Sichtbar und unsichtbar singulär-plural-sein Dieser Essay soll zunächst das Verständnis von Phänomenologie überhaupt von Merleau-Ponty darstellen (I.); im Weiteren sei dessen Konzeption des „Fleisches“ - an Hand einer Skizzierung von verschieden ineinander übergehenden Chiasmen (II. a-e) - darzustellen. Von dem gewonnenen Standpunkt aus wird eine kurze Betrachtung des „singulär plural seins“ von Nancy (III.a-c) ,vor allem von dessen Kritik bzw. Erweiterung an Heideggers Frage nach dem Wer des Daseins, anknüpfen. Die vielleicht nicht unbedingt notwendig offensichtliche Verknüpfung der Gedanken von Merleau-Ponty mit jenen Nancys soll dennoch zum besseren Verständnis beider dienen, da jeweils in dem Lichte des Anderen betrachtet interessante Aspekte des Einen betont werden können.1
I. Da der Text „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ von Merleau-Ponty sich nicht gleich dem ersten Lesen und Verständnis öffnet, kann es sich als nützlich erweisen zunächst das Problemfeld, das Merleau-Ponty zu bearbeiten sucht, einzugrenzen um klarer werden zu lassen was Thema und Grenze einer solchen Untersuchung ist. So ist es hilfreich zunächst Merleau-Pontys Verständnis von Phänomenologie überhaupt, welches sich in der „Phänomenologie der Wahrnehmung“ findet, zu umreißen, da dadurch die Argumentationsstruktur in „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ ihrer (mißverständlichen) Abstraktionsebene enthoben werden kann und es leichter ist dem Fokus zu folgen. Die Arbeit und Aufgabe der Phänomenologie überhaupt, verstanden als Methode und zugleich strenge Wissenschaft, ist, so Merleau-Ponty, zurückzugehen zu der „[…] aller Erkenntnis vorausliegenden Welt, von der alle Erkenntnis spricht und bezüglich deren alle Bestimmung der Wissenschaft notwendig abstrakt, signitiv, sekundär bleibt […]“2. Demgemäß ist auch der Vorsatz in „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ zu verstehen. Dort warnt Merleau-Ponty gleich zu Anfang davor, das zu Findende bereits urteilend vorauszusetzen, indem sich die philosophische Untersuchung im Voraus als Reflexion oder als Koinzidenz definiert. Vielmehr soll zu einer präreflexiven Ebene zurückgegangen und jegliche vorausgesetzten Werkzeuge (wie Reflexion oder Intuition) abgelehnt werden, um an eben jene Ebene der Erfahrung heranzukommen, welche noch
1
Wenngleich sich dies hier nur auf ein Minimum und einen ersten Anfang beschränken muss.
2
Merleau-Ponty: PdW S. 5
1
nicht „verarbeitet“ ist.3 Nur so ist es möglich die (Erfahrungs-)Welt in einem Ganzen zu fassen, welches sich als Gemisch von Subjekt und Objekt, Existenz und Wesen usf. darbietet, und die Möglichkeit eröffnet diese Begriffe neu zu definieren und unvorbelastet zu fassen.4 Die Erfahrung kann und soll so beschrieben und verstanden werden und nicht erklärt, konstituiert oder rekonstruiert.5 Dies ist wohl zunächst nichts großartig Neues, allerdings scheint es uns wichtig dies der näheren Beschreibung der Wahrnehmungsanalyse vorausgeschickt zu haben, da Begriffe wie „Fleisch“ oder „Tasten des Sehens“ sonst leicht missverstanden werden können, wenn sie von einer „klassischen“ Perspektive aus betrachtet werden.6
II. a) Der Begriff des „Fleisches“ wird von Merleau-Ponty in „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ mit Hilfe von mehreren Verschränkungen (Chiasmen) von Regionen der Wahrnehmung eingeführt. So ist z.B. eine einzelne Farbe niemals (nur) als solche Einzelheit sichtbar, sondern immer im Bezug zur Umgebung und der Atmosphäre in der sie sich befindet; aus jener kann sie zwar herausgelöst/ herausgesehen werden, muss zugleich aber auch wieder in sie abtauchen und verschwinden. Im Verschwinden wird sie so zwar nicht vollends getilgt, sondern quasi wieder in den Hintergrund gerückt, „ sie gerät aus dem Blick“. Wir sehen hier bereits eine Verschränkung der Wahrnehmung als Ganzer und ihrer jeweiligen Einzelheiten. Beides kann nur im Bezug oder in Begleitung des je Anderen erscheinen (wobei hier die Andersheit nicht zu stark gedacht werden darf als direkter Gegensatz oder Widerspruch, sondern eher als „Achten oder Fokussieren auf…“).
b) Ein zweiter Chiasmus findet sich in dem Verhältnis von Sehen und Sichtbarem überhaupt. MerlauPonty spricht hierbei von einer Beziehung der prästabilierten Harmonie, indem der Blick die sichtbaren Dinge einhüllt, abtastet und sich mit ihnen vermählt.7 So sieht man das Sehen selbst nie, sondern nur das durch das Sehen sichtbar gewordene Sichtbare. Dabei stellt das Sehen das Sichtbare nicht erst her, sondern lässt es nur erscheinen; das Sehen konstituiert das Sichtbare, wobei 3
Vgl. Merleau-Ponty: DSudU S. 172
4
Vgl. ebd.
5
Vgl. Merleau-Ponty: PdW S. 6
6
Zumindest fand sich der Verfasser in dieser Situation wieder. Die bisherigen Ausführungen können also auch „nur“ zur Berichtigung des Stand- und Sichtpunktes desselben auf die vorliegenden Texte verstanden werden. 7
Vgl. Merleau-Ponty: DSudU S. 175
2
„`Konstituieren´ […] nicht Herstellen als Machen und Verfertigen [meint], sondern Sehenlassen des Seienden in seiner Gegenständlichkeit.“8 Indem zum Sichtbaren überhaupt etwas hinzugefügt wird (das Sehen), wird dieses nicht etwa verklärt oder verdeckt, sondern vielmehr erst zu dem was es der Möglichkeit nach schon war. Jedoch ist diese Möglichkeit nicht wirklich dem Sehen zeitlich vorhergehend, sondern erweist sich erst im Nachhinein als deren beider Vermögen oder Vermöglichkeit, „[…] sodaß man schließlich nicht sagen kann, ob der Blick oder die Dinge die Oberhand haben.“9
c) Hierauf folgt eine Verschränkung des Blickes mit dem Tasten. Da der Blick von Merleau-Ponty verstanden wird als ein tastendes Auge oder tastendes Sehen, kann dieses Verhältnis umgedreht werden ohne es zu verändern; so kann es von der anderen Seite betrachtet werden als sehendes Abtasten, womit der Bezug zum Tastsinn überhaupt hergestellt ist. Das Sehen ist demnach eine Spielart des berührenden Tastens und beide gehören so derselben Welt an.10 Dadurch ist uns bereits das grundlegende Zusammensein der Sinne geworden, die demselben Leib und derselben Welt angehören. Sowohl der Leib gehört seinen Sinnen an, wie auch jene diesem; zudem verschränkt sich die Welt der Sinne untereinander und mit dem Leib, somit der Leib mit der Welt, diese mit den Sinnen usf.; Es besteht so ein gleichursprüngliches Verhältnis von tastendem Sehen/sehendem Tasten, Leib und Welt. Die Sinne gehören dabei zwar „demselben unsichtbaren Universum“ an, sind jedoch nicht vollkommen deckungsgleich. So gibt es „[…] eine doppelte und überkreuzte Eintragung des Sichtbaren in das Berührbare und des Berührbaren in das Sichtbare, beide Karten sind vollständig und vermengen sich dennoch nicht.“ 11
d) Da der Leib selbst der erfahrbaren Welt angehört findet nochmals eine Verschränkung statt. Der Leib kann sowohl sich selbst, als auch die Welt überhaupt wahrnehmen, findet sich also in einer Doppelstellung, sowohl als Subjekt wie auch als Objekt in dem Universum des Sinnlichen wieder. In dieser Spannung ist nun das „Fleisch“ zu verorten. Sowohl die Welt als auch der Leib sind Fleisch, da jene wie dieser nur über das jeweils sich gegenseitig benötigende tastende Sehen oder sehende Tasten verwirklicht oder verwirklichbar sind. Das eine lässt sich nicht auf das andere 8
Heidegger, GA 20, S. 97
9
Ebd.
10
Vgl. ebd. S. 176 f.
11
Ebd. S. 177
3
reduzieren, sodass es ein „[…] wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere [gibt]“12. Sehen und Sichtbares sowie Tasten und Tastbares sind sowohl untereinander als auch mit dem jeweils anderen Sinn verschränkt und der Leib findet sich in dieser Spannung, die zugleich die Welt eröffnet, wieder.
e) Dabei ist nun schließlich eine letzte Verschränkung zu betrachten; jene zwischen verschiedenen Sehenden untereinander und im Bezug auf das Sichtbare.13 Durch das Sehen von anderen Sehenden, wird der Ursprung des überhaupt Sichtbaren deutlicher und klarer. Das momentan Nicht-sichtbare wird zur Realität, indem erfahren/gesehen wird, dass in einem momentan Sichtbaren ein anderer Sehender sich auf ein mir Nicht-sichtbares bezieht. So werden die Leerstellen gefüllt mit Sichtbarem über das wir nicht direkt verfügen und die eigentliche Tiefe des Sichtbaren wird offenbar, welche sich bereits im ersten Chiasmus gezeigt hat. Durch das Gewahrsein, dass es an anderen Orten gerade anderes Sichtbares gesehen wird (wenn auch nur das momentan selbst Gesehene aus einer anderen Perspektive) wird das eigene Sehen als solches offenbar. Dazu Merleau-Ponty: „Zum ersten Mal auch richten sich meine Bewegungen nicht mehr auf die sichtbaren und berührbaren Dinge oder auf meinen Leib, […], sondern auf einen generellen und für sich selbst seienden Leib, […], weil ich durch den anderen Leib zum ersten Mal erkenne, daß der Leib durch seine Paarung mit dem Fleisch der Welt mehr erbringt, als er empfängt, [dadurch], daß er der Welt, die ich sehe, [hinzufügt], was er seinerseits sieht […]“14. Somit wird sich der Leib als Leib, als Berührender, als Berührbarer, als Sehender usf. offenbar und damit zugleich das Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib, welches das Fleisch ist.15 Dies war allerdings nur möglich über den Schritt des Sich-verortens im Sichtbaren als Sehender über andere Sehende, die das gleiche sehen und den Horizont eröffneten, ineins damit das Sichtbare als solches bekundend. Wir können also sagen, dass das Singulär-sein eines Sehenden nur möglich wurde in seinem Plural der Gemeinschaft der Sehenden und vice verca, jedoch nur durch ihr jeweiliges Zwischen oder Mit - des (oder im) Sichtbaren überhaupt -.
12
Ebd. S. 182
13
Aus obigen Ausführungen ist uns nun klar, das „der Sehende“, wie auch „der Tastende“ und „der Leib“ jeweils das gleiche meinen mit einem je anderen Fokus. Dies ist möglich durch die Verschränkung mit der (und durch die) Welt qua Fleisch. Im Folgenden verzichten wir also darauf immer alle Äquivalenzen zusammen- oder aufeinander rückzuführen. 14
Merleau-Ponty: DSudU S. 188
15
Vgl. ebd. S. 191
4
III. a) Von hier ausgehend wollen wir kurz das Verhältnis des singulär plural seins bei Nancy beleuchten, welches wir so auch als vereinbar mit Merleau-Pontys Denken verstehen können. Zunächst vergegenwärtigen wir uns was Heideggers „Man“ bedeutet, da Nancy erstens mit einer Analyse desselben beginnt; zweitens, da er deutlich zu Heideggers Auffassung überhaupt Bezug nimmt und wir in diesem Lichte seiner eigenen Auffassung näher treten können. Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, kann nur an dem uns ontisch zwar am nächst stehenden Seienden vollzogen werden. Dieses Seiende sind wir selbst: das Dasein.16 Nachdem Heidegger das Dasein als In-der-Welt-sein bestimmt hat17, stellt sich die Frage nach dem Wer des Daseins. Diese wird damit beantwortet, „[…] daß das Wer des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin.“18 Über die Analytik des Mit-seins gelangt Heidegger schließlich zum Existenzial des Man. So ist das Wer des Daseins das anonyme Man der Öffentlichkeit, das zugleich alle und Niemand ist.19
b) Nancy kritisiert hieran nun, dass bei der Heideggerschen Auffassung nicht klar zu Tage tritt, ob der über das „Man“ sprechende sich selbst in die Anonymität miteinschließt oder nicht. So stellt Heidegger zwar die Frage nach dem Wer des Daseins, jedoch nicht die Frage nach dem Wer dessen, der antwortet. Dadurch gerät Heidegger, so Nancy, in die „[…] Gefahr zu übersehen, daß es ein `Man´ in dem das Existierende [also das Dasein] als `eigentliches Existierendes´ vor allem anderen eingetaucht wäre, […] nicht gibt.“20 Demgegenüber präferiert Nancy den Ausdruck „Les gens (die Leute“, da hier klarer wird, dass sich der Sprechende zunächst davon ausnimmt. Jedoch tritt der Sprecher nicht vollends aus „den Leuten“ heraus, vielmehr basiert die Äußerung auf einer Anerkennung der Identität von Sprecher und Bezeichneten.21 Diese Identität besteht sodann nicht zwischen einem Singulären (Individuum) und einem anonymen Rest der Öffentlichkeit, sondern bezieht sich ganz konkret auf das singulär Fremde, jedoch in seiner Pluralität. So ist jene Uneigentlichkeit auf die der singulär Sprechende sich bezieht keine Niemandigkeit, wie bei
16
Vgl. Heidegger: SZ S.41
17
Vgl. hierzu Essay 2
18
Ebd. S. 115
19
Vgl. ebd. S. 126 ff.
20
Nancy: SpS S.27
21
Vgl. ebd.
5
Heidegger, sondern eine Jemandigkeit in ihrer singulär auftretenden Pluralität. Da der Sprechende in letzter Konsequenz dieser selbst angehört ist auch er ein singulärer Plural.
c) Interessant bei diesem Ansatz ist für uns Nancys Auffassung im Bezug auf die alltägliche Begegnungsweise dieser Art des Seins.22 Mit der Begegnung dieser Singularitäten nehmen wir zugleich einen diskreten Übergang zu anderen Ursprüngen der Welt entgegen, welche sodann einen Ursprung und Affirmation der Welt begegnen lassen. Jene hat aber gar keinen anderen Ursprung als diese singuläre Vielheit von Ursprüngen.23 Ähnlich wie bei Merleau-Pontys Auffassung des Fleisches, bzw. des Sehens des Sichtbaren mit anderen Sehenden und dadurch offenbar-werdenlassen des überhaupt Sichtbaren - welches die Welt ist, die im Jetzt gerade auch nicht zugänglich ist - sehen wir bei Nancy, dass das Zusammensein oder in den Worten Heideggers: das Mit-einanderin-der-Welt-sein wesentlich durch seine Pluralität geprägt ist. Bei Nancy gibt es die schlechthinige Einzelheit als solche gar nicht, sondern nur als immer schon verbunden mit dem Pluralen, woraus sich erst überhaupt die Thematisierung von Welt ergibt. So lässt sich vice verca mit Nancy schließen, dass die Alltäglichkeit nicht nur eine indifferent-plurale, anonyme Man-struktur ist, sondern sich in Beziehung mit einer differenzierten/pluralen Singularität konstituiert, welche uns bereits in Form des „Fleisches“ und der affirmativen mannigfaltigen Weltzugänge bei MerleauPonty geworden war.
22
Wobei es in seiner Konzeption keine andere Art des Seins gibt. Sein ist gerade dadurch was es ist, indem es singulär-plural ist. 23
Vgl. ebd. S. 29
6
Literatur Heidegger, Martin: „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“ in: Martin Heidegger Gesamtausgabe (Bd. 20), Hg.: Jaeger, P., Frankfurt am Main: Verlag Vittorio Klostermann 1979
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung,(Übers.: Boehm, R.), Berlin: Verlag Walter de Gruyter 1966
Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, (Übers.: Giuliani, R & Waldenfels, B.., Hg.: Lefort, C.), München: Wilhelm Fink Verlag 2004