Subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit und gesundheitsrelevantes Verhalten bei niedergelassenen Psychologischen Psychotherapeuten

June 22, 2017 | Author: Michael Geyer | Category: Psychology
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Originalien Psychotherapeut 2006 · 51:290–299 DOI 10.1007/s00278-006-0482-1 Online publiziert: 21. März 2006 © Springer Medizin Verlag 2006

Aike Hessel1 · Michael Geyer1 · Kerstin Weidner2 · Elmar Brähler3 1 Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Universität Leipzig 2 Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden 3 Selbständige Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Leipzig

Subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit und relevantes Verhalten bei niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten

Psychotherapie beabsichtigt unter anderem via Verbesserung der Fähigkeit zur Selbstreflexion persönliche Reifungsprozesse (Cierpka 1997). Selbstreflexion des Patienten ist Therapieinhalt, aber auch Psychotherapeuten befinden sich in einem beständigen derartigen Prozess. So erschließt auf der individuellen Ebene ein umfängliches Selbsterfahrungs- und Supervisionsgeschehen sehr persönliche Erfahrungen des jeweiligen Psychotherapeuten, die existenziell mit der Tätigkeit als Psychotherapeut assoziiert sind. Neben dieser individuellen Selbstreflexion ist jedoch auch eine Reflexion der Befindlichkeiten der Psychotherapeuten als Berufsgruppe unabdingbar: zum einen, weil sie eine große standespolitische Bedeutung hat (Geyer 2002), und zum anderen, weil sie unmittelbare Wirkungen auf den Therapieprozess aufweist (Bastine 1992). Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des bestehenden Mangels an derartigen Analysen (Geyer 2002, Reimer et al. 2005) beschäftigt sich die vorliegende Studie mit Befindenswerten der Berufsgruppe niedergelassener psychologischer Psychotherapeuten. In der vorliegenden Arbeit wird dabei auf Aspekte des Gesundheitszustandes fokussiert, da der Beruf des Psychotherapeuten fraglos mit zahlreichen gesundheitsrelevanten psychischen und phy-

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sischen, auch existenziellen Belastungen verbunden ist. So stellen beispielsweise die alltägliche Konfrontation mit im therapeutischen Prozess zutage tretenden belastenden Affekten, Phantasien, Impulsen, Wünschen und Beziehungskonstellationen (Geyer 2002), der alltägliche Umgang mit psychisch kranken Menschen (Reimer 1994, 1997, 2000, Reimer et al. 2005), der spezifische Sog des Psychotherapeutenberufes, die schützenden Konturen des Eigenen zugunsten des Fremden zu verlieren (v. Rad 1997) sowie die fehlende soziale Stimulation infolge des sozial isolierten Arbeitens ohne Mitarbeiter und Kollegen allein in der Praxis (Reimer 1994) ernstzunehmende psychische Belastungen dar. Als körperliche Belastung des Psychotherapeutenberufes ist die überwiegend sitzende Körperhaltung relevant; und die schlechte Honorierung psychotherapeutischer Arbeit (Bowe 1999) sowie die Erschwerung der Identitätsbildung der eigenen Berufsgruppe durch zahlreiche innere (z. B. Konkurrenzen zwischen den Therapieschulen) und äußere Faktoren (z. B. Konkurenzen zu anderen Heilberufen) (Geyer 2002) wirken als existenzielle Belastungen des Psychotherapeutenberufes. In Anbetracht dieser psychischen, physischen und existenziellen Belastungen ist die Analyse des Gesundheitszustan-

des der Berufsgruppe der Psychotherapeuten nahe liegend. Dabei konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf Parameter der subjektiven Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes und auf Aspekte gesundheitsbezogenen Verhaltens.

Datenmaterial und Methoden Stichprobe und Datenerhebung Mit der Bitte, sich an einer Fragebogenerhebung zur Situation niedergelassener psychologischer Psychotherapeuten zu beteiligen, wurden von Juni bis August 2004 alle kassenzugelassenen niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten (n=1385, 905 Frauen, 480 Männer) der Bundesländer Brandenburg (n=136), Bremen (n=195), Mecklenburg-Vorpommern (n=83), Saarland/Rheinland-Pfalz (n=505), Sachsen (n=294) und Thüringen (n=172) angeschrieben. Insgesamt 488 Psychotherapeuten nahmen an der Befragung teil (Brandenburg: n=59, Bremen: n=48, Mecklenburg-Vorpommern: n=31, Rheinland-Pfalz: n=129, Saarland: n=44, Sachsen: n=106, Thüringen: n=55, andere bzw. keine Angabe: n=16). Dies entspricht einer Rücklaufquote von 35,2 (Brandenburg: 43,4, Bremen: 24,6, Mecklenburg-Vorpommern: 37,3, Saarland/Rheinland-Pfalz: 34,3, Sachsen:

36,1, Thüringen: 32), wobei die Rücklaufquote bei Frauen mit 37,9 deutlich höher ist als die bei Männern mit 28,5 (. Tab.1). Ausgewählte soziodemographische Parameter der Stichprobe sind in . Tab. 1 dargestellt (Summendifferenzen infolge fehlender Daten, "missing data"). Es zeigt sich, dass knapp drei Viertel (71,9) der teilnehmenden Psychotherapeuten weiblich sind. Dies begründet sich in der höheren Rücklaufquote bei Frauen (37,9 vs. 28,5 bei den Männern) sowie im bestehenden Frauenüberhang innerhalb der Berufsgruppe der Psychotherapeuten. So sind 65,5 der psychologischen Psychotherapeuten der untersuchten Bundesländer weiblichen Geschlechts, während im Jahr 2003 nur 38,2 der berufstätigen Ärzte Deutschlands Frauen waren (Bundesärztekammer 2003). Das Durchschnittsalter der Stichprobe beträgt 47,4 Jahre, womit die teilnehmenden Psychotherapeuten durchschnittlich etwas jünger als niedergelassene Ärzte (aller Fachrichtungen) sind, deren Durchschnittsalter bei 50,4 Jahren liegt (Bundesärztekammer 2003). Als therapeutisches Hauptverfahren wird von der Mehrheit der teilnehmenden psychologischen Psychotherapeuten (54,6) die Verhaltenstherapie (evtl. in Kombination mit anderen Verfahren) angegeben. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (evtl. in Kombination mit anderen Verfahren) folgt an zweiter Stelle (32,3 der teilnehmenden Psychotherapeuten), und 13,1 der teilnehmenden Psychotherapeuten nennen die Psychoanalyse (evtl. in Kombination mit anderen Verfahren) als ihr therapeutisches Hauptverfahren. Dabei zeigt sich im Geschlechtervergleich, dass bei den teilnehmenden Männern die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie relativ beliebter sind, während die teilnehmenden Frauen relativ mehr tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ausüben (p=0,002, χ2-Test).

Untersuchungsmethoden Alle kassenzugelassenen niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten der ausgewählten Bundesländer erhielten auf dem Postweg ein Fragebogenpaket zu-

Tab. 1

Soziodemographische Daten

Kriterien Alter

Bundesland

Ost/West Familienstand

Feste Partnerschaft Kinder Therapeutisches Hauptverfahren

Mittelwert Standardabweichung Spanne Brandenburg Bremen Mecklenburg/Vorpommern Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Thüringen Andere/keine Angaben Ost West Ledig Verheiratet Verheiratet, getrennt lebend Verwitwet/geschieden Ja Nein Ja Nein Psychoanalyse Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie Verhaltenstherapie

Gesamt (n=488) 47,4 7,5

Männlich (n=137) 48,6 8,6

Weiblich (n=343) 46,9 6,9

29–84 59 (12,5%) 48 (10,1%) 31 (6,55%)

32–84 20 (14,8%) 13 (9,63%) 12 (8,89%)

29–65 39 (11,5%) 35 (10,4%) 19 (5,62%)

129 (27,3%) 44 (9,3%) 106 (22,4%) 55 (11,6%) 16 (3,3%)

40 11 27 12

89 33 79 43

251 (53,1%) 222 (46,9%) 82 (17,1%) 307 (64,1%) 17 (3,6%)

71 (52,6%) 64 (47,4%) 31 (22,6%) 91 (66,4%) 5 (3,6%)

180 (53,2%) 158 (46,8%) 51 (14,9%) 216 (63,2%) 12 (3,5%)

73 (15,2%)

10 (7,3%)

63 (18,4%)

400 (84,0%) 76 (16,0%) 387 (80,8%) 92 (19,2%) 61 (13,1%) 150 (32,3%)

122 (90,4%) 13 (9,6%) 109 (79,6%) 28 (20,4%) 23 (17,3%) 27 (20,3%)

278 (81,5%) 63 (18,5%) 278 (81,3%) 64 (18,7%) 38 (11,4%) 123 (37,0%)

254 (54,6%)

83 (62,4%)

171 (51,5%)

geschickt, dessen Beantwortung etwa 1 h in Anspruch nahm. Dieses Fragebogenpaket erhob neben verschiedenen soziodemographischen Daten unter anderem Aspekte der Aus- und Weiterbildung, der beruflichen Tätigkeit, der Diagnostik und Therapie verschiedener Störungsbilder, der Selbstwirksamkeit, der Einkommenssituation, des Gesundheitszustandes, der Lebenszufriedenheit und der sozialen Unterstützung. In der vorliegenden Arbeit werden Befunde zur subjektiven Einschätzung der eigenen Gesundheit, zur Inanspruchnahme des Gesundheitssystems und zum Gesundheitsverhalten mitgeteilt. F Die subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes wurde erhoben mittels des Items "Wie würden Sie Ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand beschreiben? (Mögliche Antworten: schlecht, weniger gut, zufrie-

(29,6%) (8,15%) (20%) (8,89%)

(26,3%) (9,76%) (23,4%) (12,7%)

den stellend, gut, sehr gut). Diese Vorgehensweise wurde gewählt, da dieses einzelne Item "trotz seiner vordergründigen Simplizität" (Müters et al. 2005) Morbidität und Mortalität besser voraussagt als "objektive" Messungen und Einschätzungen der gesundheitlichen Situation (z. B. Bath 2003, Benyamini et al. 2003, Benyamini u. Idler 1999, Heidrich et al. 2002, Helmert 2003, Larsson et al. 2002, Mossey u. Shapiro 1982, Müters et al. 2005). Es übertrifft in seiner Prädiktivität bezüglich Mortalität "objektive" Parameter, da sie eine "PoolVariable" darstellt, die über den objektiven Gesundheitszustand hinaus beispielsweise auch persönliche und psychosoziale Gesundheitsressourcen, familienhistorische Risikofaktoren und Dispositionen oder eine "Vorahnung" zu biologischen oder Psychotherapeut 4 · 2006

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Originalien physiologischen Veränderungsprozessen abbildet (Müters et al. 2005). F Die Kontrollüberzeugung bezüglich der eigenen Gesundheit wurde erfragt durch das Item "Welche Meinung haben Sie darüber, wie sehr man seinen eigenen Gesundheitszustand beeinflussen kann? Man kann selbst (mögliche Antworten: nichts, wenig, einiges, viel, sehr viel) tun, um seinen Gesundheitszustand zu erhalten oder zu verbessern." (Itemwert 1 für "nichts" bis Itemwert 5 für "sehr viel"). F Bezüglich des Gesundheitsverhaltens wurde die allgemeine Achtsamkeit der Gesundheit gegenüber erhoben ("Wie stark achten Sie im Allgemeinen auf Ihre Gesundheit? Mögliche Antworten: gar nicht, weniger stark, mittelmäßig, stark, sehr stark; Itemwert 1 für "gar nicht" bis Itemwert 5 für "sehr stark"). Außerdem wurden konkrete gesundheitsrelevante Verhaltensweisen erfragt: 1 "Haben Sie in der Regel ausreichend Schlaf?" (Mögliche Antworten: ja/nein.) 1 "Wie viele Stunden schlafen Sie im Allgemeinen nachts?" 1 "Nehmen Sie regelmäßig Mahlzeiten zu sich? (3–5 Mahlzeiten/ Tag)" (Mögliche Antworten: nie, gelegentlich, häufig, täglich.) 1 "Treiben Sie Sport?" (Mögliche Antworten: nie, gelegentlich, einmal wöchentlich, zweimal wöchentlich und mehr.) 1 "Rauchen Sie?" [Mögliche Antworten: habe nie geraucht, nicht mehr, ja (wenn ja: mehr als 20 Zigaretten, bis 20 Zigaretten, bis 10 Zigaretten, weniger als 10 Zigaretten)] 1 "Trinken Sie Alkohol?" [Mögliche Antworten: nein/ja (wenn ja: täglich mehr als 1–2 Glas Wein oder Bier, täglich 1–2 Glas Wein oder Bier, wöchentlich mehr als 1–2 Glas Wein oder Bier, wöchentlich 1–2 Glas Wein oder Bier, monatlich 1–2 Glas Wein oder Bier)] F Zur Inanspruchnahme des Gesundheitssystems wurden erfasst: 1 die Häufigkeit von Arztbesuchen ("Wie oft waren Sie im letzten Jahr

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wegen Erkrankungen und Beschwerden beim Arzt?"), 1 Arbeitsunfähigkeiten ("An wie viel Tagen des letzten Jahres waren Sie arbeitsunfähig geschrieben?"), 1 die Häufigkeit der Einnahme von Medikamenten ("Wie häufig nehmen Sie Medikamente ein? (Mögliche Antworten: < als 1-mal monatlich, 1- bis 3-mal monatlich, 1- bis 6mal wöchentlich, täglich"). Die ermittelten Befunde wurden mit entsprechenden Daten einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe der Allgemeinbevölkerung Deutschlands und mit den Daten einer Stichprobe (sächsischer) Hausärzte verglichen. Die Daten für die Allgemeinbevölkerung entstammen einer eigenen bevölkerungsrepräsentativen Befragung, die im Februar 2001 unabhängig von der Psychotherapeutenbefragung an insgesamt 2031 Personen im Alter von 14–95 Jahren durchgeführt wurde. Von dieser bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe wurden eine Teilstichprobe gezogen (n=238, 122 Männer, 116 Frauen, Durchschnittsalter 45,9 Jahre), die alle Untersuchungspersonen der bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe beinhaltete, die sowohl in ihrer Altersstruktur (30 bis 65 Jahre) als auch im Bildungsgrad (mindestens Abitur) in etwa der Psychotherapeutenstichprobe entsprachen, da die Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes abhängig von Alter und Bildungsstand ist (Hessel et al. 1999, Knopf et al. 1999). Die Daten für die (sächsischen) Hausärzte entstammen einer Befragung, die unabhängig von der Psychotherapeutenbefragung im Jahr 2003 an 451 in Sachsen niedergelassenen Hausärzten im Alter von 32–76 Jahren (Durchschnittsalter 51,9 Jahre, 177 Männer, 264 Frauen) durchgeführt wurde (Gossler 2006).

Statistische Auswertung F Die interessierenden Parameter werden als Häufigkeits- und Mittelwertangaben mitgeteilt. F Zur Prüfung von Unterschieden in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Niederlassungssitz (Ost/West) und therapeutischer Hauptrichtung (Psy-

choanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie)1 kamen im Falle dichotomer Variablen χ2-Tests und im Falle von metrisch skalierten Daten mehrfaktorielle Varianzanalysen zum Einsatz. F Zur Prüfung der Unterschiede zu Vergleichsstichproben wurden zweifaktorielle Varianzanalysen (Männer vs. Frauen, Bevölkerung vs. Psychotherapeuten bzw. Hausärzte vs. Psychotherapeuten) berechnet, weil in der Psychotherapeutenstichprobe eine deutliche Überrepräsentation von Frauen besteht und die untersuchten Parameter üblicherweise stark geschlechtsabhängig sind (Hessel et al. 2000a, 2000b, 2005).

Ergebnisse Subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit Die Mehrheit der teilnehmenden Psychotherapeuten schätzt den eigenen Gesundheitszustand ("Wie würden Sie Ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand beschreiben?") als "sehr gut" bis "zufrieden stellend" ein ("sehr gut": 12,2, "gut": 44,4, "zufrieden stellend": 33,0). Nur 8,5 der Untersuchungspersonen berichten über einen "weniger guten" und 1,9 einen "schlechten" Gesundheitszustand (. Tab. 2). Dabei finden sich in Abhängigkeit vom Geschlecht, dem Ort der Niederlassung (Ost vs. West) sowie der therapeutischen Hauptrichtung (Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie) keine signifikanten Unterschiede. Lediglich das Merkmal "Alter" erweist sich als bedeutsame Determinante: mit zunehmendem Alter wird der eigene Gesundheitszustand als schlechter eingeschätzt (p


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