Siena, in Das Wagner-Lexikon. Laaber 2012

June 15, 2017 | Author: Johannes Streicher | Category: Richard Wagner, Siena, Siena cathedral, Rapporti italo-tedeschi
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Siena


Provinzhauptstadt in der Toskana, römische Gründung aus der Zeit
Cäsars (Sena Julia), 70 km südlich von Florenz, 320 m ü. d. Meer
gelegen, mit (2001) 49.000 Einwohnern. Wagner hielt sich, von
Perugia kommend, im Spätsommer 1880 mehrere Wochen in bzw. bei
Siena auf, bevor er am 1. Oktober nach Florenz und am 4. Oktober
nach Venedig weiterreiste. Unter «Sonnabend 21ten» August trug
Cosima folgende Zeilen in ihr Tagebuch ein: «Ankunft in Siena
gegen 10 Uhr, sogleich Besichtigung von Villen, große Hitze, die
Lage nicht sehr schön, mir wenigstens Perugia noch sehr
hinderlich im Sinn. Dann aber Besuch des Domes! R. zu Tränen
hingerissen, der größte Eindruck, den er gehabt von einem
Gebäude. Ich möchte das Vorspiel zu Parsifal unter der Kuppel
hören!». Noch mehrmals besuchen die Wagners von der am 24.
August bezogenen Villa Torre Fiorentina aus, wo sie bis zur
Abreise wohnen, den Mitte des 12. Jahrhunderts begonnenen, die
ganze Stadt beherrschenden Dom, eines der bedeutendsten Sakral-
Bauwerke Italiens. Am 28. August lesen die Wagners «in
Burckhardt einiges über den Dom nach und finden in dem
hochnäsigen, kalt absprechenden Ton Spuren des Einflusses auf
Nietzsche. R. sagt: "Woher entnimmt er denn die Regeln, um die
Erbauer des Domes z. B. zu kritisieren"». Am 2. September «über
die Baukunst bei Gelegenheit einer Skizze des Domes als Studie
zu Parsifal sich verbreitend, stellt er die Konjunktur auf, daß
die Bezeichnung gotisch aus Spanien käme, daß der gotische Stil
in den nordischen, gotischen Reichen durch Berührung mit den
Arabern entstanden sei, von da nach Frankreich, schließlich nach
Deutschland sich verbreitet hätte und die Bezeichnung demnach
ganz richtig wäre». Am 6. September zeigen «die Kinder ihre
Zeichnungen aus dem Dom, Fidi wird also Architekt und Loldi
Malerin!», am 17. September fährt Cosima «(ohne R., welcher [die
Partitur des Parsifal] liniiert) mit meinem [auf Besuch
weilenden] Vater, den Dom zu besichtigen, und hier zeigt es sich
mir, wie anders, jugendlich schwungvoll R. geblieben ist.
Beinahe ohne Eindruck verbleibt mein Vater».
Wenn Franz Liszt also, will man seiner Tochter Glauben schenken,
nicht allzu berührt erscheint, so kann sein Schwiegersohn von
Anfang an, ebenso wie drei Monate zuvor in Ravello, nicht umhin,
seinen tiefen, vom Dom hervorgerufenen Eindruck mit Visionen
seines letzten Werkes zu verbinden. Nach dem Besuch des
leibhaftigen Zaubergarten Klingsors steht Wagner nun inmitten
des Gralstempels: die ganze Welt wird ihm Theater (nicht von
ungefähr findet er am 26. September, daß die Fassade des Domes
von Orvieto «eigentlich Theater-Dekoration ist»). Joukowsky
berichtet, er habe eine Zeichnung «vom Inneren des Domes machen»
müssen, «welche mir später für den Entwurf des Gralstempels sehr
nützlich wurde». Die nach oben hin nur zu erahnende Kuppel im
entsprechenden Bild in der Uraufführungsinszenierung des
Parsifal weist in der Tat eine unübersehbare Ähnlichkeit mit
Siena auf, weit mehr als im Falle der eher indirekten Anregung
durch die Villa Rufolo.
Am 6. September 1969 dirigierte Piero Bellugi im Rahmen des
Abschlußkonzerts der 26. "Settimana Musicale Senese" die
Schlußszene des ersten Aktes aus dem Parsifal im Dom, genau dort
also, wo Wagner die szenische Vision jener Szene gehabt hatte.
Bei dieser von der Accademia Musicale Chigiana organisierten
Aufführung waren der Bariton Tomislav Neralic, ein Kinderchor
aus Bergamo und der Chor und das Symphonieorchester der rai aus
Mailand zu hören: eine der wenigen Gelegenheiten, in Siena ein
Werk Wagners live zu erleben, da weder das Teatro dei Rinnovati
noch das Teatro dei Rozzi nach Form und Anlage sich zu diesem
Zwecke eignen. 1932 hatte der musikbegeisterte Graf Guido Chigi
Saracini in seinem mittelalterlichen Palazzo eine später
staatlich anerkannte Musikakademie gegründet, deren erster
künstlerischer Leiter, der Komponist und Pianist Alfredo Casella
(1883-1947), 1940 einen Vortrag mit dem Titel Una visita di
Wagner a Rossini hielt; da das Hauptgewicht der Sommerkurse auf
der Kammermusik liegt, ist Wagner naturgemäß nur am Rande
vertreten. Umso mehr erstaunt es, in den Programmen der
Abschlußkonzerte zu lesen, daß der vierundzwanzigjährige Claudio
Abbado am 21. August 1957 – auf den Tag genau 77 Jahre nach
Wagners erstem Besuch des Domes – als Dirigierschüler von Alceo
Galliera das Siegfried-Idyll leitete.
In Siena wurde 1908 der Musikkritiker Giulio Cogni geboren, der
neben zahlreichen anderen Wagner gewidmeten Publikationen (u. a.
den italienischen Übersetzungen von sieben Musikdramen) 1968 für
das Bayreuther Parsifal-Programmheft einen Essay über Richard
Wagners Raumvision für die Gralshalle beisteuerte. 1983
schließlich fand in Siena ein Wagner-Kolloquium statt, dessen
Kongreßbericht allerdings nie erschien.
Bibl.: Luigia Cellesi, Riccardo Wagner a Siena, in «Ars et Labor.
Musica e Musicisti» (Mailand) [es handelt sich um die Fortsetzung
der «Gazzetta Musicale di Milano» unter neuem Titel, aber unter
Beibehaltung der alten Numerierung], 64. Jahrgang, Nr. 7 (Juli
1909), S. 481-487 Carl Friedrich Glasenapp, Das Leben Richard
Wagners [in sechs Büchern dargestellt], Leipzig 1894-1911, Band
?, S. 383 [nach Bauer 1995, S. 519] Karl Ipser, Richard Wagner
in Italien, Salzburg (Verlag "Das Bergland-Buch") 1951, S. 114,
127-128, 131-136 Giulio Cogni, Gli scritti senesi di Richard
Wagner, in Le celebrazioni del 1963 e alcune nuove indagini sulla
musica italiana del xviii e xix secolo, Florenz (Olschki) 1963
(Accademia Musicale Chigiana. Siena, xx), S. 116-123 Cosima
Wagner, Tagebücher, Band iv: 1881-1883, München (Piper) 1976;
revidierte Auflage 1982, S. 585-608 (Zitate: S. 585, 586, 589,
592, 595, 601) Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein
Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München (Piper) 1980, S. 791
Carlo de Incontrera, I viaggi di Wagner in Italia, in Wagner in
Italia, hrsg. von Giancarlo Rostirolla, Turin (eri/Edizioni rai
Radiotelevisione Italiana) 1982, S. 9-54: 36-37 Leonardo
Pinzauti, L'Accademia Musicale Chigiana da Boito a Boulez,
Mailand (Electa) 1982, S. 41, 95, 144, 227, 273 Hans-Joachim
Bauer, Richard Wagner. Sein Leben und Wirken oder Die
Gefühlwerdung der Vernunft, Berlin (Propyläen Verlag) 1995, S.
518-519.

Johannes Streicher


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