Steinartefakte vom Altpaläolithikum bis in die Neuzeit
Harald Floss Herausgeber
Tübingen Publications in Prehistory
Kerns Verlag Tübingen
Tübingen Publications in Prehistory Nicholas J. Conard, editor
Tübingen Publications in Prehistory reflect the work of a cooperative project between the Department of Early Prehistory and Quaternary Ecology of the University of Tübingen’s Institute for Pre- and Protohistory and Medieval Archaeology and Kerns Verlag to provide the results of current research in prehistoric archaeology and all its allied fields to a broad international audience. Inquiries about publications or orders can be directed to: Kerns Verlag Postfach 210516, 72028 Tübingen, Germany Fax: 49-7071-367641 Tel: 49-7071-367768 email:
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Umschlagabbildungen: Zwei Blattspitzen aus der Haldensteinhöhle, Gemeinde Urspring, Lonetal, BadenWürttemberg. Die Funde gehören zu den spätmittelpaläolithischen Blattspitzengruppen. Foto: Hilde Jensen, Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen. Zeichnung: nach Bosinski 1967.
Satz und Gestaltung: Susanne Jüttner, burkert gestaltung, Ulm & Kerns Verlag, Tübingen. Schutzumschlag: Christiane Hemmerich Konzeption und Gestaltung, Tübingen.
© 2012 Kerns Verlag. Alle rechte vorbehalten. ISBN: 978-3-935751-12-4. Printed in Germany.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
Nicholas J. Conard, Tübingen Publications in Prehistory
1.
9
Einleitung: Steinartefakte – aus unserer Sicht
11
Die RohmateRialien unD ihRe VeRänDeRungen Bedeutende Silices in Europa – Historie, Bestimmungsmethodik und archäologische Bedeutung
15
Das Rohmaterial der Steinwerkzeuge aus urgeschichtlicher Zeit in Niedersachsen – Lagerstätten und Import
31
4.
Artefakt-Rohstoffe in Ostdeutschland
45
5.
Lithische Rohmaterialien im Rheinland
55
6.
Silex-Rohmaterialien in Baden-Württemberg
63
Silex-Rohmaterialien in Bayern
79
8.
Entstehung und Verwitterung von Silices
93
9.
Veränderungen an Steinartefakten durch Wind, Hitze und Frost
2.
Harald Floss, Herausgeber
Harald Floss & Markus Siegeris
3.
Stephan Veil
7.
Thomas Weber Harald Floss
Wolfgang Burkert Utz Böhner
Rolf C. A. Rottländer
Werner Schön
101
10. Hitzebehandlung (Tempern)
105
gRunDbegRiffe, techniken unD SchlaginStRumente 11. Grundbegriffe der Artefaktmorphologie und der Bruchmechanik
117
12. Schlagtechniken
133
13. Der Habitus – Eine Vermittlung zwischen Technologie und Typologie
137
14. Schlaggeräte aus Stein
141
15. Retuscheure aus Stein
147
16. Die Suche nach Eolithen und das Problem der Unterscheidbarkeit zwischen Artefakten und Geofakten
153
Jürgen Weiner
Harald Floss
Harald Floss & Mara-Julia Weber Harald Floss
Jürgen Weiner Jürgen Weiner
Lutz Fiedler
17.
SteinaRtefakte DeS altpaläolithikumS Oldowan und andere frühe Geröllgeräte- bzw. Abschlagindustrien Miriam Noël Haidle
159
18. Grundformerzeugung im Altpaläolithikum
167
19. Kugelige Kerne, Polyeder und Sphäroide
187
Thomas Weber Lutz Fiedler
20. Altpaläolithische Abschlaggeräte in Mitteldeutschland
191
21. Cleaver
201
22. Faustkeile
209
23. Pics
219
SteinaRtefakte DeS mittelpaläolithikumS 24. Das Levallois-Konzept
227
25. Diskoide Kerne
237
26. Klingentechnologie vor dem Jungpaläolithikum
245
27. Moustérien und Micoquien
267
28. Mittelpaläolithische Spitzen
273
29. Schaber
281
30. Messer mit Rücken
287
31. Gekerbte und gezähnte Stücke
293
32. Keilmesser
297
33. Blattförmige Schaber, Limaces, Blattspitzen
309
SteinaRtefakte DeS Jung- unD enDpaläolithikumS 34. Frühjungpaläolithische Grundformerzeugung in Europa
327
35. Kielkratzer und Kielstichel: Werkzeug vs. Lamellenkern
341
36. Retuschierte Lamellen im Aurignacien: Dufour et alii
357
37.
367
Thomas Laurat, Armin Rudolph & Wolfgang Bernhardt Lutz Fiedler Jean-Marie Le Tensorer Lutz Fiedler
Jürgen Richter Lutz Fiedler
Nicholas J. Conard Jürgen Richter Michael Bolus
Jürgen Richter Michael Bolus
Jürgen Richter Olaf Jöris
Michael Bolus
Thorsten Uthmeier
Foni Le Brun-Ricalens & Laurent Brou Foni Le Brun-Ricalens
Grundformerzeugung im mittleren Jungpaläolithikum Clemens Pasda
38. Grundformerzeugung im Magdalénien
379
39. Grundformerzeugung im Nordischen Endpaläolithikum
389
40. Lithische Spitzen des Jungpaläolithikums
399
41. Kratzer
415
42. Stichel
421
Harald Floss Sönke Hartz
Harald Floss
Claus-Joachim Kind Clemens Pasda
43. Rückenmesser
429
44. Endretuschen
435
45. Ausgesplitterte Stücke. Kenntnisstand nach einem Jahrhundert Forschung
439
46. Spitzklingen
457
47.
459
Michael Bolus
Clemens Pasda
Foni Le Brun-Ricalens Clemens Pasda
Kostenki-Enden (Dorsalabbau an Abschlägen) Jens A. Frick
48. Lateralretuschen
467
49. Bohrer
477
50. Signifikante Gerättypen des Jungpaläolithikums im östlichen Mitteleuropa
481
51. Lithische Spitzen des mittleren Jungpaläolithikums
489
52
497
Clemens Pasda Harald Floss
Jiří Svoboda
Clemens Pasda
Dreiecke des Magdalénien Christiane Höck
53. Lithische Projektilspitzen im Spätglazial
509
54. Jungpaläolithische Gerölle mit Gebrauchsspuren
517
55. Schleifsteine mit Rille (Pfeilschaftglätter)
525
SteinaRtefakte DeS meSolithikumS 56. Grundformproduktion und -verwendung im frühen Mesolithikum Mitteleuropas
535
57. Grundformproduktion und -verwendung im späten Mesolithikum Mitteleuropas
549
58. Mesolithische Silexwerkzeuge in Mitteleuropa
581
59. Mikrolithen
599
60. Flächenretuschierte Projektile des Mesolithikums
621
61. Kern- und Scheibenbeile
631
62. Grundformerzeugung im Nordischen Endmesolithikum (Ertebøllekultur) und im Nordischen Frühneolithikum (Ältere Trichterbecherkultur)
639
Harald Floss & Mara-Julia Weber Gisela Schulte-Dornberg Michael Bolus
Martin Heinen
Birgit Gehlen Birgit Gehlen
Martin Heinen Martin Heinen Stefan Wenzel
Sönke Hartz & Harald Lübke
63. Geräteformen im Nordischen Endmesolithikum (Ertebøllekultur) und im Nordischen Frühneolithikum (Ältere Trichterbecherkultur)
647
SteinaRtefakte DeS neolithikumS unD DeR metallzeiten 64. Rohmaterial und Grundformspektren als historische Quellen: Beispiele aus dem Frühneolithikum Mitteleuropas
659
65. Abbaugeräte des neolithischen Bergbaus
679
66. Klingenerzeugung im Neolithikum
689
67. Die Silexgeräte der Linienbandkeramik, des frühen Mittelneolithikums und der Rössener Kultur
717
68. Quantitative Analyse – Werkzeugspektren bandkeramischer Siedlungen im Vergleich
765
69. Mahl- und Schleifsteine
779
70. Erntemesser und Sicheln
791
71. Neolithische Pfeilköpfe
807
72. Neolithische Beilklingen aus Feuerstein
827
73. Felsgesteingeräte des Alt- und Mittelneolithikums
837
74. Beile und Äxte aus Felsgestein
857
75. Felsgesteine als Rohmaterial neolithischer Steinbeile und -äxte in Mitteleuropa
875
76. Dickenbännlibohrer
893
77. Gerätebestand des Jung- bis Endneolithikums
901
78. Spätneolithische Flinttechnologie im Norden
923
79. Metallzeitliche Silexartefakte
931
SteinaRtefakte DeR neuzeit 80. Feuerschlagsteine und Feuererzeugung
943
81. Flintensteine
961
82. Dreschschlitten
973
Sönke Hartz & Harald Lübke
Birgit Gehlen & Andreas Zimmermann Jürgen Weiner Jürgen Weiner
Birgit Gehlen
Carsten Mischka
Nicole Kegler-Graiewski Philipp Drechsler Werner Schön
Jürgen Weiner Birgit Gehlen
Christoph Willms
Gesine Schwarz-Mackensen & Werner Schneider Jutta Hoffstadt
Petra Kieselbach Volker Arnold Heiko Hesse
Jürgen Weiner Jürgen Weiner Jürgen Weiner
Signifikante Gerättypen des Jungpaläolithikums im östlichen Mitteleuropa
50
Jiří Svoboda Abgesehen von den dynamisch-technologischen oder “biographischen” Konzepten des Artefaktes gibt es zwei Hauptwege zur Typologie des östlichen Mitteleuropa (vgl. Klíma 1956; Ginter & Kozłowski 1975; Dolukhanov et al. 1980; Otte 1981; Valoch 1976; Svoboda 1996): einerseits die Betrachtung der quantitativen Verhältnisse unter den größeren Typengruppen des Jungpaläolithikums, andererseits die Anwesenheit von einzelnen kulturell-diagnostischen Typen. Die Struktur von allgemeinen Typengruppen ist mit anderen Teilen Europas vergleichbar: Kratzer, Stichel, Spitzen, Schaber, rückenretuschierte Werkzeuge, Mikrolithen und andere. Sollten wir das östliche Mitteleuropa regionalspezifisch betrachten, dann werden die diagnostischen Einzeltypen wichtig, insbesondere die aus den Gruppen der Spitzen und Mikrolithen. Man kann sogar verallgemeinern, dass die Spitzen vielmehr für das Frühjungpaläolithikum (Bohunicien, Szeletien, Jerzmanowicien), bzw. für das jüngere Gravettien (Willendorfien-Kostenkien) wichtig sind, demgegenüber erscheinen die Mikrolithen am häufigsten im älteren Gravettien (Pavlovien). Spitzen Levalloisspitzen Die Levalloisspitzen wurden in Mähren präferenziell au dem lokalen Hornstein von Stránská skála gefertigt (Valoch 1976; Svoboda 1987). Innerhalb der ausgegrabenen Siedlungsflächen auf der Hochfläche von Stránská skála wurden sogar spezialisierte Produktionsareale mit Akkumulationen von Spitzen sowie kleinen Abfallsplittern festgestellt (SS III-A). Obwohl es morphologisch um typische Levalloisspitzen geht, wurden sie gewöhnlich nicht einzeln aus den flachen Levalloiskernen abgebaut, sondern serienweise aus Kernen mit jungpaläolithischer Gestalt. Die Zusammensetzungen von Stránská skála beweisen, dass der Abbauprozess mit einer Kernkantenklinge beginnt, gefolgt, unter wiederholter Erneuerung der Abbaufläche, von Klingen, Abschlägen und Levalloisspitzen. Der Abbauprozess endet mit einem flachen Restkern, der an die Levalloisform erinnert (Abb. 1, Škrdla 1996). Grundsätzlich handelt es sich bei den Levalloisspitzen um eine charakteristische, aber unretuschierte Abschlagform (Abb. 2, 1), doch sind die beiden Kanten bei der Basis manchmal fein retuschiert und in einem Falle gibt es sogar Ventralretuschen an der Spitze (Abb. 2, 2). Einzelfälle sind die Kombinationen mit Kratzern und Sticheln.
481
482
Signifikante Gerättypen des Jungpaläolithikums im östlichen Mitteleuropa
Abb. 1: Zusammensetzungen aus Stránská skála (Bohunicien). Hinter der Kernkante ist eine langgestreckte Levalloisspitze zu sehen; das Resultat des Abbauprozesses ist ein flacher Restkern.
Die Levalloisspitzen sind für das Bohunicien diagnostisch. An mehreren Fundstellen in Bohunice und Stránská skála wird diese Übergangskultur zwischen 42-34,5 ky datiert. Das typische Bohunicien ist auf ein geschlossenes Areal Südmährens beschränkt, mit einem Zentrum im Brno-Becken, besonders um die Rohmaterialquellen von Stránská skála. Andere Fundstellen erstrecken sich zwischen NO- (Ondratice) und SW-Mähren (Mohelno). Technologisch vergleichbare Industrien, an eigene Rohmaterialquellen gebunden, liegen in Böhmen (Hradsko), der Westukraine (Kulychivka), Bulgarien (Temnata-Höhle) und besonders im Nahen Osten (Boker Tachtit, Ksar Akil, Ücagizli Cave). Ein anderes Zentrum dieser Technologie existiert in Nordund Zentralasien (Kara Bom, Shui-dong-gou, Talbor). Blattspitzen Auch bei den Blattspitzen kann man im allgemeinen eine Präferenz für lokale Rohmaterialien beobachten; in Mähren sind das besonders die kreidezeitlichen Spongolit-Hornsteine und die jurassischen Krumlovský Les-Hornsteine. Eine größere Anzahl an Halbfabrikaten, die phasenartig den Reduktionsprozess der Flächenretuschierung dokumentieren können, wurden besonders im Bereich der Herkunftsgebiete der beiden Rohmaterialquellen gefunden (Boritov, Jezerany). Typologisch sind aber solche Grundformen von den archaischen Bifazialformen des Mittelpaläolithikums schwer zu unterscheiden (Oliva 1979, 1988). Neben den typischen bifazialen Blattspitzen (Freund 1952; Kozłowski 1990; Ringer 1995) gibt es auch die einseitigen Blattspitzen (Abb. 2, 4), den Quinson- Typ mit dreieckigem Querschnitt (Abb. 2, 3; Svoboda 1987) und Stielblattspitzen vom Typ Weinberghöhlen (Abb. 2, 5; Klíma 1969). Der Form nach dienten die Blattspitzen als Projektile, eine Verwendung als Jagdwaffe ist denkbar. Solche Interpretationen werden durch die Tatsache gestützt, dass diese Artefakte in Höhlen des östlichen Mitteleuropa auftreten, die als kurzfristige Jagdstationen angesehen werden. Darüber hinaus sind die Blattspitzen sicher ein Werkzeug mit hohem Prestigewert sowie multifunktionell einsetzbar (Oliva 1988). In Einzelfällen kann man an den Kanten der Blattspitzen Schaberretuschen, Kerben sowie Stichelschläge beobachten. Selbstverständlich können manche “schaberartigen” Formen auch durch Umarbeitung und Nachschärfung von Blattspitzen entstehen. Durch wiederholte Nachschärfung können die Blattspitzen bis in deformierte Kleinformen übergehen.
Jiří Svoboda
Die Blattspitzen entwickeln sich zusammen mit den anderen Bifazialformen seit dem Mittelpaläolithikum (Tata, Předmostí II, Kůlna), dominieren aber um 40-37 ky im Szeletien (Allsworth-Jones 1986; Valoch 1993). Zwischen diesen beiden Phasen wird eine technologische Kontinuität vorausgesetzt, die vielleicht möglicherweise auch mit dem Menschentypus des Späten Neanderthalers zusammenhängt. Für das Gravettien zeigen die letzten Forschungen, dass in der älteren Phase (Pavlovien, 30-25 ky) Blattspitzen fehlen, jedoch erneut in der jüngeren Phase (Willendorfien-Kostenkien,
Abb. 2: Typische Spitzen des Jungpaläolithikums im östlichen Mitteleuropa. 1 Levalloisspitze – 2 Levalloisspitze mit ventroterminalen Retuschen – 3 Blattspitze des QuinsonTypus – 4 einseitige Blattspitze – 5 Stielblattspitze vom Typus Weinberghöhle – 6-7 Stielblattspitzen des Typus Jerzmanowice – 8-9 Kerbspitzen – 10 atypische Rückenspitze – 11-12 Rückenspitzen. 1-2: Stránská skála, 3-6, 10: Líšeň, 7-8 Předmostí, 9: Petřkovice, 11: Dolní Věstonice, 12. Nová Drátenická-Höhle.
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Signifikante Gerättypen des Jungpaläolithikums im östlichen Mitteleuropa
25-20 ky: Petřkovice, Trenčianské Bohuslavice, Předmostí, u.a.) erscheinen. Aus ungefähr der gleichen Zeit sind sie auch aus den Oberflächenaufsammlungen des “Epiaurignaciens” bekannt. Mit Rücksicht auf die lange Zeitspanne (ca. 10 ky) erscheint es unwahrscheinlich, dass die Blattspitzenerscheinungen als einzige technologische Tradition überleben. Die ältere Blattspitzengruppe (Szeletien) ist eher mit der spätmittelpaläolithischen Entwicklung in Mittel- und Südosteuropa vergleichbar, während der spätere Horizont (Junggravettien, Epiaurignacien) möglicherweise eher Verbindungen mit den westeuropäischen Zentren der Blattspitzenproduktion aufweist (Solutréen). Partielle Blattspitzen Im Unterschied zu den Levallois- und Blattspitzen ist bei den partiellen Blattformen keine bemerkenswerte Rohmaterialbindung nachweisbar. Diese Formen wurden besonders an größeren Klingen durch Kantenretuschen und durch nur partielle Flächenretuschen an den ventroterminalen Enden gefertigt (Abb. 2, 6-7). Im Vergleich zu den Blattspitzen scheint eine solche Technik “ökonomischer” zu sein (Oliva 1988; Svoboda 1987). Die typische Form wird als Typus Jerzmanowice bezeichnet (Chmielewski 1961), daneben existieren noch mehrere einfachere Varianten, namentlich Typus Pavlov (Abb. 2, 7; Klíma 1997; Otte 1981, 1991; Valoch 1981). Trotz der technologischen Vereinfachung scheint die Hauptfunktion als Projektil dieselbe wie bei den typischen Blattspitzen. Der Jerzmanowice-Typus ist für das Frühjungpaläolithikum (Jerzmanowicien, Bohunicien, usw.) typisch, die noch reduzierteren Varianten folgen besonders im älteren Gravettien/ Pavlovien Mitteleuropas (Willendorf, Pavlov, Předmostí) sowie dem Kostenkien Osteuropas (Kostenki VIII, 1). Kerbspitzen Die typischen Kerbspitzen vom Typus Kostenki wurden an größeren Klingen durch Kantenretusche der Kerben sowie durch partielle Flächenretusche am ventroterminalen Ende gefertigt (Abb. 2, 8-9; Otte 1981, 1991; Kozłowski 1974, 1986; Sobczyk 1995; Hromada 1998). Das Rohmaterial, “nordischer” Feuerstein sowie Radiolarit, wurde von den Rohmaterialquellen weit in das östliche Mitteleuropa exportiert. Auch die Kerbspitzen haben sicher als Projektile gedient, wobei wir annehmen, dass die Kerbe als Schäftungshilfe diente. Der Typus Kostenki muss allerdings von den mikrolithischen Varianten, die manchmal nur als Beiprodukte bei der Herstellung von rückengestumpften Klingen entstehen, unterschieden werden (Movius et al. 1968). Die typischen Kerbspitzen dienen als “Leitfossil” des jüngeren Gravettien oder Willendorfien-Kostenkien (25-20 ky, Willendorf I, II, Schicht 9, Petřkovice, Předmostí, Nitra-Čermáň, Moravany, Spadzista, Molodova, Kostenki I, 1). Geographisch finden sie sich im östlichen Mitteleuropa sowie in Osteuropa. Dagegen sind mikrolithische Kerbspitzen, also ein Produkt der Mikrolithenherstellung, häufiger im älteren Gravettien (Pavlovien) vertreten.
Jiří Svoboda
Rückenspitzen Die Rückenspitzen wurden mittels mehr oder weniger bogenartigen gestumpften Retuschen an Klingen gefertigt. Als Rohmaterialien dienten besonders “nordischer” Feuerstein und Radiolarit. Typologisch weist der Typus Zwierzyniec einen mehr oder weniger bogenartigen Rücken auf, der Typus La Gravette ist schmaler und die Rückenretusche gerader. Das Auftreten des erstgenannten Spitzentypus im Frühjungpaläolithikum des östlichen Mitteleuropa und des Balkan, im “Zwierzyniecien” und eventuell auch im Bohunicien, stellt immer noch ein chronologisches Problem dar (Abb. 2, 10, Kozłowski 2000). Im Gravettien ist der Typus La Gravette vertreten (besonders Dolní Věstonice I und Pavlov I, Abb. 2, 11, Abb. 3, 39-41; Klíma 1963; Otte 1981; Valoch 1981; Svoboda 1994, 1997), jedoch seltener als die mikrolithische Variante (siehe Mikrolithen). Ganz vereinzelt erschienen Rückenspitzen noch im Magdalénien Mitteleuropas (Abb. 2, 12; Kozłowski 1987) Mikrolithen Rückenretuschierte Mikrolithen Die rückenretuschierten Klingen sind in den Fundstellen des Gravettien aus dem überall dominierenden “nordischen” Feuerstein und Radiolarit hergestellt. Zum Anbringen der Rückenretusche wurden größere Klingen sowie Mikroklingen ausgewählt (Abb. 3, 40-44). Es handelt sich bei den rückenretuschierten Mikrolithen um eine größere Gruppe mit einer Vielzahl von Varianten, beginnend mit einfachen rückenretuschierten Klingen über solche mit lateralen oder transversalen Retuschen (dorsal und ventral), bis zu den mikrolithischen Rückenspitzen, die auch teilweise ventral retuschiert sein können (Abb. 3, 33-34). Als Abfallprodukt kommen noch die mikrolithischen Kerbklingen (Abb. 3, 42-43) und die Kerbspitzen vor (s.o.); letztere wären sicher auch als leichtere Projektile benutzbar. Eine Schäftung wird bei allen Mikrolithen vorausgesetzt, sie ist in Pavlov I auch durch die Gebrauchsspurenuntersuchungen von Tomásková (1994) belegt. Die rückenretuschierten Mikrolithen sind für das Gravettien im allgemeinen typisch, insbesondere aber für das Pavlovien (30-25 ky). So konzentrieren sich z.B. die mikrolithischen Rückenspitzen in der ganzen Fläche von Pavlov I (Klíma 1997; Svoboda 1994, 1997). Bei allen quantitativen Vergleichen der Mikrolithen unterschiedlicher Fundstellen muss beachtet werden, dass nicht alle Fundstellen des Gravettien während der Grabungen so systematisch geschlämmt wurden wie Pavlov I. Geometrische Mikrolithen Auch die geometrischen Formen, d. h. Dreieckspitzen, Segmente und Trapeze, wurden an Mikroklingen aus importiertem Feuerstein und Radiolarit hergestellt.
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Signifikante Gerättypen des Jungpaläolithikums im östlichen Mitteleuropa
Abb. 3: Mikrolithen von Pavlov I, Grabung 1953, Sektor 3. Durchgezogene Linie: Abnutzungsspuren, unterbrochene Linie: Schäftungsspuren (nach S. Tomásková 1994).
Jiří Svoboda
Zwischen diesen drei Grundformen der geometrischen Mikrolithen existieren verschiedene Übergangsformen, deren genaue Klassifikation schwierig ist (Abb. 3, 1-30; Klíma 1997; Svoboda 1994, 1997). Eine intensive Mikrolithenherstellung an importierten Rohmaterialien ist besonders in Pavlov I auch durch die entsprechenden Mikrokerne belegt. Das Auftreten von diesen drei Mikrolithentypen scheint stärker als das anderer Mikrolithen auf das entwickelte Pavlovien (27-25 ky) beschränkt; insbesondere sind sie in Pavlov I häufig. Es sei hier erwähnt, dass ähnliche Dreiecksspitzen in unserem Gebiet nochmals später erscheinen, uns zwar an der Oberflächenfundstelle von Hranice (Klíma 1951). Diese können aber eher mit dem Magdalénien der Kniegrotte als mit den lokalen Traditionen des Pavlovien verglichen werden. Gezähnte Mikrolithen Die gezähnten Klingen (oder “Sägen”) finden sich an Mikroklingen aus Feuerstein oder Radiolarit mit oder ohne abgestumpften Rücken (Abb. 3, 31-32; Klíma 1963, 1997; Svoboda 1994) Die beiden Subtypen sind für das Pavlovien im allgemeinen typisch, gehäuft treten sie in Dolní Věstonice I, II und Pavlov I (besonders im SO-Teil) auf. Mikrolithische Spitzklingen Auch die kleinen Spitzklingen sind aus Feuerstein oder Radiolarit hergestellt. Sie treten allgemein im Gravettien auf, der Typ Font-Yves oder fléchette findet sich in Aggsbach und Pavlov I jedoch häufiger als anderswo (Abb. 3, 38; Otte 1981; Klíma 1997). Außerdem sind noch weitere Typen für die Industrien des östlichen Mitteleuropa typisch (z.B. Kostenki-Enden) (s. Beitrag J. Frick).
ANMERKUNG Alle 14C Daten sind in diesem Beitrag unkalibriert. LITERATUR Allsworth- Jones, P. 1986: The Szeletien and the transition from Middle to Upper Palaeolithic in central Europe. Oxford: Clarendon Press. Chmielewski, W. 1961: Civilisation de Jerzmanowice. Wroclaw- Warszawa- Kraków. Dolukhanov, P. M., Kozłowski, J. K. & Kozłowski, S. K. 1980: Multivariate analysis of Upper Palaeolithic and Mesolithic stone assemblages. Typology and ecology. Prace archeologiczne 30, Krakow: Uniwersytet Jagiellonski.
Freund, G. 1952: Die Blattspitzen des Paläolithikums in Europa. Bonn. Ginter, B. & Kozłowski, J. K. 1975: Technika obróbki i typologia wyrobów kamiennych paleolitu i mezolitu. Warszawa: PWN. Hromada, J. 1998: Mladý gravettien v severozápadnej casti Karpatskej kotliny a jeho vztahy k nadkarpatským oblastiam. Arbeit für das Kandidat der Wissenschaften. Nitra: Institut für Archäologie.
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