Strategien zur Bewältigung von Ängsten durch massenmediales Erzählen

June 28, 2017 | Author: Reet Hiiemäe | Category: Folklore, Mass media, Mass Communication and New Media
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Reet Hiiemäe

Reet Hiiemäe Strategies of mental self-defence in mass media based narrating

Strategien zur Bewältigung von Ängsten durch massenmediales Erzählen Die heutige urbane Erzählkultur ist maßgeblich von den Medien abhängig. Wie früher für die Sagen, so gilt es heute für die Medien, dass sie viel mehr vermitteln wollen als eine in Textform gegebene exakte Kopie einer realen Situation. Sie sind eine Interpretation oder Verarbeitung der Ereignisse und nur so können sie in der narrativen Kommunikation akzeptierbar und verständlich werden. Sogar in Nachrichten stehen narrative Elemente im Vordergrund, Informationsvermittlung als solche ist eher zweitrangig. (Unter den Medien werden im folgenden Aufsatz vor allem die Medien verstanden, die täglich aktuelle Ereignisse widerspiegeln, d.h Internet, Radio, TV, Zeitung.) Wenn man einen historischen Vergleich zieht, sieht man, dass in der Sowjetzeit in Estland nur staatlich streng zensierte Medienkanäle arbeiten konnten. Die so genannte schwarze Chronik wurde in der estnischen Presse (wie auch der der anderen sowjetischen Länder) nicht veröffentlicht und die Medien versuchten – wohl irrtümlich – den Eindruck entstehen zu lassen, als gäbe es gar keine Kriminalität, Angst und Gewalt; Gerüchte waren der eigentliche Kanal zur Vermittlung von Berichten nicht erlaubter Themen. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Regimes am Anfang der 1990er Jahre entstand in der Erzähltradition ein Vakuum – viele bisher wichtige Themen verschwanden plötzlich. Genau in diesem Augenblick öffnete sich den Menschen der Zugang zu den neuen Medien (amerikanische Horror- und Action-Filme wurden importiert, das Internet und ausländische TV-Kanäle etablierten sich, andererseits gab es in den Medien offene Bloßlegungen der einheimischen Probleme). Das Neue wurde begeistert angenommen und angepasst. Gleichzeitig verbreiteten sich massenmedial beeinflusste Stereotypen von Angst und Gewalt, weil die Medien ununterbrochen signalisierten, dass die neue Ordnung voll von Angst und Aggressivität, Verschwörungen und Verratsskandale ist. Man war gezwungen, Strategien zu entwickeln (und ältere zu aktualisieren), um mit einer solchen Welt fertig zu werden. Bedrohlich wirkende Medieninhalte wurden und werden mündlich weitererzählt und bearbeitet, sie dienen als Grundlage für die urbanen Volkssagen (oder besser gesagt, es findet eine Interaktion statt). Eine der Reflektionen der Anpassung an die neue Realität, d.h. an den Wechsel vom Totalitarismus zur Demokratie, war

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eine Welle des sadistischen Humors in der Mitte der 1990er Jahre.1 Massenmediale Angstepochen „Erinnert wird, was massenmedial präsentabel ist“, sagt der Historiker Edgar Wolfrum2 über die heutige Erinnerungskultur. Die Medien bestimmen, wovor wir Angst haben und in welchen Formen diese Ängste sich manifestieren. Jedes Mal wenn eine ähnliche Gefahr zum Vorschein kommt, aktivieren sich ähnliche Strategien zur Bewältigung dieser Gefahr. Man kann eine massenmediale Konstruktion von ganzen Angstepochen beobachten: UFO-Epoche (Anfang 1990er), Aids-Epoche (Ende der 1990er), Anthrax-Epoche (Anfang 2000er), Serienmörder-Epoche (Mitte der 1990er), Epoche der Islamterroristen (seit 2001) u.a.m. Dieselben Epochen wiederholen sich im täglichen Erzählgut. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass z.B. die UFOs unseren Planeten heute bedeutend weniger besuchen als am Anfang der 1990er Jahre, der Fokus der Medien hat sich nur unbemerkt geändert – wenn auch in einigen Kreisen behauptet wird, dass die Außerirdischen in den 1990er tatsächlich ein erhöhtes Interesse an Estland hatten, weil sie genau zusehen wollten, wie Estland frei wird. Ebenso vergrößerte sich nicht die Anzahl der Massenmörder oder maniakalen Bomber Mitte 1990er Jahre, als der Fall von Timothy McVeigh bekannt wurde. Da aber um diesen Fall viel narratives Material schwebte und McVeighs Person dazu passte, dass man ihr viele verschiedene Rollen beimessen konnte, war seine Geschichte geeignet, massenhaft weitererzählt zu werden. Eine zynische Internetseite bemerkt: „If you hate getting tied down in just one version of reality, you should love the case of Timothy McVeigh“. Mit McVeighs Fall wurden viele ähnliche Fälle aus der Vergangenheit ins Gedächtnis gerufen, diese Gefahr war plötzlich Tagesordnung. Nach der Hinrichtung von McVeigh aber verlor sie jegliche Aktualität, als hätten nun alle Bösewichte seiner Art auf der ganzen Welt die Waffen niedergelegt. Man war wieder bereit für neue Themen. Die Medien bieten nicht mehr als ein paar Kernthemen auf einmal. Das hilft dem Menschen, seine tägliche Welt zu organisieren, weil ihm die Form und die Richtung der Angst vorgegeben wird. Man merkt eine solche Gefahr meistens nur, wenn sie den in der persönlichen Vorstellungswelt vorgegebenen Gefahrmanifestationen entspricht. In den 1990ern, während der UFO-Epoche, erschien in den Zeitungen eine sensationelle Nachricht von einer Frau mit seltsamen Brandwunden. Sie behauptete, Ausserirdische hätten es versucht, sie 1

2

Dazu Hiiemäe, Reet: Der Sadismus in der gegenwärtigen Folklore Estlands. In: Contemporary Folklore: Changing World View and Tradition, hg. von Mare Kõiva. Tartu 1996, S. 320-339. Wolfrum, Edgar: Die Massenmedialisierung des 17. Juni 1953. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bd 40-41/2003. Bonn 2003, S. 33-39, hier S. 36. Im Internet: www.bpb.de/publikationen/D1ZO0X,3,0,Die_Massenmedialisierung_des_17_Juni_1953. html

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zu klonen. Der Bericht fußte ausschließlich auf ihren eigenen Angaben und es war unmöglich herauszufinden, wie die Geschichte eigentlich gewesen war. Die Leser aber nahmen die Information auf und erzählten sie auch weiter. Hier spiegelt sich eine Eigenart der Gattung Nachrichten wider – zwischen dem Rezipienten und dem Nachrichtenvermittler gibt es sozusagen einen ungeschriebenen Vertrag, dass die Nachrichten wahr sind (egal wie unglaubwürdig sie sind), ebenso wie sich bei einem Spielfilm beide Seiten per se einig sind, dass der Spielfilm fiktional ist und nicht geglaubt werden muss. Mit dem „Fall des Klonens“ hatte man wieder einmal eine Bestätigung dafür bekommen, dass „die dort“, die Humanoiden, böswillig sind. Man wurde wieder sensibilisiert für eine latente Angst. Andererseits aber verschwand das Gefühl der Unbestimmtheit. Man wusste nun, was man schon längst geahnt hatte – sie sind böse, dämonisch und bringen Sorgen. In den Internetforen (das heißt zu den virtuellen Tageszeitungen gehörenden Kommentarteilen, wo jeder sein Kommentar zu dem jeweiligen Artikel hinzufügen kann) gab es Schilderungen von Augenzeugen über ähnliche Fälle des Klonens. Mit ziemlicher Sicherheit kann man sagen, dass nicht wenige von diesen Berichten urbane Volkssagen waren oder absichtlich für diesen Kontext fabriziert wurden, vielleicht auch mit dem Zweck, andere zu ängstigen (oder sonstige Reaktionen hervorzurufen), um dadurch eigene Angst vertreiben zu können. Da die Spezifik der heutigen Kommunikationsmittel es ermöglicht, dass der Erzähler anonym bleibt, zu gleicher Zeit aber weitreichend handeln kann, ist gerade die elektronische Post in der Lage, eine immer populärere Möglichkeit zum Abladen von Ängsten zu werden. Besonders in Amerika zirkulieren immer wieder irreführende E-Mails, in denen dringend vor Telefonzellen, Automattankstellen u.Ä. gewarnt wird, da die Boten der unsichtbaren Aids-Mafia angesteckte Spritznadeln an sie befestigt haben könnten. Als Sender des Warnbriefes gibt man meistens eine prominente Institution an, z.B. Rettungsdienst oder epidemiologisches Labor, bei der Überprüfung aber stellt sich heraus, dass die entsprechende Institution von dem Brief nichts weiß und auch den Inhalt der Information nicht bestätigt (vrd hoax981128).3 Ebenso gibt es angebliche Berichte der NASA von Kontakten mit Außerirdischen und Richtlinien zum weiteren Verhalten. Man kann vermuten, dass auch hier die Motivation des Senders von dem Wunsch, mit eigenen Ängsten fertig zu werden, resultiert. Der estnische Psychologe Aleksander Pulver bemerkt: „Die Bewältigung eigener Angst ist auch dann möglich, wenn man die Angst der anderen vergrössert. Weil das, wovor wir Angst haben, meistens ausser Kontrolle ist, kann man die Angst und unbestimmte Gefahr jedoch unter Kontrolle bringen, indem man selbst die Quelle der Angst wird“. 4 Oder kommen wir zu dem Fall der von Außerirdischen geklonten Frau zurück. Vor hundert Jahren hätte man eine solche allergieähnliche Hautreizung 3 4

Im Internet: http://www.korova.com/virus/hoax981128.htm Postimees vom 17. Oktober 2001, S. 23.

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wahrscheinlich für eine von der Erde gekommene Krankheit gehalten – eine Erklärung, die der damaligen Welterklärung entsprochen und äußerst plausibel geklungen hätte. Das – wenn auch fiktive – Herausfinden der Quelle der Gefahr macht die Gefahr handgreiflich, sie lauert nicht mehr überall, sondern hat eine Gestalt und ist räumlich determinierbar. Auch der Historiker Jean Delumeau betont die kulturelle Verbundenheit der Angst: „Angst ist eine kulturelle Gewohnheit, die im Rahmen einer Gruppe angenommen wird und Situationen bestimmt – seien sie real oder fiktional –, die man als beängstigend empfinden soll“.5 Stereotype Feindbilder Manchmal geben die Medien uns auch fertige Ideenstücke vor, die von dem Rezipienten ohne einen eigenen schöpferischen Erzählerbeitrag referiert werden. Besonders die Information, die aus dem Fernsehen kommt, gibt wenig Gelegenheit zu einer schöpferischen Bearbeitung des visuell Vorgegebenen. Während die auditive Information gewissermaßen distanziert bzw. mittelbar zu dem Rezipienten gelangt, wird das visuell Weitergegebene unmittelbar wahrgenommen (der Mensch tendiert zu glauben, was er sieht). Da die Rolle der visuellen Medien immer weiter wächst, werden immer mehr visuelle Stereotypen generiert, z.B. erscheinen in Tramperfolklore Autofahrer, die wie Antagonisten in Gangster- oder Mafiafilmen aussehen.6 Der Historiker Edgar Wolfrum kommentiert – zwar in einem etwas anderen Kontext – zu diesem Phänomen: „Weil der Film fertige und obendrein ‚lebendige’ Bilder liefert, gerät das Dargestellte leichter als bei anderen Medien und Quellen ungefragt zur geschichtlichen Wahrheit.“7 Die Bereitschaft, verschiedene Probleme an gewisse stereotype Feindbilder zu knüpfen, resultiert aber aus dem Dämonisieren der Mitmenschen. Dazu ein aktuelles Beispiel: Die gängige Vorstellung von einem Islamterroristen – ausschließlich auf Basis des Bildmaterials in Medien zusammengestellt – ist ein Mann mit Kopftuch, mit vor Wut glänzenden Augen, eine Automatikwaffe schüttelnd und allen Ungläubigen ein baldiges Ende versprechend. Fast niemand stellt sich die Frage, ob es sich auf diesen Darstellungen wirklich um Terroristen handelt oder ob es Jugendliche aus dem Nahen Osten sind, die sich vor Langeweile Plastik-Kalaschnikows gekauft, Tücher auf den Kopf gebunden und eine Homevideo gedreht haben, die sie dann den 5 6

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Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Band 1. Hamburg 1985, S. 28. Hiiemäe, Reet: Trampergeschichten und Tramperfolklore. Die Begegnung von Tatsachen und Stereotypen. Folklore als Tatsachenbericht, hg. von Reet Hiiemäe und Jürgen Beyer. Tartu 2001, S. 55-70. Wolfrum (wie Anm. 3), S. 38.

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Nachrichtenagenturen schickten. Welches Machtgefühl muss es geben, wenn man die ganze Welt vor seinem kleinen Spaß zittern sieht. 8 In mancher Hinsicht könnte man diese Bilder ebenso Sekundengeschichten (ein von Helmut Fischer geprägter Begriff zu Radiowerbungen) nennen – sie brauchen praktisch keine weitere Information mehr zu geben, in wenigen Sekunden ist die Botschaft schon klar. Das Bild, das Image trägt schon selbst eine Geschichte, oder anders gesagt, das Bild bewirkt es, dass die schon bekannte Geschichte von selbst automatisch in den Köpfen der Rezipienten abläuft. In der neueren Zeit ist nicht einmal das Videobild nötig, es genügt, wenn man eine Nachricht auf einer Internetseite aufhängt, die dafür bekannt ist, dass Islamradikale dort ab und zu Nachrichten aufhängen – und man kann sicher sein, dass diese Nachricht in den nächsten Tagen in den wichtigsten Tageszeitungen der ganzen Welt reflektiert wird.9 Der für die ältere Volkserzählung so charakteristische Dualismus lebt auch im heutigen massenmedialen Erzählen weiter. Das so genannte Ökonomie-Prinzip – schematische Feindbilder, eine schwarz-weiße Darstellungsweise – macht das Orientieren in der komplexen Welt einfacher und gibt klare Richtlinien fürs Überleben. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter kommentiert: „Es ist dem Menschen in Gefahrsituationen charakteristisch, komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen. Man braucht klar umrissene Feindbilder, auf die man seine eigene Wut externalisieren kann.“10 Wenn eine starke psychologische Krise erscheint, fühlen die Medien sich gezwungen, einen Sündenbock zu finden, der die verschiedensten Seiten der Gefahr in ihrer ganzen Gegensätzlichkeit in sich vereinigen konnte – dazu passen Timothy McVeigh, Saddam Hussein, Osama bin Laden u.a.m. So schaffen die Medien in uns die Vorstellung, als wäre Hussein allein derjenige gewesen, der den irakischen Krieg kämpfte – über die Identität und Mentalität von zehntausenden Soldaten seiner Armee ist meistens nicht die Rede. Auch der amerikanische Präsident George Bush kämpfte angeblich allein gegen Hussein, nicht gegen die unendliche Menschen, die dem Krieg zum Opfer fielen.11 Der Feind ist zwar sehr schlau, die Medien aber geben uns Tipps, wie man ihn erkennen kann. Prinzipiell sollten die Medien neutral sein, aber meistens wählen sie doch eine Seite. Eines der wichtigsten Merkmale des Feindstereotyps ist: Er ist anders als wir. Er ist der Fremde – in der Ufo-Epoche mit einem außerirdischen Aussehen, in der Aids-Epoche ein Drogenabhängiger oder Homosexueller, in der Serienmörder-Epoche ein Mann mit mörderischem Blick, von Bildern der berühmten Serienmörder bekannt, in der Epoche der Islamterroristen ein Mann mit Kopftuch aus einer anderen Religion usw. Als die 8 9 10 11

Vgl. Postimees vom 28. Juli 2004, S. 12. Postimees (wie Anm. 8), S. 12. Richter, Horst-Eberhard: Umgang mit Angst. Hamburg 1992, S. 175. Vgl. Richter (wie Anm. 10), S. 187.

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Nachrichten von weiblichen Suizidterroristen aus Tschetschenien erschienen, fügte man ihnen gleich passende Eigenschaften hinzu. Man stellte diese Frauen einem gefährlichen Mann ähnlich dar – entschlossen, wütend, tollkühn, fast dämonisch. Eine Ausnahme von den oben genannten Typen ist der Ausheiterem-Himmel-Typus – ein Feindbild, das äusserlich keine deutlichen Merkmale aufweist, und dann völlig unerwartet jedoch äußerst feindliches Agieren mit sich bringt, z.B. Joseph Fritzl. Aber auch solche „unglaublichen Fälle“ erklärt man mit dem Anderssein, indem man diese Täter als menschenähnliche Monster darstellt, die sich geschickt als einfache Familienväter, Beamte oder andere normale Gesellschaftsmitglieder verkleidet haben. Im weiteren Sinne beschreibt auch der Mythos von Titanic treffend die latenten Ängste unseres Zeitalters. Aber auch bei diesem Typus gibt es – wohl später – immer Leute, die seine versteckte feindliche Identität schon immer ahnten. Hier sollte man kurz zwei wichtige in Internetforen vorkommende Erzählertypen beschreiben. 1. Identifikator-Typ. Er sagt: „Mir ist was Ähnliches passiert“, bejaht die Information und unterstützt sie mit dem Erzählen einer eigenen Geschichte. 2. Separator-Typ. Er sagt: „Ich weiß, wie es wirklich war und was dahinter steckt“, lehnt die Information (zumindest teils) ab und erzählt Details darüber, wie es wirklich war – im Prinzip erweitert er die schon vorhandene Geschichte. Man hat den Volkskundlern öfters empfohlen, dass sie es öffentlich aussprechen sollen, wenn es sich bei einer Nachricht in den Medien um eine urbane Volkssage handelt. Das habe auch ich einmal während der Aids-Epoche versucht. Ich beschrieb in einem Zeitungsartikel weitbekannte Sujets der AidsThematik, um zu zeigen, dass es sich bei ihnen eigentlich um eine Erzähltradition handelt, die meistens nicht unbedingt die Wahrheit widerspiegelt. Als Kommentar darauf wiesen die Identifikator-Typen auf meine Worte als Beweismaterial, dass auch die Forscher solche Fälle (nicht Geschichten!) kennen, und erzählten, wie ihnen oder ihrem Freund etwas Ähnliches passiert war. Die Separator-Typen lehnten die Realität meiner Beispieltexte ab und erzählten, wie die Sache wirklich ist, d. h. die schilderten etwas andere Narrativtypen der Aids-Thematik. Der Separator-Typ neigt oft zu Verschwörungstheorien. Besonders die Boulevardpresse, aber auch Radio- und TV-Sendungen verstärken die Verschwörungsidee, indem sie besonders scharfsichtig zu sein versuchen, in der Wirklichkeit aber oft zu naiven Lösungen neigen und sozusagen das Böse der ganzen Welt mit einer einzigen Verschwörungstheorie erklären wollen. Auch der Separator weiß immer, wo die Wahrheit liegt und was richtiges Handeln ist. Die Leute, von denen die Medien berichten, wurden deshalb vom Missgeschick ereilt, weil sie falsch handelten. Dabei hat der Separator es sich offensichtlich nicht zum Ziel gesetzt, Richtlinien zur Elimination der Gefahren zu geben,

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sondern eher – wenn auch unbewusst – die Verminderung der Angst erstrebt, die sich mit der im jeweiligen Kontext aktuellen Gefahr verbindet. Somit bieten seine Kommentare vor allem Überlebensstrategien der mentalen Ebene, und nicht der physischen Ebene, und das ist auch der einzige Ort, wo seine, wenn auch unlogischen Methoden, perfekt funktionieren können. Der Separator bleibt in der Position des Zuschauers und Kommentators, der selbst außer Gefahr ist. Diese Position ist ihm durch die Spezifik des Internets gewährleistet. Erstens bleibt er anonym oder nimmt sich eine neue Identität nach Wunsch. Zweitens muss er nicht spontan reagieren, sondern kann sich beliebig viel Zeit zum Nachdenken nehmen. Sein sorgfältig formulierter Kommentar gibt ihm selbst und den anderen Rezipienten das Gefühl, dass es doch jemanden gibt, der weiß, wie die Sachen wirklich sind – auch wenn diese Realität eigentlich ebenso Ängste hervorruft und auf Produkten des massenmedialen Erzählens basiert. Landschaft der Angst Wenn die Rede bisher vor allem von Personen war, so geht es im nächsten Abschnitt um die Landschaft der Angst. Wie wir gesehen haben, kann man mit etwas Phantasie und tendenziösem Interpretieren leicht das Gefährliche harmlos und das Harmlose gefährlich darstellen.12 Die Fähigkeit des Menschen, sich Ängste zu merken oder vorzustellen, zu bearbeiten und zu verdrängen ist begrenzt. Man entwickelt Strategien zu ihrer Bewältigung durch Projektion. „Zu viel Angst vor Gefahr wurde nach außen projiziert und an einen bestimmten Platz gebannt. Man war nicht selbst ängstlich, sondern ein Ort wurde gefährlich.“13 Universell befürchtete Situationen finden oft als Erlebnis des Einzelnen in einem konkreten Ort Darstellung. So entsteht eine Landkarte der Gefährlichkeit, eine visuelle Landschaft der Angst, die es gleichzeitig ermöglicht, die Gefahren zu konkretisieren und in Grenzen zu halten. So erfahren wir von der älteren Überlieferung, dass man z.B. Angst vor Gespenstern nicht überall gehabt hat, sondern es gab gewisse Häuser, Ruinen oder Friedhöfe, die von dem Wissen markiert waren, dass es dort spukt. Wenn wir von der neueren, massenmedial beeinflussten Erzähltradition ausgehen, so lokalisiert man ähnlich Mordhäuser und andere Orte des Verbrechens. Von ihnen erfahren wir mittels Massenmedien – die Zeitungen und TV-Nachrichten beschreiben uns möglichst genau, wie und wo alles passierte und wir diese Straßen und Häuser entweder meiden, oder wir fühlen uns in dieser Umgebung bedroht. Dazu ein Kommentar von einer Kollegin: „Es ist viel ruhiger zu leben, wenn man nichts weiß. Dann weiß man auch nicht, wie man sich fürchtet.“ (Frau, 33 Jahre alt; Tartu 2003.) Eine Art Verneinung oder Vertreibung ist die folgende Lokalisierungsmethode, die alles Gefährliche auf eine ungefährliche 12

13

Jeggle, Utz: Tödliche Gefahren. Ängste und ihre Bewältigung in der Sage. In: Zeitschrift für Volkskunde, 86/1990, S. 53-66, hier S. 56. Jeggle (wie Anm. 12), S. 56.

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Distanz bringt: „Solche Dinge passieren in Amerika, in Afrika, in Entwicklungsländern, nicht bei uns.“ Trotzdem verschwindet die Angst dadurch nicht, sondern erscheint auf neuen Ebenen und erweckt neue Ideen und Vorstellungen. Schlussbemerkung Obwohl das Weltbild des modernen Menschen scheinbar relativ rational ist und viele mythologischen Gefahren ihre Bedeutung verloren haben, sind zahlreiche (wenn auch modifizierte) Gefahren auch heute noch aktuell und werden in der Interaktion mit Massenmedien entsprechend gestaltet und artikuliert. Das massenmediale Erzählen einerseits hilft dem Menschen seine Ängste zu vermindern, indem es gewisse Handlungsrichtilinien vorgibt und Feindbilder in schematischer, leicht erkennbarer Weise darstellt, andererseits aber erwecken vor allem die visuellen Medien furchterregende Gedankenbilder und liefern uns auf suggestiver Weise Ängste und Gefahren, von denen wir sonst frei sein könnten.



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