Spielräume als Wissensräume

July 3, 2017 | Author: Mathias Fuchs | Category: Game studies
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SPIELRÄUME ALS WISSENSRÄUME Mathias Fuchs, The University of Salford [email protected] © 2005 Author & Publisher (Kunstforum International). Personal and educational classroom use of this paper is allowed, commercial use requires specific permission from the author and publisher.   BAND 176, JUNI - AUGUST 2005, SEITE 56, DOKUMENTATION

TITEL-SERIE

MATHIAS FUCHS

SPIELRÄUME ALS WISSENSRÄUME Biologen mit dem Forschungsschwerpunkt der Familie Igel (Erinaceidae), lächeln milde über das Spiel "Sonic the Hedgehog", Soziologen, die über italienische Installateure forschen, finden bei Super Mario wenig Wissenswertes und Kunstgeschichtler mit dem Schwerpunkt persische GEORGE LEGRADY, Pockets Full of Memories, 2000 - 2005, Selbstorganisiertes System eines Wissensraumes. © George Legrady.

Kunst halten das Spiel "Prince of Persia" bestenfalls für einen Witz. Ich möchte im Folgenden den Versuch unternehmen, Spielräume als Dispositive für Wissensrepräsentation vorzustellen und insbesondere nachzuweisen, dass Aby Warburgs Projekt einer transkulturellen, Raum und Zeit überschreitenden und bisweilen antirationalen Kulturanalyse einen neuen Spielort finden könnte: Computerspiele. Der Grund, warum Computerspiele in den meisten Fällen als ungeeignet zur Wissensvermittlung angesehen werden, liegt einerseits in sozialen und altersbedingten Ressentiments anderseits aber auch in der Annahme, dass die strukturellen und logischen Voraussetzungen eines Spieles wenig mit

FRANCESCO DEL COSSA, Schifanoia Fresken, 1476-84, Fresko, 216 x 320 cm, Palazzo Schifanoia, Ferrara.

den strukturellen und logischen Erfordernissen wissenschaftlicher Forschung zu tun haben. Computerspiele sind unlogisch. Man kann in ihnen mehrmals sterben, wiederauferstehen, sich verdoppeln oder unsichtbar machen. Man kann durch Wände gehen oder die Gravitation auf den Kopf stellen. Computerspiele sind unscharf und verwirrend in Bezug auf Genre und Disziplin. Installateure wie der berühmte Super Mario werden in Hinblick auf sportliche Leistungen untersucht und nicht auf ihre Fähigkeit mit Rohrbrüchen zurechtzukommen, japanische Schwertkämpfer agieren als Modepuppen usw. Schließlich sind Computerspiele aber auch inkompatibel mit Newton'schen Vorstellungen von Raum und Zeit. In Computerspielen mischen sich kulturelle Versatzstücke, die unserer

EPIC GAMES, UnrealTournament, 2004, Screenshot, Computerspiel, © 2004 Epic Games, Inc.

Vorstellung nach räumlich getrennt gehören, in eins. Europäische Musik mengt sich in asiatische Interieurs, nordamerikanischer Straßenjargon wird von nepalesischen Mönchen gesprochen. Das gleiche gilt für die Zeit. In vielen Computerspielen badet man geradezu in Asynchronizitäten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft laufen in fröhlichem Gleichschritt

und die Richtung zeitlicher Entwicklung läuft beliebig nach vorn oder zurück. Wie kann ein Dispositiv, das so sehr anders organisiert ist als das wissenschaftlicher Repräsentationsräume und Systematiken als Ort wissenschaftlicher Repräsentation wirken? WARBURGS BRÜCKENSCHLAG ZWISCHEN KULTURELLEN FELDERN In der grandiosen Analyse der Schifanoia Fresken, die Warburg 1912 THOMAS FEUERSTEIN, Cowboy, 2001, Computermontage aus dem Projekt Biophily. © Thomas Feuerstein 2001.

veröffentlichte, wies er ausgehend von Untersuchungen, die den Palast der Familie Este in Ferrara zum Ausgangspunkt nahm, nach, dass innerhalb der künstlerischen Gestaltung eines Renaissancewerkes asynchrone Elemente und kulturüberschreitende Fremdkörper eine wesentliche Rolle in der semantischen Struktur des Werkes spielen. Die Verweise auf Sternzeichen folgen einem Programm, das biographischen Daten der Auftraggeber des Werkes folgt. Eine Folge von Sternzeichen dirigiert die Bildlogik der Friese und unterläuft damit in gewisser Weise die klassische Exklusivität einer abendländisch-christlichen Narration. Nachweisbar wurden Verweise auf orientalische Bildkultur und Literatur, unter die klassischen Gestaltungselemente gelegt. Francesco del Cossa, der

SEGA, Skies of Arcadia, 2000, Screenshot, Computerspiel, © 2000 SEGA Corp.

Künstler, musste wohl annehmen, dass Elemente aus verschiedenen Kulturen synthetisierbar waren und dass jener kulturübergreifende Brückenschlag auf der Seite der Rezipienten einleuchtend sein könnte. Man mag die Frage aufwerfen, ob die poly-kulturellen Verweise nur einem elitären Publikum zugänglich waren - möglicherweise sogar nur den Auftraggebern und dem Künstler oder gar dem Künstler allein. Selbst wenn dies im Falle der Schifanoia Fresken der Fall sein sollte, so lässt sich doch aus anderen Untersuchungen Warburgs die Schlussfolgerung ziehen, dass gewisse Elemente aus einem "Leidschatz" innerhalb eines zentraleuropäischen Rezeptionsfeldes universell verfügbar waren. Warburg zeigt dies anhand seiner Untersuchung flämischer Wandteppiche (1907),

SEGA, Skies of Arcadia, 2000, Screenshot, Computerspiel, © 2000 SEGA Corp

die Hochkunst und populäre Ikonographie miteinander verknüpfen. Wer schon einmal durch die Räume und Korridore des Spieles Max Payne gelaufen ist, wird bemerkt haben, dass zwischen den New Yorker Ziegelfassaden, den brennenden Mistkübeln und den heruntergekommenen Hotelzimmertapeten à la Bronx Details versteckt sind, die von allerfeinsten finnischen Designern stammen. Als ich den Spieledesigner (und Architekturstudenten) Saku Lehtinnen danach fragte, wie es käme, dass in der offensichtlich nordamerikanisch inspirierten Stadt, Möbel von Alvar Aalto vorkämen, antwortete er: "Als wir mit unserer Firma Remedy Max Payne entwickelten, wollten wir die Atmosphäre New Yorks

Manthorp, Cartwright Art Hall, 2004, Screenshot, museologisches Computerspiel. © Cartwright Art Hall Bradford.

einfangen. Wir flogen also nach Manhattan und nahmen dort in Begleitung zweier Polizisten Texturen auf, die schmutzig, heruntergekommen und sehr, sehr amerikanisch waren. Als ich dann Wochen später in Helsinki die Architektur des Spieles baute, bekam ich auf einmal Lust, einen Stuhl von Alvar Aalto zu modellieren. Ich hab ihn dann in einen der Max Payne Räume gestellt und auch noch Möbel von Le Corbusier dazugetan." Was wie eine Laune eines Spieledesigners klingen mag, ist ganz typisch für Spiele und deren Design. Kulturelle Konsistenz oder stylistischer Purismus kommen viel seltener vor als wild wuchernder Eklektizismus oder bewusste Unterwanderung eines kulturellen Kontextes. Die augenzwinkernden

Inserts von finnischen Möbeln in die amerikanische Stadt, die in Max Payne eingeleitet wurden, setzen sich in Max Payne 2 in erweiterter Form fort. Obwohl das Spiel in der Manier eines James Bond Filmes entworfen wurde, wird der zeitgeschichtlich-kulturelle Bezug zu den Filmen gebrochen und bewusste Verweise auf andere Genres wie Video und frühe Computerspiele erzeugen ein vieldeutiges Netz von Medien- und Zeitsplittern. In der Entwicklung der Unreal Spiele kann man eine ähnliche Tendenz nachweisen. Während das frühe Unreal1 (1999) eine Welt zu Manthorp, Cartwright Art Hall, 2004, Screenshot, museologisches Computerspiel. © Cartwright Art Hall Bradford.

zeichnen versuchte, in der militärisch ausgerüstete Weltraum-Kadetten auf Science-Fiction Monster trafen, gesellten sich in UT2003, dem Nachfolgerprogramm, ägyptisch inspirierte Protagonisten dazu. Was diese Figuren, die Tut-ench-Amun und seinen göttlichen Kollegen ähnelten, mit den amerikanischen Marines zu tun hatten, ist mir nie ganz klar geworden. Immerhin waren unappetitliche Monster wie Skaarj aus dem Spiel entfernt worden. Doch diese Konsolidierung des kulturellen Bezugsrahmens sollte nicht lange dauern. UT2004, das ein Jahr später veröffentlicht wurde, besaß nun Ägypten, den Weltraum, das amerikanische Militär und - auf ausdrücklichen Wunsch der Unreal Fangemeinde - Skaarj und seine

Electronic Arts, SimCity, 2003, Screenshot, Simulations-Computerspiel, © 2003 Electronic Arts Inc.

Monsterkollegen. Noch weiter geht die stylistisch-kulturelle Bastardisierung, wenn man sich in die Welt der Modder begibt: Diese Gruppe von Spielern/ Spieledesignern fügt dem Repertoire des Spieles eigene Gestalten hinzu. So kann man am Internet Spielerfiguren finden, die Homer Simpson, Lara Croft, oder Elvis Presley ähneln. In einem Mehrspieler-Kontext kann man sich so in einer Welt wieder finden, die von Memphis/ Tennessee bis ins ägyptische Memphis reicht, unter Einbeziehung von USMilitärstützpunkten, dem Weltraum und Hollywood. ÜBERSCHREITUNG DER GRENZEN VON ZEIT UND RAUM

Lightwave Project, PlastiCity, 2005, Screenshot, Simulations-Computerspiel, © 2005 Lightwave Project, Bradford.

Warburgs Untersuchung der Schifanoia Fresken ebenso wie seine Untersuchungen und Vorlesungen über die Schlangenrituale der nordamerikanischen Hopis (1923) gingen von der methodischen Maxime aus, dass sich aus Material, das zeitlich unterschiedlichen Ursprungs ist, relevante Erkenntnis gewinnen lässt, indem man es collagiert. Entsprechend verwendete er die Überlagerung örtlich disparater Objekte, Narrationen und Zeichen. Wie in Warburgs Methode angedacht, so verwenden auch viele Spieledesigner Zeit-Collage und Raum-Collage, um überraschende Erfahrungen auszulösen. Die bereits angesprochene Parallelität von Ägyptertum, Weltraumforschung und Sagenwelt in UT2004 lässt sich nicht nur im Sinne transkultureller sondern auch zeitlich räumlicher Superimpositionen verstehen. In einem anderen Computerspiel,

George Legrady, Pockets Full of Memories, 2000 2005, Selbstorganisiertes System eines Wissensraumes. © George Legrady.

Skies of Arcadia, mischt sich europäisches Mittelalter mit Science-Fiction Welten der Zukunft ohne zur Verwirrung der Spieler zu führen. GleichZeitigkeit und Gleich-Räumlichkeit zählen zu den vor-Newton'schen und möglicherweise nunmehr nach-Newtonschen Eigenschaften der Computerspiel-Wissensräume. JENSEITS DER SCHWELLEN VON AUFKLÄRERISCH- RATIONALEM VERSTÄNDNIS Chris Marker berichtet in seinem Film Sans Soleil: "Mir wurde von SeiShônagon erzählt, einer Gesellschafterin der Prinzessin Sadako, die im 11.

Jahrhundert in der Heian Periode lebte. Shônagon liebte es, Listen zu erstellen: Sie erstellte eine Liste der eleganten Dinge, eine andere der hoffungslosen Dinge, wieder eine andere von Dingen, die der Beachtung nicht Wert wären. Eines Tages kam sie auf den Gedanken, eine Liste zu erstellen von Dingen, die das Herz schneller schlagen ließen." (Chris Marker: Sans Soleil) Im Westen erscheint die chinesische Klassifikationslust ebenso exotisch wie kreativ, weil wir die Freiheit, klassifikatorische Grenzen zu Jelena Klasna und Kristian Lukic, Civilisation IV, 2004, Screenshot, ökonomisches Simulationsspiel. © Jelena Klasna und Kristian Lukic.

überspringen, bewundern. Wir bewundern die Beliebigkeit jener Grenzziehungen und vergessen dabei, dass die Formierung wissenschaftlicher Systematiken in unserer westlichen Kultur ebenfalls gewählt und gewachsen ist - keinesfalls aber notwendig. Wenn wir ein Museum für Naturgeschichte besuchen, erwarten wir, den Tiger neben dem Löwen zu finden, nicht neben der Taube. Im virtuellen Museum können wir andere Affinitäten konstruieren: Der Tiger kann neben der Taube stehen, weil sie beide mit dem Buchstaben "T" beginnen. Der Tiger kann aber auch

Jelena Klasna und Kristian Lukic, Civilisation IV, 2004, Screenshot, ökonomisches Simulationsspiel. © Jelena Klasna und Kristian Lukic.

neben der Titanic stehen, weil beide "das Herz schneller schlagen lassen." Und noch einen Gedanken entlehnen wir aus China: Nachdem die Kategorien für "kleine Tiere", "wilde Tiere", "Tiere, die in fernen Ländern wohnen" geprägt waren, wurde die Notwendigkeit einer weiteren Kategorie offensichtlich: Tiere, die anders nicht beschrieben werden können. Computerspiele sind ein Genre, in dem das Spiel der De-Kategorisierung und Re-Klassifizierung perfekt implementiert werden kann. Spieler von Computerspielen sind vertraut damit, unerwarteten Konnotationen zu begegnen. Computerspiele sind kein Video und kein Kino. Das Spiel lässt sich nicht linear lesen, noch gibt es eine Weise des Lesens vor. Es sind die Spieler und nicht die Game-Designer, die die Bezugspunkte individueller Interpretation festlegen. Der Spieler geht seinen Weg und beschreibt dadurch einen individuellen Pfad (eine "Fluchtlinie" würden Deleuze/ Guattari sagen), der die Objekte der Erfahrung rekontextualisert. Im virtuellen Wissensraum der Computerspiele wird man verführt und eingeladen, Exponate, Dispositive, Ordnungssysteme und historische Kontexte neu zu erleben. Computerspiele, die als Wissensräume fungieren, wollen Wissenspfade anlegen, die nicht die Autobahnen kategorialer Wissenssysteme sind, sondern solche, die die Besucher auf Schleichwege, Nebenstraßen, Sackgassen und Geheimpfade locken. ERNSTE SPIELE, WISSENSRÄUME Was in Nordamerika derzeit mit großem Applaus von Theorie- und Industriegrößen als "Serious Games" vorgestellt und gefeiert wird, geht auf ein Verständnis von der Ernsthaftigkeit der Spiele zurück, das spätestens durch Huizinga etabliert, davor jedoch schon von Wieland und Goethe formuliert wurde.Verschiedenste Spieledesigner, Künstler und Wissenschafter arbeiten an ernsthaft, spielerischen Repräsentationszusammenhängen aus dem Bereich der Politik, Medizin, Architektur, Stadtplanung, Kunstgeschichte oder Museologie. Steve Manthorp, Medienkurator der Cartwright Art Hall in Bradford/

England, beauftragte den Nachbau seines Museums als Computerspiel. Das Projekt, das die Attraktivität der Ausstellung wichtiger Werke der Präraffaeliten, Orientalisten und Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts beabsichtigt, präsentiert einem an Spieltechnologien geschulten und sozialisierten Publikum musealen Kontext in leicht zugänglicher Form. Dass dabei das Medium die Message veränderte, war Manthorp nur Recht. Spieler und Spieledesigner wurden in die Lage versetzt, Elemente der Gameengine, wie die bereits erwähnten Unreal Monster, Waffen und Fahrzeuge in dem Spiel zu platzieren und in direktem Vergleich mit Monstern, Waffen und Fahrzeugen präraffaelitischer oder orientalistischer Machart zu erfahren. Civilizations IV ist ein Projekt der serbo-montenegrinischen Gruppe Eastwood - Real Time Strategy Group. Ihr Interesse gilt der Infiltration eines kommerziellen Spieles mit kritischen Inhalten. Civilizations III ist ein Spiel, in dem man imperialistische Cleverness verwenden kann, um Machtbereiche aufzubauen. Was in diesem Spiel als Zivilisationen verkauft wird, sind Interessensbereiche oder Einflußbereiche. Die postjugoslawischen Künstler Jelena Klasna und Kristian Lukic parodieren diese Verschiebungen in großartiger Weise, indem sie Konzernchefs und Firmeninteressen aufeinander krachen lassen. Die Pharmakonzerne, SIEMENS, IBM und SONY stellen die Agenten eines Weltressourcenverteilungsspieles dar. Eastwood präsentieren in ihrem Spiel nicht nur eine Kritik der sozioökonomischen Zustände, sie meinen darüber hinaus, dass innerhalb der Videogame-Welt regulative und ethische Normen etabliert werden sollten, die "Verpflichtungen und Rechte" einführen. Die Zahl der glücklichen Angestellten ist in dem abgebildeten Histogramm trotz heftiger Bemühungen des Spielers Null geblieben. Es bedarf weniger Worte, um darauf hinzuweisen, dass diese Art eines Serious Game viel ernsthafter ist, als das, was in amerikanischen Wahlzeiten, der Post- und Pre-War Ideologie und der Begeisterung für Trends als "serious" bezeichnet wird. Wenn die amerikanische Presse ein Howard Dean Game begeistert als "Serious Game" bezeichnet, darüber hinaus feiert, dass zum ersten Mal in der Geschichte ein Wahlkampf in einem Spiel als Thema entwickelt wird, und meint, dass hier Spieletechnologie in einem ernsthaften Umfeld zu ihrem Recht gelangt, so kann man nur verzweifelt auf ein Missverständnis hinweisen, das Propaganda mit Information und Ideologie mit "Ludism" verwechselt. Welcher Spieler möchte gern in einem Spiel Wähler für einen Kandidaten aus Iowa einfangen? Während für Eastwood die spielerische Projektion von 2401 an bis ins Jahr 4000 reicht, schielt das Howard-DeanGame offenbar um die allernächste Ecke: den erwünschten Wahlsieg in 7 Tagen und 8 Stunden. Kleinkarierter kann man Interessen wohl kaum begrenzen. Das Problem solch simpler Übersetzungen eines Realweltproblems in einen Spielkontext ist offensichtlich. Während das Spiel von Überraschungen, Herausforderungen, der Entfesselung aus den Ketten von Raum und Zeit und einer internen Logik lebt, sind Pseudospiele, in denen die Absicht der Produzenten in allzu deutlichen Lettern unter die virtuelle Welt geschrieben sind, im besten Falle langweilig, in den meisten Fällen aber widerwärtig. Man sollte die Gedanken Huizingas und Caillois', die das Verhältnis von Spiel und Gesellschaft untersuchten, ebenso aber

auch die Denker des deutschen Idealismus lesen, um zu verstehen auf welchem Gedankengerüst "Serious Games" aufsetzen müssen. Schiller dachte, dass die Künstler Naturwirklichkeit in Kunstwahrheit überführen könnten, indem sie spielten. Er meinte, dass "nach meinem Begriff das Ästhetische Ernst und Spiel zugleich ist." "Serious Games" eben. Jan Huizinga definierte in seinem erstmal 1938 erschienenen und 1944 in Deutsch verlegten Werk "Homo Ludens" das Spiel in einer Weise, die vortrefflich auf Game Art Konzepte zu passen scheint: "Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint' und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der keine Nutzen erworben wird (...)."1 Die Nähe dieser Definition des Spieles zu kantischen Vorstellungen von Kunst als freier, interesseloser Tätigkeit fällt auf. Roger Caillois folgt Huizinga in Hinsicht auf die freie Betätigung, kritisiert aber, er möchte das Spiel nicht "bar jeglichen materiellen Interesses" verstanden wissen.2 Caillois weist zu Recht auf die "Spielhöllen, die Kasinos, Rennplätze und Lotterien" hin, unterschätzt aber sicher Huizingas Argumentation, wenn er meint, Huizinga habe die Möglichkeit, dass man Spielen und Geldverdienen zugleich könne, nicht erkannt. Es ist eher anzunehmen, dass Huizinga den materiellen Aspekt eines Glücksspieles als nicht wesentlich für das eigentliche Spiel betrachtet, selbst wenn dieser Aspekt sich zum Spiel dazugesellt. Die interessante Formel des Spieles als etwas, das "nicht so gemeint" ist, greift Robert Pfaller in seiner in Vorbereitung begriffenen, derzeit noch nicht erschienenen Arbeit "Die Illusionen der anderen" auf und entwickelt sie zu einem Kerntopos einer Theorie des Lustprinzips in der Kultur. Pfaller fragt, ob im Nahfeld bestimmter Konstruktionsmechanismen - in Pfallers Terminologie sind diese Mechanismen "Einbildungen ohne Eigentümer" "jemand ‚wirklich' und ‚ganz' an etwas glaubt, oder vielleicht nur ‚halb'."3 Es scheint für das Spielen wesentlich zu sein, eine Kulturtechnik ausführen zu können, die es ermöglicht, etwas "halb" zu glauben. Wenn wir diese Technik nicht beherrschen würden, müssten wir leiden, wenn wir in einem Computerspiel erschossen werden. Der geübte Gamer ist hingegen in der Lage, mit einem zufriedenen Grinsen festzustellen: "Jetzt bin ich tot!" Desgleichen der Musikhörer: Die Befindlichkeit, traurige Musik als traurig empfinden zu können, unterscheidet sich vom Gefühl lebensweltlicher Trauer. Stephen Davies stellt die Frage "Why listen to sad music if it makes us sad?" (Davies, 1997, 243 ff.) 4 und diskutiert verschiedene Möglichkeiten. In Verwendung eines Vorschlags von Marcia M. Eaton untersucht er, ob es vielleicht verschiedene Arten der Trauer gäbe, die nur in unserer Sprache durch einen gemeinsamen Terminus durchmischt werden. Davies hält es für nicht wahrscheinlich, dass es eine emotionale Qualität einer zweiten Form von Trauer neben der ersten gäbe. Diese "strange kind of sadness" so meint er, müsse ja - falls es sie gäbe sämtlichem Fühlen zugängig sein. In anderen Worten, wenn ich Trauer erster Art und Trauer zweiter Art fühlen kann, sollte ich diese und jene in ästhetischen Kontexten wie auch in lebensweltlichen empfinden können.

Dies ist nicht der Fall. Davies kommt daher zu einer anderen Lösung, die dem "nicht so gemeint" Huizingas und dem "halb glauben" Pfallers nahe liegt: Er behauptet: Wir können aus Spaß trauern. Ebenso wie wir aus Spaß fürchten können, indem wir uns "von Brücken stürzen, mit denen wir nur durch ein Weniges an elastischem Seil verschnürt sind", so können wir auch aus Freude am Trauern trauern. Das Antriebsmoment für solche Praxis ist nach Davies nicht Geld, Ruhm oder Pflicht (vgl. nochmals Huizingas Definition des Spieles), sondern die "Liebe zur Tätigkeit selbst". ERNST UND SPIEL IM DEUTSCHEN IDEALISMUS 150 Jahre bevor Huizinga das Konzept des "Homo Ludens" entwickelte und ausführte, beschäftigte Herder, Wieland, Schiller und Goethe die Dialektik von Ernst und Spiel und ihre Beziehungen zu künstlerischem Schaffen. Wielands Reflexion über die Zeitkürzungsspiele, die Wolfgang Kayser als "Vorwegnahme Schillers" (Kayser, 1961, 34ff.) 5 bezeichnet, enthalten Gedanken, die man eher als Vorwegnahme Huizingas, wenn nicht Caillois' nennen möchte: "Ich würde es daher als eine selbst des scharfsinnigsten Menschenforschers keineswegs unwürdige Beschäftigung ansehen, wenn ein solcher sich entschlösse, die Geschichte der Spiele, mit philosophischem Auge betrachtet, zum Gegenstand einer genauen und vollständigen Untersuchung zu machen." Bei Caillois heißt es dann: "Der Versuch, die Diagnose einer Zivilisation, der von den Spielen ausgeht, die in ihr besonders zur Blüte gelangt sind, ist keineswegs abwegig. In der Tat, wenn die Spiele Faktoren und Spiegelbilder der Kultur sind, folgt daraus, dass eine Zivilisation, und innerhalb einer Zivilisation eine Epoche, bis zu einem gewissen Grade durch ihre Spiele charakterisiert werden kann. Sie bringen allgemein ihre allgemeine Physiognomie zum Ausdruck und liefern nützliche Hinweise auf die Vorlieben, die Schwächen und die Stärken einer bestimmten Gesellschaft in diesem oder jenem Augenblick ihrer Entwicklung." (Caillois, 1982, 92) Schiller fordert für das Spielhafte einen Bereich der Kunst ein, den Kayser als "Sonderbezirk" bezeichnet (Kayser, 1961, 35), der für Schiller aber ein zentraler Bezirk war: "Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Schiller dachte, dass die Künstler Naturwirklichkeit in Kunstwahrheit überführen könnten, indem sie spielten. Er räumt allerdings ein, dass "nach meinem Begriff das Ästhetische Ernst und Spiel zugleich ist." (Schiller in einem Brief an Goethe vom 17.8.1797) Schiller war in seiner Beziehung zum Spiel viel stärker ein "Gamer" als Goethe es je sein wollte. In einem Brief vertraut Schiller Goethe an, dass er mit Schelling während dessen wöchentlichen Besuchen "zur Schande der Philosophie seis gesagt", stundenlang ein modisches Kartenspiel gespielt habe. Goethes Reaktion war väterlich verständnisvoll, wenn auch mit dem arroganten Hinweis versehen, dass er nicht recht verstünde, wie man sich dabei erfreuen oder zerstreuen könne. Goethe gesteht allerdings ein, dass er selbst "wissenschaftliche Spiele, wie Mineralogie und dergleichen" gerne

spiele. Wichtig war Goethe allerdings stets, den Ernst nicht aus den Augen zu verlieren: "Der Deutsche ist überhaupt ernsthafter Natur und sein Ernst zeigt sich vorzüglich, wenn vom Spiele die Rede ist." Dennoch stellte der Spieler eine Verführungsfigur für Goethes ästhetische Produktion dar - vielleicht eine, der er sich analytisch nicht immer klar bewusst war. In seinem Briefroman "Der Sammler und die Seinigen" stellt Goethe sechs Künstlertypen vor, von denen drei offensichtlich Spieler sind. Obwohl Goethe meint, dass sich im idealen Künstlertypus alle sechs Künstlertypen vereinigen müssen, gilt seine Liebe den Spielern. Unter diesen favorisiert er diejenigen, die er als "Imaginanten" bezeichnet. (Kayser, 1961, 41) Goethes persönliche Obsession mit kindlich erscheinender Maskerade und Täuschungsspielen, seine Vorliebe für das Märchen, das zeitlich mit dem "Sammler und den Seinigen" zusammenfällt und gegen immer wiederkehrende Beschwörungen des "Ernstes" verkündete Formeln wie "Das Spiel offenbart die große Freiheit des Geistes" weisen Goethe als Spieler aus. Selbstverständlich ist das nicht im dostojevskischen Sinne gemeint. Spielen heißt für Goethe nicht Rausch (ilinx) oder Glücksspiel (alea im Sinne Roger Caillois). Spielen heißt für Goethe eher ein Erproben unkonsolidierter Möglichkeiten in einem ästhetischen Raum. Es heißt für ihn aber auch Maskerade und soziales Spiel. Rhetorisch schränkt Goethe immer wieder ein, dass Dichtung, Fabulierkunst und künstlerischer Genius einer "geregelten Einbildungskraft" unterworfen wären. Ich kann an dieser Stelle nicht beweisen, dass Goethes "geregelte Einbildungskraft" mitunter dem gleicht, was Robert Pfaller als "Einbildungen ohne Eigentümer" bezeichnet. Unter einer Schutzschicht sozial legitimatorischer Rhetorik ließe sich aber möglicherweise ein Goethe ungeregelter Einbildungskraft exhumieren, der Einbildungen unterschiedlichster Natur zugänglich war. UNE LECTURE LUDIQUE Roland Barthes beschäftigt das Problem der Lektüre und er gelangt in "S/Z" zu einer Position die davon geleitet ist, dass der Leser einem Spieler gleicht und dass die Lektüre ein Spiel ist, das in vielen Reprisen gespielt wird. Barthes greift die Polysemie des Wortes Spiel auf. "Der Text selbst," behauptet Barthes, "spielt wie ein Apparat (...)", der Leser/ Spieler "spielt auf zwei Weisen und Bedeutungen des Wortes: Er spielt den Text ab, sucht nach einer Praxis der Wiederherstellung" "il joue au Texte (sens ludique), il cherche une practique qui le re-produise" aber diese Praxis ist nicht auf reine und passive Mimesis beschränkt, er spielt den Text in einem musikalischen Sinne des Wortes "il joue le Texte dans un sens musical du terme." (Barthes, 1970) 6 Es scheint mir, dass die von Barthes vorgeschlagene Parallelität von ludisch spielerischer Aktivität und quasi-musikalischem Spiel eine Herangangsweise an "Serious Games" eröffnen könnte, die reicher ist als die, Spiele einem Verwertungszweck stumpf unterzuordnen oder sie

anderseits von Intention und Strategie komplett abzukoppeln. DIE STADT LESEN, DIE STADT SPIELEN Walter Benjamin schlägt in der Berliner Chronik vor, die Städte anders zu lesen, als dies die Stadtpläne (und möglicherweise auch die Stadtplaner) vorschlagen. Die Namen der Straßen, die sich tradierten Zuordnungen zu toten Dichtern, Feldherren oder Partnerstädten bedienen, sagen nichts über unsere subjektiven Konnotationen aus. Für Benjamin stellten Städte sich als Konstrukte einer kreativen Arbeit an der eigenen Erinnerung dar. Er fühlte das Bedürfnis, "Tiergartenbänke, Schulwege und Gräber (...), Wohnungen meiner Freunde und Freundinnen, die Versammlungsräume der kommunistischen Jugend" neu anzuordnen und in einem diagrammatischen System neu zu erfahren. Wichtiger als geographisch korrekte Reproduktion und historische Konsistenz war ihm eine panoramatische Geschichtsauffassung, wie sie die barocke Sensibilität des 17. Jahrhunderts kannte. Benjamins Städte waren eher Labyrinthe als Leitsysteme, Einblicke waren ihm wichtiger als Überblick. Benjamins Ziel war es, "Stadtpläne so lesen zu können, dass er sich mit Sicherheit verirrte." (Sontag, 1980, 130) 7 Man könnte in Benjamins Dialektik von Anordnung in den diagrammatischen Systemen und der Lust am Verlorengehen die typischen Merkmale eines Spielers wieder erkennen. Die Kunst des Sich-Verlierens, die Anstrengung, sich auf gezielte Weise aus der Beherrschung zu befreien, stellt eben das dar, was Caillois uns als Ilynx vorführt: Taumel, Ekstase und Schwindel als Bewusstseinsweisen, in die wir uns gezielt und willig versetzen, um uns der Ziele zu entbinden. Die Entwicklung des Spieles PlastiCity setzt an einer panoramatischen Stadtsicht an, in der der Spieler versucht "der trostlosen Chronik der Weltgeschichte" zu entfliehen. Die nordenglische Stadt Bradford eignet sich für dieses Spiel als Startpunkt vorzüglich, weil in ihr Planlosigkeit, die Ungleichzeitigkeit von Kulturen, Baustilen und räumlichen Systemen in exemplarischer Weise vorliegen. Die Spieler werden in einem Labyrinth von Baustilen, Objekten und Gestaltungsströmen der südasiatischen, karibischen und weißen Bevölkerung ausgesetzt, um sich ihre Stadt zu konstruieren. Ein Werkzeug ermöglicht es dem Spieler, Gebäude seiner Wahl zu errichten, sie wachsen oder schrumpfen zu lassen, sie mit Symbolen seiner Kultur oder Subkultur zu versehen, oder ganz in die Luft zu jagen. Tatsächlich ist jener gestalterische Eingriff - die radikale Elimination von gewachsener Stadtstruktur - bisweilen ein effektiverer Schritt, Stadtentwicklung vorwärtszutreiben, als dies sorgfältige Konservation jeweils bewerkstelligen kann. Ohne hier der Sprengladung als Planungsmaßname einen Generalpass ausstellen zu wollen, versucht PlastiCity, anderen Strategien einen Platz einzuräumen als dies Sim-City tut: der protestantischen, scheinbar braven Sim-City-Maxime der Stadtoptimierung setzt das englische Spiel eine gehörige Portion StadtAnarchismus entgegen. Der erfolgreiche Simcity Bürgermeister ist erfolgreich ja nur im Sinne einer Ressourcenverwaltungsökonomie. Die virtuellen Städtchen sagen natürlich nichts über Wünsche und Vorlieben aus, sie sagen nicht, wie glücklich ein Spieler in jener virtuellen Welt wäre und wie die geplante Stadt im Spannungsfeld verschiedener Altersgruppen, Kulturen, Männern, Frauen und Kindern funktioniert. Nach der Sim-City-

Maxime gewinnt jede biedere deutsche Kleinstadt, in der die Müllabfuhr und der Schulbus pünktlich kommen, gegen Neapel, Venedig und London. Eine homogenisierte Wohn- und Arbeitslandschaft, die einen Unterdrückungszusammenhang deutlicher nicht widerspiegeln könnte, normiert alles aufs (all)gemeine. Sogar dort, wo Sim-City großstädtisch werden will, bleibt es kleinkariert im Duktus und im Detail. Man sehe sich nur die elend langweiligen Simulationen von Paris oder New York an. Als Gegenentwurf zum Respekt vor geordneter Planung von oben, die sich auch in der Perspektive der Sim-City-Entwürfe ausdrückt, entwickelt eine Gruppe von Künstlern und Stadtplanern derzeit PlastiCity. Das Regelsystem des Spieles aus Bradford ist so konzipiert, dass wildwuchernde Stadtgebilde entstehen werden, die nicht zur Ruhe kommen können. Der Multiplayer-Charakter des Stadtspieles erfordert weniger planerische Brillanz als soziale Kompetenz im virtuellen Mehrspieler-Raum. Die Spieleentwickler, die im Rahmen eines "Bradford Masterplan" beauftragt wurden, ein Planungsspiel zu entwickeln, das kulturelle, genderspezifische und altersspezifische Wünsche experimentell erforscht, können aufgrund der Diversität der Zielgruppe eben gerade keinen Masterplan entwickeln. "Viele Köche verderben" - in diesem Falle - keinesfalls den Brei. Im Gegenteil: die vielen Köche versuchen, ein Stadt-Curry zu schaffen, das mild und würzig zugleich ist, das von scharfen und süßen Einflüssen durchzogen ist, das höchstwahrscheinlich unsystematisch und gebrochen bleiben muss, aber hoffentlich das nicht wird: langweilig. Solche Wissensräume versuchen als transkulturelle, raum- und zeitüberschreitende und antirationale Spiele, das einzulösen, was Warburg mit seiner kulturwissenschaftlichen Bibliothek vordachte. Ernste Spiele reihen sich in eine noch zu erstellende kulturwissenschaftliche Ludothek. Für diese gilt derzeit: "Under construction!"

Anmerkungen: 1) Jan Huizinga: Homo Ludens: A Study of the Play Element in Culture. 2) Roger Caillois: Die Spiel und die Menschen. Maske und Rausch. Ullstein. Materialien, Frankfurt 1982 (Im Original Les Jeux et les hommes. Gallimard 1958). 3) Stephen Davies: Why listen to sad music? In: Robinson, Jenefer (Hg.): Music & Meaning. Cornell University Press, Ithaca and London 1997. Beacon Press, Boston 1955 (Im Original Gallimard 1938). 4) Robert Pfaller: Die Illusionen der Anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003. 5) Wolfgang Kayser: Kunst und Spiel. Fünf Goethe Studien. Vandenhoeck/ Ruprecht, Göttingen 1961. 6) Roland Barthes: S/Z. Editions Seuil, Paris 1970. 7) Susan Sontag: Im Zeichen des Saturn. Ullstein Materialien, Frankfurt. 1982 (Im Original: Under the Sign of Saturn. Farrer, Strauss & Giroux, New York 1967).

 



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