Spiel:Zeit

May 23, 2017 | Author: Reinhold Görling | Category: Gilles Deleuze, Ecology, Jacques Derrida, Gregory Bateson, Donald W. Winnicott, Phantasy, Play in the theory and practice of art, Homo Ludens, Theories of Play, Phantasy, Play in the theory and practice of art, Homo Ludens, Theories of Play
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SPIEL:ZEIT Reinhold Görling Reinhold Görling Spiel:Zeit Die Spiele benötigen das leere Feld, ohne das nichts voranginge noch funktioniere. Gilles Deleuze1 Und jetzt sind die Fans auf dem Feld. Es ist noch nicht Schluss, meine Damen und Herren, eine Minute noch, das Spiel ist noch nicht aus, das ist der absolute Wahnsinn hier. Es ist noch ’ne Minute zu spielen, jetzt sind alle auf dem Feld… Tom Bartels2

Meist denken die Kulturwissenschaften über Begriffe nach, wenn sich die Praktiken, die mit ihnen bezeichnet werden, verändert oder verschoben haben. Was ist heute Spiel? Schaut man in einer U-Bahn einer Großstadt von seinem Smartphone auf und wagt den Blick auf die Mitfahrenden, wird man sich bewusst, dass man einer unter vielen war, die gerade gespielt haben: mit einem kleinen Computerspiel oder mit seinem Facebook-Account, mit Instagram oder auch nur mit seinen Emails. Es werden immer weniger, die ohne ein solches Hilfsmittel noch ihren Tagträumen nachgehen. Natürlich gibt es daneben noch das große Spielereignis, etwa im Sport. (Und auf ein solches Beispiel werde ich auch etwas näher eingehen.) Sicher gibt es auch bisweilen noch den Spieleabend, an dem eine Familie etwa beim Kartenspiel zusammensitzt. Aber viel häufiger wohl verfolgt man im Familienverbund eines der Spielformate, aus denen der größte Teil des Fernsehprogramms besteht. Oder zwei Jugendliche sitzen an der Spielkonsole oder schauen einzeln, jede oder jeder für sich auf ihre Smartphones und das Online-Spiel, von dem sie sich den

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Gilles Deleuze, »Woran erkennt man den Strukturalismus?«, in Geschichte der Philosophie, hg. v. François Châlet, Bd. VIII (Frankfurt a.M.: Ullstein, 1975), S. 269–302 (S. 292). 2 Tom Bartels, ARD, 15.5.2012. Eine Teilaufzeichnung ist über YouTube zugänglich. Die hier zitierte Passage beginnt etwa bei Minute 10: [letzter Zugriff 9.4.2016].

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ganzen Tag begleiten lassen. Spiele sind so ubiquitär wie die Computer. Sie lassen sich nicht mehr räumlich begrenzen. Sie sind heute mit der Tagträumerei ebenso eng verknüpft wie mit der Arbeit. Ist nicht bei jeder Benutzung eines Interface Spiel mit im Spiel? Und wenn auch nicht ausschließlich, dann aber doch so kontinuierlich, dass es schon quantitativ alle anderen Praktiken des Spiels zu dominieren scheint. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen möchte ich im Folgenden Vorschläge für einen ökologischen Begriff des Spiels aufsuchen: Gemeint ist damit weniger eine Ökologie des Spiels als abgegrenztem Bereich, eher geht es mir um eine Weise der Bezogenheit, die sich von anderen Weisen, etwa der traditionellen Bezogenheit der Arbeit, unterscheidet. Darüber hinaus aber geht es mir darum zu zeigen, dass Ökologie im Wesentlichen als ein Spiel zu begreifen ist. Spiel ist eine Weise der Relationalität, in der Lebewesen oder Dinge aufeinander bezogen sind, ohne dass sie ihre Selbstständigkeit verlieren und ein Drittes, ein Produkt werden. Was aber nicht bedeutet, dass sich die Lebewesen oder die Dinge nicht verändern würden. Spiel ist mit Kreativität verbunden, aber eben nicht gerichtet auf die Herstellung eines Produktes. Das Spiel in der Türangel stellt die Bedingung für Bewegung, es wird irgendwann zu quietschen beginnen, wenn es nicht geölt wird. Die Mechanik der Lebensweisen ist komplexer. Time is out of joint: Bewegung und Zeit sind nicht mehr automatisch verknüpft. Es ist ein Spielraum zwischen ihnen entstanden. Schon für Hamlet bedeutete das, dass er auf ein Spiel, auf das Theater, setzte, um die Zeit und die Generationenfolge wieder zurecht zu rücken. Vergeblich. Aber mit »Hamlet« haben wir das Spiel, das zu einem Spiel im Spiel geworden ist. Das Spiel ist immer ein Spiel im Spiel, das sich im leeren Feld eines Zwischenraums von Bezogenheiten entfaltet. Ich möchte dieser These zunächst entlang einiger vornehmlich psychoanalytisch orientierter Theorien nachgehen.

HOMO LUDENS

Schon als Johan Huizinga in seiner 1938 erschienenen Studie »Homo ludens« der geläufigeren Anthropologie des homo faber die des spielenden Menschen gegenüberstellte, tat dies der bekannte Kulturhistoriker vor dem Hintergrund einer Veränderung, ja vielleicht der Gefahr des Verschwindens des spielenden Menschen. Huizinga nimmt in seinem 20

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Buch neben der Gegenüberstellung von Arbeit und Spiel, Notwendigkeit und Freiheit, Alltag und Fest, Ernst und Freude auch Bestimmungen auf, die sich solchen binären Zuordnungen stärker entziehen: Darstellung bzw. Performativität, Wettkampf, sowie ein Moment der Entgrenzung: »Das Spiel bindet und löst. Es fesselt. Es bannt, das heißt, es bezaubert.«3 Damit daraus wiederum kein Ernst werde, gehöre zum Spiel auch eine Regelhaftigkeit und raumzeitliche Begrenzung, es müsse wiederholbar sein. Am Ende seiner Studie, als er über das »Spielelement in der heutigen Kultur« schreibt, verlieren gerade angesichts von Militarismus, Faschismus und Stalinismus die erwähnten Gegenüberstellungen allerdings sehr deutlich an Schärfe, und auch die Bestimmung der Wiederholbarkeit wird fragwürdig. Viele Spielformen seien zum Puerilismus verkommen, zu sozialen Formen, die eher der »Pubertätszeit oder der Knabenjahre« zuzurechnen seien, wozu er »das leicht zufriedengestellte, aber nie gesättigte Bedürfnis nach banaler Zerstreuung, die Sucht nach der groben Sensation, die Lust an Massenschaustellungen«4 zählt. »Viele dieser puerilen Züge findet man auch in früheren Kulturperioden in reichlichem Maße, niemals jedoch in der Massierung und nie mit der Brutalität verbunden, mit der sie sich im heutigen öffentlichen Leben breitmachen.«5 Diese Gegenüberstellung der beiden Anthropologien des homo faber und des homo ludens findet in einem historischen Augenblick statt, der beide Konzepte infrage stellt. Die Idee des schaffenden Menschen erweist sich angesichts der im Ersten Weltkrieg realisierten Kraft der Destruktion und der Verselbstständigung der Produktion durch die kapitalistische Organisationsweise und durch die Technologisierung als ein Rückblick auf handwerkliche und bäuerliche Lebensverhältnisse. Die Idee des spielenden Menschen erscheint angesichts der Durchsetzung des Ökonomischen und des Politischen mit Spielformen, wie sie Huizinga in der Organisation der Wirtschaft oder auch im US-amerikanischen Wahlkampf beobachtet, einerseits, der Ökonomisierung und Politisierung des Spiels im Sport oder eben im Totalitarismus andererseits ebenfalls als Rückblick in die Geschichte. Die Feier der Arbeit als

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Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (Reinbek: Rowohlt, 2004), S. 19. 4 Ebd., S. 221. 5 Ebd., S. 222.

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Selbstschöpfung des Volkes im Nationalsozialismus6 und die Feier des Spiels im inszenierten Aufmarsch im Sportstadion sind zwei korrespondierende Ausdrucksformen einer Einbindung von Lebensformen in einen umfassenden sozio-politischen Organisationszusammenhang. Arbeit und Spiel verlieren dabei sehr weitgehend das, was sie einmal unterschied. Arbeit als zweckgerichteter Bezug auf etwas, das nicht schon das Selbst ist, verschwindet in der Egologie der Selbstbezogenheit eines vorgestellten Volkes, Spiel als nicht-zweckgerichtete Bezogenheit auf die Welt verschwindet in der Einbettung des Spiels in andere Zwecke. Huizinga hatte seit 1915 den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der Universität Leiden inne und kritisierte 1933 als amtierender Rektor der Universität den Antisemitismus in Deutschland öffentlich, was ihm sehr schnell das Verbot seiner Schriften durch die deutsche Reichsschrifttumskammer einbrachte. 1942 wurde er für einige Monate im Geisellager St. Michielsgestel interniert. Er starb noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges. Es ist merkwürdig, wie selten diese Ahnung vom Ende des Spiels, die sich im letzten Kapitel seines zum Klassiker der Spieltheorie gewordenen Buchs ausdrückt, in der späteren Diskussion aufgenommen wird. Das gilt mit Einschränkung auch für das 1958 erschienene Les jeux et les hommes von Roger Caillois, der sich explizit auf Huizinga und seine Analyse der Funktion des Spiels in Kultur und Gesellschaft bezieht. Auch Caillois nimmt die aufscheinende Befürchtung vom Ende des Spiels nicht direkt auf, er geht aber von einer viel weiteren Diversifizierung des Spiels in allen Bereichen der Gesellschaft aus, davon, dass es seine räumliche Begrenzung verloren habe, woraus sich für ihn die Notwendigkeit ergibt, sich auf die Beschreibung der Formen des Spiels zu konzentrieren.7 Agôn, alea, mimicry und ilinx sind die vier Kategorien, mit denen Caillois diese kulturelle Praktik analysiert. Folgt man Caillois, reicht keine dieser Kategorien alleine hin, dass man von einem Spiel sprechen kann. Gemeinsam ist ihnen, dass jede eine etwas andere Art des Selbstverlustes benennt, zumindest der partiellen Auflösung der Grenzen zwischen dem eigenen und dem anderen oder dem Innen und dem Außen. Im Wettkampf verliert man das Gefühl für die Vielfältigkeit der eigenen Interessen und widmet sich nur einem Ziel.

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Siehe: Werner Hamacher, »Arbeiten Durcharbeiten«, in Archäologie der Arbeit, hg. v. Dirk Baecker (Berlin: Kadmos, 2002), S. 155–204. 7 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch (München/ Wien: Alfred Langen, 1964), S. 10.

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Im Zufall hat man seine eigenen Handlungsmöglichkeiten einem nicht mehr berechenbaren Mechanismus übergeben. In der Mimikry nimmt man eine andere Identität ein, und im Rausch erlebt man den Verlust der Kontrolle des Selbst. Es ist die Kombination oder das sich zwischen diesen Formen auftuende Feld, das die einzelnen Formen des Selbstverlustes erst zum Spiel werden lässt. Die vier Formen des Selbstverlustes korrigieren sich gewissermaßen selbst. Zusätzlich unterscheidet Caillois noch zwischen dem weitgehend regellosen paidia der Kinder und dem stärker regelgeleiteten ludus der Erwachsenen, was mit der in der englischen Sprache gebräuchlichen Differenz zwischen play und game korrespondiert. Spiel braucht ein Feld, einen Spielraum oder auch eine Spielzeit, eine Differenz in der Folge oder eine nicht festgelegte Beziehung zwischen Serien. Brechen diese Differenzen ein, schließt sich das Feld, löst das Spiel sich auf, oder aber es entsteht ein neues Spiel, aus neuen Differenzen. Nehmen wir ein Beispiel: Am 15.5.2012 fand in Düsseldorf ein sogenanntes Relegationsspiel statt, bei dem es für die erste Mannschaft des Fußballvereins Hertha BSC um den Verbleib in der Ersten Bundesliga, für die von Fortuna Düsseldorf um den Aufstieg in eben diese Spielklasse ging, wie eine übliche Redewendung lautet. Einige Tage zuvor hatte das Hinspiel in Berlin stattgefunden und war von der Düsseldorfer Vereinsmannschaft mit 1:2 gewonnen worden. Für sie genügte es, beim Rückspiel in Düsseldorf ein Unentschieden zu erzielen. Der Schiedsrichter hatte eine Nachspielzeit von sieben Minuten angeordnet, weil Fans des Berliner Vereins bei einem Spielstand von 2:2 Leuchtkörper auf den Platz geworfen hatten, offensichtlich mit der Absicht, einen Spielabbruch zu provozieren. Etwa eine Minute vor dem Ende der Nachspielzeit missinterpretierte eine Reihe von Zuschauern einen Pfiff des Schiedsrichters, der signalisieren sollte, dass der Ball im Toraus gelandet sei und ein Abschlag des Torwartes folgen sollte, als Schlusspfiff und lief jubelnd auf das Spielfeld. Das Geschehen kommentierte der Fernsehreporter der ARD mit den im Motto oben zitierten Worten. Dekontextualisiert man das Zitat, wie ich es ja getan habe, könnte es auch so verstanden werden, dass der Reporter seinen Zuhörern den eigentlichen Höhepunkt des Spiels beschreibt: »das Spiel ist noch nicht aus, das ist der absolute Wahnsinn hier«. Tatsächlich war ja ein neues Spiel entstanden, eines, das auch nicht einfach neu erfunden wurde. Das Stürmen des Platzes nach dem Ende der Partie gehört wohl durchaus zu einer tolerierten Praktik gegen23

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wärtiger Sportveranstaltungen, ein Spiel nach dem Spiel auf dem leer gewordenen Feld. Was ein wenig durcheinandergekommen war, war das Zeitverhältnis, in dem das Spiel der aktiven Spieler und das Spiel der Zuschauer zueinander stehen sollten. Mit Caillois’ Kategorien könnte man die Situation im Stadion etwa so beschreiben, dass auf dem Feld 90 Minuten lang agôn und alea die wichtigste Relation aufspannen, Schauspiel und Rausch vom Schiedsrichter aber begrenzt und nur in bestimmten vorgegebenen Bahnen zugelassen sind, während auf der Tribüne mimikry und ilinx vorherrschen, in den Masken und Schminken, in den Gesängen und Tänzen, Wettkampf und Zufall aber eine geringere Rolle spielen. Beide Spielreihen, die eigentlich zeitlich parallel, aber räumlich getrennt aufeinander bezogen verlaufen sollten, stießen nun räumlich aufeinander. »Wahnsinn«, wie der Reporter in sein Mikrophon rief, und »unterirdisch«, wie er wenig später die Aktion eines jungen Mannes kommentierte, der mit einem messerähnlichen Gegenstand einen Elfmeterpunkt aus dem Rasen ausschnitt. Tatsächlich gelang es nach einiger Zeit, diese beiden Spielreihen wieder für die noch fehlende Minute voneinander räumlich zu trennen und das Fußballspiel fortzusetzen. Als dann nach einer Minute der tatsächliche Schlusspfiff ertönte, stürmten einige hundert Menschen auf den Platz und begannen die Feier erneut. Viele hatten ihr Smartphone gezückt und fotografierten oder filmten das Geschehen. Bald waren sie auch zu sehen, wie sie sich selbst ihre Aufnahmen ansahen oder anderen zeigten, während um sie herum weitere Menschen sich in die Arme fielen. Die Fernsehaufzeichnung zeigt eine Frau, die einen Spieler, der sein Hemd ausgezogen hatte, umarmt und küsst. Die Sexualität der Handlung ist so offen, dass man annehmen möchte, die beiden sind auch außerhalb dieses Spielfeldes ein Paar. Allerdings lässt der Spieler sie danach einfach stehen. Andere erklettern das Torgerüst und beginnen, es in tragbare Trophäenstücke zu zerlegen. Sieht man genauer hin, erweist sich das eine Spiel »Siegesfeier« als ein aus vielen Reihen einzelner Spiele zusammengesetzter Zusammenhang.

E C O LO GY O F P L AY

Einige Jahre bevor Caillois Les jeux et les hommes publizierte, hatte Gregory Bateson den Aufsatz »A Theory of Play and Fantasy« in der Zeitschrift A.P.A. Psychiatric Research Reports des Amerikanischen Verbandes für Psychiatrie veröffentlicht, wobei es sich ursprünglich um 24

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einen 1954 in Mexiko gehaltenen Vortrag handelt. Was unterscheiden wir, wenn wir zwischen Spiel und Nichtspiel differenzieren? Bateson zieht eine Reihe von vor allem kommunikationstheoretischen Umschreibungen dieser Differenz heran, etwa die Unterscheidung zwischen Karte und Grund, zwischen verschiedenen Graden der Abstraktion, zwischen Ritualen der Bezeichnung und dem Bezeichneten, wie es etwa in Friedenszeremonien der Fall ist. Des Weiteren setze die Unterscheidung zwischen Spiel und Nichtspiel eine Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität voraus. Bateson bezieht sich hierbei auf den psychoanalytischen Begriff des Primärprozesses. Wie das Träumen verlaufe auch der Primärprozess vermutlich kontinuierlich, während die Sekundärprozesse ein Selbst einschließen, das die Folge von Aussagen separieren, befragen und sie so aufeinander beziehen kann. »Within the dream the dreamer usually is unaware that he is dreaming, and within a ›play‹ he must often be reminded that ›This is play‹.«8 Spiel sei durch eine besondere Kombination von Primär- und Sekundärprozessen charakterisiert: »In primary process, map and territory are equated; in secondary process, they are discriminated. In play, they are both equated and discriminated.«9 Nicht allen Menschen sei diese für das Spiel charakteristische Rahmung des Spiels, in der es zugleich eine Kontinuität der Folge und eine Identität von Teilen gibt, in gleichem Maße möglich. So ist die Kommunikation eines Schizophrenen dadurch gekennzeichnet, dass für ihn ein »metacommunicative framing«10 erschwert sei und deshalb auch die Differenz zwischen Primär- und Sekundärprozessen eingezogen würde. In der Therapie würde angestrebt, dieses Spiel der Sprache wiederherzustellen. Der Schizophrene müsse lernen, den metaphorischen Charakter der Sprache zu erkennen, der Neurotiker, dass in den Zeichen nicht nur eine Bedeutung, sondern auch ein übertragener, primärprozesshafter Sinn sei. Beiden mangelt es also an der Möglichkeit eines metaphorischen Sprechens, der Schizophrene verwechselt den metaphorischen Sinn mit dem wörtlichen, der Neurotiker schneidet den metaphorischen Sinn in seinem konkretistischen Sprachgebrauch ganz ab.

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Gregory Bateson, »A Theory of Play and Fantasy«, in Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology (San Francisco: Chandler Pub, 1972), S. 138–48 (S. 143). 9 Ebd. 10 Ebd., S. 146.

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Bateson macht deutlich, dass ein solches Unterscheidungsvermögen keinesfalls auf den Menschen beschränkt ist, er nennt Affen, Katzen und Otter als Beispiele für Tiere, die über diese Fähigkeit des Spiels ebenfalls verfügen. Nun darf man sich Batesons Begriff der Metakommunikation keineswegs in der Weise vorstellen, wie etwa die Systemtheorie von Niklas Luhmann die Figur des Beobachters oder die Unterscheidung Form/Medium versteht. Bateson spricht explizit von einer paradoxen Rahmung des Spiels, es gibt in diesem Sinne auch keine auf die erste bezogene zweite Ebene, von der aus es möglich wäre, den Status der ersten zu interpretieren. Für Bateson sind es zwei gleichzeitig wirkende Kommunikationsvorgänge. Kommunikationstheoretiker aus dem Umkreis von Bateson, wie etwa Paul Watzlawick, führten eine Unterscheidung zwischen Sach- und Beziehungsebene ein. Batesons Theorie des Spiels unterscheidet jedoch anders und komplexer, da ja die Differenz zwischen einer metaphorischen und einer wörtlichen Weise des Sprechens in jedem Moment und auch auf beiden Seiten, den sachbezogenen wie den beziehungsbezogenen Informationen, zugleich stattfindet. Die Komplexität, welche durch die Gleichzeitigkeit von primär- und sekundärprozesshaften Kommunikationsvorgängen entsteht, beruht auf einer Art paradoxen Aus- und zugleich Einsetzung des non-sequitur.11 Etwas ist in einer logischen Folge von Einzelnem und zugleich ist es von ihr in der reinen Kontiguität suspendiert. Überträgt man dies auf unser Beispiel des unterbrochenen Fußballspieles, lässt sich eine zu Caillois’ Unterscheidungen vielleicht nicht im Widerspruch stehende, jedoch sehr unterschiedliche Beschreibung denken. Im Grunde muss das Paradox der gleichzeitigen Wirksamkeit von Primär- und Sekundärprozessen auf alle vier Kategorien Anwendung finden, die Caillois anführt. Ob im Rausch, im Wettkampf, in der Mimikry: immer gibt es das Zugleich von fließender Kontingenz und unterbrechender Identität, von wörtlicher und übertragener Weise des Bezugs auf die Zeichen und Praktiken. Und vielleicht ist es sogar mit der Frage des Zufalls ähnlich: Die Akzeptanz des Zufalls verletzt ja strikt genommen das logische Denken, das von einem zureichenden Grund aller Geschehnisse ausgeht und akzeptiert die Nichtbeachtung des non-sequitur durch den Primärprozess. Es gibt bei Bateson auch eine Beziehung zwischen paidia und ludus, aber sie liegt eher in der Weise der Kombination zwischen wörtlicher 11

Ebd., S. 142.

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und übertragener Bedeutung und kann im Laufe des Spiels auch immer neu verhandelt werden. Eine Psychotherapie versteht Bateson explizit als einen Prozess, in dem diese Neuverhandlung der Regeln stattfindet. Dies geschehe aber implizit,12 was einmal mehr deutlich macht, dass es Bateson mit seinem Begriff der Metakommunikation nicht um eine Form von Beobachtung geht, sondern um ein der Kommunikation inhärentes paradoxes Verhältnis. Genau genommen besteht das Neuverhandeln in einer Veränderung der Relation zwischen Kontiguität und Identität. Verkoppelungen werden hinterfragt, andere Kontiguitäten werden möglich. Unter diesem Gesichtspunkt arbeiten das Spiel der Psychotherapie und das Spiel der Kunst, einschließlich eingreifender Inszenierungen im öffentlichen Raum, analog. Auf das Beispiel des abgebrochenen und wieder aufgenommenen Fußballspieles bezogen könnte man etwa sagen, dass die Menge, die den Rasen stürmt, und die Gruppe der Menschen, die noch nicht von einem Spielende ausgehen, sich in einem äußerst intensiven Prozess des Aushandelns über die Regeln des Spiels und die Regeln, die die Relation zwischen Kontiguitäten und Identitäten normalisieren, befinden. Aber auch andere Momente des Geschehens lassen sich erweitert beschreiben, vor allem solche, bei denen eben nicht mehr klare Vorgaben der Regeln vorherrschen und bloß ein Schiedsrichter über ihre jeweilige Anwendbarkeit entscheidet. Die Menge, die den Platz stürmt, muss die Regeln ihres Tuns selbst aushandeln. Das beginnt ja schon mit der Erstürmung des Feldes, welche weniger die Regeln des Spiels verletzt, als dass es selbst eine Art gespielter Okkupation eines Niemandslandes darstellt, und, denkt man an die Mitnahme von Trophäen, eigentlich eines fremden Territoriums. Die Frau, die dem Spieler mit dem entblößten Oberkörper um den Hals fällt, verspricht sich ihm, wenn auch der Status des Versprechens offen bleibt. Und die meist männlichen Platzstürmer, die das Geschehen mit ihrem Smartphone festhalten, handeln eben mit diesem Tun gleichfalls einen Status aus, etwa den, dass es sich um ein erinnerungswürdiges Ereignis handelt, das doch zugleich ein Spiel ist; oder den, dass es sich um ein Spiel oder eine Performance handelt, um eine Darstellung, um einen Akt, in dem das, was dieser bedeutet, die Besetzung eines Feldes, nicht ganz oder nicht nur das ist, was er zu sein vorgibt. Überhaupt lässt sich der Gebrauch von visuellen Aufzeichnungsgeräten als eine immer weiter verbreitete Praxis des Spiels und der Kombi12

Ebd., S. 147.

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nation von wörtlichem und übertragenem, d.h. automatisiert kontingentem und metaphorischem, das Spiel öffnenden Sinn verstehen: Denn mit der fotografischen Fixierung wird ein Ereignis zum Zeichen und zur Performance, zu etwas, das raumzeitlich übertragbar und darstellend ist. Das Ereignis bekommt Geschichte und Sozialität. Die fotografische Fixierung führt damit unweigerlich eine Differenz zwischen Karte und Territorium, Zeichen und Bedeutung und schließlich auch Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ein. Entsteht das fotografische Bild aus der Interaktion der Beteiligten, dann intensiviert es als Praxis in der Regel die aktuelle Dimension des Spiels oder markiert ein Handeln als Spiel. In allen diesen Handlungen liegt aber eine Gleichzeitigkeit von primär- und sekundärprozesshaftem Verhalten vor. Folgt man Bateson, ist eine Kommunikation, in der nicht beide Prozesse wirksam sind, eine Ausnahme. Auch die Kommunikation von Tieren kennt neben moodsigns bzw. »Stimmungszeichen«,13 die eine quasi automatische Reaktion auslösen, solche Zeichen, die als vorgetäuschte oder gespielte moodsigns zu verstehen sind, und schließlich wohl auch Zeichen, die es für das wahrnehmende Tier möglich machen zu entscheiden, ob es sich um ein vorgetäuschtes mood-sign handelt oder nicht.14 Streng genommen gibt es keine Kommunikation, die nicht auch zugleich in Batesons Sinne metakommunikativ wäre. Die Aussagen über die mangelnde Fähigkeit des Schizophrenen zur Unterscheidung zwischen metaphorischer und buchstäblicher Bedeutung von Zeichen stehen im Übrigen schon im Kontext der Forschung zur kommunikationstheoretischen Erklärung psychischer Störungen, an denen Bateson führend beteiligt war. Ihr Fokus lag auf der Analyse von sozialen Beziehungen, in denen jemand, der sich in Abhängigkeit befindet, durch zwei auf ein und derselben Abstraktionsebene liegende aber sich widersprechende Botschaften doppelt gebunden wird. Man könnte auch sagen, die beiden Kommunikationsereignisse sind extrem kontingent und zugleich extrem diskontinuierlich. Sie lassen sich nicht in einen Rahmen bringen oder mit einem Grund verbinden. Für die adressierte Person ist es unmöglich, den Widerspruch zwischen den Botschaften zu thematisieren, das Indivi-

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Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985), S. 257. 14 Bateson, Ecology, S. 146.

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duum »cannot make a metacommunicative statement«.15 Im Ergebnis bedeutet dies, dass sich das Individuum weder gegenüber dem Sender der Botschaft situieren, noch mit der Zweideutigkeit der Botschaft spielen kann. Man könnte es auch so beschreiben, dass die primär- und die sekundärprozesshaften Vorgänge voneinander abgekoppelt und mechanistisch verschweißt oder isoliert werden. In den von Bateson schizophren genannten Formen findet eine unmittelbare Koppelung statt, der Spielraum fällt aus, in den neurotischen Formen gibt es wegen der Isolierung der Vorgänge keinen Spielraum. Damit wäre aber auch deutlich, dass es nicht einen Ort der Metapher und einen des Wörtlichen gibt. Metakommunikation wäre, dass sich das leere Feld zwischen dem wörtlichen und dem metaphorischen Sinn auftut, dass es möglich ist, mit leerem Mund zu sprechen, wie Nicolas Abraham und Maria Torok so eindringlich formuliert haben.16 Die Sammlung seiner Aufsätze, in der Bateson 1972 diesen Vortrag erneut publizierte, trägt den Untertitel »Steps to an Ecology of Mind«. Bateson verstand diese Ökologie der Ideen oder des Denkens und ihrer Beziehungen als Teil einer größeren Ökologie, »within which that relationship exists«.17 Dabei definiert Bateson die Ökologie des Denkens als Gefüge von Relationen, in dem jedes Denken selbst wieder etwas verändert, ebenso wie sich selbst. Er sieht diese Ökologie durchaus in der Tradition der Psychoanalyse, nur dass er die Vielfältigkeit der Beziehungen nun nicht mehr nur im Innern des Subjekts aufsucht. »Freudian psychology expanded the concept of mind in-wards to include the whole communication system within the body – the autonomic, the habitual, and the vast range of unconscious process. What I am saying expands mind out-wards.«18 Aber wie es auch für die inneren Vorgänge gilt, dass jeder Gedanke eine Veränderung des Denkens selbst herbeiführt, so lassen sich auch im äußeren Denken keine Hierarchien ausmachen, es gibt kein Denken, das über einem anderen stünde. Im Maße der Entfaltung seiner ecology of mind schwächt sich auch die Differenz zwischen einer direkten Kommunikation und dem, was Bateson Metakommunikation nennt,

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Ebd., S. 157. Nicolas Abraham und Maria Torok, »Mourning or Melancholia: Introjection versus Incorporation«, in dies., The Shell and the Kernel. Renewals of Psychoanalysis I (Chicago: University of Chicago Press, 1994), S. 125–38 (S. 127). 17 Bateson, Ecology, S. 353. 18 Ebd., S. 326. 16

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immer weiter ab. Wenn alle Kommunikation ihre eigenen Bedingungen verändert, wenn sie sich niemals zwei Mal in derselben Weise ereignen kann, oder, wie Bateson in einer Abwandlung eines Heraklit-Zitates in einer von der Zeit der Entstehung des Textes deutlich geprägten Weise sagt, wenn es zutrifft, dass »No man can go to bed with the same girl for the first time twice«,19 dann fällt der ökologische Gesichtspunkt der Kommunikation weitgehend mit dem zusammen, was in den früheren Texten von Bateson Metakommunikation genannt wurde. Es macht im ökologischen Sinne einen Unterschied, ob etwas als Lebensbedrohung oder als Spielgebärde wahrgenommen wird, und erst mit dieser Wahrnehmung aktualisiert sich auch die Differenz. Ökologie ist immer ein Spiel der Verkettung, das Aushandeln von Kontiguität und Differenz. Was verbindet sich, was bildet ein Gefüge, oder, vom Gefüge her gedacht, wie entstehen die Differenzen in einer Kontiguität, die wohl nicht kontinuierlich ist, die aber keine definierten Einheiten kennt. Das hat aber auch zur Konsequenz, dass der ökologische Zusammenhang der Kommunikation keine klaren Positionierungen zwischen Sender und Empfänger oder aktivem und passivem Teil kennen kann, weil jede Äußerung wie alle Handlung immer auch etwas ist, das man selbst erleidet: In einer äußeren ecology of mind wie in einer inneren Mannigfaltigkeit der psychischen Prozesse. Kommunikation findet in diesem Sinne immer in einer middle voice, im Medium statt, selbst dann, wenn sich der Sprecher als aktiv Handelnder situiert glaubt.20 Die eingeschränkte Unterscheidbarkeit und vor allem Situierbarkeit von aktiven und passiven Positionen in der middle voice hat nun mit der Differenz zwischen Primär- und Sekundärprozessen insoweit etwas zu tun, als nur die Sekundärprozesse von einer Situierung eines Ichs geprägt sind. In den Primärprozessen ist, wie im Raum des Spiels und wie in der Phantasie, das Subjekt als ein in einer Szene verteiltes anwesend. In diesem Sinne lassen sich dann tatsächlich auch Elemente einer ecology of mind

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Ebd., S. 211. Le Moyen, the middle voice, das Medium ist eine in den indogermanischen Sprachen bekannte Diathese, die keine nach außen gerichtete Bewegungsrichtung hat, auch keine reflexive, die nach sich zurückwendet, und keine passive, die von außen kommt. Émile Benveniste spricht in einem Aufsatz aus dem Jahre 1950, der den Beginn der philosophischen Diskussion des Mediums markiert, von einer »internen Diathese« (Émile Benveniste, Problèmes de linguistique générale (Paris: Gallimard, 1974) Bd. 1, S. 174).

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mit den Primärprozessen der inneren Psyche vergleichen: Es sind Szenen oder szenische Elemente, in denen das Subjekt als verteiltes oder auch zerstreutes anwesend, in denen es aber an keinem festen Platz und mit keiner festen oder abgegrenzten Identität situiert ist. Ein Spiel in Batesons Sinne entsteht dann dadurch, dass der oder die Spielende den eigenen Ort oder die eigene Identität partiell oder temporär aufgibt, um in eine Szene einzutauchen. Von der anderen Seite der Bewegung her gesehen besteht das Spiel darin, in einer Szene zu sein, in der das metaphorische Spiel der Übertragung stattfinden kann. Dieses Spiel der Übertragung ist vielleicht sogar Voraussetzung für Veränderung, denn es muss ja das, was wörtlich ist, in einer veränderten Situation neu aufgegriffen werden. Zeit ist metaphorische Bewegung. Wenn unbewusste Seelenvorgänge, wie Freud sagt, »an sich ›zeitlos‹ sind«,21 heißt das dann, dass man etwa bei der Verdichtung und Verschiebung, den typischen Prozessformen des Unbewussten, gar nicht von Übertragung sprechen kann, da in der Übertragung sekundärprozesshafte Elemente beteiligt sein müssen? Dass die Übertragung die Relationen zwischen Gefüge und Identität, bzw. Karte und Grund betrifft?

P H A N TA S I E

Wenn in einer primärprozesshaften Wahrnehmung das Subjekt selbst ein verteiltes ist, dann kann auch die Differenz zwischen einem Innen und einem Außen nur noch eingeschränkt Gültigkeit beanspruchen. Jedenfalls gilt in einer Reihe von psychoanalytischen Theorien, prominent in Julia Kristevas Theorie der Abjektion, die Scheidung zwischen einem Innen und einem Außen als die basale Differenzierung, aus der das Ich, das diese Differenzierung vollzieht, sich selbst schafft, emergiert.22 In primärprozesshaften Vorgängen kommt es mithin auch zu einem Triebgeschehen, das in gewissem Sinne unmittelbar mit dem Äußeren verbunden ist, sich unmittelbar an ein Äußeres heftet. Bleibt es wohl sicher richtig, dass energetisch gesehen es eine innere Repräsentanz geben muss, die vom Trieb besetzt werden kann, so muss man doch auch davon ausgehen, dass diese Repräsentanz nicht immer ein inneres 21

Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, in ders., Gesammelte Werke XIII (London: Imago, 1940), S. 1–70 (S. 28). 22 Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection (Paris: Éditions du Seuil, 1980).

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Objekt ist, das sich von einem äußeren klar unterscheiden ließe. Im Sinne der Triebökonomie denkbar wird das in dem Maße, in dem wir nicht mehr von einem Objekt ausgehen, das vom Trieb besetzt wird, sondern eben von einer Szene, in der es gar keine klaren Subjekt-ObjektPositionen gibt. Vielleicht ist es auch gar nicht so zwingend, den psychoanalytischen Begriff der Triebbesetzung im Sinne einer Okkupation einer Repräsentation, eines Bildes, eines Zeichens, zu verstehen. In seinen Aufzeichnungen zu einem 1977 gehaltenen Seminar mit dem Titel »Qu’est-ce que tenir un discours? Recherche sur la parole investie« spürt Roland Barthes im Wort investissement ein theatrales Moment auf. Investissement ist die französische Übersetzung des Freudschen Terminus Besetzung, und Barthes verweist darauf, dass dieses Wort eine Bedeutungsdimension besitze, die dem deutschen Wort Besetzung fehle. So führe der Dictionaire Littré eine lange etymologische Geschichte des aus dem Lateinischen stammenden Wortes an, die mit An- oder Bekleiden verbunden ist, etwa mit dem Bekleiden einer Robe, aber auch eines Amtes.23 Barthes entgeht dabei übrigens, dass auch das deutsche Wort Besetzung in einem ähnlichen Sinne benutzt werden kann. Wir sprechen ja etwa davon, dass man eine Stelle besetzt, eine Arbeitsstelle, aber auch eine Position in einem Spiel, insbesondere eine Rolle in einem Theaterstück oder einem Film. Wie in seiner Theorie der écriture, in der Barthes sein Verständnis der moyenne oder der voix moyenne entfaltet hat,24 geht es ihm auch in der hier vorgestellten Theorie des Diskurses um das Medium: »Et toujours se rappeler le carrousel Activ/Passiv. Investir un discours = être investi par un discours.«25 Die Besetzung einer Rolle und durch eine Rolle ist nun weniger als eine Art Identifikation oder Einfühlung in ein Subjekt zu verstehen denn eben als ein Eingehen in eine Szene, in eine theatrale Konstellation. Barthes’ Hinweis auf das Theatrale im psychoanalytischen Begriff des investissement verdankt den Arbeiten von Jean Laplanche und JeanBertrand Pontalis entscheidende Hinweise. Seinen eigenen Diskurs einleitend zitiert er den Eintrag zu diesem Begriff in ihrem Vocabulaire de

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Vgl. Roland Barthes, »Qu’est-ce que tenir un discours? Recherche sur la parole investie«, in ders., Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens (Paris: Éditions du Seuil, 2002), S. 195. 24 Vgl. Roland Barthes, »Écrire, verbe intransitif?«, in ders., Le bruissement de la langue. Essais critiques IV (Paris: Éditions de Seuil, 1984), S. 21–31. 25 Barthes, Qu’est–ce que tenir un discours, S. 196.

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la psychoanalyse. Aber es ist wohl ihre Interpretation des Freudschen Begriffes der Phantasie, in der sich dieses theatrale Moment am deutlichsten zeigt. In ihrem Essay »Fantasme originaire, fantsames de origine, origine du fantasme«, 1964 erstmal in Les Temps Modernes erschienen, betonen Laplanche/Pontalis, dass Freud sehr bewusst den Begriff der Phantasie sowohl einerseits für das Vermögen der Phantasie als auch für die einzelne Vorstellung benutzt hat, wie auch andererseits, was in unserem Zusammenhang noch wichtiger ist, sowohl für unbewusste Phantasien als auch für bewusste Phantasien, wie sie etwa der Tagtraum kennt.26 Auch wenn Barthes diesen Essay an dieser Stelle nicht zitiert, in den zeitgleich entstandenen Aufzeichnungen zu seiner Vorlesung »Comment vivre ensemble« lassen Formulierungen wie »La Fantasme comme origine de la culture (comme engendrement des forces, de différences)«27 keinen Zweifel daran, dass er sich auch auf diesen Essay, in dem die Phantasie als »das psychoanalytische Objekt schlechthin«28 beschrieben wird, bezieht. Freud habe, so Laplanche/Pontalis, in der Phantasie den privilegierten Punkt gefunden, »an dem man den Prozess des Übergangs von einem System ins andere in Aktion sehen kann: Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten.« Phantasie ist ein »Mischwesen«, das, »nahe der Grenze zum Unbewussten, von einer Seite zur anderen übergehen kann, namentlich in Abhängigkeit von einer Besetzungsverän­derung«.29 Die Phantasie gehört somit sowohl und gleichzeitig dem Primär- wie auch dem Sekundärprozess an. Sie ist vielleicht nicht immer schon Spiel, aber man kann vielleicht sagen, dass es kein Spiel gibt, an dem die Phantasie als eben dieses Mischwesen nicht maßgeblich beteiligt wäre. Am Pol des Tagtraums steht das Szenarium im Wesentlichen in der ersten Person, wobei der Ort des Individuums gekennzeichnet und unveränderlich ist. Die Organisation wird durch den Sekundärprozess stabilisiert, versehen mit dem Gewicht des ›Ichs‹: man sagt, das Subjekt lebe seine Träumerei. Umgekehrt ist der Pol der Urphantasie gekennzeichnet durch das Fehlen der Subjektivität, einhergehend mit der Präsenz des

26

Vgl. Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis, Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1992), S. 46–47. 27 Barthes, Comment vivre ensemble, S. 34. 28 Laplanche/Pontalis, Urphantasie, S. 29. 29 Ebd.

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Subjekts in der Szene – zum Beispiel ist das Kind in der Phantasie ›ein Kind wird geschlagen‹ eine der Personen unter anderen.30

Laplanche/Pontalis betonen im Fortgang ihrer Argumentation, dass das Kennzeichen von Primärprozessen nicht das Fehlen von Organisation sei, »sondern die besondere Eigenschaft der Struktur: dass sie nämlich ein Szenarium mit vielfachen Auftritten ist«. So gebe etwa in der Phantasie »Ein Vater verführt eine Tochter« nichts darüber Auskunft, »dass das Subjekt von Anfang an seinen Platz im Ausdruck Tochter (fille) finden wird; man kann es auch im Ausdruck Vater oder sogar in verführt fixiert sehen«.31 Die Autoren stellen sogar infrage, dass wir überhaupt in der Struktur der basalen Phantasien so etwas wie einen Ort des Subjektes annehmen können.32 Das bedeutet auch, dass das Subjekt, obwohl es in der Phantasie ständig präsent ist, »darin in einer entsubjektivierten Form vorkommen« kann.33 Und es bedeutet ebenfalls, dass sich das Subjekt in der Phantasie nicht auf »ein Objekt oder dessen Zeichen« richtet, die Phantasie »ist die Szene«.34 Laplanche/Pontalis situieren den Ursprung der Phantasie in der Zeit des Autoerotismus, also in der Zeit, in der sich der Wunsch von der Befriedigung existentieller Bedürfnisse abzulösen beginnt, in der über das, was Freud in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« »Lustprämie« nennt, die kindliche Sexualität emergiert.35 Dabei verstehen sie – auch hier in kritischer Distanz zu traditionellen Interpretationen Freuds – Autoerotismus nicht als Objektlosigkeit des Wunsches, sondern eben als Szene, in der es noch keine stabilen Objektpositionen gibt. Wie kann man sich nun vorstellen, dass ein Übergang zu den Sekundärprozessen erfolgt, und damit auch eine Situierung des Subjekts? Wie tauchen aus einer Szene Positionen auf?

30

Ebd., S. 50. Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 52. 33 Ebd., S. 58. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 55. 31

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L O C AT I O N O F C U LT U R A L E X P E R I E N C E

Um dieser Frage weiter nachzugehen, möchte ich zunächst den in Vielem ähnlichen Ansatz des englischen Psychoanalytikers Donald W. Winnicott heranziehen. Erschwert wird das allerdings dadurch, dass Winnicotts Verständnis des Begriffs der Phantasie in eine entgegengesetzte Richtung weist. Wohl folgt Winnicott dem Freudschen Begriff der Phantasie insoweit, als er ihn sowohl für unbewusste als auch für bewusste Vorgänge anwendet,36 aber er sieht den Begriff allein bezogen auf innere Objekte bzw. als einen Begriff, der immer schon eine Unterscheidung zwischen »fantasy and fact, between inner objects und external objects« voraussetze.37 Gerade dies scheint aber im Lichte des Verständnisses von Phantasie, wie es Laplanche/Pontalis vorschlagen, gar nicht nötig und sinnvoll. Auch benutzt Winnicott den abgeleiteten Begriff des fantasying als etwas, das als Tagtraum dem Sekundärprozess zuzurechnen ist, und zwar im Gegensatz zum Traum: »It will be observed that creative playing is allied to dreaming and to living but essentially does not belong to fantasying.«38 Es lässt sich also mit einigem Recht Winnicotts Begriff des Spiels mit dem Begriff der Phantasie bei Laplanche/Pontalis wenn nicht in Deckung bringen, so doch in engste Nachbarschaft. Winnicotts Begriff der Übergangsphänomene beschreibt ja ein der Phantasie ganz ähnliches Verhältnis: einen Raum und eine Zeit, in denen es keine festen Identitäten oder Positionen von Subjekt und Objekt gibt. Der potential space oder Übergangsraum gehört weder der inneren noch der äußeren Welt an, er ist der Ort des Spiels, ja der Ort der kulturellen Erfahrung, »the location of cultural experience«.39 Wenn Winnicott von einer »precariousness of play« spricht,40 dann genau aus dem Grund, weil Spiel sich immer auf der theoretischen Grenzlinie zwischen dem Subjektiven und dem, was als objektiv wahrgenommen wird, bewegt. Dass ein Raum auf dieser Grenzlinie entstehen kann, hat, so Winnicott, vor allem damit zu tun, dass die Intimität, die sich hier bildet, von einer Beziehung gehalten ist, »that is being found to be reliable«.41 Er spricht von einer »pre-

36

38 39 40 41 37

Donald W. Winnicott, Playing and Reality (London: Routledge, 2005), S. 3. Ebd., S. 8. Ebd., S. 42. Ebd., S. 128. Ebd., S. 68. Ebd., S. 64.

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cariousness of magic itself, magic that arises in intimacy«.42 Magie und Intimität konstituieren deshalb prekäre Beziehungen, weil sie eben keine sicheren Orte für Subjekt und Objekt mehr kennen und deshalb den Spielenden auch schutzlos und verletzbar machen. Spielen »is always liable to become frightening«,43 weshalb auch (jedenfalls im therapeutischen Kontext) immer ein Erwachsener dabei sollte, nicht um in das Spiel einzugreifen, aber doch um so etwas wie einen Raum zu bieten, in dem die Spannung zwischen Subjektivem und Objektivem nicht zusammenbricht. Das kindliche Spiel ist eben auch bei Winnicott paidia, es ist nicht regelgeleitet, und von daher besteht auch immer die Gefahr, dass die wenig stabilen und eben nicht fest situierten Kristallisationen des Ichs hinweggeschwemmt werden. Letzteres sieht Winnicott sogar als eine dem kindlichen Spiel immanenten Tendenz, die nicht über Regeln aufgehalten werden könne, sondern nur dadurch, dass das Objekt des Spiels die Aggression des Kindes überlebt. In seinem späteren, 1969 erstmals veröffentlichten Essay »The Use of an Object and Relating through Identification« unterscheidet Winnicott sehr entschieden zwischen einem Objekt, das weitgehend den Formen des Primärprozesses unterliegt und sich innerhalb des magischen Feldes des Subjekts befindet, und einem Objekt, das in seiner Selbstständigkeit akzeptiert ist und einer »world of shared reality« angehört.44 Dass ein Objekt in dieser mit anderen geteilten Welt auftaucht, ja, dass es für ein Subjekt überhaupt eine solche mit anderen geteilte Welt gibt, in der es Objekte gibt, die nicht über einen Projektionsvorgang von Innen nach Außen situiert sind, in der es also Objekte in ihrer Andersheit gibt, dazu ist für Winnicott eine Zerstörung des primärprozesshaften Objektes unbedingte Voraussetzung. Es gibt keinen einfachen Übergang zwischen einem Objekt, das zur magischen Welt des Subjekts gehört, und einem Objekt, das sich »outside the area of subjective phenomena«45 befindet und damit in seiner Selbstständigkeit akzeptiert und gebraucht werden kann, wie Winnicott sagt. »For instance, the object, if it is to be used, must necessarily be real in the sense of being part of shared reality, not a bundle of projections. It is this, I think, that makes for the world of difference that there is between

42

Ebd. Ebd., S. 67. 44 Ebd., S. 127. 45 Ebd., S. 116. 43

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relating and usage.« 46 Dieser Übergang zwischen Bezogenheit und Gebrauch vollzieht sich nur, wenn das Objekt, sei es die Mutter, sei es ein Spielzeug, sei es der Analytiker, die Destruktion durch das Subjekt überlebt und als solches neu in der Außenwelt gefunden wird. Genau dieser Vorgang wird in den späteren Schriften Winnicotts dann auch als die kulturelle Funktion des transitional oder potential space verstanden. Ein leeres Feld hat sich (in) ihm aufgetan, das zum Ort der kulturellen Erfahrung werden kann. Winnicott deutet auch die Umrisse einer Theorie der Destruktion an, die nicht von vornherein mit Zerstörungswut verknüpft ist, im Gegenteil. Dabei sieht er sogar Kinder, die gut in der schwierigen Phase gehalten wurden, als klinisch aggressiver an, als solche, »who have not been seen through the phase well, and for whom aggression is something that cannot be encompassed, or something that can be retained only in the form of a liability to be an object of attack«.47 Überhaupt gehöre es zur Akzeptanz des anderen als eigenständigem Objekt, dass es zuvor zerstört worden ist. »There is no anger in the destruction of the object to which I am referring, though there could be said to be joy at the object’s survival. From this moment, or arising out of this phase, the object is in fantasy always being destroyed.« 48 Die Erfahrung eines autonomen Objektes und einer autonomen Wirklichkeit geht also nicht nur den Weg über die Zerstörung des dem Selbst zuzurechnenden Objektes, beide Objekte bleiben nebeneinander bestehen, das Zerstörte bildet einen Hintergrund: »This destruction becomes the unconscious backcloth for love of a real object«.49 Und es dürfte durchaus angemessen sein, diese Einsicht Winnicotts aus dem engeren Zusammenhang der Mutter-Kind- oder Analytiker-Analysand-Beziehung heraus in den Alltag von Freundschaften und vor allem Liebesbeziehungen zu übertragen. Wer kennt nicht die Erfahrung, dass in Konflikten mit dem Partner oder der Partnerin sich genau dieses Spiel zwischen der enttäuschenden Erfahrung der Eigenständigkeit des anderen, der Aggressivität seiner Zerstörung als »narzisstisches« Objekt und die Freude des Wieder- oder doch eigentlich mit jedem Mal neuen Findens des anderen entfaltet? Dabei kann man dieses Finden des Anderen als Objekt der Liebe vielleicht gerade als die offene Spannung zwischen dem in der Zer-

46

Ebd., S. 118. Ebd., S. 125. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 126. 47

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störung ja doch immer noch anwesenden narzisstischen Objekt und dem anderen, autonomen Objekt verstehen, eine Spannung, die nur möglich ist, weil es den Bezug zum narzisstischen Objekt gibt. Vielleicht entsteht daraus zwischen Liebenden bisweilen ein Gefühl, dass man sich eigentlich aus einer anderen Zeit kenne, obwohl man sich sicher ist, dass man den anderen nicht mit einem inneren Objekt verwechselt, ihn zum projizierten Objekt macht. Diese Beziehungsarbeit, die man auch als ein Durcharbeiten verstehen kann, wäre dann als Wiedergewinnung des leeren Feldes des Spiels zu sehen. Kann man Winnicotts Objekt des Primärvorganges, das über Projektionsvorgänge besetzte Objekt, mit dem Szenischen der Phantasie in Verbindung bringen? Oder ist mit der Annahme eines über den Mechanismus der Projektion besetzten Objektes nicht immer schon eine Subjektposition mitgedacht? Ergibt sich die Subjektposition aus dem Szenischen allein über einen Prozess, der als Objektzerstörung nur nachträglich beschrieben werden kann, weil erst aus diesem Prozess der Zerstörung eines Objektes ein Gegenüber entsteht, das eine subjektive Perspektive gestattet? Ich komme noch auf eine andere psychoanalytische Entwicklungstheorie, die von Daniel Stern, welche eine andere Beziehung zwischen den Vorgängen zu denken erlaubt. Winnicott spricht im Zusammenhang seiner Theorie über die Objektzerstörung nicht mehr explizit vom Spiel, aber die Neubeschreibung des transitional space, die er hier liefert, erlaubt es doch, im Spiel einen ähnlichen Prozess zu situieren. Es würde vielleicht nicht erklären, doch ein Stück verständlicher machen, weshalb Spiele so oft und so regelmäßig die Zerstörung eines Objektes inszenieren. Ob beim Schach oder beim »Mensch ärgere dich nicht«, beim sportlichen Wettkampf oder auch in der Kunst, im Theater, im Film, in der Literatur: Es geht um das Überleben des Objekts. Dabei ist es sicher nicht so, dass ein Überleben des Objekts garantiert ist. Gerade in Mannschaftsspielen dürfte das narzisstische Objekt der Brüderschaft so stark sein, dass das Objekt, welches der Konkurrent ist, als eigenständiges gar nicht weiter auftaucht. Etwas anders ist es wohl im Rahmen ästhetischer Erfahrung: Sie ist eine szenische Konstellation, die sich weder hin zu einer Akzeptanz der Differenz des Objektes noch zu einer Integration in die psychische Welt auflösen lässt, auch wenn es beide Tendenzen natürlich gibt, etwa im Versuch der Interpretation und diskursiven Verortung des Objektes der ästhetischen Erfahrung oder in der Identifikation etwa mit einer Heldin oder einem Helden. 38

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P R E T E N D M O D E , P R E T E N D P L AY

Eine etwas abgeschwächte und damit wohl auch um ihre Provokation gebrachte Version dieser Entwicklungsgeschichte erzählen Peter Fonagy und Mary Target. In ihrem Aufsatz »Playing with Reality: IV. A theory of external reality rooted in intersubjectivity«, 2007 erschienen, sehen sie im Spiel deshalb eine Möglichkeit, die an sich ja mit tiefer Enttäuschung verbundene Anerkennung der äußeren Realität zu meistern, indem im Spiel eine intersubjektive Welt gerettet, bzw. in gewisser Weise sogar gewonnen wird, während eben ein anderer Teil der Welt an die Realität »verloren« wird. Dabei beruht die Theorie auf einer auch bei Winnicott noch nicht so explizit entwickelten Annahme, dass die Erfahrung von Welt und das Wissen über sie in einer primären Intersubjektiviät geschehe: »knowledge about the world is shared knowledge«.50 Zunächst nehmen Kinder, so Fonagy/Target, alles Wissen über die Welt als ein intersubjektives Wissen wahr, eines, das die anderen auch teilen. Fonagy/Target nennen dies den Äquivalenzmodus des Denkens. Der Prozess der Mentalisierung, in dem es möglich wird zu sehen, dass der andere eine eigene Perspektive auf die Welt hat, entsteht erst nach der Differenzierung zwischen der intersubjektiven und der objektiven Welt. Diese findet in der Erfahrung des Spiels statt, die es gestattet, eine mit anderen geteilte Welt und eine ihr fremde Realität zugleich wahrzunehmen. In diesem pretend mode einigen sich zum Beispiel das Kind und seine Bezugspersonen, seien es Erwachsene, seien es Spielkameraden, darauf, dass bestimmte Dinge eine andere Eigenschaft als die ihnen alltäglich zugesprochen ist, bekommen. Ein Stuhl kann zur Lokomotive, ein Stock zum Gewehr, ein Vorhang zum Gespenst werden. Fonagy/Target führen zum Beleg auch den Umstand an, dass Vorschulkinder außerordentlich viel Zeit »negotiating the terms of the pretend play« verbringen können,51 so dass nicht selten das Aushandeln der Regeln noch nicht abgeschlossen ist, bevor die Kinder etwa aus der Vorschuleinrichtung abgeholt werden. Dieses Spiel, das meist mit dem Begriff des Rollenspiels etwas verzerrend übersetzt wird, ist auch ein Weg der Mentalisierung, in der ja die Wahrnehmung der Subjektivität des anderen, seines

50

Peter Fonagy und Mary Target, »Playing with Reality: IV. A theory of external reality rooted in intersubjectivity«, The International Journal of Psychoanalysis, 2007, Jg. 88, S. 917–37 (S. 922). 51 Ebd., S. 928.

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vom eigenen unabhängigen Denkens, Hand in Hand mit der Entdeckung der eigenen Subjektivität geht. Die große Beliebtheit, der sich viele Spiele erfreuen, sei es im kleineren Kreis, sei es etwa im Fernsehen, das ja zu einem großen Teil aus Spielprogrammen besteht, kann auf die Freude an der Versicherung einer geteilten Welt und eines geteilten Wissens bezogen werden. Auch dieses Spiel bewegt sich in einem Zwischenraum zwischen Primär- und Sekundärprozessen, zwischen Äquivalenzmodus und Mentalisierung.52 Allerdings verzichtet diese Erklärung fast vollständig auf das energetische Moment der Psychoanalyse, das nur noch als Affekt und Affektkontrolle auftaucht. Es bleibt unklar, wie es zu einer Besetzung von Objekten kommen kann, die im Sinne der Mentalisierung autonom sind. Und vor allem bleibt auch weitgehend unbeachtet, dass es überhaupt erst zu so etwas wie einer Konstellierung kommen muss, die als intersubjektiv bezeichnet werden kann. Woher kommt im Äquivalenzmodus überhaupt die eigene subjektive Perspektive? Das, was wir bei Laplanche/Pontalis als das Szenische der Phantasie und der Primärprozesse beschrieben fanden, hat hier keinen Platz. Diese starke Fokussierung auf die Mentalisierung ist wohl intersubjektiv, aber nicht szenisch, d.h. sie verbleibt in entscheidenden Punkten auch im Rahmen der klassischen Objektbesetzungstheorie. So entwickelt Fonagy etwa die durchaus interessante These, dass Aggression entweder über einen Projektionsmechanismus zu erklären und dann auch verstehbar ist, oder, in Fällen diffuser Gewalt, sich auf innere Repräsentanten richtet, die gar nicht symbolisiert sind und deshalb auch nicht mental integriert. Er nennt letztere violence in the negative.53

BEZOGENHEITEN

Viel vorsichtiger in der Annahme solcher Voraussetzungen geht Daniel Stern in seiner einflussreichen Studie »The Interpersonal World of the Infant« aus dem Jahre 1985 vor. Schon im Titel wird sichtbar, dass er wohl von intensiven Kommunikationsprozessen des Kindes mit seiner Umgebung ausgeht, diese aber nicht schon von vornherein als etwas 52

Vgl. Reinhold Görling, »Playing with Reality«, in Kommunikation im Populären, hg. v. Roger Lüdeke (Bielefeld: transcript, 2011), S. 259–72. 53 Peter Fonagy, »The Violence in Our Schools: What Can a Psychoanalytically Informed Approach Contribute?«, Journal of Applied Psychoanalytic Studies, 5.2 (April 2003), S. 223–38.

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Intersubjektives beschreibt. Tatsächlich ist diese Vorsicht gerade darin begründet, dass Stern davon ausgeht, dass es ein auftauchendes Selbst schon in den ersten Wochen nach der Geburt gibt und dieses beobachtbar ist. Die Welt des Kleinkindes ist nicht, wie bei Fongay/Target und anderen Theoretikern der Mentalisierungstheorie, mit anderen immer schon geteilt und Wir-zentriert, sie ist viel eher eine Bühne mit vielfachen Auftritten, wie bei Laplanche/Pontalis, nur sind Begründung und Struktur etwas anders gelagert: Es sind verschiedene Bereiche der Bezogenheit, die sich wohl nacheinander entwickeln, die aber als Lagerungen nebeneinander existieren. Stern vermeidet deshalb auch den Begriff der Phase oder des Entwicklungsstadiums.54 Den Bereichen der Bezogenheit entspricht jeweils ein Selbst, zunächst ein auftauchendes Selbst, dann etwa ab dem 2. Lebensmonat ein Kern-Selbst, ab dem 7. dann ein subjektives Selbst, auf das ab dem 15. Lebensmonat ein verbales Selbst folgt. Von einem intersubjektiven Austausch ist deshalb nicht vor dem 7. Lebensmonat zu sprechen, wenn Kinder Gefühle, Motive und Absichten entdecken, bei sich selbst ebenso wie beim nun getrennt erlebten Anderen. Andererseits bleiben aber die vorsubjektiven Dimensionen des Austausches in weitgehender Autonomie das ganze Leben hindurch wirksam. Sie können in bestimmten Formen der Bezogenheit besonders andressiert sein, etwa in der Kunst oder der ästhetischen Wahrnehmung. Stern spricht zum Beispiel davon, dass man sich in der Augenfarbe des Anderen »verlieren« könne, »als ob das Auge für diesen Moment nicht Teil des Kern-Anderen wäre, keinerlei Beziehung zu dem inneren Zustand irgendeines Menschen hätte und wir es zum ersten Mal, außerhalb jedes organisierenden Netzwerkes, erblickten«.55 Es gibt eine solche Möglichkeit des auftauchenden Wahrnehmens auch dann und wohl auch immer wieder, wenn man den anderen kennt. Auch wenn es eine Kernbezogenheit gibt, so gibt es doch zugleich unterschiedliche Selbste als unterschiedliche Bereiche oder Formen der Bezogenheit, die aber miteinander keine Einheit herstellen müssen. Das, was wir mit Laplanche/ Pontalis als Phantasie oder szenische Konstellation diskutiert haben, wäre im Modell von Stern wohl im Bereich der Bezogenheit des KernSelbst wiederzufinden. Während sich das auftauchende Selbst in einer Bezogenheit zur Welt befindet, die wohl Intensitäten, aber keine Kon54

Vgl. Daniel N. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings (Stuttgart: Klett-Cotta, 2007), S. 54. 55 Ebd., S. 53.

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texte kennt und ziemlich genau dem entspricht, was Gilles Deleuze in Différence et répetition, auf das ich noch zurückkomme, die erste Synthese der Zeit nennt,56 geht es bei der Bezogenheit des Kern-Selbst um gelebte Episoden. Sie »werden unverzüglich zu spezifischen Gedächtnisepisoden und durch Wiederholungen zu generalisierenden Episoden«.57 Diese »Representations of Interactions that have been Generalized (RIGs)« bilden »a basic unit for the representation of the core self«. 58 Sie sind also keine Objektrepräsentationen, sondern szenischer Natur. Und es ist vielleicht nicht ganz zufällig, dass Stern an dieser Stelle zur Verdeutlichung ein Spiel als Beispiel anführt: For example, after the first game of peek-a-boo the infant lays down the memory of the specific episode. After the second, third, or twelfth experience of slightly different episodes, the infant will have formed a RIG of peek-a-boo. It is important to remember that RIGs are flexible structures that average several actual instances and form a prototype to represent them all.59

Diese RIGs sind abstrakt, sie werden aber situativ über Erinnerungshinweise aktiviert und dann, wie Stern sagt, als evoked companion aktualisiert.60 Auch wenn Stern an dieser Stelle keine Metaphern des Performativen erwähnt, seine Darstellung impliziert, dass die evoked companion innere Inszenierungen der RIGs sind, die dann mit aktuellen Interaktionserfahrungen abgeglichen werden. Wie nah dies dem Freudschen Begriff der Phantasie ist, deutet Stern selbst an: »What Freud called the ›hallucinated breast‹ could be called an attribute of a generalized epi-

56

Gilles Deleuze, Différance et répetition (Paris: Presses universitaires de France, 1968), S. 97. 57 Stern, Lebenserfahrung, S. 160. 58 Daniel N. Stern, The interpersonal world of the infant. A view from Psychoanalysis and Developmental Psychology (New York: Basic Books, 1985), S. 97 u. 98. 59 Ebd., S. 110; »Nach dem ersten ›Guck-Guck‹-Spiel zum Beispiel halt der Säugling die Erinnerung an die spezifische Epiosode fest. Nach der zweiten, dritten oder zwölften geringfügig abgewandelten Episode dieser Art wird der Säugling ein ›Guck-Guck‹-RIG entwickelt haben. Dabei darf man nicht vergessen, dass RIGs flexible Strukturen sind, die den Durchsnitt mehrerer realer Episoden darstellen und einen prototype bilden, der sie alle repräsentiert.« (Stern, Lebenserfahrung, S. 160). 60 Ebd., S. 111–12.

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sode of feeding.«61 Entsprechend Sterns Vorstellungen von der Schichtung der Selbste und ihrer Beziehungsweisen sieht er in den RIGs und den aus ihnen aktualisierten evoked companions alltägliche Begleiter auch im Alltag des Erwachsenen: Various evoked companions will be almost constant companions in everyday life. Is it not so for adults when they are not occupied with tasks? How much time each day do we spend in imagined interactions that are either memories, or the fantasied practice of upcoming events, or daydreams?62

GEGENWART DES SPIELS

Es ist deutlich, dass Sterns Modell der psychischen Entwicklung nicht mehr mit der Zweiteilung in Primär- und Sekundärprozesse arbeitet und sich von ihrem üblichen Verständnis sogar explizit distanziert,63 auch wenn sich sagen lässt, dass auftauchendes Selbst und Kern-Selbst in ihrer Beziehungshaftigkeit stärker den Primärprozessen entsprechen, das subjektive und das sprachliche Selbst den Sekundärprozessen. Es ist dabei wohl auch für eine Theorie des Spiels nicht ganz bedeutungslos, dass Stern das subjektive Selbst zunächst vor allem als eine Beziehung des affect attunement, der Affektabstimmung, versteht. Das Teilen affektiver Zustände oder die Inter-Affektivität, die bei Säuglingen etwa ab dem 9. Monat deutlich beobachtbar ist, bedeutet nicht eine Nachahmung oder ein einfaches Spiegeln der Affekte, es ist ein subjektivierendes affektives Erleben, weil es antwortet und zugleich eine Differenz markiert. So wird eine Mutter, die ein spielendes Kind in seinen Bewegungen im selben Rhythmus und derselben affektiven Intensität berührt oder streichelt, gar nicht beachtet. Aber wenn sie dieselbe Bewegung spürbar langsamer oder schneller vollzieht, hört das Kind sofort mit seinem Spiel auf und

61

Ebd., S. 117. Ebd., S. 118; »Evozierte Gefährten unterschiedlichen Charakters werden im Alltag zu beinahe ständigen Begleitern. Trifft dies nicht auch für Erwachsene zu, wenn sie gerade nicht mit irgendwelchen Aufgaben beschäftigt sind? Wieviel Zeit verbringen wir nicht täglich mit imaginierten Interaktionen, die entweder aus Erinnerungen, der phantasierten Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse oder aus Tagträumen bestehen?« (Stern, Lebenserfahrung, S. 171). 63 Stern, Lebenserfahrung, S. 333. 62

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betrachtet die Mutter.64 Die subjektivierende Positionierung in einer Szene findet also schon vor der Entwicklung des sprachlichen Selbst statt. Sie verläuft insbesondere entlang der von Stern so genannten Vitalitätsaffekte, also der Intensitäten, der Tempi oder Rhythmen des sozialen Erlebens, ja des Erlebens der Welt. Sie sind in jeder Kommunikation von großer Bedeutung, in vielen Weisen der ästhetischen Erfahrung stehen sie im Vordergrund: Stern nennt den abstrakten Tanz, die Musik65 und den Film.66 Identitätsgrade und Zeitmuster werden schon in den ersten Lebenswochen vom Säugling wahrgenommen und sind die wichtigsten Beziehungsweisen für das auftauchende Selbst. Sie bedeuten eine szenische Einbindung des Kindes oder eben auch später des Erwachsenen in ein Geschehen über die Intensität von Bewegungen und Rhythmen, über Qualitäten »wie ›aufwallend‹, ›verblassend‹, ›flüchtig‹, ›explosionsartig‹, ›anschwellend‹, ›abklingend‹, ›berstend‹, ›sich hinziehend‹ usw.«.67 Auch wenn es Stern meines Wissens so nicht schreibt, das Spiel zwischen dieser affektiven Einbindung in einer Situation oder Szene und der Subjektivierung durch eine markierte Differenz ist ein zentraler Erfahrungsraum in jeder sozialen Beziehung, in der ästhetischen Erfahrung und im Spiel aber stehen sie im Vordergrund. Während Sterns Einsichten sich durchaus als Differenzierungen dessen verstehen lassen, was wir mit Laplanche/Pontalis als Phantasie diskutiert haben und auch Batesons Theorie der verschiedenen parallelen Weisen der Kommunikation nicht widersprechen, scheint eine Verknüpfung mit Winnicotts Thesen zur Objektverwendung doch eher schwierig. Wohl lassen sich viele von Stern beschriebene Phänomene dem transitional space zuordnen, nur sind für Stern solche Räume zwischen den Erfahrungen und dem Selbst weitaus alltäglicher. Eine Regel dafür, dass Objekte erst zerstört werden müssen, bevor sie in eine andere Beziehungsweise aufgenommen werden, lässt sich mit Sterns Konzept kaum vereinbaren. Aber selbstverständlich sind für Stern Reibungen, Konflikte, Dissoziationen und Fixierungen denkbar und bilden die Muster für die Erklärung psychischer Eigenheiten und Störungen, aber sicher auch schon für Konflikte intersubjektiver Relationen. Aber selbst solche

64

Vgl. Stern, The interpersonal world, S. 150; Stern, Lebenserfahrung, S. 215. Stern, Lebenserfahrung, S. 87. 66 Ebd., S. 222. 67 Ebd., S. 83. 65

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Fixierungen werden von Stern nicht als Projektionen innerer Objekte verstanden, sondern als fixierte RIGs aus einem oder mehreren Bereichen der Bezogenheit. Sterns Differenzierungen stehen auch weitgehend quer zu einem Verständnis der Primär- und Sekundärprozesse als Abfolge. Lust- und Realitätsprinzip sind von Anfang an wirksam, die Fähigkeit »der Säuglinge im Umgang mit der Realität (ist) ebenso hoch einzuschätzen […] wie ihre Fähigkeit im Umgang mit Lustempfindungen«.68 Wenn das Lustprinzip dem Realitätsprinzip nicht vorausgeht, dann gilt das auch für das Verhältnis von Phantasie und Realität. Stern dreht das Verhältnis sogar um: »Die Realitätswahrnehmung geht den phantasmatischen Einstellungen voraus«,69 oder im Original: »reality experience precedes fantasy distortions in development«.70 Wir haben es folglich auch mit einer viel komplexeren Überlagerung von Wahrnehmungen, Affekten, Phantasien zu tun, aus der vielleicht auch erst so etwas wie Fülle oder Dichte von Erfahrung entsteht. Stern nennt das in einer späteren Arbeit den Gegenwartsmoment. In ihm werden die einzelnen psychischen Prozesse für einen Augenblick, der in der Regel zwischen drei und fünf Sekunden dauert, gleichsam synchronisiert. Stern schreibt selten direkt über das Spiel, weil sich das Subjekt für ihn eigentlich fortwährend in einem Spielraum bewegt, der in den Gegenwartsmomenten seine eigentliche Spiel:Zeit findet. Genau genommen geht es bei Stern auch nicht mehr um das eine Subjekt, sondern um eine Mannigfaltigkeit von Subjektivierungen, aus denen das Individuum besteht. Félix Guattari, der wohl einer der ersten war, der diese auch im philosophischen und gesellschaftsanalytischen Sinne weitreichende Konsequenz aus Sterns Einsichten aufgegriffen hat, fordert entsprechend »to decentre the question of the subject onto the question of subjectivity«.71 Das emergente Selbst und auch noch das Kern-Selbst bilden ein Universum des Werdens, das emergente Selbst im Sinne einzelner Synthetisierungen von Zeit, von »incorporeal becomings«, das Kern-Selbst im

68

Ebd., S. 334. Ebd., S. 355. 70 Stern, The interpersonal world, S. 255. 71 Félix Guattari, Chaosmosis – an ethico-aesthetic paradigm (Bloomington: Indiana University Press, 1995), S. 22. 69

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Sinne einer Parallelität von proprio- und extereoceptiven Vorgängen und einer Interrelation mit dem Milieu.72 Damit überschreibt Guattari das Selbstverständnis der Darstellungen Sterns, dass es vornehmlich um interpersonelle Interaktionen ginge, als eine Relation des Selbst mit allem, was es umgibt. Das ist mit Sterns Ausführungen allerdings durchaus vereinbar, denn gerade die Vitalitätsaffekte sind ja keineswegs nur auf die Interaktion mit den Bezugspersonen bezogen, sie betreffen Bewegungen, Farben und Töne, sowie Taktiles und sicher auch Olfaktorisches aller Art. In diesem Sinne ist auch der Säugling immer schon in einer Beziehung mit seinem Milieu, die in Anlehnung an Francisco Varelas Theorie der Emergenz des Denkens als enacted embodied cognition beschreibbar wäre,73 nur dass das Kognitive hier das Vorsubjektive mit umfasst und eben nicht als eine Einheit zu denken wäre, sondern als eine Vielschichtigkeit überlagerter Bezogenheiten. Da die Selbste, die Stern modellhaft beschreibt, jeweils eigene Bezogenheiten entwickeln, muss man auch davon sprechen, dass sich das Subjekt in jedem Augenblick nicht nur in einem Milieu bewegt, sondern potentiell in verschiedenen Milieus, auch wenn sie faktisch gesehen nur eine einzige Welt darstellen. Stern spricht davon, dass der Gegenwartsmoment eine multitemporale Präsentation sei.74 Vergangenheit ist kein einzelner Vorgang; sie baut sich vielmehr aus Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen sukzessiven Vorgängen auf […]. Es ist eine Vergangenheit, die aus vielen ›Dazwischen‹ besteht. Und der Gegenwartsmoment, in dem diese sich herausbildenden Muster schließlich kulminieren, ist dem letzten Ton einer Tonfolge vergleichbar.75

Es geht also mit Stern in diesem Spiel der Resonanzen explizit nicht mehr um ein Zugleich von Primär- und Sekundärprozessen, sondern um Bezogenheiten, die den Fraktalen der Systemtheorie nicht unähnlich sind,76 aber aktiv gedacht werden müssen, also als Muster, die selbst

72

Vgl. ebd., S. 66. Vgl. Francisco J. Varela, Evan Thompson, u. Eleanor Rosch, The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Experience (London: MIT Press, 1993). 74 Vgl. Daniel N. Stern, Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag (Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel, 2005), S. 211. 75 Ebd., S. 212. 76 Vgl. ebd., S. 208. 73

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»nach Ausdruck streben«,77 die also ihre Bezogenheit gleichsam bestätigt finden möchten und nach Entsprechungen in der Welt suchen – was aber jeweils das Muster selbst verändert, es neu überschreibt. Spiel wäre damit etwas, das stets stattfindet: ein zeitlicher Zwischenraum, der aus der Gleichzeitigkeit und der Schichtung von verschiedenen Bezogenheiten entsteht. In einem konstruktivistischen Sinne sind sie immer auch phantasmatischer Natur, weil sie erlernte Muster enthalten, im psychoanalytischen Sinne sind sie es, weil die Muster, die hier ins Spiel kommen, immer schon aus einer Interaktion mit der Umwelt entstanden sind, in der Realität und Phantasie selbstverständlich vermengt sind. Spiel wäre eine Sensation, die sich aus einem Gegenwartsmoment ergibt, der eine befriedigende Intensität der Entsprechung zwischen Subjekt und Welt bedeutet. Sie stünden in Differenz zu Gegenwartsmomenten, die so etwas wie eine Intensität der Nichtentsprechung aktualisieren, Schmerz des Verlusts von Welt, der Einsamkeit, der Überwältigung durch etwas, das als Bruch der Relation eines oder mehrerer spezifischer Selbste erlebt wird. Und sicher gibt es auch eine Intensität des Dazwischen, eine Spannung zwischen Intensitäten der Entsprechung und der Nichtentsprechung.

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Spiel wäre mithin ein zeitlicher Zwischenraum, eine Unbestimmtheit zwischen Ereignissen, zwischen einem Ereignis und seiner Wiederholung. Das kommt in gewisser Weise dem Verständnis von Spiel bei Jacques Derrida sehr nahe. Da das Sein immer nur ›Sinn‹ gehabt hat, immer nur als im Seienden Verborgenes gedacht und gesagt wurde, (ist) die différance auf eine gewisse und äußerst sonderbare Weise ›älter‹ als die ontologische Differenz oder als die Wahrheit des Seins. Nun erst kann man sie Spiel der Spur nennen. Einer Spur, die nicht mehr zum Horizont des Seins gehört, sondern deren Spiel den Sinn des Seins trägt und säumt: das Spiel der Spur oder der différance, die keinen Sinn hat und die nicht ist. Die nicht angehört. Keine Jetztzeit, keine Tiefe für dieses bodenlose Schachbrett, auf dem das Sein ins Spiel gebracht ist.78

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Ebd., S. 210. Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie (Wien: Passagen Verlag, 1988), S.

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Das Spiel der Spur oder die différance gehört einem Zeitalter an, das in bestimmter und sehr befremdlicher Weise älter ist als die ontologische Differenz oder die Wahrheit des Seins. Das Spiel der Spur, die Differenz zwischen der Spur und ihrer Neuschreibung durch ihre Lektüre, ihre Rekontextualisierung: das ist Zeit. Das Spiel der Spur erscheint nicht am Horizont des Seins, wie Derrida wohl mit Bezug auf Edmund Husserls Konzept der subjektiven Zeithorizonte sagt, sondern das Spiel »trägt das Sein und fasst es ein«, gibt ihm Raum. Das Spiel einer Spur oder différance, die selbst nicht erscheint. »Sie wird nicht gehalten, es gibt auch keinen Boden für dieses bodenlose Schachbrett, auf dem das Sein ins Spiel gebracht wird.« (Um es näher am französischen Original zu übersetzen.) Wenn wir diesen Gedanken auf die Entwicklungstheorie von Stern zurückwenden, wird deutlich, dass es bei Stern eigentlich immer zwei Spiele zugleich gibt: das innere Spiel Subjektivierung, das Spiel der auftauchenden Spuren des Selbst und das äußere Spiel der Bezogenheiten, welche die Selbste mit einer Umwelt eingehen, die auf das eigene Fragen antwortet oder auf deren Ansprache das Subjekt antwortet. In Gilles Deleuze’ Différence et répétition gibt es eine ähnlich schöne Stelle wie die im Zitat bei Derrida. Sie drückt das Problem der grundlosen Entstehung in der Zeit und der Zeit selbst in ganz ähnlicher Kontur, wenn auch in einem ganz anderen Gestus des Sprechens aus: »Le monde est un œuf, mais l’œuf est lui-même un théâtre : théâtre de mise en scène, où les rôles l’emportent sur les acteurs, les espaces sur les rôles, les idées sur les espaces.79 Im Regietheater, im Theater der Inszenierung vollzieht sich eine Dramatisierung der Idee, ihre Aktualisierung,

47–48; »L’être n’ayant jamais eu de ›sens‹, n’ayant jamais été pensé ou dit comme tel qu’en se dissimulant dans l’étant, la différance, d’une certaine et fort étrange manière, (est) plus ›vieille‹ que la différence ontologique ou que la vérité de l’être. C’est à cet âge qu’on peut l’appeler jeu de la trace. D’une trace qui n’appartient plus à l’horizon de l’être mais dont le jeu porte et borde le sens de l’être: jeu de la trace ou de la différance qui n’a pas de sens et qui n’est pas. Qui n’appartient pas. Nulle maintenance, mais nulle profondeur pour cet échiquier sans fond où l’être est mis en jeu.« (Jacques Derrida, Marges de la philosophie (Paris: Éditions de Minuit, 1972), S. 23). 79 Deleuze, Différence et répétition, S. 279; »Die Welt ist ein Ei, das Ei selbst aber ist ein Theater: ein Regietheater, in dem die Rollen über die Schauspieler, die Räume über die Rollen, die Ideen über die Räume siegen.« (Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung (München: Wilhelm Fink, 1997), S. 274).

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ja Zeit selbst. Der Begriff der Idee bei Deleuze ist komplex, im Rahmen unserer Argumentation aber genügt es vielleicht, in der Idee etwas wie ein Fraktal zu sehen, keine Kategorie, kein Schema, aber eine Differenz, die ein Ausdrucksbegehren darstellt, eine Differenz, die sich ständig nach Innen wie nach Außen differenziert, die sich in der Wiederholung zugleich verändert und bestätigt. Die Idee hat damit etwas zutiefst Zeitliches, sie ist bestimmt durch die Geschwindigkeit ihrer Wiederholung. »Les types d’œuf se distinguent donc par des orientations, des axes de développement, des vitesses et des rythmes différentiels comme premiers facteurs de l’actualisation d’une structure, créant un espace et un temps propres à ce qui s’actualise.«80 So ließe sich auch umgedreht formulieren, dass es genüge, »de donner au temps son vrai sens d’actualisation créatrice«,81 um die Dramatisierung der Idee zu verstehen, die Deleuze an dieser Stelle als Genese der Arten beschreibt. Es ist aber im Kern der Vorstellung der Dramatisierung, dass sie ein Spiel der Differenzen ist, von Differenzen allerdings, die nicht vor oder unabhängig von der Inszenierung existieren. Die Welt ist ein Ei, aber das Ei ist ein Theater: In der Szene ist die Welt in ihrer Virtualität vorhanden, weil sie noch keine abgegrenzten Identitäten kennt oder diese immer wieder auflöst, deaktualisiert. Dieses Spiel der Differenzierung bestimmt sich über die Dynamiken des inneren Milieus ebenso und zugleich »écologiquement, par les mouvements externes qui président à sa distribution dans l’étendue«.82 Doch sei es noch komplizierter, fährt Deleuze in der Beschreibung dieser Ökologie fort, »si l’on considère que l’espace intérieur est lui-même fait de multiples espaces qui doivent être localement intégrés, raccordés«. So entstünden innere Reihungen, die das Lebewesen selbst an seine Grenzen bringen und mit dem Außen verbinden: »Partout une mise en scène à plusieurs niveaux.«83 80

Deleuze, Différence et répétition, S. 277; »Die Eiformen unterscheiden sich also in Ausrichtung, Entwicklungsphasen, in differentiellen Geschwindigkeiten und Rhythmen als den ersten Faktoren der Aktualisierung einer Struktur, die einen Raum und eine Zeit schaffen, wie sie dem, was sich aktualisiert, entsprechen.« (Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 271). 81 Deleuze, Différence et répétition, S. 277. 82 Deleuze, Différence et répétition, S. 280. 83 Es gibt eine interessante Ähnlichkeit dieses Verständnisses von Ökologie und Spiel mit dem Begriff des Spiels bei Walter Benjamin, der ja ebenso wie Deleuze (hier noch über dem Umweg des französischen Philosophen Raymond Ruyer) sich auf die ökologische Theorie von Jakob von Uexküll bezieht. (Vgl. zu Benja-

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Deleuze unterscheidet in Différence et répetition zwei Weisen des Spiels: ein schlechtes Spiel, bei dem die Regeln immer schon feststehen, und ein Spiel der Zukunft oder des Werdens, das ein göttliches genannt werden könne, »parce que le jeu porte déjà sur ses propres règles, parce que l’enfant-joueur ne peut que gagner – tout le hasard étant affirmé chaque fois et pour toutes les fois«.84 Wenn das spielende Kind nur gewinnen kann, dann weil es zulässt, dass sich das Spiel auf den Regeln, die es selber findet, weiter trägt. Es geht damit immer an seine Grenzen. Hierin ist es durchaus prekär, wie Winnicott sagte. Aber nicht, weil es in seiner magischen Sicht auf die Welt die Konfrontation mit der Wirklichkeit vermeidet, sondern gerade weil es sich selbst aufs Spiel setzt, sich selbst der Zukunft und dem Zufall öffnet. Das Kind, das Stern beschreibt, tut dies vom ersten Augenblick an. Und kann man nicht sagen, dass in Tom Bartels Aufschrei, dass die Regeln des Fußballspiels außer Kraft seien, beides zugleich ausgedrückt ist: die Mahnung an die Rückkehr aus dem magischen Wahn zur durch die Regel gesicherten Realität ebenso wie die Faszination am Moment der Regellosigkeit des sich selbst findenden Spiels auf dem durch die Öffnung der Zeit leer gewordenen Feld? Huizinga hatte die Auflösung des Spiels als gesondertes soziales Feld beobachtet und auch die Konsequenzen gefürchtet. Die Analyse dieser Entgrenzung blieb bei Caillois implizit, man kann aber ohne weiteres zum Beispiel Victor Turners Theorie der Communitas und des Liminoiden als eine Fortführung dieser Beobachtung verstehen. Hatte Turner Arnold van Genneps Theorie der Übergangsriten in traditionel-

min und Uexküll: Inga Pollmann, »Invisible Worlds, Visible: Uexküll’s Umwelt, Film, and Film Theory«, Critical Inquiry, Bd. 39, H 4 (Summer 2013), S. 777816.) Wenn Benjamin das Spiel mit der zweiten Technik in Bezug setzt, sieht er, wie Astrid Deuber-Mankowsky aufschlussreich nachzeichnet, einen Spielraum entstehen, den er an anderer Stelle auch in den Entwürfen zu einer Theorie des Wohnens aufzeigt: einen Spielraum des Ökologischen, in dem die Relationalität zwischen Menschen und Umwelt an Zwang verloren hat, Zwang der Naturbeherrschung ebenso wie Zwang der Anpassung. (Astrid Deuber-Mankowsky, »Spiel und zweite Technik. Walter Benjamins Entwurf einer Medienanthropologie des Spiels«, in Mediale Anthropologie, hg. v. Voss, Christiane u. Engell, Lorenz (München: Wilhelm Fink, 2015), S. 35-62.) In diesem Sinne nähern sich unter Bedingungen der zweiten Technik Spiel und Arbeit sogar an. 84 Deleuze, Différence et répétition, S. 152; Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 153.

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len Gesellschaften aufgegriffen und gezeigt, wie sich diese als Spiele einer temporären Destrukturierung oder Entdifferenzierung im Alltag der modernen Gesellschaften (nach dem Zweiten Weltkrieg) ausfächern und dadurch von einem Garant der Tradition zu einem Motor von Veränderung werden,85 so sehen wir uns seit Mitte der 1970er Jahre in eine Entwicklung eingewoben, in der nicht nur die Örtlichkeit des Spiels nicht mehr abgrenzbar ist, mit diesem Prozess ist auch die immer schon undeutliche Differenz zwischen Arbeit und Spiel noch unschärfer geworden. Dabei sind bekannte Phänomene wie die Aufnahme von Spieltheorien in die Managerausbildung nur ein kleiner, wenn auch besonders leicht identifizierbarer Aspekt. Viel entscheidender ist, dass mit der Durchsetzung aller Lebens- und Arbeitsbereiche mit technischen Verfahren sich das einschneidend verändert hat, was wir mit Bateson ebenso wie mit Deleuze die Ökologie genannt haben. Diese Veränderung ist einschneidend, weil die Theatralität der Ökologie, die Deleuze analysiert, diese Dramatisierung, wie es oft bei ihm heißt, nun über die technischen Verfahren selbst neu organisiert wird. Jedes Interface eines Computers oder eines Smartphones und selbstredend jede Benutzeroberfläche eines Computerspiels verwickelt uns in ein Spiel und eine Szene. Ohne dieses Element des Spiels wäre es kaum denkbar, dass sich unsere Weise der Wahrnehmung und auch unsere Praktiken so schnell so tiefgreifend verändert haben. Und anders als es noch im mechanischen Zeitalter war, in der diese Umwelt in ihrer Veränderungsgeschwindigkeit relativ träge blieb, reagieren die Computerumwelten teilweise in einem Tempo, das unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle liegt. Zugleich sind sie mit einer Vielfalt an Informationen verknüpft, die sich ebenso wenig noch übersehen lassen. Insoweit sind wir ständig in einem Spiel oder einer Inszenierung, die uns in einem hohen Maße adressieren kann, die uns aber kaum noch einmal die Zeit einer Situierung lässt. Fast jeder kennt die Erfahrung, am Computer weit über die Grenze der Müdigkeit, an der man früher das Buch oder den Stift längst aus der Hand gelegt hätte, hinaus zu arbeiten. Und ebenso dürfte jeder die Erfahrung gemacht haben, dass der Klick auf einen Kaufbutton im Internet sehr viel weniger eine eigene Positionierung voraussetzt als ein Einkauf in einem Geschäft. 85

Vgl. Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les Rites de Passages) (Frankfurt a.M.: Campus, 2005); Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels (Frankfurt a.M.: Campus, 2009).

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Wir haben wahrscheinlich noch kaum begriffen, was das für die Veränderung unserer Wahrnehmung und die Prozesse der Subjektivierung bedeutet. Sicher ist es nicht so, dass das Spiel verschwindet. Die Deinstitutionalisierung der sozialen Funktionsbereiche und der Übergang zur permanenten Performativität zerstreuen das Spiel.86 Eine Kritik daran dürfte solange ins Leere gehen, wie das Feld als besetzt erscheint. Das geschieht etwa dann, wenn Zeichen und Bedeutung als aneinander verschweißt erscheinen, wie es in den Arbeiten von Maurizio Lazzarato der Fall ist, der angesichts solcher Beobachtungen von einer »maschinellen Indienstnahme« und einer »Verstümmelung« der Subjektivierung spricht, wobei sich Lazzarato darüber hinaus noch auf Deleuze und Guattari zu berufen können glaubt.87 Es sind ja gerade die a-signifikanten Semiotiken, die szenisch und theatral sind, an denen entlang die Subjektivierungen emergieren. Auch die Kritik an der Ubiquität des Performativen kann nur bedeuten, eine andere Weise der Performativität, andere Reihen und Serien des Politischen zu versuchen: Das Spiel ist noch nicht aus, so lange es ein leeres Feld gibt.

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Vgl. Jon McKenzie, Perform or else: From discipline to performance (London: Routledge, 2001). 87 Maurizio Lazzarato, Der »semiotische Pluralismus« und die neue Regierung der Zeichen. Hommage an Félix Guattari, [Zugriff: 2.4.2016].

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DENKWEISEN DES SPIELS

CULTURAL INQUIRY

EDITED BY CHRISTOPH F. E. HOLZHEY AND MANUELE GRAGNOLATI

In der Reihe »Cultural Inquiry« geht es um die Frage, wie unterschiedliche Kulturen in eine produktive – anstatt einer schädlichen – Spannung gebracht werden können. Der dabei zugrunde liegende Kulturbegriff ist bewusst weit gefasst und schließt unterschiedliche Diskurse und Disziplinen ein. Die Reihe erkundet Spannungen sowohl innerhalb von Kulturen als auch zwischen unterschiedlichen Kulturen und erforscht die produktiven Potentiale dieser Spannungen. Sie strebt danach, neue Bereiche für Untersuchungen, Experimente und Interventionen zu eröffnen. Der Schwerpunkt liegt dabei in der kritischen Reflexion und in der Identifikation und Akzentuierung gegenwartsrelevanter Fragestellungen und Anliegen. Dies gilt auch für Publikationen mit einer historischen Orientierung. Indem die Reihe »Cultural Inquiry« entschieden einen fächerübergreifenden Ansatz verfolgt, will sie zwischen den Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften und Künsten Übertragungen begünstigen und initiieren. Die Reihe umfasst eine Vielfalt von Methodologien und Ansätzen und verbindet sie durch die Spannung wechselseitiger Konfrontationen und Verhandlungen, anstatt eine auf Homogenisierungen und Ausschlüsse beruhende Einheit anzustreben. Christoph F. E. Holzhey ist Gründungsdirektor des ICI Berlin Institute for Cultural Inquiry. Manuele Gragnolati ist Professor für italienische Literatur an der Universität Paris-Sorbonne und Associate Director des ICI Berlin.

DENKWEISEN DES SPIELS MEDIENPHILOSOPHISCHE ANNÄHERUNGEN HERAUSGEGEBEN VON ASTRID DEUBER-MANKOWSKY UND REINHOLD GÖRLING

VERLAG TURIA + KANT WIEN–BERLIN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Bibliographic information published by Die Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.d-nb.de. ISBN 978-3-85132-853-0 Cover Design: Bettina Kubanek unter Verwendung einer Photographie von Reinhold Görling © bei den Autorinnen und Autoren © für diese Ausgabe Turia + Kant, 2017 VERLAG TURIA + KANT A-1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG1 D-10827 Berlin, Crellestraße 14 [email protected] | www.turia.at

Inhalt A ST R I D D E U B E R - M AN KOWS K Y U N D R E I N H O L D G Ö R L I NG

Einleitung. Zur Medialität des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 R E I N H O L D G Ö R L I NG

Spiel:Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 ST E P H A N T R I N K AU S

»As communication arises out of silence« (Winnicott). Das Prekäre des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 M O N I Q U E DAV I D - M É NAR D

Was haben wir außer dem Spiel, um aus dem Trauma aufzutauchen? . . 69 K AT J A ROT H E

Ökologien der Seele. Das Spiel als eine Praxis der Selbstbildung bei Winnicott und Guattari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 J A S M I N D E G E L I NG

Über die Rhetorik des Spiels bei Michel Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . 103 F E L I X R AC Z KOWS K I

Spielgrenzen und ihre Denkweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 A N D R E A S B E I N ST E I N E R

Ontoludologie. Zum medial-agonalen Charakter von Phänomenalität nach Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 SERJOSCHA WIEMER

Niemandes Spiel? Zur Aufteilung des Spielbegriffs oder: Die Schwierigkeit, die spielende Maschine zu denken . . . . . . . . . . . . . 155 JULIA BEE

»Die Welt spielt«. Spiel, Animation und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . 171

L I SA H A N D E L

Irdisches Spiel – »Queer messmates in mortal play« . . . . . . . . . . . . . . 191 A ST R I D D E U B E R - M AN KOWS K Y

Variationen des Spiels. Seeing Red von Su Friedrich mit Deleuze, Guattari und Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

EINLEITUNG Zur Medialität des Spiels Astrid Deuber-Mankowsky und Reinhold Görling Deuber-Mankowsky / Görling Einleitung Gibt es Spiel, gibt es auch Zwischenraum. Spiel bringt Dinge in Relation und verändert sie dadurch. Kein Gelenk funktioniert ohne Spiel. Spiel bedeutet Bewegung: räumlich, zeitlich, modal. Sitzt eine Schraube fest, gibt es zu wenig Spiel zwischen Metall und Holz. Differenz und Wiederholung sind zeitliches Spiel. Innere und äußere Welt, Fiktion und Realität, Regel und Übertretung: alle aufeinander bezogenen Differenzen der Wahrnehmung von Wirklichkeit befinden sich in einem Verhältnis des Spiels. Mit Immanuel Kant wissen wir, dass unsere Vermögen zueinander in einem Verhältnis des Spiels stehen, mit Donald W. Winnicott wissen wir, dass Spiel zur Herausbildung der Differenz zwischen Subjekt und Objekt gehört, mit Victor Turner, dass wir ohne Spiel kein Verhältnis von Individuum und Kollektiv kennten, mit Peter Fongay, dass wir ohne Spiel nie zu einer Erfahrung der Intersubjektivität kämen. Doch wäre es nicht an der Zeit, den Begriff des Spiels nicht mehr nur auf das Subjekt und seine Vermögen zu beziehen? Gibt es eine spezifische Medialität des Spiels, die es sinnvoll macht, das Verhältnis jeden Ereignisses zu seiner Umgebung als Spiel zu beschreiben? So beginnt der Call for Papers, den wir im Herbst 2013 an die Mitglieder der AG Medienphilosophie der Gesellschaft für Medienphilosophie verschickten, um den jährlichen Workshop vorzubereiten, der am 17. und 18. März des darauf folgenden Jahres in Düsseldorf stattfand. Die hier versammelten Beiträge haben in den dortigen Präsentationen und Diskussionen ihren Ausgang genommen. Dabei haben alle Beiträger_innen die Frage nach einer spezifischen Medialität des Spiels aufgenommen. Dass diese Frage nicht einfach zu beantworten ist und reich an Implikationen, zeigt sich, wenn man über das Verhältnis von Spiel und Technik nachdenkt: Immer dann, wenn Technik mit mechanischen Bewegungen verbunden wird, sehen wir sie im Gegensatz zum Spiel. Wenn Technik jedoch mit Ästhetik assoziiert wird, taucht das Spiel als Teil der Technik auf. In welcher Weise können Technik, Spiel und Ästhetik neu gedacht werden? Und wie verhält sich dazu der Versuch, das Spiel jenseits einer Fokussierung auf die Spiele der Menschen zu denken? 7

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In unserem alltäglichen Sprachgebrauch scheint die Frage bereits in Richtung einer transgressiven Medialisierung des Spiels entschieden zu sein. So sprechen wir von einem Spiel im Gelenk und im Radlager, vom Spiel der Farben und des Sonnenlichts, von den Spielen der Kinder und der Liebenden, vom Sprachspiel und Mimenspiel, vom Spiel mit dem Computer und dem Computerspiel, vom Spiel der Karten und von den Kartenspielerinnen. Das Spiel ist demnach nicht nur etwas Subjektives, die Anwendung des Begriffs auf ein Ensemble von Dingen, das in räumlicher oder zeitlicher Bewegung ist, prägt so viele Redewendungen, dass es »am Ende überhaupt sinnlos [wird], in diesem Bereich eigentlichen und symbolischen Gebrauch zu unterscheiden«, wie Hans-Georg Gadamer in seinen Ausführungen zum Spiel konstatierte.1 Selbst das Spiel, an dem das Subjekt beteiligt ist, wird von ihm nie ganz beherrscht. Zufall, Rausch, Regelhaftigkeit und Wettkampf, die vier Charakteristika, die Roger Caillois’ prominente Theorie des Spiels unterscheidet, weisen alle auf eine zumindest partielle Machtlosigkeit des Subjekts hin.2 »Alles Spielen ist gespielt werden«,3 heißt es entsprechend auch bei Gadamer. Das erinnert an die bereits von Montaigne gestellte Frage: »Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?«4 Nun versucht Gadamer allerdings einen auf den Menschen bezogenen spezifischen Begriff des Spiels dadurch zurückzugewinnen, dass er das menschliche Spiel gegen andere Handlungen räumlich abgrenzt. »Das menschliche Spiel verlangt seinen Spielplatz.«5 Damit kann er das Spiel selbst als »Gebilde« und das Kunstwerk »als bedeutungshaftes Ganzes«6 vorstellen und schlussfolgern, dass »das Spiel seine eigentliche Vollendung«7 darin finde, Kunst zu sein. Dem ist ein strenger antitechnischer Zug eingeschrieben, denn dem hermeneutischen Zugang muss 1

Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1990–), 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1990), S. 111. 2 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch (Frankfurt a.M.: Ullstein, 1982). 3 Gadamer, Hermeneutik I, S. 112. 4 Michel de Montaigne, Essais, übers. v. Hans Stilett (Frankfurt a.M.: Eichborn Verlag, 1998), S. 224. 5 Gadamer, Hermeneutik I, S. 113. 6 Ebd., S. 112. 7 Ebd., S. 116.

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alles äußerlich oder zumindest zweitrangig bleiben, was nicht als ein sein Sein im Werk überschreitender Sinn verstanden werden kann. Dasselbe gilt auch für die Medialität. So hält Gadamer mit einer deutlichen Absetzbewegung gegen Walter Benjamin fest, »dass die Reproduktion [...] als solche nicht thematisch wird, sondern dass sich durch sie hindurch und in ihr das Werk zur Darstellung bringt«.8 Für eine medienphilosophische Hinwendung zum Spiel dürfte das Gegenteil gelten: Sie bezieht nicht nur das Mechanische und das Technische in ihren Begriff des Spiels ein, sie öffnet sich auch für eine Dezentrierung des Spiels, in der es nicht nur um die Frage der Bedeutung der Technik für das menschliche Spiel gehen kann, sondern eben auch um das Spiel der Technik selbst. Die Frage nach dem Verhältnis von Spiel und Technik stellt sich mit einer besonderen Dringlichkeit unter den Bedingungen der Digitalisierung des Spiels auf der einen Seite und der Durchdringung menschlicher Umgebungen mit digitalen elektronischen Netzwerken unter dem Stichwort des ubiquitären Computing auf der anderen Seite. Die US-amerikanischen Medientheoretiker Alexander Galloway und Eugene Thacker haben darauf hingewiesen, dass Netzwerke in dem Sinn »elementar« seien, als ihre Dynamiken auf Ebenen operieren, die sich zugleich über und unter dem Level des menschlichen Subjekts bewegen. Dieser elementare Aspekt des Netzwerks lässt dieses als eine Umwelt erscheinen und verwandelt es dennoch nicht in Natur. Das Elementare des Netzwerks betrifft vielmehr die Variablen und die Variabilität von Skalierungen vom Mikro- bis zum Makrolevel und es betrifft die Wege, auf denen ein Netzwerkphänomen sich plötzlich zusammenziehen kann, indem eine lokale Aktion zu einem globalen Muster wird und umgekehrt. Galloway und Thacker ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass der elementare Aspekt des Netzwerks und die damit einhergehenden Veränderungen der Umwelt uns dazu auffordert, eine Klimatologie des Denkens, an entire climatology of thought auszuarbeiten.9 In dieser zu errichtenden Klimatologie des Denkens nimmt, so meinen wir, die Frage nach einer spezifischen Medialität des Spiels, die es sinnvoll macht, das Verhältnis

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Ebd., S. 125. Alexander Galloway u. Eugene Thacker, The Exploit: A Theory of Networks (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2007), S. 157. Vgl. auch: Mark B.N. Hansen, Feed-Forward. On the Future of Twenty-First-Century Media (Chicago: University of Chicago Press, 2015), S. 3.

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jeden Ereignisses zu seiner Umgebung als Spiel zu beschreiben, eine zentrale Rolle ein. Denn, und darin sind sich alle unsere Beiträger_Innen einig: Das Spezifische des Spiels besteht darin, dass es in zeitlichen und räumlichen Zwischenräumen und Schwellen ebenso entsteht wie es diese schafft. Transpositionen, Übergänge, Übertragung, Veränderungen, das Neue ereignen sich hier. Galloway und Thacker entwickeln keine explizite Theorie des Spiels, aber sie plädieren für eine Befreiung der Computersprachen aus der zu engen Bindung an Funktionalität, sie fordern mehr noise und eine Computersprache mit mehr Variabilitäten. Kommt dies nicht der Forderung gleich, die Medialität des Spiels im Verhältnis jeden Ereignisses zu seiner Umwelt – auch im Netzwerk – zu rekonstituieren? Die Aufsätze in diesem Band sind nicht direkt der Errichtung einer Klimatologie des Denkens gewidmet. Dennoch leisten sie einen Beitrag zum besseren Verständnis der von Galloway und Thacker aufgeworfenen Probleme, wenn sie nach der spezifischen Medialität des Spiels im Verhältnis von Ereignissen zu ihren Umwelten fragen. So schlägt etwa Felix Raczkowski in seinem Aufsatz über die Entgrenzungsbewegung digitaler Spiele und die damit einhergehende Verspielung der Gesellschaft vor, das Konzept des Magic Circle, das in den Game Studies über Jahre kontrovers diskutierter wurde, durch eine Denkweise von Spielgrenzen als fluktuierende Erscheinungen zu ersetzen. Und die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Monique David-Ménard zeigt unter Rekurs auf Foucaults Konzept der diskursiven Praxis, dass die Übertragung in der Psychoanalyse als ein Spiel aus Operationen beschrieben werden kann, die einen Zwischenraum schaffen. Es ist ein Spiel aus Operationen der Wiederholung, der Deutung und der Intervention der Analytikerin, das eine Veränderung des Triebschicksals möglich macht. Andere Beiträge gehen von psychoanalytischen Theorien aus, um eine Medienökologie des Spiels zu entwerfen. Thematisiert wird dabei auch das Verhältnis von Spiel und »Selbst«-Bildung. Ein dritter Fokus bezieht sich direkter auf die Frage, wie Technik gedacht werden muss, damit sie spielfähig erscheint. Was bedeutet es, wenn das Spiel, wie Walter Benjamin vorschlug, im Zentrum eines Zeitalters der zweiten Technik steht und was könnten spielende Maschinen sein? Wenn Spiel sich nicht mehr, wie Gadamer in Anlehnung an Martin Heidegger noch glaubte, räumlich begrenzen lässt, wenn es sich also nicht mehr als ein Spiel- oder Zwischenraum zwischen von Arbeit oder Ritual bestimmten Räumen verstehen lässt, dann löst sich die Zeit des 10

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Spiels von ihrer räumlichen Einfassung. Schon Hamlet gelingt es nicht mehr, das time is out of joint durch ein abgegrenztes Spiel im Spiel zu richten und Zeit wieder genealogisch einzuhegen, wie Reinhold Görling in seinem den Band eröffnenden Beitrag schreibt. Entlang der maßgeblichen kulturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Theorien des Spiels im 20. Jahrhundert entwickelt er einen Vorschlag für eine Ökologie des Spiels, womit nicht eine Umweltlichkeit des Spiels, sondern eine eigene Weise der Bezogenheit gemeint ist. Gregory Bateson, Donald W. Winnicott, Daniel Stern und Gilles Deleuze sind die wichtigsten Referenzen, mit denen die Zeit des Spiels als différance, als Wirken der Differenz von Reihen und als Dramatisierung der Idee im Sinne von Deleuze verstanden wird. Entgrenztes Spiel, das seine eigenen Regeln erfindet, schafft sich selbst ein leeres Feld. Manchmal reicht ein zweideutiger Pfiff des Schiedsrichters, wie Görling am Beispiel eines unterbrochenen Fußballspiels zeigt. Entgrenztes Spiel ist Werden und Veränderung, oft auch ohne Intention der Beteiligten. Wären nicht alle interfaces oder Benutzeroberflächen durchsetzt vom Spiel, es wäre zum Beispiel kaum denkbar, dass sich die Technik der Computer so schnell und so umfassend in unsere alltäglichen Verrichtungen, in unsere Tagträume wie in unsere Arbeitsprozesse eingemischt hat. Auch Stephan Trinkaus bezieht sich in seinem Beitrag auf Winnicott und auf eine Zeit des Spiels, nämlich die Vorgängigkeit einer Leere oder eines Falles, die oder der nie erfahren werden konnte und doch in der Weise der Nachträglichkeit wirksam ist. Sigmund Freud hatte diese Zeitlichkeit der Psyche entdeckt, in der immer etwas im Spiel ist, das nicht hat stattfinden, nicht sich hat aktualisieren können. Das Spiel eröffnet sich als Zeit zwischen den Reihen der Vergangenheit und der Gegenwart, die nie ganz verschweißt sind, oder auch zwischen den Reihen der Subjekte und der Objekte, die nie ganz getrennt sind und nie ganz in eins fallen, wie Trinkaus sagt. Spiel ist »ein Geschehen im Übergang von Nichtexistenz und Existenz«. Entlang des mit einem tödlichen Sprung endenden Spiels des Jungen Edmund in Roberto Rossellinis Deutschland im Jahre Null entwirft Trinkaus die Theorie des Spiels als ein Halten des Nichts. In dieser spezifischen Ökologie des Spiels verlässt Winnicott die objekttheoretischen Entwürfe der Psychoanalyse, seien sie mit dem Konzept des Narzissmus verbunden oder mit Melanie Kleins Objekttheorie, um Spiel als Begegnung des Ichs mit seiner eigenen Unmöglichkeit zu verstehen. Weshalb Winnicott auch davon sprechen kann, »dass Spielen an sich schon Therapie ist«. Von hier aus geht Trinkaus aber noch einen 11

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großen Schritt weiter, indem er in Anschluss an Maurice Blanchot das Alltägliche in seiner Subjekt- und Objektlosigkeit als eigentliche Zeit des Spiels ausmacht: Zeit und nicht Raum, weil das Halten weniger begrenzt als ermöglicht. Das führt Trinkaus schließlich zu Karen Barads Ontologie der Unbestimmtheit: »I am one with the speaking silence of the void.« Einen neuen, von der klinischen Erfahrung ausgehenden Zugang zum Verhältnis von Psychoanalyse, Spiel und Technik eröffnet Monique David-Ménard, indem sie die Übertragung als eine Technik auslegt, die im Spiel ihren unruhigen Grund hat. Sie leitet ihre Antwort auf die Frage »Was haben wir außer dem Spiel, um aus dem Trauma aufzutauchen?« ein, indem sie Verdichtung, Verschiebung, Umkehrung, kurz jene Prozesse, welche die Regeln der Traumdeutung bilden und die Freud allesamt als Arbeit beschrieb, als Spiel auslegt. Sie sind Spiel, weil sie einen Prozess beschreiben, in dem Szenen in einer paradoxen Verbindung zueinander in Beziehung gesetzt werden. Eben so, wie Freud das Spiel in Bezug auf Relationen von Lustprinzip und Todestrieb in ihrer Funktion für die Kur beschrieb. In einem zweiten Schritt stellt David-Ménard die Verbindung von Kur und Spiel an einem Fallbeispiel dar, um an diesem Beispiel zu verdeutlichen, wie Sprachspiele im Prozess der Übertragung eine Änderung von widersprüchlichen Triebdispositiven einleiten. Dabei taucht der Begriff des Dispositivs, wie im dritten Teil deutlich wird, keineswegs zufällig auf. In einer dichten Lektüre von Michel Foucaults Definition von Aussagen und deren Analyse zeichnet David-Ménard hier im Detail nach, wie Foucault in seiner Definition der Aussage Sprachspiel und Technik unter dem Begriff der Operation zusammenführte und sie damit zugleich von der Bindung an ein Subjekt als auch von der Bindung an eine Ontologie löste. Damit gelang es Foucault, so DavidMénard, die Entstehung von Neuem und von Veränderung allein unter Bezugnahme auf den Begriff der diskursiven Praxis als ein Spiel von Operationen zu beschreiben, in dem ein Zwischenraum geschaffen wird. Eben diese Auslegung der diskursiven Praxis als ein Spiel von Operationen lässt sich, wie Monique David-Ménard zum Schluss zeigt, auch auf die Kur anwenden. Damit erscheint die Kur selbst als ein geregeltes Spiel, in dem die Analysandin, die Analytikerin mit ein wenig Glück ebenso mitspielen wie die Triebe und die Sprache, mit dem Effekt, dass sich die Triebe in ein neues, paradoxes Dispositiv verwandeln. Mit dem Ziel einer Re-Politisierung der Selbstbildung im Sinne einer politischen Ökologie legt Katja Rothe das Spiel als ein Gefüge aus, 12

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welches das Subjekt auf eine »umweltliche« Weise herstellt, mit sozialen Formen verbindet und kontextualisiert. Ausgehend von einem Überblick über die Bedeutung des Spiels und der Spieltherapien in der psychologischen Praxis von Hermine Hug-Hellmuth über Anna Freud und Melanie Klein, Margaret Lowenfeld und Dora Kalff und deren Vernachlässigung in der Wissenschaftsgeschichte der Psychologie schlägt Rothe vor, Spiele als Formen und Technologien der »Selbst-Bildung« auszulegen, in denen die Interaktion mit Objekten den Ausgangspunkt von offenen bedeutungsgenerierenden Prozessen bildet. Dabei bezieht sich Rothe, wenn sie von Objekten spricht, auf das Konzept des Übergangsobjekts, das im Zentrum von Winnicotts Theorie des Spiels steht. Das zu einem Ort des Übergangs gewordene Objekt beschreibt sie als jenes Element im Spiel, das es erlaubt, etwas zu finden, was man erfunden habe. Das Spiel wird damit als Versammlungsort beschreibbar, an dem sich Subjekt und Objekt in umweltlicher Weise gegenseitig konstituieren. Der Beitrag von Jasmin Degeling führt zurück zu den Foucault’schen Denkweisen des Spiels. Es ist wohl bekannt, dass Foucault das Spiel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Subjektivierungsprozesse und in seinen Überlegungen zu einer Ästhetik der Existenz mit Fragen der Selbstbildung und Entunterwerfung in einen Zusammenhang brachte. Statt jedoch an diese Diskussion über die Theorien der Selbsttechnologien anzuknüpfen, verfolgt Degeling die Rhetorik des Spiels zunächst zurück bis in die 1960er Jahre und untersucht sie exemplarisch an drei Schauplätzen. Sie beginnt mit der Diskussion von Foucaults Auseinandersetzung mit Kants Anthropologie (1961), in der das Spiel ganz zentral ist, und setzt ihre Untersuchung mit der Analyse der Ordnung des Diskurses (1970) fort. Vor dem Hintergrund der Rolle, welche die Rhetorizität des Spiels in den Denkweisen von Foucault einnimmt, liest sie schließlich den späten Aufsatz Subjekt und Macht (1982) auf das Verhältnis der »Spiele der Macht« zu den »Spielen der Wahrheit« hin. Dabei gelingt ihr der Nachweis, dass die Kunst der Kritik in der Ästhetik der Existenz die Lösung des Handlungsbegriffs von seiner Bindung an die Zweckrationalität voraussetzt. Wie der Bezug auf die pragmatische Philosophie und der Bezug auf Begriffe wie Übung oder eben Spiel möglich sind, ohne sich dabei auf ein autonomes Subjekt zu beziehen, verdeutlicht Jasmin Degeling in einer erhellenden Kritik an Christoph Menkes Auslegung des Foucault’schen Konzeptes der Ästhetik der Existenz. Der Begriff des Spiels wird in den bisherigen Beiträgen in einem weiten Sinn benutzt, den man im Unterschied zu dem Spiel, das 13

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bestimmten Regeln folgt und zeitlich und räumlich begrenzt ist, mit dem englischen Play beschreiben könnte. Die Unterscheidung von Play und Game hat in den (Digital) Game Studies im Rahmen des Versuchs eine neue Aktualität erhalten, das Computerspiel in seiner komplexen und spezifischen Medialität zu beschreiben. Dabei rekurrierte man zunächst auf die kulturwissenschaftlichen Theorien des Spiels, wie sie von Johan Huizinga und Roger Caillois entworfen wurden, um das digitale Spiel von anderen Medien zu unterscheiden, die der Narration näherstehen als dem interaktiven Spiel. Schnell jedoch löste eine der wichtigsten Differenzierungen von Huizinga, die Abgegrenztheit des Spiels gegenüber dem Alltag und der Arbeit eine langandauernde Kontroverse aus, die sich an jenem Begriff festmachte, den Huizinga für seine kulturhistorische Betrachtung der eigenen Welt des Spieles kreierte: den Zauberkreis, oder, in Englisch, den Magic Circle. Diese Kontroverse bildet den Ausgangspunkt von Felix Raczkowskis Diskussion der Spielgrenzen und ihren Denkweisen. Die Brisanz der Frage nach den Denkweisen der Spielgrenzen eröffnet sich, sobald man sich klar macht, dass mit der Entgrenzungsbewegung digitaler Spiele, wie Raczkowski einleitend bemerkt, sich auch das Ludische als Kulturphänomen transformiert. Die Richtung dieser Transformation wiederum zeigt sich, wenn wir uns vor Augen halten, dass die sogenannte Spielifizierung unserer Gesellschaft als Gamifizierung bezeichnet wird, Game aber im Zeitalter der Digitalisierung der Spiele der Name für eine Spielumgebung geworden ist, die sich durch Scoring und Flow, mithin durch die Quantifizierung und Rationalisierung der Spiele und ihrer Vergnügen auszeichnen. Wir sind damit an eben jenem Punkt angelangt, an dem sich das Nachdenken über die Transformation des Spiels mit der Feststellung von Alexander Galloway und Eugen Thacker überkreuzen, nach der die mit der Elementarität des Netzwerks einhergehende Veränderung der Umwelt uns dazu auffordere, eine Klimatologie des Denkens auszuarbeiten. Raczkowski kommt nach einem Durchgang durch die unterschiedlichen Positionen, die in der Kontroverse um den Zauberkreis eingenommen wurden, zu dem Schluss, dass der Magic Circle als Erklärungsmodell in den gegenwärtigen Entwicklungen selbst an seine Grenzen komme, als Grenzfigur jedoch für die Computerspielforschung entscheidend bleibe. Mit der Problematisierung der Schwierigkeit, die spielende Maschine zu denken, knüpft der Aufsatz von Serjoscha Wiemer an den Vorschlag von Raczkowski an, die veränderte Bedeutung des Spiels in den Rahmen einer wissensgeschichtlichen Untersuchung zu stellen. 14

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Dabei erscheint das Spiel bei Wiemer als jenes Element in der Geschichte des Wissens, das die Birfurkation des Wissens in Kulturwissenschaften auf der einen und Naturwissenschaften auf der anderen Seite unablässig befragt. Der beste Beweis dafür ist die Irritation und Faszination, welche spielende Maschinen, wie etwa im Fall des Computerschachs oder lebendige Automaten wie das Computerspiel Game of Life, in beiden Wissenskulturen auslösen. Zugleich jedoch weist Wiemer auch darauf hin, dass der Begriff des Spiels mit der Spaltung des Wissens in Kultur- und Naturwissenschaften selbst eine Spaltung erfuhr, ja, dass er, wie er am Beispiel der Spieletheorie von Johan Huizinga verdeutlicht, selbst zur Begründung des Begriffs der Kultur herangezogen wurde, wodurch das »kulturalistische Spielverständnis« doppelt untermauert wurde. In einem Durchgang durch die Philosophiegeschichte des Spiels stellt Wiemer dar, dass im 20. Jahrhundert eine Traditionslinie wiederauflebte, die dem kulturalistischen, auf das Bewusstsein und den Menschen bezogenen Spielverständnis unter Bezugnahme auf Heraklit und vermittelt über Heidegger einen kosmologischen Begriff des Spiels gegenüberstellte. So sieht Eugen Fink das Spiel als kosmisches Gleichnis, wenn es ohne Spieler gedacht wird. Diesen kosmologischen Spielbegriff sucht Wiemer in der Folge für die mögliche Beantwortung der Frage nach der Schwierigkeit fruchtbar zu machen, spielende Maschinen zu denken. Mit einem entschiedenen Plädoyer dafür, einen Begriff des Spiels zu wahren, der von der Beteiligung eines Bewusstseins nicht absieht, endet dagegen Andreas Beinsteiners Beitrag. Er arbeitet am Begriff des Spiels, wie er ihn in den späteren Arbeiten von Martin Heidegger findet, eine spezifische Konstellierung zwischen Spiel und Medium heraus. Wenn für Heidegger die Vorstellung einer Gegebenheit oder physis damit verbunden ist, dass sie dem »Anwesenden die Anwesung« gibt, kommt ihr schon immer eine mediale Qualität zu. Allerdings entzieht sich Medialität dann zugunsten dessen, was sie erscheinen lässt. Sie liefert eine Bühne für das Spiel des Seienden. Auch wenn dies nicht so verkürzt zu verstehen ist, wie es dann in Gadamers Idee des »Spielplatzes« wieder auftaucht, der antitechnische Zug des Arguments ist kaum weniger deutlich. Die Möglichkeit zur Irritation, Unterbrechung, Dysfunktionalität oder gar Handlungspotenz wird der Technik von Heidegger nicht zugesprochen. Anders wiederum die folgenden zwei Beiträge, die das Spiel als analytische Kategorie der Relationalität von Heterogenem in einem ökologischen oder umweltlichen Gefüge verstehen. Hier ist die Medialität dem 15

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Spiel nicht vorgängig. Spiel lässt sich damit auch nicht mehr anthropozentrisch im Sinne eines Werks verstehen, eher schon als ein Entwerken. So geben etwa Gilles Deleuze und Félix Guattari Heideggers Begriff des Weltens eine ganz andere Richtung. Hatte Heidegger noch davon gesprochen, dass der Stein »weltlos« sei und auch »Pflanzen und Tiere […] gleichfalls keine Welt haben« und als »Zeug« und »Verlässlichkeit« zu einer Welt gehören, die sich dem Bewusstsein öffnet,10 verstehen Deleuze und Guattari das faire monde gerade als eine dezentrierende Relationalität, ein Werden hin zur Welt in ihrer Vielfältigkeit und Unbestimmtheit, ja eine Bewegung des abstrakt und nichtwahrnehmbar Werdens.11 Julia Bee greift in ihrem Beitrag diese Idee auf und versteht Spiel als einen Modus der Praktiken des worlding, als ein »Anders-Werden«. In Anlehnung an Brian Massumi wird das als ob des Spiels nicht als nachahmender Bezug auf eine bestehende Realität, sondern als Abstraktion und ein Mehr verstanden, das eine Ebene der Virtualität eröffnet. Am Beispiel von Begone Dull Care, einem Animationsfilm von Norman McLaren und Evelyn Lamberts, beschreibt Bee ein solches »vibrierendes, pulsierendes und ständig transformierendes Feld der tanzenden Wahrnehmung«. Lisa Handels Beitrag geht in der Lösung des Spiels von seiner Bezogenheit auf ein Subjekt oder ein Leben, das über Bewusstsein verfügt, wohl am weitesten. Das führt Handel allerdings nicht zur mythischen oder religiösen Idee des kosmischen Spiels, sondern zu einem earthly play, wie sie es mit der Biologin Lynn Margulis formuliert. Im Zentrum der Evolutionstheorie von Margulis steht die These, dass komplexe Formen des Lebens aus einer Symbiose von einzelligen Lebewesen entstehen und dass dies auch die Anwesenheit von bakterieller Fremd-DNA im Cytoplasma der Zellen mit Zellkern erkläre. Ontogenese ist damit aber nicht mehr als eine Autogenese und wurzelförmige Entwicklung darstellbar, sondern als ein Werden-Mit, ein Spiel heterogener Lebewesen. In Zoo City, einem Cyberpunk-Roman von Lauren Beuget, in dem es um die Ausbreitung prekärer symbiontischer Existenzweisen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren geht, sieht Handel eben diese Heterogenese in einem literarischen Spiel ausbuchstabiert.

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Martin Heidegger, Holzwege (Gesamtausgabe Bd. 5) (Frankfurt a.M.: Klostermann, 1977), S. 31. 11 Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Milles Plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2 (Paris: Éditions de Minuit, 1980), S. 343.

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Der Band schließt mit einem Experiment. Ist es möglich das Konzept des Ritornells in eine Philosophie des Spiels einzubinden und mit Benjamins Philosophie der Zweiten Technik, in deren Zentrum bekanntermaßen das Spiel steht, so zu verbinden, dass das Spiel als Teil der Technik erscheint und die Ästhetik ihrerseits als Teil dieses Spiels? Dieser Frage geht Astrid Deuber-Mankowsky in ihrem Beitrag in Form eines spielerischen Versuchs nach. Elemente dieses Versuchs sind die Texte von Deleuze und von Deleuze und Guattari zum Konzept des Ritornells und der dazugehörigen Philosophie der Wiederholung, Benjamins verstreute Ansätze zu einer Philosophie der Technik und der Videofilm Seeing Red der US-amerikanischen Experimentalfilmemacherin Su Friedrich. Seeing Red spielt mit dem Genre des Diary Films in der sich ausbreitenden Vlog-Kultur. Der Film ist jedoch, wie Deuber-Mankowsky zu zeigen unternimmt, mehr als ein Spiel mit Genres: Su Friedrich betreibt das Filmen selbst als ein Spiel im Sinne des Ringelreihen-Spiels von Deleuze und Guattari: als eine Passage und als eine Bewegung der Intensivierung, als ein Spiel mit Wiederholungen und ein Abschreiten von Variationen. Dies lässt sich freilich nur dann mit dem Begriff der Technik verbinden, wenn Technik nicht instrumentell – und das heißt, auch nicht anthropozentrisch – gedacht wird, sondern, wie Benjamin vorschlägt, in der Nähe zum Spiel, das, wie er schreibt, als »Wehmutter jeder Gewohnheit« auftritt.12 So ist es von der kleinen Variation nur ein Schritt bis zur unermüdlichen Wiederholung der Versuchsanordnung, welche das Experiment auszeichnet. Unser herzlicher Dank geht an Sarah Löhl und Fiona Schrading für ihre Mitarbeit bei der Erstellung der Druckvorlage. Wir danken den Herausgebern Christoph F. E. Holzhey und Manuele Gragnolati für die großzügige Unterstützung und die Möglichkeit, den Band Denkweisen des Spiels in der Reihe Cultural Inquiry, im Rahmen des aktuellen Forschungsprogramms des ICI Berlin Institute for Cultural Inquiry: ERRANS, in time veröffentlichen zu können. Besonders dankbar sind wir Christoph F. E. Holzhey für die genaue Lektüre des Manuskripts.

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Walter Benjamin, »Spielzeug und Spielen. Randbemerkungen zu einem Monumentalwerk«, in ders., Gesammelte Schriften III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991), S. 127–32 (S. 131).

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