Soziologie_im: Handbuch Materialität

June 8, 2017 | Author: Anna Henkel | Category: Material Culture Studies, Kultursoziologie, Materialität, Soziologische Theorie
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Dieser Text ist veröffentlicht in: Henkel, Anna (2014): Soziologie S. 342-350 in Stefanie Samida/Manfred Eggert/Hans Peter Hahn (Hrsg.), Materielle Kultur. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler.

5.13 Soziologie

Das Materielle als das ausgeschlossene, eingeschlossene Dritte der Soziologie Die Soziologie steht in einem zwiespältigen Verhältnis zur Materiellen Kultur. Zunächst ist das Materielle (wie auch das Psychische) etwas, wovon die Soziologie sich explizit abgrenzt. Ende des 19. Jahrhunderts entsteht die Soziologie als die Wissenschaft ‚des Sozialen‘. Max Weber, Émile Durkheim, Georg Simmel – die Gründungsväter der Soziologie definieren den Gegenstand ihres Fachs über das soziale Handeln (Weber), die Eigengesetzlichkeit sozialer Strukturen (Durkheim) oder die Austauschbeziehungen zwischen Menschen (Simmel). Das Materielle ist aus dieser Ambition heraus das Außersoziale, das, was hinsichtlich der sozialtheoretischen Konzeption des Sozialen gerade herauszuhalten ist. Gleichzeitig jedoch konnten sich bereits die frühen Vertreter der Soziologie einer gewissen Faszination durch die materiellen Neuerungen und Veränderungen ihrer Zeit nicht entziehen. Max Weber (1864–1920) misstraut der Straßenbahn und nimmt sie zum Anlass, die Notwendigkeit einer Art fatalistischen Vertrauens in unverständliche technische Zusammenhänge einzuräumen. Es ist Émile Durkheim (1858–1917), der auf die handlungsstrukturierende Wirkung von Technik, Architektur und Verkehrswegen hinweist und damit der Techniksoziologie den roten Teppich in die soziologische Theoriebildung ausrollt. Und nicht zuletzt ist es Georg Simmel (1858– 1918), der bis heute durch die scharfen Beobachtungen seiner Zeit reizt, in denen neben den Beziehungen der Menschen auch die Mode, das Geld, kurz: der dinglich geprägte Lebensstil ihren Stellenwert finden. Die Soziologie schließt das Materielle mit ihrem Fokus auf das Soziale aus ihrem Untersuchungsgegenstand zunächst aus. Doch wie gewohnt, so weiß Michel Serres, kehrt gerade das Ausgeschlossene wieder (Serres 1987, 235). Das Bemühen, das Soziale als reine Kernkategorie zu fassen, provoziert geradezu die abgrenzendeinbeziehende Auseinandersetzung mit dem in der Beobachtung der modernen Gesellschaft sich als natürliche Umwelt, als Technik, als Konsum aufdrängenden Mate1

riellen. Gerade weil die Soziologie explizit und intendiert die Wissenschaft des Sozialen ist (wie immer dieses Soziale dann in den zum Teil höchst unterschiedlichen Theoriepositionen gefasst wird), ist sie implizit, aus der Abgrenzung heraus, zugleich eine Wissenschaft des sozial gerahmten Materiellen. Mit dieser Ausgangslage liegt es auf der Hand, dass Materielle Kultur in der Soziologie keineswegs ein einheitlich verwendetes Konzept ist. Vielmehr taucht das, was als Materielle Kultur verallgemeinert werden kann, unter ganz unterschiedlichen, teils theoriespezifischen, teils gegenstandsspezifischen Begriffen auf. So trifft man die Materielle Kultur als Natur, als technisches Artefakt, als Alltagsgegenstand, als Architektur oder auch als Raum an. Auf der theoretischen Ebene werden solche Konkretisierungen zusammengefasst als Objektwelt, als außersoziale Umwelt der Gesellschaft oder eben – als Materielle Kultur. Weil die Soziologie immer Wissenschaft ist, die das Soziale als das Gemachte und damit im epistemologischen Wortursprung das Kulturelle untersucht, lasse ich hier die Begriffe des ‚Materiellen‘ und der ‚Materiellen Kultur‘ zusammenfallen. Ebenso wie die Vielfalt der Begriffe so ist die soziologische Perspektive auf Materielle Kultur notwendig eine Vielfalt von Perspektiven. Diese Mannigfaltigkeit in die Form eines Überblicks zu bringen, gäbe es unterschiedliche Möglichkeiten. Anstelle eines auflistenden Nebeneinanderstellens theoretischer oder empirischer Fragestellungen unternehme ich hier den Versuch, die Vielfalt soziologischer Zugänge zur Beobachtung des Materiellen in drei Kategorien zusammenzufassen: Purifizierung, Repräsentation und Symmetrisierung als drei unterschiedliche Arten des Verhältnisses von Materiellem und Sozialem. Mit dieser Unterscheidung werden zugleich zentrale Schwerpunkte der soziologischen Auseinandersetzung mit dem Materiellen deutlich. Den unter dem Stichwort Purifizierung zusammengefassten Ansätzen geht es in erster Linie darum, das Soziale als Gegenstand der Soziologie zu formulieren. Verschiedene Theorien kommen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen, so dass auch das ausgeschlossene Materielle auf unterschiedliche Art und Weise wieder eingeschlossen wird. Gemeinsam ist diesen Ansätzen jedoch die Vorgängigkeit des Sozialen vor dem als abgeleiteter Kategorie auftretenden Materiellen, das lediglich als Rahmenbedingung ermöglichend oder beschränkend auf das Soziale wirkt (Abschnitt 2). Davon zu unterscheiden sind Ansätze, in denen das Materielle statt als Rahmenbedingung als Repräsentation von Bedeutung konzipiert ist. Prägend für diese An2

sätze ist die Prämisse einer Eigenrealität von Zeichensystemen kulturell zugewiesener Bedeutungen. Das Materielle erscheint hier als Zeichen; es wird nicht nur als Restkategorie mitgeführt, sondern interessiert als etwas, das soziale Verhältnisse widerspiegelt. Entsprechend geht es solchen Ansätzen weniger um eine sozialtheoretische Begründung der Disziplin Soziologie als vielmehr um Wege der Gegenwartsdiagnose einer von Dingen geprägten Gesellschaft (Abschnitt 3). Eine dritte Form des Wiedereinschlusses des Ausgeschlossenen ist die Konzeption des Materiellen als sozialer Akteur. Das Materielle ist in solchen Symmetrisierungsansätzen nicht nur als außersoziale Rahmenbedingung, nicht nur als Sinn repräsentierendes Symbol konzipiert, sondern soll gedacht werden als eigenständig auf die gesellschaftliche Realität wirkend, deren Teil es ist. Das Materielle wird als Niemals-Ausgeschlossenes in den Gegenstandsbereich der Soziologie eingeführt (Abschnitt 4). Vor dem Hintergrund solcher bereits klassischer Perspektiven lassen sich aktuelle Perspektiven der soziologischen Beschäftigung mit Materieller Kultur aufzeigen (Abschnitt 5).

Purifizierung – Von der Vorgängigkeit des Sozialen Die Soziologie ist die Wissenschaft des Sozialen. Dabei besteht eine gewisse Uneinigkeit, wie dieses Soziale zu fassen sei. Ob als Untersuchungsperspektive des Sozialen das sinnintentionale Handeln oder die gesellschaftliche Struktur, die Sinnstruktur der Lebenswelt oder die Selbstreproduktion von Kommunikation gewählt wird, macht hinsichtlich Prämissen, Vorgehensweisen und Schlussfolgerungen einen Unterschied. Über solche Differenzen hinweg einigt eine Vielzahl soziologischer Theorien jedoch das, was Gesa Lindemann (2009, 16ff.) den anthropologischen Grundkonsens der Soziologie nennt: die Prämisse, dass nur lebende Menschen soziale Personen sein können und dass die Unbestimmtheit seiner Bedürfnisse zum menschlichen Wesen gehöre. Diesen Gedanken fortführend wird deutlich, dass – bei allen Unterschieden in der Konzeption des Sozialen – mit dem Fokus auf menschliches Handeln bzw. sinnhaft-menschliche Kommunikation das Materielle konzeptionell außerhalb des Sozialen steht. Erst im zweiten Schritt wird das Materielle aus dieser außersozialen Position heraus mit den Anschlussfragen relevant, wie das Materielle gegebenenfalls auf das Soziale wirke und ob das Materielle dem Sozialen vorgängig sei oder aber erst in der sozialen Konstruktion entstehe. Solche das Materielle dezidiert außerhalb des Sozialen verortende Theorien fasse ich als Purifizierungstheorien zusammen. 3

Die Vorgehensweise, das Materielle aus der Kerndefinition des Sozialen zunächst auszuschließen, im zweiten Schritt aber dennoch einzubeziehen, findet sich bereits bei Max Weber. Weber bestimmt die Soziologie als eine Wissenschaft, die soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in Ablauf und Wirkungen ursächlich erklären will; soziales Handeln ist dabei als dasjenige menschliche, mit einem subjektiven Sinn verbundene Verhalten bestimmt, das auf das Verhalten anderer Menschen bezogen und daran in seinem Ablauf orientiert ist (Weber 1921/1984, 19). Explizit unterschieden ist die soziale, menschlich-sinnintentionale Handlung von den Vorgängen und Bedingungen ohne intendierten Sinn, also alles Psychisch-Physische, Physikalische, Astronomische oder Geographische. Das als sinnfremd angenommene Materielle kann aber immerhin Anlass, Ergebnis, Förderung oder Hemmung sozialer Handlung sein (ebd. 22ff., 30ff.). In Webers Sozialtheorie ist die Wiedereinführung des Materiellen in das Soziale entsprechend durchaus vorgesehen. Bereits Hans Linde (1913–1994) weist darauf hin, dass Weber für die soziologische Untersuchung des Materiellen analytische Unterscheidungen entwickelt hat, insbesondere einen spezifischen Handlungstypus und die Anwendung der Zweck/Mittel-Unterscheidung auf Naturdinge versus Artefakte (Linde 1972, 34ff.). Aus der Definition des Sozialen bei Weber ist das Materielle zunächst ausgeschlossen – als Rahmenbedingung sozialen Handelns (sei es veranlassend oder hemmend) findet das Materielle gleichwohl seine Berücksichtigung. Der zweite große Klassiker der Soziologie, Émile Durkheim, geht hinsichtlich der Behandlung des Materiellen ähnlich vor wie sein deutscher Zeitgenosse. Beide beginnen beim Sozialen und fragen dann nach der Wirkung des Materiellen auf das Soziale. Anders als Weber stellt Durkheim jedoch nicht das soziale Handeln in den Mittelpunkt, sondern die faits sociaux. Als solche sozialen Tatsachen bzw. sozialen Institutionen fasst Durkheim allgemein Phänomene, die konstant und als äußere Kraft auf das Individuum wirken (Durkheim 2002, 12ff.). Wiederum steht das anthropologisch gefasste Soziale im Mittelpunkt, hier verstanden als das Individuum mit seinen vielfältigen Handlungsoptionen. Indem Durkheim aber nicht das Handeln selbst untersucht, sondern die auf das Individuum wirkenden sozialen Institutionen, öffnet er das analytische Spektrum, um neben moralischen Regeln oder Rechtsvorschriften auch Kommunikationswege oder Wohnformen als solche auf das Individuum wirkende soziale Institutionen zu untersuchen. Weil Menschen ihr Handeln an und durch das Materielle geschaffene Erwartungen orientieren, hat das Materielle 4

soziale Wirkungen. Dieser auf soziale Institutionen gerichtete Blick erlaubt Durkheim, im historisch-kulturellen Vergleich Unterschiede in der gesellschaftlichen Rahmung von Dingen festzustellen. So beschreibt er in seinen religionssoziologischen Schriften, wie für bestimmte australische Stämme Dinge als reguläre Stammesmitglieder behandelt werden. Die Nähe zu Marcel Mauss (1872–1950) berühmter Studie Die Gabe, in der ebenfalls als handlungsfähig konzipierte Dinge in soziale Strukturen einbezogen sind (Mauss 1999), sei hier nur angemerkt. Weber mit seinem Fokus auf soziales Handeln und Durkheim mit seinem Fokus auf soziale Institutionen werden in der Soziologie oft als Gegensätze gehandelt. Gerade die Unterschiedlichkeit aber verdeutlicht die beiden gemeinsame und für die Soziologie typische Umgangsweise mit dem Materiellen: das Materielle nämlich zunächst aus dem Bereich des Sozialen auszuschließen und dann im zweiten Schritt als Wirkung auf das Soziale wieder einzuführen. Eine solche einbeziehende Ausschließung des Materiellen zieht sich durch den überwiegenden Teil sozialtheoretischer Konzeptionen. Ich möchte dafür nur auf noch zwei Beispiele näher eingehen, die beide als Extremfälle gelten können: auf den Pragmatismus als besonders an dem Materiellen interessierter und auf die Systemtheorie als besonders auf eine rein-soziale Definition der Soziologie eingestellter Theorie. Ausgangspunkt des von George Herbert Mead (1863–19231) geprägten soziologischen Pragmatismus ist die Frage, wie aus individuellem Verhalten die wechselseitigen Verhaltenserwartungen einer Gruppe entstehen. Meads zum Teil entwicklungspsychologisch gerahmte Überlegung hierzu ist, dass der Einzelne durch die spielerische Übernahme sozialer Rollen sein persönliches Ich mit den an ihn gerichteten sozialen Erwartungen in Einklang zu bringen lernt. Durch die Antizipation und Übernahme von Erwartungen entsteht eine unproblematische Welt unerschütterter sozialer Geltungen (Mead 1967, 152ff.). Dem Materiellen kommt in dieser Konzeption des Sozialen in dreifacher Hinsicht eine zentrale Bedeutung zu. Erstens ist das Materielle nach Mead an der Entstehung von Bewusstsein beteiligt. Für Tiere sind Dinge in Handlungsabläufe eingebaut. Indem beim Menschen die Wahrnehmung und das anfassende Handhaben eines Dings auseinanderfallen, kann er anders als das Tier die Identität eines Dings über verschiedene Handlungsabläufe hinweg als selbes Ding mit unterschiedlichen Eigenschaften rekonstruieren (Mead 1967). Zweitens ist das Materielle an der Entstehung eines sozialen Bereichs beteiligt. Im Prozess der Entstehung eines sozialen Selbst sind die Reaktionen des Kindes auf Objekte zu5

nächst gesellschaftliche Reaktionen. Wie bei Personen wird auch bei Dingen das Prinzip der Rollenübernahme angewendet. Aus den unterschiedlichen Reaktionen von Personen und Dingen emergieren parallel die Vorstellungen einer Subjekt- und einer Objektwelt (ebd. 178ff.). Drittens schließlich ist das Materielle aus dieser Theorieperspektive in der Theorieanwendung, der Forschungspraxis relevant. Statt um Sinnintentionen geht es im pragmatistischen Ansatz um Handlungsprobleme. Die aber können im Umgang mit Dingen ebenso auftreten wie im Umgang mit Personen. An dieser Stelle setzt aktuelle Forschung zur Technikinteraktion an, und hier beginnt auch Mead selbst seine Überlegungen zur Wissenschaftsforschung. Dem Materiellen kommt im Pragmatismus mithin eine große Bedeutung zu. Es interessiert in seinem Unterschied zum Sozialen, in seinem Beitrag zur Genese des Sozialen und in seinem Problematischwerden für die Handlung. Gleichwohl bleibt gerade der Pragmatismus eine vom Sozialen ausgehende und anthropologisch gerahmte Perspektive. Mead macht das ganz explizit, indem er betont, dass die Umwelt, das um uns herum Existierende, nur als eine Art Hypothese existent sei (ebd. 247). Kern ist wiederum das Soziale, hier im Sinne eines durch Rollenübernahme sozial geprägten Handelns, zu dem das ausgeschlossene Materielle in unterschiedlicher Weise in Bezug gesetzt wird. Die Prämisse einer Unzugänglichkeit der Realität sui generis teilt der Pragmatismus mit der Systemtheorie nach Niklas Luhmann (1927–1998). Das Soziale ist hier als geschlossenes System sinnhafter Kommunikation gedacht, in dem das Materielle nur durch den doppelten Filter von Bewusstsein und Kommunikation hindurch vorkommen kann. Als ‚real‘ gilt in dieser Perspektive nur das Prozessieren von Kommunikation. Doch selbst in dieser, das Soziale so rigide über sinnhafte Kommunikation jenseits von Bewusstsein und materieller Umwelt definierenden Theorie, findet das ausgeschlossene Dritte des Materiellen seine Wiedereinführung. Die Systemtheorie geht davon aus, dass menschliche und natürliche Umwelt für Gesellschaft im Sinne von Kommunikation nur so zugänglich sind, wie sie kommunikativ zugerechnet werden (Luhmann 1984). Als spezifischer Unterscheidungstypus sind Objekte – oder auch Körper – gleichwohl relevant für Kommunikation. Darüber hinaus werden neben Personen, Rollen, Programmen und Werten auch Dinge in der Systemtheorie als Identitäten mit strukturierender Wirkung auf Kommunikation gefasst (ebd.). Es ließen sich in diese Riege der Purifizierungstheorien noch eine Reihe weiterer soziologischer Ansätze aufnehmen. Zu nennen wäre beispielsweise die Phänomeno6

logie nach Alfred Schütz sowie Peter Berger und Thomas Luckmann, die die Lebenswelt des Alltags als natürliche Einstellung in den Mittelpunkt stellt und vom Erleben des Alltags aus das Konzept des Sozialen als Lebenswelt entwickelt (Schütz and Luckmann 2003, 54ff.). Anführen ließe sich auch die Systemtheorie nach Talcott Parsons (1902–1979) oder die Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas. Alle diese vom Sozialen ausgehenden und das Soziale reinhaltenden, purifizierenden Theorien haben gemeinsam, dass sie auf der Ebene der Sozialtheorie operieren. Ihnen geht es um die Definition des Sozialen als Gegenstandsbereich der Soziologie. Bezogen auf diesen Typus soziologischer Ansätze lässt sich zusammenfassen: Während bei Theorien, die eher an sozialen Strukturen ansetzen, das Materielle als das Soziale mitstrukturierende Rahmenbedingung gefasst ist, erscheint das Materielle in eher interpretativen, bei der menschlichen Wahrnehmung ansetzenden Theorien als spezifisches Handlungsproblem. Das macht auf der methodologischen Ebene einen Unterschied. Gemeinsam ist ihnen aber, dass Fragen nach dem Materiellen immer bezogen sind auf das vorrangig bestimmte Soziale: Ist das Materielle dem Sozialen vorgängig und damit auf einer anderen Emergenzebene angesiedelt oder bestimmt das Materielle das Soziale mit? Genügt es, typisierte Handlungen, kommunikative Strukturen und Sinnwelten zu untersuchen, oder müssen die Sachverhältnisse zum Verständnis des Sozialen einbezogen werden? Solche Fragestellungen reichen, wenn sie denn thematisiert werden, tief in die Erkenntnistheorie hinein. Der Soziologie geht es um die soziale Ordnung und die Möglichkeit ihres Zustandekommens. Gerade die sozialen Tatsachen, die sozialen Geltungen, die kommunikativen Strukturen sind aus Sicht der Soziologie das Unerschütterliche, während das Materielle nur aus diesem Sozialen heraus zugänglich, an sich aber unerreichbar ist. Das Materielle und das Objektive fallen aus Sicht der Soziologie damit auseinander. Wurde die Materie seit der frühen griechischen Kosmologie als die unveränderliche Substanz angenommen, postuliert die Soziologie über theoretische Positionen hinweg, dass es im Gegenteil die sozialen Strukturen sind, denen Objektivität zukommt. Das Materielle ist hingegen mit sozial nicht erreichbaren Unwägbarkeiten behaftet, so dass eine etwaige Objektivität des Materiellen unerreichbar bleibt. Ob als Rahmenbedingung für Handeln oder potentielles Handlungsproblem – das Materielle interessiert auf der Ebene der Sozialtheorie ausgehend von einer Definition des Sozialen in seiner Wirkung auf eben dieses Soziale.

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Repräsentation – Von der zugewiesenen Bedeutung Neben den sozialtheoretisch ansetzenden Purifizierungstheorien findet sich in der Soziologie eine zweite Gruppe von Konzepten , die das Materielle behandeln. Dieser zweite Typus steht in einem interdisziplinären, insbesondere linguistisch geprägten Kontext und beginnt mit der Idee von Ferdinand de Saussure (1857–1913), Kultur als Zeichensystem zu fassen (de Saussure 1967). Anstelle eines über Handlung oder Gesellschaftsstruktur gefassten Begriffs des Sozialen stehen hier aufeinander verweisende Zeichen und deren interpretative Erklärung im Mittelpunkt. Das Materielle gewinnt aus dieser Perspektive einen anderen Stellenwert: Objekte werden analog zu sprachlichen Zeichen Träger von Bedeutungen, von denen aus auf Kultur rückgeschlossen werden kann. Das Materielle ist nicht ausgeschlossen, sondern auf einer anderen Ebene angesiedelt. Das Thema der Objektbedeutungen sowie der Materiellen Kultur als Zeichensystem ist in anderen Disziplinen als der Soziologie prominent und wird an anderen Stellen dieses Handbuchs verhandelt (s. z.B. Kap. II.3). Ich möchte hier deshalb nur auf einige zentrale, im engeren Sinne soziologische Ansätze näher eingehen, in denen das Materielle im Sinne einer Repräsentation von Bedeutung (statt im Sinne des NichtSozialen) auftritt: die Praxistheorie von Pierre Bourdieu, das System der Dinge von Jean Baudrillard sowie das Konzept des Lebensstils von Georg Simmel. Bourdieu (1930–2002) knüpft im Hinblick auf seine Praxistheorie einerseits beim Strukturalismus nach de Saussure und Claude Levi-Strauss an, indem er für die soziologische Untersuchung eine objektivierende Methode zur Verfügung stellt. Weil diese Theorien des Objektivismus aber dazu verleiten, das eigene Verhältnis des Beobachters zu seiner Sozialwelt der analysierten Praxis implizit zu unterlegen, verweist Bourdieu andererseits auf Phänomenologie und Ethnologie als Theorien des Subjektivismus. Diesen fehle zwar eine objektivierende Methode, sie bieten aber die Möglichkeit, bei einer Auseinandersetzung mit den Primärerfahrungen sozialer Akteure anzusetzen. Die Theorie der Praxis soll zwischen diesen beiden Positionen des Objektivismus und Subjektivismus vermitteln (Bourdieu 1987). Bourdieu ‚soziologisiert‘ das Konzept des geschlossenen Zeichensystems, indem er die konstituierende Wirkung einzelner Akteure auf die soziale Welt hervorhebt: Konstruktionen beruhen auf einem System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das in der Praxis gebildet wird und stets auf praktische Funktionen ausgerichtet ist. Für Materielle Kultur bzw. die Bedeutung der Dinge heißt dies, dass deren symbolische Di8

mension und das Handeln miteinander verflochten sind. Bourdieu prägt für diesen Zusammenhang das Konzept des Habitus. Soziale Klassen greifen zu ihrer schichtspezifischen Abgrenzung auch (nicht nur) auf bestimmte Dinge zurück, mit denen sie im Alltag umgehen. Distinktionswert hat das Ding, vor allem aber der schichtspezifisch-richtige Umgang mit diesem Ding (Bourdieu 1982, 212f.). Mit einem habituell richtigen Umgang mit Dingen in der Praxis gewinnen Individuen „symbolisches Kapital“. Dinge sind aus dieser Perspektive nicht einfach qua Nicht-Sozialität ausgeschlossen, sondern repräsentieren ebenso wie andere Zeichen eine bestimmte Kultur; dazu gehört, dass der richtige Gebrauch der Zeichen, also auch der richtige Umgang mit Dingen, den sozialen Standort der sie gebrauchenden Akteure bestimmt. In der Theorie Jean Baudrillards (1929–2007) kommt dem Materiellen ebenfalls eine repräsentierende Stellung zu. Er beginnt mit der These, dass Gegenstände und ihre Anordnung mit ihren jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen korrespondieren. Im Wohnraum des traditionellen Milieus spiegelten sie die Familien- und Gesellschaftsstrukturen ihrer Epoche wider. In der Moderne verändert sich die Stellung des Individuums in der Familie und in der Gesellschaft – dies manifestiert sich auch in den Dingen: Das einzelne Objekt wird auf den einfachsten Entwurf seiner reinen Funktion reduziert. Wie das Individuum von religiösen, moralischen oder familiären Implikationen befreit auf seine Arbeitskraft reduziert ist, so gilt dies analog für die Gegenstände. Aus dieser entstrukturierten Lage heraus können Objekte nun als Stil zusammengestellt werden. Gerade weil die Gegenstände auf das Minimum ihrer Funktion reduziert sind, tritt ihr Gebrauch zurück und gewinnen Stil und Geschmack ihrer Zusammenstellung an Bedeutung (Baudrillard 1968). Ob damit bestimmte Werte tatsächlich kommuniziert werden, ist bei Baudrillard – anders als bei Bourdieu – nebensächlich. Ihm geht es vor allem darum, dass sich in der Ausgestaltung und Ordnung von Objekten soziale Werte und Verhältnisse ausdrücken. Der Saussuresche Gedanke, dass die Bedeutung eines Zeichens durch andere Zeichen bestimmt wird und nicht etwa durch das Wesen des Bezeichneten, ist hier auf Gegenstände übertragen: Nicht das Wesen des Bezeichneten prägt das Zeichen, sondern umgekehrt prägt das Zeichen das Wesen des Bezeichneten – es geht um „verschiedene Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung, das heißt eines Hyperrealen“ (Baudrillard 1978, 7); „es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen“ (ebd. 9). Die Dinge repräsentieren eine bestimmte Kultur und mehr: Die

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Repräsentation bemächtigt sich also des Realen, das Reale wird durch Zeichen des Realen ersetzt. Bei Bourdieu und bei Baudrillard repräsentieren Dinge, Dinganordnungen und der Umgang mit Dingen einen Stil. Dinge werden genutzt, um einen bestimmten Habitus zu üben; Dinge sind freigestellt, um mit den Bedeutungen eines bestimmten Stils belegt zu werden. Dass Dinge in der Moderne genutzt werden, um einen bestimmten Lebensstil zum Ausdruck zu bringen (s. Kap. IV.24), findet sich als Gedanke bereits bei verschiedenen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts. So analysiert Thorstein Veblen (1857–1929) kritisch-provokant den demonstrativen Konsum von Dingen (Veblen 1967). Dessen Zeitgenosse Georg Simmel befasst sich ebenfalls mit Veränderungen im Umgang mit Dingen und prägt dafür den Begriff des Lebensstils. Simmel nimmt zwischen Purifizierungs- und Repräsentationstheorien eine Sonderstellung ein. Einerseits definiert Simmel als Gegenstand der Soziologie die Kräfte, Beziehungen und Formen, durch die Menschen sich vergesellschaften, wobei das Spezifikum der Soziologie in den besonderen von ihr vollzogenen Abstraktionen liegt. Andererseits finden sich in den Einzeluntersuchungen, mit Hilfe derer Simmel das Spektrum der Soziologie ausloten will, verschiedene Bereiche, die unmittelbar den Umgang mit Dingen betreffen. In seiner Philosophie des Geldes geht er darauf ein, wie über die menschlichen Motive von Nachahmung und Abgrenzung eine Pluralität von Lebensstilen entsteht. In diese Prozesse ist der Umgang mit Dingen explizit mit einbezogen, sowohl auf der Ebene des individuellen Umgangs mit Dingen als auch hinsichtlich des gesellschaftlichen Stellenwerts von Dingen (Simmel 1989, 591ff.). Anders als bei Bourdieu und Baudrillard stehen bei Simmel also die Wechselbeziehungen zwischen Menschen, nicht der Zeichenwert der Dinge im Vordergrund. Der sich wandelnde Stellenwert von Dingen in diesen Beziehungen – „Steigerung der Kultur der Dinge, Zurückbleiben der Kultur der Personen“ (ebd. 617ff.) – sowie die repräsentierende Wirkung von Dingen in menschlichen Wechselbeziehungen nimmt gleichwohl einen auf Repräsentation abzielenden, soziologischen Zugang zu Dingen vorweg. Anstelle der Frage, wie das Materielle gegebenenfalls auf das primär interessierende Soziale wirkt, geht es in Repräsentationsansätzen um den Zeichenwert des Materiellen. Damit sind im Unterschied zum sozialtheoretischen Anliegen der Purifizierungstheorien wesentlich gegenwartsdiagnostische Zielsetzungen verbunden. Bereits Simmel ging es um eine Beobachtung seiner Zeit; auch Bourdieu und Baudrillard 10

beobachten – neben den immer vorhandenen theoretischen Ambitionen – soziale Milieus und aktuelle Veränderungen, insbesondere auch des Konsums. Das Materielle ist nicht nur ein Außersoziales, das im zweiten Schritt auf dieses Soziale einwirkt, es gibt als Stil, Konsum oder Habitus Auskunft über die Kultur und nimmt an der Produktion dieser Kultur selbst teil.

Symmetrisierung – Von der Gleichberechtigung des Materiellen Aus dem Vorangegangen ist deutlich geworden, dass die Soziologie sich zwar als Wissenschaft des Sozialen versteht, aber dennoch das Materielle mit berücksichtigt – sei es als Rahmenbedingung des Sozialen, als Handlungsproblem oder als prägende kulturelle Repräsentation. Wer wie Hans Linde oder Werner Rammert (1993) für eine stärkere Berücksichtigung von Dingen in der Soziologie plädiert, kann seit jeher auf Klassiker des Fachs verweisen. Dezidiert in Gegensatz zu diesen Klassikern – und auch Klassikern der Philosophie – stellt sich ein dritter Zugang zum Materiellen, der in der Soziologie zunehmend rezipiert wird: die Actor-Network-Theory (ANT) mit ihrer Forderung, Dinge und Menschen gleichermaßen als Aktanten zu fassen und so Sozialwelt und Objektwelt zu symmetrisieren (s. Kap. II.11). Ihren empirischen Ursprung hat die ANT in den sogenannten Laborstudien der Wissenschafts- und Technikforschung (Sience and Technology Studies). Mit einem ethnographischen Ansatz ausgestattet, wurde die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion im wissenschaftlichen Labor untersucht. Ein Ergebnis dieser Studien war, dass die Naturwissenschaft keineswegs objektive Wahrheiten erkenne, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse produziere (Latour and Woolgar 1986, Knorr Cetina 2002). Es ergab sich daraus die Überlegung, dass im Prozess dieser Erkenntnisproduktion Dinge ebenso beteiligt seien wie soziale Akteure. Hatte die Technikforschung ohnehin eine Tendenz zur Beschäftigung auch mit Dingen, gewinnt dieser Forschungsschwerpunkt zunehmend an Bedeutung. Drei Dimensionen sind dabei prägend: eine primär mikrosoziologische, eine gesellschaftstheoretisch orientierte und eine erkenntnis- bzw. sozialtheoretische. Die erste Forschungsrichtung steht in direkter Folge der frühen Laborstudien. Grundidee ist, dass Dinge ebenso wie Menschen in Handlungen bzw. Handlungsnetzwerke eingebunden sind. Als Aktanten definiert Bruno Latour (1987, ??) „whoever or whatever is represented“. Auf dieser Annahme baut die ANT auf (als Überblick Belliger and Krieger 2006), hier schließt sich eine pragmatistisch orientierte Tech11

nikforschung an (als Überblick Strübing 2005) und davon ausgehend entstehen eine Reihe über Technik im engeren Sinne hinausgehende Ansätze wie etwa das Konzept der boundary objects (als Überblick Kneer, Schroer and Schüttpelz 2008). Eine zweite, mehr gesellschaftstheoretische Forschungsrichtung untersucht Technik als endogene Größe gesellschaftlicher Entwicklung. Technik steht Gesellschaft danach nicht äußerlich gegenüber, sondern prägt die jeweilige Gesellschaft (Rammert 1993). Entsprechend kann Technik auf ihre sozialen Konsequenzen bzw. auf ihre politischen Implikationen hin untersucht werden (Winner 1985). Auf einer dritten Ebene schließlich geht es um die theoretischen Schlussfolgerungen, die aus dem neuen Stellenwert des Materiellen gezogen werden müssen. In der Wissenschaftsforschung betrifft dies nicht zuletzt die epistemologische Frage, inwieweit wissenschaftliche Wahrheit durch das Materielle vorgeprägt oder aber sozial konstruiert sei (etwa Pickering 1993). Auch für die Sozialtheorie werden Konsequenzen diskutiert. Vorgeschlagen wird einmal ein Praxisbegriff, der nicht nur die Subjektivität und die Strukturiertheit des Handelns hervorhebt, sondern zusätzlich dessen Körperlichkeit und die Inanspruchnahme materieller Artefakte (als Überblick Schatzki, Knorr Cetina and Savgny 2001). Darüber noch hinausgehend fordert Latour eine grundsätzliche Resymmetrisierung von Sozial- und Objektwelt, also eine Einbeziehung von Dingen als gleichberechtigten sozialen Akteuren (Latour 1997). Insbesondere die sozialtheoretische Schlussfolgerung, Dinge als soziale Akteure zu behandeln, hat diversen Widerspruch ausgelöst. Kritisiert wird etwa, dass die Beobachter zwar insgesamt Konstruktivismus unterstellten, für sich aber einen objektiven Standpunkt in Anspruch nehmen (Hasse, Krücken and Weingart 1993). Von anderer Seite wird kritisch betont, dass dem Postulat einer Gleichberechtigung der Dinge nicht einmal in der eigenen Forschungspraxis der ANT nachgekommen werde – was Subjekt und was Objekt sei, bleibe trotz allem offensichtlich, Dinge kämen bestenfalls als Handlungsgehilfen vor (Lindemann 2008). Unabhängig von solcher Kritik gilt, dass die Idee eines handlungsfähigen Materiellen einen grundsätzlich neuen Zugang zur sozialwissenschaftlichen Untersuchung des Materiellen versucht und angesichts aktueller technischer Neuerungen mindestens eine willkommene Provokation vorstellt.

Herausforderungen der Gesellschaft – Herausforderungen der Theorie

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Spätestens seit den 1980er Jahren haben technische Entwicklung und Zerstörung der natürlichen Umwelt, aber auch der Stellenwert von Artefakten im Hinblick auf Konsumgewohnheiten eine solche Bedeutung gewonnen, dass sich die Soziologie Fragen nach dem Verhältnis von Sozialem und Umwelt, von Sozialem und Technik, von Sozialem und Alltagsgegenständen kaum mehr entziehen kann. Menschliche Handlungsintentionen führen nicht nur zu nicht-intendierten Effekten (was ein altes Problem ist), sondern werden, so scheint es, systematisch von eigendynamischen Prozessen auch des Materiellen unterlaufen. Mit Gentechnologie und Nanotechnologie, aber auch mit Arzneimittelnebenwirkungen und Lebensmittelzusatzstoffen gewinnt der alte Gedanke vom Eigensinn der Dinge (Hahn 2005, 46ff.) eine neue Qualität: Unerwartete Wirkungen der Dinge und des Materiellen werden erwartbar. Die Soziologie setzt sich mit solchen Entwicklungen empirisch auseinander. Die Untersuchung von Mensch-Technik-Interaktionen, der Umgang mit Dingen in einer wachstumsorientierten Konsumgesellschaft, Dinge oder auch Architektur als Spiegel gesellschaftsstruktureller Verhältnisse gewinnen an Bedeutung. Zugleich mehren sich die Bemühungen, eine intensivierte Auseinandersetzung mit Materieller Kultur auch theoretisch einzuholen. Neben den oben bereits beschriebenen Symmetrisierungsansätzen

gehört

dazu

der

Versuch,

die

Soziologie

auf

eine

ent-

anthropologisierte sozialtheoretische Grundlage zu stellen. Die Prämisse, dass die Gesellschaft auf vernunftbegabten, handlungsfähigen Menschen beruht, wird in diesem vor allem von Gesa Lindemann vertretenen Ansatz sozialtheoretisch hinterfragt und historisch kontingent gesetzt: Noch im Mittelalter waren Tiere, Engel und Dämonen als handlungsfähige Akteure Teil sozialer Realität; erst in der Neuzeit entwickelte sich ein auf lebendige Menschen beschränkendes Grenzregime des Sozialen (Lindemann 2009, 103ff; Lindemann 2009). Dieser Ansatz, das Soziale von seinen Grenzen her zu denken, kann als Ausgangspunkt dafür dienen, drei aktuelle Herausforderungen der soziologischen Befassung mit Materieller Kultur anzugehen: Das erste Desiderat liegt in der Entwicklung sozialanalytischer Konzepte, die nicht bereits selbst mit anthropologischen Prämissen operieren. Insbesondere der Ansatz der reflexiven Anthropologie im Anschluss an Helmut Plessner bietet hier Anknüpfungspunkte (Lindemann 1999, Plessner 1975). Das zweite Desiderat ist die Anwendung solcher Konzepte für eine gesellschaftstheoretische Untersuchung der Grenzziehung zwischen Sozialem und Materiellen. Zu fragen wäre etwa, welche Kriterien nötig sind, damit in einer Gesellschaft das Sozia13

le als Sozial erkannt wird. Mit welchen Eigenschaften belegt die jeweils gültige Konstruktion das als materiell Ausgeschlossene? Wie verändert sich diese Grenzziehung – und wie korrespondiert sie mit sozialstrukturellen Verhältnissen? Das dritte Desiderat schließlich betrifft die Konsequenzen eines etwaig gewandelten Stellenwerts des Materiellen. Wenn einerseits die moderne Gesellschaft darauf eingestellt ist, Verantwortung für potentielle Risiken auf Personen zuzurechnen, andererseits Dinge eine Eigenkomplexität erreichen, aufgrund derer Schäden durch Dinge nicht mehr ohne weiteres auf Fehler von Personen zurückgeführt werden können – wie geht die Gesellschaft dann damit um? Die moderne Gesellschaft ist mit Entwicklungen konfrontiert, die ihre auf vernunftbegabte Menschen ausgerichteten Institutionen an Grenzen führen. Die Soziologie ist berufen, einen Eigensinn der Dinge sozialtheoretisch zugänglich zu machen, um solche Entwicklungen reflektierend zu begleiten.

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