologischen Deutungskonzeption lediglich die Deutung der Mitteilungshandlung einbezogen. Die erste Stufe der Deutung, d.h. die Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt, wird dagegen bislang als unproblematisch vorausgesetzt. Wenn man dieses Problem in gleicher Weise berücksichtigt, wie das Problem der doppelten Kontingenz, das der kommunikativen Deutung zugrunde liegt, wird der Dritte grundlegend in die beobachtungsleitenden Annahmen eingearbeitet. Damit trägt jeder Vollzug einer triadischen Konstellation einen gesellschaftlichen Index, denn in der fundierenden Deutung wird die institutionalisierte Regel der Grenzziehung zwischen sozialen Personen und Anderem aktualisiert.
3. S OZIALE R EFLEXIVITÄT Wie stellt sich das Problem der Subjektivierung im Einzelnen dar, wenn man es im Rahmen eines triadischen Kommunikationsbegriffs entwickelt.
Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Struktur triadischer Kommunikation zu einer komplexeren Struktur sozialer Reflexivität führt, als sie bei dyadischen Sozialitätskonzepten vorliegt. Solange man von Ego und Alter ausgeht, muss man von wechselseitigen Erwartungs-Erwartungen ausgehen. Ego erwartet die Erwartungen von Alter und umgekehrt. Durch das Hinzukommen des Dritten wird diese Struktur dahingehend modifiziert, dass die Erwartungen von Tertius dafür relevant sind, wie Ego bezogen auf ein fragliches Alter erwartet. Die Erwartungen an Alter werden damit zu Erwartungen, die aus der Perspektive von Tertius zu erwarten sind. Aus der dyadischen Struktur der Erwartungs-Erwartungen wird die triadische Struktur erwarteter Erwartungs-Erwartungen. Die Relevanz erwarteter Erwartungs-Erwartungen findet sich sowohl auf der Ebene der fundierenden Deutung als auch auf derjenigen der kommunikativen Deutung. Auf der Ebene der fundierenden Deutung handelt es sich darum, in welcher Weise Tertius erwartet, von wem Ego Erwartungen zu erwarten hat – es geht also um die Erwartung, dass Ego sich in der Deutung des fraglichen Alter an einem normativen Muster der Grenzziehung orientiert. Dadurch wird festlegt, welche Entität als ein Alter Ego anzuerkennen ist. Bezogen auf die kommunikative Deutung orientieren sich die erwarteten Erwartungs-Erwartungen an der Norm der Subjektivierung, d.h. darauf, wie soziale Personen für ihre aktuellen Darstellungen verantwortlich zu machen sind. Die über den Dritten vermittelte Struktur sozialer Reflexivität verunmöglicht es, soziale Situationen isoliert in den Blick zu nehmen. Denn die Dritten, durch die Objektivierung der Interpretation ermöglicht wird, müssen nicht anwesend sein. Idealtypisch lassen sich zumindest folgende Strukturmodelle unterscheiden: Die Dritten sind anwesend. Die Dritten sind abwesend. Die Anwesenheit/Abwesenheit von Dritten ist temporalisiert gedacht – jetzt abwesend/zukünftig anwesend oder umgekehrt. 25 Dadurch wird der gegenwärtige Vollzug von Interpretationen in einen Rahmen gestellt, der eine Fokussierung auf die Gegenwart des Vollzugs verunmöglicht, denn es werden Dritte als relevant unterstellt, die sich in anderen, d.h. vergangenen, zukünftigen oder parallell, hier/jetzt ablaufenden Vollzügen von Darstellung/Interpretation befinden. Der Bezug auf Tertius zwingt also zu der Annahme, dass es Akteure gibt, die sich in
25
Vgl. G. Lindemann: Die Emergenzfunktion des Dritten.
mehreren parallel ablaufenden kommunikativ explizieren.
Gegenwarten
finden
und
diese
3.1. Basale Subjektivierung Wenn man sich vor diesem Hintergrund dem Problem der Subjektivierung zuwendet, fällt auf, dass in modernen Gesellschaften der Ansatzpunkt für Subjektivierung nicht direkt in der Sozialdimension liegt. Denn die Grenzen des Kreises derjenigen, die in modernen Gesellschaften überhaupt für eine Subjektivierung in Frage kommen, werden anhand eines sachlichen Kriteriums gezogen. Für moderne Gesellschaften gilt, dass nur lebende Menschen soziale Personen sein können. 26 Subjektivierungsanforderungen werden also nur an lebende Menschen gestellt. Wie diese Anforderung in einer basalen Weise gestellt wird, lässt sich besonders gut anhand kommunikativer Grenzsituationen herausarbeiten. Diese finden sich empirisch beobachtbar z.B. am Lebensanfang und am Lebensende. Die bisher vorliegenden empirischen Analysen stützen die folgende These: Die Grenzziehung erfolgt nicht anhand eines Kriteriums, das direkt der Sozialdimension entstammt, sondern anhand eines universalen sachlichen Kriteriums. Wenn ein menschlicher Körper sich in einer identifizierbaren Weise als lebendig genug zeigt, wird er als ein personaler Körper anerkannt, der kommuniziert. Bezogen auf die Grenzziehung am Lebensende zeigt sich dies an der Struktur der »Vitalindikation«. 27 Um die Problematik zu verstehen, muss man sich Folgendes vergegenwärtigen: Jeder medizinische Eingriff in den Körper stellt rechtlich eine Körperverletzung dar. Der Unterschied zwischen einem Arzt und einem kriminellen Messerstecher besteht darin, dass im Fall eines ärztlichen Eingriffs, etwa einer Intubation, 28 der Patient
26
Vgl. G. Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime.
27
Lindemann, Gesa: Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, München 2002, S. 327f.
28
Bei einer Intubation schiebt ein Arzt ein biegsames Rohr durch den Rachen in die Luftröhre, um ihn künstlich zu beatmen. Dies ist eine Notfallmaßnahme, die regelmäßig ergriffen wird, wenn ein Patient bewusstlos ist. Eine Intubation ist
aus eigenem Willen heraus zugestimmt hat. Die Einstellung der Behandlung erfordert ebenfalls eine Willensentscheidung des Patienten. Für die Zustimmung oder Ablehnung der Behandlung wird der Patient auch verantwortlich gemacht. Wenn er der Behandlung zustimmt, muss der Patient für die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Kosten aufkommen. Wenn er gegen den Rat eines Arztes eine Behandlung beendet, muss er erklären, dass er die Verantwortung dafür übernimmt. Die Struktur der Vitalindikation zeigt nun eine seltsame Eigenart, denn es handelt sich um eine »absolute Indikation«. 29 Darunter ist zu verstehen, dass ein Arzt in jedem Fall verpflichtet ist, einem menschlichen Körper, der sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet, auch unter Einsatz invasiver Maßnahmen zu helfen, die rechtlich den Tatbestand einer schweren Körperverletzung erfüllen. Genau dies darf der Arzt aber nur, wenn der Patient zugestimmt hat. Das sich daraus ergebende Problem wird durch Subjektivierung des bewusstlosen lebendigen Patientenkörpers gelöst. Der Körper muss sachlich als ein lebendiger Körper identifiziert werden. Wenn dies zweifelhaft ist, wird der Körper vorsorglich auf eine Intensivstation gebracht, wo eine genauere medizinisch-technische Diagnose erfolgen kann als an einem Unfallort. 30 Wenn ein Körper als lebendiger menschlicher Körper kognitiv-sachlich erkannt wird, wird er zugleich als soziale Person anerkannt. 31 Die sachliche Feststellung impliziert eine basale Subjektivierung. Von dem als lebendig erkannten Körper wird erwartet, dass er leben will und dies kommuniziert. D.h.: Wenn ein menschlicher Körper sachlich als ein lebendiger Körper identifiziert wird, ist dies identisch damit, den lebendigen Körper als ein
die Voraussetzung für eine Behandlung auf einer Intensivstation. Wer wach ist und selbständig atmen kann, ist zu gesund, um auf einer Intensivstation behandelt zu werden. 29
Vgl. Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 256. neu bearb. Aufl., Berlin/New York 1990, S. 779.
30
Nach derzeitigem Stand der medizinischen Praxis wird es sich um eine Hirntoddiagnostik handeln (G. Lindemann: Die Grenzen des Sozialen, Kap. 6).
31
Lindemann, Gesa: »Moralischer Status und menschliche Gattung –Versuch einer soziologischen Aufklärung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), Nr. 3, S. 359-376.
kommunikatives Symbol zu deuten, dessen semantischer Gehalt sich in die Worte übersetzen ließe: »Ich möchte, dass mir geholfen wird und ich stimme zu, dass invasive medizinische Maßnahmen dazu angewendet werden.« Als lebendiger Körper teilt ein Mensch zumindest immer mit, dass er/sie leben möchte und dass ihm/ihr geholfen werden soll, wenn er/sie sich in einem lebensbedrohenden Zustand befindet. 32 Der lebende menschliche Körper ist also eine zu subjektivierende X-Entität, insofern er lebt. Die subjektivierende kommunikative Deutung des lebenden Körpers vollzieht sich empirisch gut beobachtbar im Rahmen einer triadischen Struktur. Die Todesdiagnostik wird so vollzogen, dass die Deutung der Lebenszeichen vor Dritten vollzogen wird. Dies gilt verschärft, wenn der Körper als tot gedeutet wird. Es wird in der Diagnose eine Beobachtung durch Dritte antizipiert, die durch die Aufbahrungspflicht für Verstorbene in jedem Fall gesichert ist. Dadurch wird eine weitere Beobachtung auf Lebenszeichen hin ermöglicht. 33 Bei schwierigen Fällen wird die Todesdiagnostik selbst als beobachtete Diagnostik durchgeführt, d.h., die Todesfeststellung wird wie im Fall der Hirntoddiagnostik vorgeschriebenermaßen nicht von einem Arzt durchgeführt, sondern immer von zwei Ärzten, die wechselseitig ihre Diagnostik beobachten. Weiterhin bestehende Zweifel werden durch Hinzuziehung weiterer Dritter Besonders bei der Todesdiagnostik oder bei bearbeitet. 34 lebensentscheidenden Behandlungsentscheidungen steht die Arzt-PatientBeziehung unter der Beobachtung medizinexterner Dritter, nämlich rechtlicher Akteure. Im Verhältnis zu den kommunikativen Vollzügen, die sich direkt im Krankenhaus beobachten lassen, sind die Bezüge auf Akteure des Rechts derart, dass sie abwesende Dritte, die gegenwärtig mit anderem beschäftigt sind, einbeziehen. In solchen triadisch strukturierten Geflechten werden die Prozeduren vollzogen, die einen menschlichen Körper sachlich als lebendig identifizieren, ihn damit als soziale Person anerkennen und subjektivieren.
32
G. Lindemann: Die Grenzen des Sozialen, S. 324ff.
33
Lindemann,
Gesa:
Beunruhigende
Sicherheiten.
Hirntodkonzepts, Konstanz 2003, S. 53f. 34
G. Lindemann: Die Grenzen des Sozialen, Kap. 6.
Zur
Genese
des
Es gibt gute empirische Indizien dafür, dass diese Struktur basaler Subjektivierung sich sinnentsprechend am Lebensanfang vollzieht. Hier geht es um die Frage, ab wann ein menschlicher Körper als lebendig genug identifiziert werden kann, um eine Person zu sein, die eigenständig zu subjektiveren ist. Die Beziehung zwischen Fötus und dem körperlichen Subjekt, in dem der Fötus heranwächst, wird zunehmend unter die Beobachtung Dritter gestellt. Je länger der Fötus heranwächst, umso weniger können die Mutter bzw. die Eltern allein über das Weiterleben des Fötus entscheiden. Vielmehr wird diese Entscheidung unter die Kontrolle Dritter gestellt. Es bleibt aber bis zur Geburt letztlich doch Sache der Mutter bzw. der Eltern, über das Weiterleben des Fötus zu entscheiden. Der Fötus scheint nicht vor der Geburt generalisiert als eine soziale Person anerkannt zu sein, von der eine Subjektivierung zu erwarten ist. Erst wenn der Trennungsvorgang mütterlicher Körper/Fötus-Kind als Geburt interpretiert wird und das Geborene sich von sich aus als so lebendig zeigt, dass es außerhalb eines menschlichen Körpers mit intensivmedizinischer Unterstützung leben kann, gilt: Der geborene menschliche Kleinkörper ist als soziale Person anzuerkennen, seine physische Existenz wird zu einem kommunikativen Symbol und der lebendige menschliche Kleinkörper wird eigenständig subjektiviert. 35 Auch hier erfolgt die sachliche Identifikation als lebendiger menschlicher Körper und die darauf aufbauende Subjektivierung im Rahmen triadisch strukturierter Deutungsprozesse. 36 Vor der Geburt trifft all dies nicht zu, d.h., vor der Geburt bedeutet der Sachverhalt, dass es einen lebendigen Fötus gibt, nicht, dass dieser in einer generalisierten Weise als soziale Person anzuerkennen ist.
35
Vgl. dazu Büsing, Sarah M.: Grenzziehungen am Lebensanfang – zur politischen
Debatte
um
aktuelle
Änderungen
des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland, MasterArbeit, CvO Universität, Oldenburg 2010 u. Schaeffer, Katja: Grenzziehungen am
Lebensanfang
–
Eine
qualitative
Analyse
der
Bedeutung
des
Beisetzungsrituals im Kontext später Schwangerschaftsabbrüche, Master-Arbeit, CvO Universität, Oldenburg 2010. 36
Vgl. ebd.
3.2. Die Doppelstruktur moderner Vergesellschaftlichung und ihre Implikationen für das Programm der Subjektivierungsanalyse Die Anerkennung als soziale Person legt den Kreis derjenigen fest, von denen Subjektivierungsleistungen zu erwarten sind. Die basale Subjektivierung beinhaltet, den lebenden menschlichen Körper in ein kommunikatives Symbol mit einem spezifischen semantischen Gehalt zu transformieren. Anspruchsvolle subjekthafte Leistungen im Sinne von Selbstbewusstsein, Intentionalität oder zu sich Stellung zu nehmen werden als Bedingung der basalen Subjektivierung nicht gefordert. Die Versachlichung der Grenzziehung und die damit implizierte Subjektivierung bilden die strukturelle Grundlage für eine spezifische gesellschaftliche Differenzierungsform, der Differenzierung nach sachlichfunktional ausdifferenzierten Kommunikationszusammenhängen. Die an einem allgemeinen sachlichen Kriterium orientierte Form der Grenzziehung ermöglicht es, dass weltweit einheitlich anhand eines Kriteriums Kommunikationspartner identifiziert werden. Dies bildet die Voraussetzung dafür, Kommunikationen weltweit zu adressieren. Die Ordnung dieser Kommunikationen erfolgt primär nicht durch eine Orientierung an sozialen Hierarchien, sondern anhand einer Orientierung an differenzierten Kommunikationslogiken. In diesem Sinne lassen sich die Sachlogik wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer und rechtlicher Kommunikationen voneinander unterscheiden. Solche Festlegungen setzen voraus, dass die Deutung der Mitteilungshandlung durch Ego nicht einfach nur vollzogen wird, sondern dass im Vollzug der Deutung die aktuelle Mitteilung/Information auf einen übergreifenden Sachverhalt bezogen wird. Die Identifikation der Mitteilung als Beitrag zu einem die gegenwärtige Kommunikation bzw. die gegenwärtige Situation übergreifenden und überdauernden thematischen Sachverhalt erfordert eine Beobachtung der Kommunikation in deren Vollzug. In der beobachteten Beobachtung der Mitteilung/Information wird diese als Hinweis auf einen übergreifenden strukturierten Sachverhalt bezogen, von dem her die aktuelle Mitteilung ihren Sinn erhält. 37 Auf diese Weise können in der Deutung der einen
37
Diese Verweisstruktur hat Karl Mannheim herausgearbeitet (ders.: »Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation«, in: ders., Wissenssoziologie, 2.
Mitteilung/Information zwei Aspekte unterschieden werden: Die Mitteilung/Information ist ein einzelnes Ereignis hier/jetzt und zugleich an einem übergreifenden Muster orientiert. Im beobachteten Verstehen wird also eine Doppelselektion vorgenommen. Es wird verstanden, dass hier/jetzt eine Information mitgeteilt wird und die mitgeteilte Information wird als Element eines übergreifenden Musters verstanden. Wenn Ego eine derartige Interpretation mit Bezug auf Tertius vollzieht, unterstellt Ego, dass Alter diese Form der Doppelselektivität antizipiert hat. 38 Die strukturelle Relevanz ausdifferenzierter Sachzusammenhänge kann man nicht zuletzt daran erkennen, dass im Vollzug von Kommunikationen in generalisierter Weise spezielle Subjektiverungsanforderungen gestellt werden. Die Wirtschaft bringt eine ganze Reihe spezieller Subjektiverungsanforderungen hervor. D.h., wenn Akteure sich in wirtschaftlicher Weise aufeinander beziehen, werden spezifische Leistungsanforderungen von ihnen erwartet. Diese beziehen sich z.B. darauf, dass wirtschaftlich handelnde Akteure als solche erwartet werden, die sich in kalkuliert nutzenorientierter Weise aufeinander beziehen. Im Rahmen anderer Funktionszusammenhänge etwa dem Recht, der Familie oder der Wissenschaft werden andere Subjektiverungsanforderungen gestellt. Diese spezifischen Subjektivierungsanforderungen unterscheiden
Aufl., Neuwied/Berlin 1970, S. 91-154). Harold Garfinkel hat sie zur Analyse von Interaktionssequenzen verwendet (ders.: »Common sense Knowledge of social structures: the documentary method of interpretation in lay and professional fact finding«, in: ders., Studies in Ethnomethodolgy, Englewood Cliffs, NJ 1967, S. 76-103, hier S. 77f). 38
Dass jede Kommunikation in dieser Hinsicht doppelselektiv ist, hat auch Luhmann (ders.: Soziale Systeme, S. 188) gesehen. Er unterstellt dabei, dass die erforderliche Reflexivität bereits in der Ego-Alter-Dyade entstehen könne. Ego beobachtet die eigene Deutung aus der Perspektive von Alter Ego und würde damit die Deutung in einen Selektionszusammenhang integrieren. Auf dieser Grundlage
können
aber
kaum
dauerhafte
situationsübergreifende
Sachzusammenhänge entstehen. Dies haben Berger und Luckmann bei ihrer Analyse
von
Institutionalisierungsprozessen
gezeigt
(Berger,
Peter
L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1980 [1966], S. 59ff.). .
sich strukturell von der als basal beschriebenen Subjektivierung. Während die letztere als einzige konkrete Leistungsanforderung beinhaltet, dass sich ein menschlicher Körper als lebendig zeigt, beinhalten zumindest einige der funktionsspezifischen Subjektivierungen Leistungsanforderungen, die im klassischen Sinne Merkmale von Subjekten sind. Dazu gehören etwa rational kalkulieren, rational zu sich Stellung nehmen usw. Wer sich an der Sachlogik der Wissenschaft orientiert, muss die Erwartungen erfüllen, die an wissenschaftliche Rationalität gestellt werden. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich also durch zwei grundlegend unterschiedliche Subjektivitätsformen aus, die aber beide strukturell relevant sind für funktionale Differenzierung. Die beiden Subjektivitätsformen existieren auch nicht unabhängig nebeneinander, sondern implizieren einander wechselseitig. Dies zeigt sich an der spezifischen Form der kommunikativen Adressierung. E-A-T adressieren/interpretieren einander zum einen als lebendigen menschlichen Körper und zum anderen gemäß den Zwecksetzungen und der Sachlogik eines Funktionsbereichs. Diese Doppeladressierung nimmt beide Subjektivitätsformen in Anspruch. Ein einfaches Gedankenexperiment zeigt, dass eine Verkürzung auf eine der beiden Adressierungen zu einer Gefährdung funktionaler Differenzierung führen würde. Wenn Akteure vollkommen von den Relevanzen und Zwecksetzungen eines funktionalen Teilbereichs vereinnahmt würden, stünden sie nicht mehr für kommunikative Adressierungen zur Verfügung, die sich an der Sachlogik anderer Funktionsbereiche orientieren. Damit wäre strukturell das Muster funktionaler Differenzierung gefährdet. Damit E-A-T kontinuierlich als Menschen für beliebige Kommunikationen adressierbar bleiben, muss es also ausgeschlossen werden, dass Akteure von der Sachlogik einzelner Funktionsbereiche vollständig vereinnahmt werden. 39 Wenn sich Subjektivierung andererseits auf die basale Subjektivierung beschränken würde und E-A-T als Menschen nicht als zu aktivierendes Bereitschaftspotenzial für die Orientierung an beliebigen Sachlogiken interpretiert würden und wenn dieses Potenzial nicht auch zumindest teilweise erfolgreich mobilisiert werden könnte, würde dies ebenfalls zum Zusammenbruch des Strukturmusters funktionaler Differenzierung führen.
39
Vgl.
G.
Lindemann:
Gesellschaftliche
Emergenzfunktion des Dritten.
Grenzregime
und
dies.:
Die
Beide Subjektivierungsformen dürfen also nicht verabsolutiert, sondern müssen in einer aufeinander bezogenen Balance gehalten werden. Der kommunikative Doppelbezug, der in der Kommunikation funktional differenzierter Gesellschaften 40 immer vorhanden sein muss, weist eine normative Strukturvorgabe auf. Die Beteiligten dürfen sich nicht nur anhand aktueller funktionsgebundener Zwecksetzungen aufeinander beziehen, sondern müssen immer zugleich anerkennen, dass das Gegenüber als lebendiger menschlicher Körper bereits mit einer Subjektivierungsanforderung belegt ist und dieser auf basale Weise insofern genügt, als der Sachverhalt ›lebendig-zu-sein‹ ihn bedingungslos in die Kommunikation einbezieht. Als derart subjektivierter Körper können E-A-T im Weiteren in beliebige andere Kommunikationen involviert werden. Diese jedem kommunikativen Vollzug immanente Grenze weist eine Ähnlichkeit mit dem Objektivierungsverbot auf, das Kant im kategorischen Imperativ formuliert. 41 Der lebendige Mensch wird in der funktional differenzierten Gesellschaft zu einer funktionale Einzelzwecke konkreter Kommunikationen übersteigenden Größe, weil er die Bedingung der Ausdifferenzierung einzelner funktionaler Zweckordnungen ist. Insofern kann der Mensch unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht zu einem Zweck unter anderem werden. Solche Zwecke wären etwa die Wertsetzungen wirtschaftlichen, rechtlichen oder wissenschaftlichen Kommunizierens. Der Mensch ist nicht Mittel für diese Zwecke, vielmehr ist er selbst als der Zweck der kommunikativen Ordnung insgesamt zu verstehen; denn der Mensch bzw. die Menschheit bildet die stets zu reproduzierende Bedingung funktionaler Differenzierung. Es erscheint mir sinnvoll, diesen Sachverhalt mit dem Wort ›Menschenwürde‹ zu bezeichnen. Jeder sozialen Person der funktional differenzierten Gesellschaft kommt Menschenwürde zu, insofern der lebendige menschlicher Körper einer basalen Subjektivierung unterzogen wird. Ein
40
Vgl. G. Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime.
41
Der praktische Imperativ wird also folgender sein: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Weischedel, Wilhelm (Hg.), Werkausgabe VII: Kritik der praktischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1974 [1785], S. 61).
derart subjektivierter menschlicher Körper ist ein Glied einer aus prinzipiell gleichartigen Individuen bestehenden Menschheit. In diesem Sinne kommt jedem lebendigen menschlichen Körper in gleicher Weise Würde zu, 42 d.h., das Kriterium für die Zuerkennung von Würde ist identisch mit dem sachlichen Kriterium für die Zuerkennung des Status der sozialen Person. Es reicht aus, in einem gesellschaftlich anerkannten Sinn ein lebendiger Körper zu sein. 43 Menschliche Körper, denen in dieser Weise Würde zukommt, sind frei, sich in beliebige funktional differenzierte Funktionsbereiche zu integrieren und zu versuchen, den dort geforderten leistungsorientierten Subjektivierungsanforderungen zu genügen. Demnach bildet Freiheit ebenso ein funktionales Erfordernis moderner Gesellschaften. Sie bezeichnet den Anspruch, sich im Prinzip in alle Kommunikationen funktionaler Teilbereiche involvieren zu können. Die einzige Vorbedingung besteht darin, die Erfordernisse, die durch die Sachlogik des jeweiligen Teilbereichs vorgegeben sind, erfüllen zu können. An der Wirtschaft kann jeder teilnehmen, sofern er/sie etwas zu verkaufen hat oder etwas kaufen
42
Stratifizierte Gesellschaften können darauf verzichten, allen Gliedern, die in den Vergesellschaftungsprozess involviert sind, eine gleiche Würde zuzusprechen, denn es kommt ja gerade auf die unterschiedlichen Statuspositionen an. Wenn es zweifelhaft ist, welcher Status einem Wesen zukommt, ist die einzig mögliche Reaktion in stratifizierten Gesellschaften, dass eine in der Hierarchie zuständige Stelle identifiziert wird, die den Zweifelsfall entscheidet. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür war etwa die Junta von Valladolid, bei der untersucht wurde, um was es sich bei den Indianern Südamerikas handelt. Diese Verhandlungen machen direkt die personalen Leistungen der fraglichen Entitäten zum Thema.
43
Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den individualisierungstheoretisch gedachten Modernisierungstheorien von Durkheim und Luhmann, denn diese beziehen den Würdestatus der Person auf die Leistungsfähigkeit als individuelle Persönlichkeit (vgl. Lindemann, Gesa: »Die Würde des diesseitig lebendigen Menschen«, in: Antje Kapust/ Rolf Gröschner/ Oliver W. Lembcke (Hg.), Handbuch »Menschenwürde«, München 2012 [in Vorbereitung]). Sowohl Durkheim als auch Luhmann stellen in Rechnung, dass bei einem Mangel an personaler Leistungsfähigkeit der individuellen Persönlichkeit ein Würdeverlust erfolgt (Vgl. Durkheim, Emile: Der Selbstmord, Frankfurt a.M. 1983 [1898], S. 191 u. Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution, Berlin 1999 [1965], S. 69).
kann. An der Wissenschaft kann jeder teilnehmen, sofern er/sie die erforderlichen Qualifikationen mitbringt. An der Medizin kann jeder teilnehmen, wenn er/sie krank oder heilbefugt im Sinne des Systems ist. Usw.
4. S CHLUSSFOLGERUNG Die hier vorgeschlagene Perspektive unterscheidet zwischen sozialer Person und Subjekt i.S. von subjektivierter X-Entität. Soziale Personen sind alle diejenigen, die die Positionen von Ego-Alter-Tertius übernehmen können. Dies gilt für moderne wie für nichtmoderne Gesellschaften gleichermaßen. Nur die moderne Form der Grenzziehung beschränkt soziale Personen anhand des sachlichen Kriteriums lebender Mensch/anderes, d.h., nur lebende Menschen können die Positionen von Ego-Alter-Tertius übernehmen. Zusätzlich zeichnet sich die moderne Form der Vergesellschaftung durch Subjektivierung aus. Damit ist gemeint, dass diejenigen, die die Positionen von Ego-Alter-Tertius übernehmen, nicht nur als Kommunikanten anzuerkennen sind, sondern dass Ego-Alter-Tertius sich subjektiv für ihre kommunikativen Darstellungen verantwortlich machen und dies füreinander darstellen. Es zeigt sich, dass die subjektivierende Anerkennung als soziale Person einer modernen Gesellschaft gestuft erfolgt: Anerkennung als lebender Mensch (basale Subjektivierung) und Anerkennung als kommunizierendes Subjekt gemäß der Logik funktionaler Teilbereiche. Diese Analyse eröffnet eine subjektivierungstheoretische Perspektive auf funktionale Differenzierung, die beinhaltet, sich von einer Lieblingsannahme der Systemtheorie Luhmanns zu verabschieden, nämlich dass sich der Mensch in der Umwelt sozialer Systeme befindet. Es ist richtig, dass der Mensch nur partiell in funktionale Teilbereiche vergesellschaftet wird, 44 dennoch ist der lebendige Mensch aus Fleisch und Blut als solcher das institutionalisierte Element der modernen Gesellschaft. Er wird als solcher kommunikativ integriert und subjektiviert. Die moderne Gesellschaft ist die erste Gesellschaft, die ausschließlich aus lebendigen Menschen als kommunikativen Operatoren
44
Vgl. G. Lindemann: Die Emergenzfunktion des Dritten; G. Lindemann: Moralischer Status und menschliche Gattung.
besteht. 45 Dieses Ergebnis steht in einem engen Zusammenhang mit der Aufdeckung der normativen Struktur funktionaler Differenzierung, nämlich der Institutionalisierung von Würde und Freiheit als normativen Prinzipien. 46 Die Explikation gesellschaftsstruktureller Normvorgaben ermöglicht es, den normativen Aspekt der Subjektivierungsanalyse explizit zu thematisieren. Subjektivierung beschreibt die Bezüge auf Normen des Subjektseins. Die Aufdeckung solcher Normen wirkt wie von selbst normkritisch. Dieser Aspekt wird durch die Rhetorik einiger Ansätze deutlich in den Vordergrund gestellt. Dies gilt etwa für Butlers Rhetorik von »Unterwerfung« bzw. »Verwerfung«. Allerdings sucht man bei Butler vergeblich nach einer Begründung des kritischen Maßstabs der Kritik. 47 Ähnliche Probleme finden sich etwa in der ethnosoziologisch orientierten Forschung zur Transsexualität. Analysiert wird die Subjektivierung in einen Geschlechtsstatus hinein. Die damit einhergehenden Formen des Erlernens von überzeugenden Darstellungspraktiken wird einerseits sympathisierend nachvollzogen, aber die chirurgischen Veränderungen des Körpers, denen sich Frau-zu-Mann- und Mann-zu-Frau-Transsexuelle unterziehen, werden als »verkörperte Kastrationsdrohung« für potenzielle andere Geschlechtswechsler beschrieben. 48 Dabei mutiert unter der Hand der natürliche Körper zu einem normativ schützenswerten Gut. Auf kritische Nachfragen nach einer Begründung dieser »Norm«. 49 erhält man allerdings
45
Vgl. G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 3; dies: Gesellschaftliche Grenzsysteme.
46
G. Lindemann: Die Würde des diesseitig lebendigen Menschen.
Hirschhauer, Stefan: Die soziale Konstruktion der Transsexualität, Frankfurt a.M. 1993, S. 351f.
49
Lindemann, Gesa: »Volkmar Siguschs ›unstillbare Suche‹ nach dem Guten oder warum die Transsexuellen moralisch homosexualisiert werden müssen«, in: Zeitschrift für Sexualforschung 5 (1992), S. 261-270; G. Lindemann: Das paradoxe Geschlecht, S. 296.
keine Auskunft, sondern nur den Bescheid, dass der Autor eben dieser Meinung sei. 50 Unexplizierte oder schlicht meinungsbasierte normative Aussagen lassen sich nicht mehr rational diskutieren. Es kann nur apologetisch Meinung gegen Meinung stehen. Bestenfalls kann man sich, wie an manchen Stammtischen üblich, darauf verständigen, dass jeder halt seine eigene Meinung hat, man sich deshalb aber doch bitte nicht streiten möge. Wenn man auch normative Sachverhalte einer kritischen Diskussion zugänglich machen möchte, ist es erforderlich, den eigenen Maßstab zu explizieren und ihn damit kritisierbar zu machen. In diesem Sinne verstehe ich die Explikation der normativen Strukturvorgaben ›Würde‹ und ›Freiheit‹. Damit ist keine universell rationale Begründung normativer Prinzipien geleistet, sondern eine historisch situierte ›Begründung‹. Aber auch auf einer solchen Basis können gesellschaftliche Prozesse normativ bewertet werden. Dabei muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass es sich nicht um eine Kritik an der Struktur funktionaler Differenzierung selbst handelt, sondern nur um eine immanente Kritik, die auf die Selbstgefährdungen funktionaler Differenzierung aufmerksam macht. Diese ergeben sich z.B. durch eine totale neoliberale Ökonomisierung oder totale Politisierung gesellschaftlicher Kommunikation. Auf die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Probleme kann man begründetermaßen aufmerksam machen. Das ist nicht viel, aber immerhin mehr als bloße Apologie unexplizierter und/oder unbegründeter normativer Standards.
50
Hirschauer,
Stefan:
Ȇber
szientistische
Tarnungen
medizinischer
Zuständigkeitsprobleme«, in: Zeitschrift für Sexualforschung 10 (1997), Heft 4, S. 324-338, hier S. 337.
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