Selfies, #ich Augenblicke der Authentizität Karen ann Donnachie
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Karen ann Donnachie Die kleine Geschichte des Selfies und warum sie von Interesse ist
Übersetzung: Özden Gülcicek
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„ABC Online (Forum Posting) 13. September 2002 ,Erm, betrunken bei dem 21sten Geburtstag von nem Freund, bin hinfevallen [sic] und vornüber, auf ein paar Stufen, auf die Lippe gefallen (mit den Vorderzähnen gefährlich nah dran). Ich hatte ca. ein 1cm tiefes Loch durch meine Unterlippe. Und sorry wegen dem Fokus, es war ein Selfie.’” Oxford Dictionaries, „Oxford Dictionaries Word of the Year 2013”, OxfordWords Blog, 23/11/2013. Web. 2
Oxford Dictionaries, „Oxford Dictionaries Word of the Year 2013”. 3 Jerry Saltz, „Kunst am ausgestreckten Arm: Eine Geschichte des Selfies”, Ego Update, Düsseldorf 2015: 48. 4
Interessanterweise sind zur gleichen Zeit andere Subgenres entstanden wie der ‘Self-Shot’ oder das ‘Nakie’ als Bezeichnung für das explizit sexuelle oder nackte Selfie. 5
Alex Williams, „Here I Am Taking My Own Picture“, The New York Times, 19/2/2006. Web.
Auch wenn die Popularisierung des Neologismus „Selfie“ seit 2005 oft mit Jim Krause in Verbindung gebracht wird, wird die erste Verwendung des Wortes ins Jahr 2002 auf einen Australier zurückgeführt, der eine MMS (SMS mit Bild) versendet hatte.1 Vor der aktuellen Nutzung für das fotografische Genre war der Begriff ein weniger bekannter Spitzname für Fans der Rockband Self. Trotz seines relativ kurzen Bestehens wurde das Wort „Selfie“ 2012 bereits als „BuzzWord des Jahres“ ausgezeichnet und 2013, mit der Aufnahme ins Oxford English Dictionary, zum „Wort des Jahres“ gewählt.2 Alles in allem wird die Geschichte des Selfies noch immer geschrieben; dem Kunstkritiker Jerry Saltz zufolge ist das Genre „in seiner neolithischen Phase“. 3 Im Rahmen dieser Untersuchung wird das Selfie (und zugehörige Metadaten-Äquivalente oder „Hashtags“ #selfie #ich) als fotografische Konvention verstanden, in der das Subjekt/der Autor mit dem Fotogerät in der Hand abgebildet ist – oft wird das Spiegelbild fotografiert –, alternativ ist die Kamera dem Subjekt, das sie mit ausgestrecktem Arm hält, zugewandt. 4 Obwohl sich Menschen heute ständig fotografieren, scheint dies ein vollkommen neues Verhalten zu sein, trotz der Tatsache, dass die Technologie, Selbstportraits aufzunehmen, in der westlichen Welt im gesamtem 20. Jahrhundert sowohl verfügbar als auch bezahlbar war (seit dem Erscheinen der Brownie-Kamera von Kodak anno 1900 bis zum Zeitalter des Polaroids seit den 1970er Jahren). Tatsächlich hat Guy Stricherz, der Autor von Americans in Kodachrome, 1 945 –1965, einer umfassenden Betrachtung der amerikanischen Alltagsfotografie, angemerkt, dass von den über 100.000 Fotos, die ihm über 17 Jahre hinweg für sein Projekt zugesandt wurden, weniger als 100 Abzüge Selbstportraits waren. 5 Im 20. Jahrhundert war es nicht üblich, die Kamera auf sich selbst zu richten; zumindest war dieses Verhalten weder so verbreitet noch wurde es so zelebriert wie das Selfie heute. Während wir zwangsläufig anerkennen müssen, dass das Alltagsfoto des 20. Jahrhunderts generell vernachlässigt wurde und in Vergessenheit geraten ist, so sind auch jegliche zufällig entstandene Selbstportraits in der Versenkung verschwunden, und unser e igenes kulturelles Erinnerungsvermögen bestätigt die Annahme, dass das einfach nichts war, was man damals tat. Zusätzlich ist die Neuheit und Wichtigkeit des Genres durch die hitzige Diskussion in den vielen journalistischen und wissenschaftlichen Artikeln rund um das Thema Selfie belegt.
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Karen ann Donnachie Ein Portrait ist kein Selfie
1 Robert Cornelius, Selbstportrait; gilt als erstes noch erhaltenes amerikanisches Portraitfoto: Daguerreotype Collection, Marian S. Carson Collection, Library of Congress, 1839.
6 Brian Droitcour, „A Selfie Is Not a Portrait”, Culture Two, 2013. Web. [Ö.G.]
Unsere kollektive Vernarrtheit in das Selfie hat dazu geführt, dass es von einigen Beobachtern in die ungewöhnlichsten Zusammenhänge gebracht wurde, angefangen von den Selbstportraits von Van Eyck, Dürer und Rembrandt über erste Experimente in der Fotografie, hin zu ikonischen Fotos wie den Fischaugen-Selbstportraits von George Harrison aus den späten 1960er Jahren oder dem weniger historischen „MySpace-Pic“, das sich einst im mittlerweile überholten sozialen Netzwerk großer Beliebtheit erfreute. Diese Bemühungen, uns das erste Selfie zu liefern, sind nicht förderlich, um die Attribute, die Bedeutung und die Poetik, die einzig dem Selfie anhaften und innewohnen, zu verstehen. Historische Nationalarchive wurden durchforstet, um „Proto-Selfies“ zu finden wie beispielsweise die Daguerreotypie von Robert Cornelius 1 , oftmals zitiert im Zusammenhang solcher Selfie-Ausgrabungen, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass das Selfie innerhalb historisch etablierter Kanons besser analysiert werden könne. Dieses kollektive Bemühen, das „erste Selfie“ ausfindig zu machen, bietet nichtsdestotrotz einen nützlichen Hinweis; es bestätigt, dass wir uns schon gar nicht mehr vorstellen können, jemals ohne dieses Phänomen gelebt zu haben. Die Zuordnung des frühesten amerikanischen Selbstportraits zu Robert Cornelius mag wohl verdient und erwähnenswert sein, und tatsächlich waren viele der ersten Experimente in der Fotografie Selbstportraits – der Künstler benötigte einen Körper, und der zuverlässigste und kostensparendste, der griffbereit war, war der eigene. Historische Selbstportraits dieser Art sind allerdings noch lange keine Selfies (nicht einmal Proto-Selfies), nur weil sie Fotos und Selbstportraits sind, und sie als solche zu beschreiben, birgt das Risiko, ihre eigene Leistung und Bedeutung zu schmälern. Den Ursprung des Selfies in vorangegangen Genres der Selbstdarstellung zu suchen ist auch deswegen kontraproduktiv, weil, trotz einiger formaler und funktionaler Überlappungen von Selfie und älteren Genres der Selbstdarstellung, das Selfie durchweg als eine zeitgenössische Erscheinungsform, eine diskrete Entität und/oder Aktivität hervortritt; aufgrund seiner Komposition, Technik, Verbreitung in Netzwerken, seines Konsums und seiner schieren Allgegenwart kann es nicht einfach auf eine digitale Sanierung des Selbstportraits reduziert werden. Abwertend unterstreicht auch der Kurator und Kritiker Brian Droitcour in seinem bezeichnenderweise „Ein Selfie ist kein Portrait“ 6 betitelten Artikel den Unterschied zwischen Selbstportrait und Selfie. Droitcours Antipathie gegen das Selfie maskiert seine Nostalgie für das klassische Portrait, während er die künstlerischen
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Gen Doy, Picturing the Self: Changing Views of the Subject in Visual Culture, London 2005: 25. [Ö.G.]
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vgl. Saltz: 32.
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Unzulänglichkeiten des Selfies hervorhebt, als hinge die Bedeutung des Selfies überhaupt von seiner Akzeptanz als Portrait ab. Natürlich ist diese reaktionäre Resonanz kein Präzedenzfall. Gen Doy schreibt über die Reaktionen von Wissenschaftlern auf Künstler der Renaissance, die Nichtadlige malten: „[S]chon im 16. Jahrhundert wurde in Schriften zur Kunst davor gewarnt, dass das Portraitieren einfacher, unwürdiger Leute schlicht die Idee des Portraits degradieren würde.“ 7 Droitcours Analyse verkörpert einen dystopischen Kommentar, der auf der Annahme einer Überflutung und Verwässerung der Kultur durch gemeinschaftliche Netzwerk-Praktiken beruht, die auch den Akt des Selfies einschließen würden. Kunstkritiker Jerry Saltz sieht im Selfie hingegen einen wertvollen Zugewinn für die Kulturproduktion, mit dem Potenzial, eine neue Ausdrucksform zu schaffen. 8 Ich werde argumentieren, dass das Selfie eine lang ersehnte, einzigartige Entwicklung der Fotografie ist, die in sich eine nie dagewesene Intimität und Menschlichkeit erfasst und zugleich mithilfe des prothetischen Fotohandys ein komplexes, gemeinschaftliches, post-humanes Verhalten innerhalb des Netzwerks darstellt. Das Verlangen, sich selbst zu fotografieren
An dieser Stelle scheint es sinnvoll, die Technologie, die dem Selfie zugrunde liegt, zu besprechen, um im Weiteren die einzigartige Natur des Selfies hervorzuheben. Das Smartphone mit Kamerafunktion ist derzeit eindeutig das meistverbreitete Werkzeug für das Produzieren und Verbreiten von Selfies. Ein populärer Trugschluss ist, dass, weil wir Handys mit Kameras besitzen und diese Kameras zum Schießen von Selfies benutzen, die Kamera am Handy erfunden wurde, um damit Selfies zu erstellen, oder einfacher gesagt, dass Selfies erfunden wurden, als die Kamerafunktion zur mobilen Telefonie hinzugefügt wurde. Sogar die oberflächlichste Recherche der Geschichte des Fotohandys zeigt, dass diese Hypothesen hinken; die Kamera als Accessoire für das Mobiltelefon ist dem ersten Auftauchen des Selfies um mindestens eine Dekade vorangegangen. Schon 1997 stellten Mobiltelefone die Funktion bereit, eine Nachricht mit Anhängen wie z. B. Fotos zu versehen (MMS). Die Dienstleistung war unheimlich beliebt und sorgte für dementsprechend beispiellose Umsätze bei Mobilfunkanbietern und Foto handy-Herstellern gleichermaßen, was dazu führte, dass schon 2003 der Verkauf von Fotohandys den der Digitalkameras überstieg; aber das Selfie als kulturelles Phänomen wurde erst zehn Jahre danach für uns bemerkbar. Die Einführung der mittlerweile allgegenwärtigen, selfie-freundlichen Frontkamera im Jahr
2007 war in erster Linie der Idee geschuldet, den kostenpflichtigen Streaming-Datenverkehr durch ein relativ teures Video-Telefonie-System zu fördern, eine Anwendung, die sich als nicht so beliebt wie erwartet erwiesen hat. Der resultierende Gebrauch des Fotohandys als „Selfie-Kamera“ trat weder sofort ein noch wurde er vorausgesehen.9 Die Auffassung, dass die bloße Einführung einer technologischen Entität in ein System kein Garant für ihre großflächige Annahme ist, vertritt Geoffrey Batchen in seinen Erörterungen der Anfänge der Fotografie. Batchen stellt detailliert die historischen Hintergründe der ersten fotografischen Systeme dar und streicht heraus, dass die notwendige Technologie für die Daguerreotypie dem „Verlangen zu fotografieren“ lange vorausging.10 Tatsächlich trat das Selfie im gesamten 20. Jahrhundert nicht auf, trotz des umfassenden Zugangs der westlichen Gesellschaft zu preiswerten Alltagskameras, mit denen Selbstportraits hätten erstellt werden können, und einer aufblühenden Mittelklasse, die die neuen Vorzüge des Kapitalismus in Form von Freizeit, Wohlstand und Selbstoptimierung genoss. Gleichermaßen kann die Einführung des „smarten“ Fotohandys oder ähnlicher Mobiltechnologien weder als alleinige noch als vorrangige Ursache des Selfie-Phänomens betrachtet werden, obwohl sie sicherlich das Erstellen und Verbreiten des Selfies begünstigt haben. Batchens Argument folgend ar gumentiere ich, dass wir in den letzten zehn Jahren Zeugen der Entwicklung eines neuartigen, intrinsischen Verlangens danach geworden sind, uns selbst zu fotografieren; und der zügellose Erfolg des Smartphones mit Frontkamera ist ein stark damit zusammenhängendes Phänomen. Es wird sicherlich interessant sein zu sehen, wie das Selfie sich durch Gerätschaften wie Oculus Rift oder Google Glass verändern wird, die nicht von Werk aus die derzeitige Erscheinungsform des Selfies unterstützen (beide Beispiele haben keine Kamera, die der Benutzer direkt auf sich richten kann), oder ob das Selfie-Phänomen das Design und die Entwicklung der Technologie selbst prägen kann. Die Funktion des Selfies
Um zur Diskussion über die Funktion des Selfies zurückzukehren, und hier überlappt sie sich mit den klassischen Portraits, dienen unsere Selfies oftmals dazu, Status zu vermitteln: eine neue Frisur, neuer Partner, BFF, Urlaubsort, Essen, Schmuck, Fahrrad, Gerät, Buch, Musik etc. Sarvas und Frohlich sehen in ihrem Artikel Vom Schnappschuss zu sozialen Medien: Das sich verändernde Bild der Alltagsfotografie im Selfie die Funktion, soziale Verbindungen und
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Risto Sarvas and David M. Frohlich, From Snapshots to Social Media: The Changing Picture of Domestic Photography, London 2011: 148. [Ö.G.]
12 Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik”, Gesamta usgabe: Band 7, Frankfurt a. M. 1977: 9. 13 David Elkind, „Egocentrism in Adolescence“, Child Development 38, 1967: 1025–1034. [Ö.G.]
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Werte zu konstruieren und kommunizieren, so wie es das Familienportrait in der Zeit der Daguerreotypie tat. Sie führen als Beispiel ein Selfie an, das einen Mann mit seinem Kind auf dem Rücken zeigt, und vergleichen es mit einem formalen Familienportrait von 1849. Während sie die offensichtlichen Unterschiede in der Zusammensetzung und im Verhalten der Personen herausstellen, bemerken sie, dass der soziale Zweck beider Bilder sich darin ähnelt, die soziale Nähe zwischen den Personen auf dem Foto zu betonen, die die Zugehörigkeit innerhalb der Familie als idyllisch darstellt. Zusammenfassend heißt es: „[D]ie Zwecke, für die die Fotografie in den 1840er Jahren alltagstauglich gemacht worden war, überdauern seit mehr als 170 Jahren.“ 11 Das Selbstportrait dient (immer noch) als Medium, in dem wir Identität, bzw. diese fingierte Entität, die wir unser Selbst nennen, konstruieren und übermitteln. Und das Selfie erlaubt oder impliziert zumindest eine noch nie dagewesene Selbstbestimmung dieser digitalen Erscheinung, bei der wir Experten im Posieren, Umrahmen und im anderweitigen Aufwerten unserer Selbstportraits werden. Und während sie zwangsläufig sowohl das demografische Vorurteil der Verteilung kultureller und technologischer Voraussetzungen als auch die semantische Spezifizität der Nutzung des englischen Ausdrucks Selfie bestätigen, sind, in dieser Untergruppe der Menschheit, die sich ansammelnden Portraits in beträchtlichem Ausmaß von und für den „Durchschnittsbürger“ geschaffen. Wir könnten vorausahnen, dass diese spontane, beispiellose Massenprojektion des Selbst eine Manifestation des aufkommenden menschlichen Selbstbewusstseins ist oder dass der Prozess des Erstellens und Teilens von Selfies durch den rahmenden Effekt des Bildschirms die potenzielle heideggersche Enthüllung bereithält. Oder vielleicht, so wie Lacans Baby das Konzept des eigenen Selbst in einem Spiegel erlernt, testet die Gesellschaft im 21. Jahrhundert ihre eigene kollektive Identität im vernetzten Selbstportrait.12 Kinderpsychologe David Elkind beschreibt den (überwiegend auf Teenager zutreffenden) Impuls, für „das imaginäre Publikum“ zu performen, als einen natürlichen Prozess der Identitätsformung.13 Diesem Impuls wird durch das Selfie Ausdruck verliehen, mit dem das Kind seine Verhaltensweisen, Erscheinungen und Posen in einem privaten oder anonymen Rahmen austesten kann, bevor es sie an seine vernetzten Altersgenossen über soziale Medien vermittelt. Wenn man dieses Verhalten auf unsere pubertäre Gesellschaft überträgt (und hier spreche ich von Reife, nicht unbedingt von einer Altersgruppe), wird das Selfie zu einem idealen Medium für das Experimentieren mit der Persönlichkeit, sowohl für Kinder als auch
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„Kidult”, Wikipedia, 25/5/2014. Web.
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Gram erläutert: „Das JungeMädchen ist der Modell-Bürger der modernen Gesellschaft, nicht nur, weil wir es verehren, sondern weil dadurch, dass sie zur Kult ivierung ihres Körpers so viel Energie verbraucht, ihr Potenzial als revolutionäres Subjekt ver braucht ist. Wenn Junge-Mädchen die verhassten Körper des Kapitals sind (zusammen mit Migrantenkörpern, Rassenkörpern, LGBT-Körpern, etc.), dann müssen sie auch vorhersehbare Körper sein; deswegen geben wir unver hältnismäßig viel Geld dafür aus, die Bedeutung der Schönheit hervorzuheben, die Bedeutung der Mode, die Bedeutung der Jugendl ichkeit und Begehrtheit und Ind ividualität.” Sarah Gram, „The Young-Girl and the Selfie”, Text Relations, 25/9/2013. Web. [Ö.G.] 16
ebd.
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vgl. diese Publikation: 230–233; 208–209.
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Rosalind Krauss, „Video: The Aesthetics of Narcissism”, October, Cambridge 1976: 50–64.
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für „Kidults“ (Erwachsene, die weiterhin kindliche Aktivitäten ausüben).14 Sarah Gram hat Gendertheorien speziell auf das Selfie bezogen und dabei auf Tiqquns Konzept des „Jungen-Mädchens“ zurückgegriffen. Das von Tiqqun beschriebene Junge-Mädchen ist vorrangig keine Beschreibung einer bestimmten, natürlichen Person, sondern eher die allgemeine Klassifikation eines von der spätkapitalistischen Gesellschaft erzeugten Objekts – einer vom Kapital kolonialisierten Identität – oder „[des] Modell-Bürger[s] der zeitgenössischen Gesellschaft.“ 15 Gram zufolge arbeitet das Junge-Mädchen, um seine Weiblichkeit aufrechtzuerhalten, die ihr „Eintritt in die Welt des Konsumkapitalismus“ verschafft. Das Selfie dient dem Jungen-Mädchen als „Darstellung von … öffentliche[r] Anerkennung dieser Arbeit.“ 16 Eine Manifestation dieses Phänomens kann in den Arbeiten von aktuellen „Girlcore“-Künstlerinnen (ein Begriff, der von Mary Bond geprägt wurde) wie Petra Cortright, LaTurbo Avedon und Amalia Ulman 17 beobachtet werden, die auf ihren YouTube-, Face book- und Instagram-Materialisationen insbesondere das Gender-Klischee von Tiqquns Jungem-Mädchen ausbeuten. Der Bilderteich des Narziss
Vielleicht ist, wie manche behaupten, das Selfie einfach ein ungezügelter, spätkapitalistischer Akt der Eitelkeit oder Selbstbesessenheit. Rosalind Krauss, Theoretikerin neuer Medien, warnt bekanntermaßen in ihrer Kritik von 1976 zum (damals aufkommenden) Medium Video vor dem Zeitalter des Narzissmus, da viele VideoKünstler die Kamera auf sich selbst richteten.18 Natürlich haben auch Künstler mit fotografischen Mitteln das volle Spektrum der Selbstdarstellung von freimütig (Nan Goldin, Andy Warhol) bis konstruiert (Cindy Sherman, Jeff Wall) erkundet und entziehen sich somit nicht einer ähnlichen Kritik. Aber im Spiegelkabinett des Internets bieten die Phänomene des Photo-Sharings, Bloggens und der sozialen Medien eine ähnliche und doch weitaus komplexere Umgebung für die Projektion und Wahrnehmung des Selbst, auf das Krauss sich bezogen hatte, und die Autoren sind meistens nicht mehr Künstler, sondern eher der Durchschnittsbürger. Darüber hinaus hat das Medium Video sich nicht in der Weise des vernetzten Selbstportraits reproduziert. Während jedes einzelne Video oder Foto zwar seine eigene Edition, Übermittlung, Vervielfältigung und Sammlung hatte, sammelte es sich nicht automatisch in einem Netzwerkspeicher oder Archiv, wie es beim Selfie in den Gefilden von Facebook, Instagram, Tumblr, Flickr usw. der Fall ist.
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Die Installation enthält eine Reihe von wechselnden KurzformVideo-Selfies (z. B. Vine oder Instagram Video) 19 aufstrebender Künstlern der Millennial-Generation, in Auftrag gegeben von den Kuratoren Kyle Chayka und Marina Galperina. Eugene Reznik, „Off Your Phone and On View: The National #Selfie Portrait Gallery”, Time Lightbox, 2013. Web. 20 Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, München 1980: 126.
21
ebd.: 126–27.
22
ebd.: 55.
23 Zizi Papacharissi, A Networked Self: Identity, Community, and Culture on Social Network Sites, London 2011: 269. [Ö.G.] 24 Droitcour, „A Selfie is not a Portrait.“ [Ö.G.]
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Die Kuratoren Kyle Chayka und Marina Galperina erklären die Motivation hinter dem Selfie im Zuge ihrer Ausstellung mit dem Titel National #Selfie Portrait Gallery (Oktober 2013, bei der Moving Image Contemporary Art Fair in London) folgendermaßen: „[E]s geht weniger um Narzissmus … es geht mehr darum, der eigene digitale Avatar zu sein.“ 19 Im Kontext des Bildschirms verhandeln wir ständig unsere Identität neu, indem wir uns selbst in der virtuellen Gesellschaft verorten, die wir konstruiert haben und konsumieren, sehen wir unsere Fotos auf dem Bildschirmspiegel und schwelgen in der doppelbödigen Reflexion, dem Blick und der Betrachtung unseres Selbst. Christopher Lasch spricht in Das Zeitalter des Narzissmus davon, dass „die ängstliche Selbstbeobachtung“ (die sich, könnte man sagen, in der wiederholten Tätigkeit des Selfie-Fotografierens manifestiert) dazu diene, eine „[i]ronische Distanzierung als Flucht vor der Routine“ 20 zu schaffen, die nicht mehr fähig ist, dem Selbstzweifel vollständig zu entkommen, und unzufrieden ist mit dem gelebten Leben (oder Körper): „[Das Subjekt] bemüht sich, das Rollenspiel in eine symbolische Erhöhung des Alltagslebens zu verwandeln.“ 21 Er argumentiert, dass Narzissmus im Spätkapitalismus tendenziell pathologisch und in einer Feedback-Schleife des Verhaltens und der Persönlichkeit gefangen ist, was „jene geistige Verfassung beschreibt, in der die Welt als Spiegel des Selbst erscheint.“ 22 Es sind reichliche psychoanalytische Theorien zu den Motivationen und Ursachen von Narzissmus vorhanden (ein zu weitgefasstes Thema, um es hier zusammenzufassen), aber es reicht aus zu sagen, dass wahrscheinlich wegen seines verlockenden Konzepts der Begriff oftmals mehrdeutig benutzt wird: In seiner reduziertesten Form und außerhalb jeglichen klinischen Zusammenhangs wird „Narzissmus“ benutzt, um alles von primitiver Selbstbestätigung, einer Freud’schen „Selbstliebe“ hin zu Selbstsucht, Ichbezogenheit und sogar, seit Kurzem, das genaue Gegenteil anzudeuten. Papacharissi behauptet: „[W]ährend narzisstisches Verhalten sich auf das Selbst bezieht, ist es nicht motiviert durch selbstsüchtiges Verlangen, sondern durch den Wunsch, das eigene Selbst besser in die Gesellschaft zu integrieren.“ 23 Droitcour lässt dieses menschliche Verlangen widerhallen, wenn er schreibt: „[D]as Selfie schreibt den Körper in ein Netzwerk hinein … es setzt innerhalb eines Netzwerks die Verbundenheit eines Körpers zu anderen über ihre jeweiligen Geräte durch.“ 24 Die Notwendigkeit des Bildes, sich zu vernetzen, konstituiert die wesentliche und maßgebliche Qualität des Selfies, das wohl erst eines ist, sobald es in sozialen Medien geteilt wird.
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Karen ann Donnachie Ein verbundenes Selbstbild
25 „Narzisstisches Bedürfnis“ ist ein Begriff, der 1938 von Otto Fenichel geprägt wurde und ein konstantes Bedürfnis nach Bestätigung im Kontext des klinischen Narzissmus beschreibt. Otto Fenichel. „The Drive to Amass Wealth”, The Psychoanalytic Quarterly, 1938: 7:78. [Ö.G.] 26
Jenna Wortham, „Facebook Made Me Do It“, The New York Times, 15/6/2013. Web. [Ö.G.]
27 David Giles, Illusions of Immortality: A Psychology of Fame and Celebrity, Basingstoke 2000.
28 Sandra Kemp, Future Face, London 2004: 131.
29
Giles, 53. [Ö.G.]
Einmal dem Netzwerk ausgeliefert, erwartet das Selfie soziale Zustimmung, oft in Form eines „Likes“ oder eines Reblogs. Vielleicht reagiert dieses Streben nach dem „Like“ unbewusst auf das Verlan gen des Autors, sein „narzisstisches Bedürfnis“ wieder zu erfrischen.25 Im Austausch für das erhaltene „Like“, „liket“ der Empfänger zurück, wodurch soziale Währung ausgetauscht wird, die eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Autor und Publikum verstärkt. Jenna Wortham beschreibt in ihrem Artikel „Facebook zwang mich, es zu tun“ in der New York Times die Feedback-Schleife vom Posten zum Liken als „das Element der sozialen Medien, das die größte Suchtgefahr birgt.“ 26 Wenn sich Autoren von Selfies dem Netzwerk zuwenden und ein Selbstportrait teilen, dann suchen sie offensichtlich diese menschliche Verbindung, auf die sich Papacharissi und Droitcour beziehen, aber auch, wenn man an die um Prominente aufgebauten Gefüge der sozialen Medien denkt, sind sie involviert in eine eher irrationale Suche nach der eigenen Berühmtheit (paradoxerweise in Verbindung mit Anonymität, realer oder vermeintlicher). Wie David Giles in Illusions of Immortality beschreibt, sind anhaltender Ruhm oder Unsterblichkeit durch die unendliche Wiederholung oder Nachbildung des Bildes erreichbar, weswegen das Posten eines Selfies hinein in den sozialen Fluss dieses Potenzial bereithält.27 Ähnlich führt Sandra Kemp in Future Face die Bildsprache, die während und nach Prinzessin Dianas Tod zirkulierte, als Beispiel für den Effekt der massenhaften Vermehrung von Bildern an, und sie setzt Dianas Ruhm in Zusammenhang mit dem Maß an Sättigung ihres Bildnisses.28 Wenn, wie Giles und Kemp beide argumentieren, Ruhm durch die Anzahl der Nachbildungen des Berühmten-Bildes bestimmt ist, dann ist es natürlich, dass der Fortschritt der nachbildenden Geräte, verbunden mit einer Vielzahl von Plattformen und Zielgruppen „für den Einzelnen Möglichkeiten eröffnet hat, sich in einem atemberaubenden Umfang zu reproduzieren und so eine logische, evolutionäre Begründung für das obsessive Streben nach Ruhm zu liefern.“ 29 Die Irrationalität liegt in der Anzahl. Von den Millionen von Selfies, die geteilt werden, wird eine statistisch nur unbedeutende Anzahl überhaupt bemerkt und in einem solchen Ausmaß nachgebildet werden, dass sie auf den eigenen Ruhm Einfluss ausüben kann. Und dann gibt es da noch das tatsächliche „Star-Selfie“, ein Subgenre, deren Meister unter anderem Darsteller wie Miley Cyrus, James Franco, Kim Kardashian und Justin Bieber sind. In diesem Fall hat das Subjekt/der Autor bereits den Prominentenstatus
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Kadashians Bild, s. Saltz: 41.
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erlangt, wodurch der Akt des Produzierens und Teilens von Selfies nicht nur dazu dient, Popularität auszubauen und ein Momentum in sozialen Netzwerken zu generieren /aufrechtzuerhalten, sondern seinen Followern und Fans Dankbarkeit zu erweisen und den Massen „etwas zurückzugeben“. Dennoch gerät dies in der komplexen Wirtschaft der sozialen Netzwerke allzu schnell zum Vorteil desjenigen Prominenten, der desto mehr Aufmerksamkeit innerhalb der eigenen Industrie (Agenten, Autoren, Produzenten und Regisseure) auf sich ziehen kann, für je mehr Likes und Retweets er sorgt. Indem das Aufnehmen eines Selfies für den Prominenten eine soziale Währung abwirft, neigt es also wieder einmal dazu, eine eigennützige Handlung zu sein. In einem 2014 im New York Magazin erschienenen Artikel bespricht Jerry Saltz „Kim Kardashians mittlerweile berühmtes Bild ihres Hinterns und seitlich entblößter Brust“ und die paradoxe „Verhüllung“, die im Bild passiert. Trotz der gewagten Natur ihrer Pose und ihres Aufzugs blendet Kardashian mithilfe ihres „japanischen Wandschirms“ 30 behutsam ihr Privatleben aus dem Bild. Saltz bemerkt, dass sie sich damit vollkommen wohlzufühlen scheint, ihren Körper zu präsentieren, bleiben doch der Rest ihres Zuhauses und ihrer Habseligkeiten abgeschirmt, unzugänglich für das voyeuristische Publikum. In der Verwendung des Begriffs der „Verhüllung“ und seiner Enttäuschung über Kardashians Selbstzensur liegt ein intrinsisches Verlangen danach, dass das Selfie ein authentisches Objekt sein solle, was meines Erachtens eines der Schlüsselelemente ist, die den Erfolg des Selfies heute vorantreiben. Während zweifellos Narzissmus, Identitätskonstruktion und das Streben nach Ruhm alle mehr oder weniger in das Phänomen der amateurhaften Massenprojektion des Selbst hineinspielen – ersteres erkennbar in den selbstbestätigenden Anmerkungen zum eigenen Erscheinungsbild des Autors, die dem Selfie oft beiliegen –, behaupte ich, dass sogar eine Pandemie von pathologischem Narzissmus und/oder größenwahnsinnigem Streben nach Ruhm, die sich in obsessiver Selbstportraitierung niederschlägt, an und für sich nicht genügen würde, um den Aufstieg des Selfies zu erklären. Die reine Produktion und Dissemination des Selbstportraits, also die Projektion des Selbst, würde nicht ausreichen, um die aktuelle Selfie-Ökologie aufrechtzuerhalten. Wir müssen uns auch die Frage nach dessen Konsum stellen, nach der komplizenhaften Beteiligung des Betrachters und nach den Befähigern der mutmaßlichen Narzissten. Legen wir für den Moment die problematischen Begriffe Autor und Intention zur Seite und denken wir darüber nach, ob das
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Selfie vielleicht einem anderen Zweck dient und einen Restwert als Fotografie, Portrait oder anthropologisches Artefakt hat. Auf der Suche nach dem authentischen Selbst
31 Susan Sontag, Über Fotografie, New York 1977.
32 Vilém Flusser, “The Photograph as Post-Industrial Object: An Essay on the Ontological Standing of Photographs”, Leonardo, 19/4/1986: 331. [Ö.G.]
33
James Franco, „The Disrupters / The Attention Grabber: Meanings of the Selfie”, New York Times, 29/12/2013. Web. [Ö.G.] 34
Saltz: 38.
Das traditionelle (prädigitale) Foto als bescheidenes und naives Objekt war, selbst wenn es nicht notwendigerweise „die Wahrheit“ darstellte (den veralteten Diskursen von Sontag und Barthes zufolge), Zeuge der Tatsache, dass zu einem Zeitpunkt ein Subjekt sich materiell vor einer Kamera befand; Sontag spricht von der Fotografie als einer „Schablone der Wirklichkeit“. 31 Jahrzehnte später bietet die digitale Umwelt für gewöhnlich unendliche Möglichkeiten der Manipulation von Bildern, und insbesondere in Bezug auf das menschliche Gesicht wird uns konstant die vermittelte Natur des digitalen (manipulierten) Portraits vor Augen geführt, das uns von den Covern der Hochglanzmagazine oder von Werbetafeln anlacht. Inzwischen haben Lister und Batchen zusammen mit anderen die Rolle des fotografischen Bildes neu definiert. Sie behaupten, dass dadurch, dass es nicht mehr an eine unbefleckte Vorstellung von Wahrheit gebunden ist, das Foto eher die Rolle eines kulturellen statt eines technischen Objekts angenommen hat und dass wir im fotografischen Bild eher Bedeutung vermitteln, als es bloß als Vertreter einer Realität zu lesen. In seinem zukunftsweisenden Essay aus dem Jahr 1986, „The Photograph as Post-Industrial Object“, schreibt Vilém Flusser: „[D]as neue Foto wird Objekte missachten“, und impliziert damit eine immer breiter werdende Spaltung zwischen Realität und fotografischem Bild. 32 Und doch bleibt ein wohl irrationaler Restglaube speziell in das Selfie als Evidenz des menschlichen Daseins oder der Präsenz. Wenn wir ein Selfie sehen, schätzen wir es für seine Aufrichtigkeit, seine Unmittelbarkeit und nicht zuletzt für seine Ehrlichkeit. Das Selfie sagt „schau mich an, hier drüben, jetzt.“ Sogar der erfolgreiche Star-Selfieist James Franco gibt in seinem New York TimesArtikel „Selfies, die Aufmerksamkeitshascher“ offenherzig zu, dass er im Selfie nach der authentischen Identifikation des anderen sucht: „In unserer Zeit der sozialen Netzwerke bietet das Selfie die Möglichkeit, jemandem direkt ins Gesicht zu schauen und zu sagen ,Hallo, hier bin ich.‘“ 33 Saltz bestätigt diese Auffassung noch einmal mit Betonung auf der Unmittelbarkeit des Bildes, indem er das Selfie mit dem „Zeichentrickhund, der, wenn er nach der Uhrzeit gefragt wird, immer sagt: , Jetzt! Jetzt! Jetzt!‘“ 34 gleichsetzt. Das Selfie positioniert sich selbst an der Schnittstelle von Zeit und Raum, und diese Simultaneität bereitet die Grundlage für einen authentischen Akt.
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Das Selfie beinhaltet und übermittelt innerhalb seiner visuellen Codierung Hinweise auf seine Herstellung. Das Gerät ist im Fall des Spiegel-Selfies oftmals selbst im Bild zu sehen, andernfalls, wenn das Gerät in der Hand gehalten wird und zum Urheber selbst gewendet ist, bekommen wir den verräterischen ausgestreckten Arm oder die gebeugte Schulter zu sehen. Liz Losh prägt hierfür den Begriff „transparente Mediation“:
35 Elizabeth Losh, „Beyond Biometrics: Feminist Media Theory Looks at Selfiecity”, Selfie City Theory, 20/8/2014. Web. [Ö.G.]
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Saltz: 34.
Transparente Mediation beschreibt eine bedeutende Teilmenge an Bildern … bei denen der Apparat, der das Foto aufnimmt, im Bild präsent ist. … [D]en hypervermittelten Charakter seiner erlebten Erfahrungen zu zeigen, ist eigentlich eine Strategie, Glaubwürdigkeit zu etablieren, und zu demonstrieren, wie authentisch Präsenz durch einen Zuschauer oder einen Bildschirm vermittelt wird, ist ein Weg, Vertrauenswürdigkeit zu kommunizieren. 35 Diese offenkundige Aufrichtigkeit, die Aufdeckung der Architektur des Selfies durch Einbeziehen des Gerätes, des Ortes und der Technik, der deskriptiven Hashtags, der Geo-Daten, der Uhrzeit und anderer Metadaten, die im Bild codiert umherwandern, verstärken unseren Instinkt, das Selfie vorbehaltlos als eine naturgetreue Repräsentation des Subjekts zu akzeptieren. Der Ort ist ein beiläufiger Protagonist, die Wahl eines Bade- oder Schlafzimmers beispielsweise mag auf Intimität und eine Solo-Performance hinweisen, in der die Person uns verletzlich und zerbrechlich erscheint, was dafür sorgt, dass das Selfie noch ehrlicher wirkt. Die Entdeckung und Entschlüsselung dieser technischen Charakteristika erlauben uns, ein Selfie unverzüglich von anderen Genres der Fotografie zu unterscheiden. Wir wenden instinktiv die Regeln seines proprietären visuellen Codes an. Saltz erläutert, wie man ein Selfie erkennt, und eine der Regeln, die er aufstellt, ist: „Wenn beide Hände auf dem Bild zu sehen sind und es nicht im Spiegel aufgenommen worden ist, ist es streng genommen kein Selfie – sondern ein Portrait.“ 36 Die formalen Taxonomien, die das Selfie umgeben, haben sich rasch etabliert und ausgedehnt, was wiederum dem Selfie zu einem einzigartigen Platz in der zeitgenössischen Fotografie verholfen hat. Das Selfie und sein Doppelgänger
Ein weiteres essenzielles Element, und dazu eines der gängigsten im Selfie, ist der Spiegel. Ob sichtbar im Bild selbst (wie bei den meisten Badezimmer-Selfies) oder angedeutet, ist der Spiegel eine
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von vielen Oberflächen, über die das Selfie gemacht und projiziert wird. Chieregato und Torselli schreiben über den Spiegel in ihrem Essay „L‘Autoritratto“ („Das Selbstportrait“):
37
Gianmarco Chieregato und Vilma Torselli, „L‘Autoritratto (Parte II)”, Art on Web, 29/12/2008. Web. [Ö.G.]
38
Ken Miller, „More than Fifteen Minutes of Fame: The Changing Face of Screen Performance“, Film Cultures 6.2013: 214. [Ö.G.]
Der Spiegel … zugleich ein Symbol für Wahrheit oder Illusion und beinahe immer eine Metapher für etwas anderes, unerbittlicher Komplize eines jeden Selbstportraits, Mittel zur Offenbarung unserer dunklen Seite, Wächter unserer wahrnehmbaren Identität, wird zum wahren ikonographischen Subjekt im Selbstportrait … 37 Indes der Autor im Moment des Selfies nicht anders kann, als sich im Spiegel, in der App oder einfach auf der glänzenden Oberfläche des Geräts gespiegelt zu sehen, ist dieser mit dem Selfie verbundene, doppeldeutige Spiegel/Bildschirm der Ort der Performance. Da das Selfie dazu kreiert wurde, gesehen, geteilt und ausgestellt zu werden, ist es nicht tatsächlich oder ausschließlich ein Spiegel für die Selbstreflexion. Es gibt bereits eine Verortung, Positionierung, eine Wertung des Selbst innerhalb des Bildes und des Netzwerks, wenn das Selfie in den sozialen Kontext des Subjekts vordringt, und dies wird zu einer weiteren, bestimmenden Eigenschaft des Selfies: Es wird aufgenommen, um in Netzwerken verbreitet zu werden. Erwähnenswert und außerdem ein anderer homogenisierender Charakterzug des Selfies ist auch, dass das Bild meistens aus einer Nahaufnahme eines oder mehrerer Gesichter besteht. In der Tat widmet sich das Selfie vor allem dem Gesicht – dieses Genre hält sogar sein eigenes Repertoire an Gesichtsausdrücken bereit (von denen eines der bekanntesten das Duck-Face ist). Formal betrachtet, kann dies der mechanischen Begrenztheit der Brennweite der Kamera zugeschrieben werden (ungefähr eine Armlänge). Dennoch kann die reine Einschränkung des Blickfelds allein nicht die überwältigende Bevorzugung für Nahaufnahmen des Gesichts erklären. Sie resultiert wohl eher aus der Kombination eines Verlangens, von anderen erkannt zu werden, und dem hypnotisierenden Effekt unserer Spiegelung, was letztlich die Rahmung innerhalb der visuellen Codes des Selfies beeinflusst. In einer Diskussion über die filmische Nahaufnahme zitiert Regisseur Ken Miller die Theoretikerin Mary Ann Doane und stimmt zu, dass „das Gesicht als Oberfläche … die ideale Ergänzung zum fotografischen Bild als Oberfläche [ist]. [I]n Kombination erleben wir Oberflächen, die Tiefen versprechen, Äußerlichkeiten, die Innerlichkeiten implizieren.“ 38 Im Kino, so argumentieren Miller und Doane, lenkt die Nahaufnahme vorübergehend von der eigentlichen Handlung ab und erlaubt uns, über das Gesicht nachzudenken, es zu
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ebd.: 215.
40 Sandy Hotchkiss und James F. Masterson, Why Is It Always About You? The Seven Deadly Sins of Narcissism, New York 2003. Web. [Ö.G.] 41
Franco. [Ö.G.]
Karen ann Donnachie
studieren und uns darauf einzulassen. Miller fährt fort, den Gedanken der „visuellen Selbst-Einschreibung“ zu diskutieren, den man mühelos auf den Akt des Selfies übertragen könnte, mit dem „Verlangen, das Selbst als einen vermittelten anderen zu sehen, [das] in gewissem Sinne auch als eine Wiederholung des narzisstischen psychologischen Dramas der Andersartigkeit angesehen werden [kann], in dem man versucht, das andere in sich selbst wiederzufinden und das Selbst im anderen.“ 39 Anders ausgedrückt liegt es in der Komposition unserer Selfie-Nahaufnahmen, dass wir uns selbst objektivieren, während die Nahaufnahmen (sowohl unsere eigenen, als auch die der anderen) uns mit Ablenkung und dem Versprechen nach Vielschichtigkeit ködern. Diese Verschwommenheit von Subjekt und Publikum erscheint zunächst im Entstehungsprozess des Fotos, wenn der Autor den Inhalt, den Kontext und die Rahmung bearbeitet, während er gleichzeitig auf den Bildschirm des Aufnahmegeräts in seine eigene Spiegelung blickt, und dann wieder, wenn das Bild geteilt und in einen Pool von Ebenbildern befördert wird, um den Selfies anderer beizuwohnen, die mehr oder weniger genauso aussehen. Der Betrachter begegnet dem Selfie (den eigenen und denen der anderen) fast ausschließlich auf dem Bildschirm, dessen Funktionsweise die Selbstspiegelung verstärkt, aufgrund der glänzenden Oberfläche des jeweiligen Geräts, das geradezu wie ein Spiegel eine beständig durchscheinende Reflexion über den Inhalt projiziert. Weil das Genre oder die Trope des Selfies – die Ähnlichkeit der Posen, der Brennweiten, der Rahmung – auf demselben Gerät und in derselben virtuellen Umgebung erlebt wird, in der die eigenen Selfies gemacht und gepostet werden, wird ein Betrachter bevorzugt, der im Selfie eines anderen eine weitere Brechung oder Spiegelung seiner selbst sehen wird. Der Autor konsumiert letztendlich sein eigenes Selfie zusammen mit all den anderen im konstanten Fluss der sozialen Medien. Diese Vermischung von Subjekt und Zuschauer hat das Potenzial, latente narzisstische Tendenzen von „mangelnden Grenzen“ (die Unfähigkeit, zwischen sich selbst und dem anderen unterscheiden zu können) zu verschärfen. 40 Einmal ins soziale Netzwerk eingegliedert sind Selfies, so argumentiert Franco, „Avatare: Mini-Mes, die wir hinaussenden, um anderen eine Idee davon zu verschaffen, wer wir sind.“ 41 Während wir in unser Spiegelbild blicken (zuerst das körperliche, letztlich das virtuelle), testen wir durch den Selfie-Prozess unsere Identität aus und erwarten Bestätigung. Die Bestätigung, in Form eines „Like“ des Fotos, wird enthusiastisch als persönliche Anerkennung seines Selbst oder des Bildes gesehen. Da jedoch das heiß begehrte
Selfies, #ich
Selfie
Self|ie ||selfē | N (pl.selfies) informal
thefartinator on urbandictionary.com:
Stupid photos that 14 year old girls take of themselves. They take these photos to let people know what they look like when no body else is around. Tags are also used after the taking of a selfie when posted on a website of some sort. Some examples of these are: #nomakeup #twerk and other stupid words that girls think make themselves sound cool.
Girl: I’m gonna take a selfie!
*Takes 400 selfies and posts one online*
Girl: #cute #follow #nomakeup #whatever
*flicks hair*
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Laura Cumming, A Face to the World: On Self-Portraits, London 2009: 7. [Ö.G.]
Erschienen zuerst in Rites of Spring, Perth 2015.
Karen ann Donnachie
„Like“ aus einem generisch positiven Zeichen besteht, wohl ein rein sozialer Tick (vergleichbar mit einem Kompliment oder einem „Daumen hoch“ in der realen Welt), mag die Bestätigung einer Vielzahl an Kriterien zu verdanken sein, nicht jedoch notwendigerweise und nicht immer der Präsenz oder Erscheinung einer einzelnen Person im Bild, sondern weil es dem Betrachter auf einer vollkommen anderen Ebene zusagt. Der User mag eine andere politische oder soziale Motivation haben, die gesehenen Bilder zu „liken“. Doch der Autor, Empfänger der „Likes“ wird sie alle so verstehen, als würde den Unterstützern gefallen, was sie sehen, was dann noch weitere wechselseitige Likes generieren wird und so weiter. Schlussendlich liefert dieser Bestätigungskreislauf (wenn auch nur flüchtig) ein Gefühl von Verbundenheit und Anerkennung, während uns das Selfie, verstärkt durch die dogmatischen Qualitäten der Einbindung des Geräts, des Blitzes, des Spiegels, des Ortes und des Datums im Bild – metafotografische Elemente, mit ihren Signa turen der Echtzeit (jetzt) und des Ortes (hier) – eine vorübergehende Version des „Fußabdrucks unserer Existenz“ bieten kann. Diese Unmittelbarkeit oder Realität könnte dem momentanen Verfall des Fotos als technologisches Objekt ein Gegengift bieten, da jedes Selfie „genau im Moment des Schaffens“ 42 potenziell wieder zu einem authentischen Bild wird. Ich behaupte, dass diese Suche nach Authentizität eine wichtige Rolle im Emporkommen des Selfies spielt; wir begehren, verlangen sogar, eine authentische Begegnung mit dem Selbst und dem anderen. Der Triumph des Selfies in den zeitgenössischen sozialen Netzwerken ist weiterhin in komplexen Ökologien der rekursiven Selbstbestätigung und des co-abhängigen Narzissmus gefestigt. Diese narzisstische Natur von Angebot und Nachfrage wird mit jedem neuen Selfie fortgesetzt, dass wie ein Tropfen in den Teich der menschlichen Ebenbilder fällt, in den wir ab und zu ruhig einen Blick riskieren dürfen.
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Selfies, #me
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Selfie
Self|ie ||selfē | N (pl.selfies) informal
SaRAWRR on urbandictionary.com:
A strange phenomenon in which the photographer is also the subject of the photograph, in a subversive twist on the traditional understanding of the photograph. Usually conducted because the subject cannot locate a suitable photographer to take the photo, like a friend.
Hugh-man 1: Charles, my prince! I see you took a selfie last night! I found this out on the book of faces, on the interwebz. Ghastly stuff, those selfies!
Hugh-man 2: Leave Charles alone! If he doesn’t want to have friends, that is his prerogative!
Charles mumbles inaudibly as they gag him and put him in the back of a van.
Selfie Update
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