Selbstlernkompetenzen fördern in der Lernberatung – ein Impuls aus der Beratungspraxis eines „Massenstudiengangs“ Von Christian Strasser-Gackenheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Möglichkeiten der Evaluation Von Frank Bleckmann, Christine Pickert und Tobias Raupach . . . .
Rechtsdidaktik, Neurobiologie und „Selbstlernkompetenzen“ – einige kurze Thesen
Rechtsdidaktik, Neurobiologie und „Selbstlernkompetenzen“ – einige kurze Thesen Von Arnd-Christian Kulow „Der menschliche Intellekt hat – mit Hilfe der von ihm erfundenen Wissenschaft – die Prinzipien und Verfahren entdeckt, mit denen er seine eigene Grundlage gestalten kann: das menschliche Gehirn.“ Ian Robertson, Das Universum in unserem Gehirn, München, 2002, S. 315
A.
Einleitung
„Selbstlernkompetenzen fördern in Sonderveranstaltungen zum juristischen Lernen“ lautete das Thema des Workshops, in dem der Verfasser (neben Barbara Lange und Frank Bleckmann) insbesondere aus neurobiologischer Sicht thesenartig intervenieren durfte. Mit den folgenden Ausführungen will der Verfasser zeigen, dass auch die Neurobiologie selbst nicht die uneingeschränkte Deutungshoheit über die Ergebnisse ihrer (eigenen) empirischen Forschung beanspruchen kann. Vielmehr ist die Verarbeitung neurobiologischer Empirie eine trans- und multidisziplinäre Aufgabe. Vor diesem Hintergrund plädiert der Verfasser dafür, dass sich die Rechtsdidaktik um ein Verständnis der Neurobiologie und die ihr angemessene Interpretation neurobiologischer „Erkenntnisse“ bemühen sollte.1 Mit den hierbei gewonnenen Einsichten ist der Begriff der „Selbstlernkompetenz“ näher auszudeuten und sind weitergehende Ausblicke auch zur (neuro-)wissenschaftlich fundierten Praxis der Rechtsdidaktik zu wagen.
1 Die Reflexion neurobiologischer Erkenntnisse findet mittlerweile nicht nur im Rahmen der Rechtsdidaktik statt. Ein Kernkonzept des Zivilrechts – wie der Topos der „Verantwortlichkeit“ i. S. v. § 104 Nr. 2 BGB – wird von Cording und Roth eindrucksvoll einer erhellenden und kritischen Überprüfung unterzogen: Cording, Clemens/Roth, Gerhard, Zivilrechtliche Verantwortlichkeit und Neurobiologie – ein Widerspruch?, NJW 2015, S. 26 ff.
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B.
Theory first!?
Die Lehr-Lern-Situationen bescheren dem rechtsdidaktisch Tätigen ein reichhaltiges empirisches Anschauungsmaterial. Tatsächlich findet dann jeder Dozent und jede Dozentin früher oder später „seinen/ihren Stil“, weiß dann auch, was wie „authentisch rübergebracht“ werden kann und was und vor allem wie nicht. So erscheint eine „Theorie der Rechtsdidaktik“ zuweilen als eher hinderlich, eine gar „wissenschaftliche“ theoretische Fundierung vielleicht sogar „oversized“. Es mag zunächst einiges dafür sprechen, sich nicht mit theoretischen Erörterungen aufzuhalten und rasch zur didaktischen Tat zu schreiten. Angesichts der Bedeutung des Themas für Lehrende und Lernende greift der Ansatz jedoch zu kurz. Eine zuweilen (noch) in rechtsdidaktischen Kontexten anzutreffende Theoriefeindlichkeit irritiert insofern. Der Verfasser hält wissenschaftliches Wissen für das relativ zuverlässigste Wissen. Er sieht die allgemeine Aufgabe wissenschaftlichen Wissens darin, aus vergangenen Erfahrungen für zukünftige Aufgabenstellungen zu lernen. Die Form des wissenschaftlichen Wissens macht dieses (auch nicht naturwissenschaftliches Wissen) intersubjektiv vermittel- und kritisierbar. Es muss sich dabei allerdings empirische Überprüfungen und Einwände gefallen lassen und darauf notfalls reagieren.2 Dies steht im Gegensatz zu einer „dogmatischen“ Denkweise, in der eine selbst- oder fremderklärte „Autorität“ Wahrheitsattribute verteilt oder entzieht. Wissenschaftliche Konzepte der Rechtsdidaktik müssen daher ständig evaluiert werden und als Feedback auf die Theoriekonzepte zurückwirken. So folgen auch die nachfolgenden Skizzen einem Theorie-Praxis-Muster. Um – im Sinne der hier vertretenen theoretischen Fundierungen weitgehend – gelungene Interventionen zu sehen, ist der Beitrag von Barbara Lange (in diesem Band) unbedingt lesenswert. Das Feld der Rechtsdidaktik ist lange Zeit mehr schlecht als Recht bestellt worden. Statt systematischer Pflege mit dem Ziel, die Erträge zu verbessern, dominierten Kleinstgärten mit den unterschiedlichsten Feldfrüchten. Weniger prosaisch ausgedrückt: Erst in jüngster Zeit kommt ein wissenschaft-
2 Zur zentralen Frage der empirischen Überprüfbarkeit in den Nicht-Naturwissenschaften: Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M., 2009, S. 224 ff.: „Dies bedeutet, dass auch die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften den oben genannten Forderungen nach begrifflicher Eindeutigkeit und Anschlussfähigkeit und ebenso nach Überprüfbarkeit nachkommen müssen, um als Wissenschaften angesehen zu werden. […] In jedem Fall aber sind wir aufgefordert, eine Theorie des Verstehens zu entwickeln, welche geeignet ist, Vorgänge des Verstehens, wie sie in den Geisteswissenschaften dominieren, erklärbar zu machen.“
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lich motiviertes und teilweise fundiertes Gespräch der am Thema Interessierten zustande. Ein großes Kernthema dieser neuen Diskussion sind Konzepte, die sich an dem Begriff der Studierendenzentrierung3 orientieren. Der Begriff der „Selbstlernkompetenz“ ist auf dem Sprung, sich im Umfeld dieses Konzeptes niederzulassen und häuslich einzurichten. Er verspricht die Förderung und Effektivierung von studentischem Juralernen. Dagegen kann ja eigentlich niemand etwas haben. Ob dies tatsächlich so ist, soll im folgenden Beitrag auch anhand der „Erkenntnisse“ der Neurobiologie überprüft werden. Dazu ist zunächst auf das Verhältnis von Rechtsdidaktik und Neurobiologie einzugehen. Danach ist der Begriff der „Selbstlernkompetenz“ aufzuschlüsseln und vor allem der Frage nachzugehen ob, und gegebenenfalls wie „Selbstlernkompetenz“ durch Dozentinnen oder Dozenten vermittelt werden kann.
C.
Die Neurobiologie als neue „Leitwissenschaft“ auch für die Rechtsdidaktik?
I.
„Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung“ als Argument?
Wer, zumal unter Juristen, Aufmerksamkeit für rechtsdidaktische Ausführungen haben will, der benutze die magische Formel: „Neue Erkenntnisse der Hirnforschung haben gezeigt …“. Dabei ist jedes Wort wichtig: „neu“ müssen die Erkenntnisse sein, denn, nur Neues kann zu besseren und effektiveren Lehr-Lern-Praktiken führen und „Hirnforschung“ muss es sein, damit ist es Naturwissenschaft und die weiß wie es „echt wirklich“ ist, soweit der Aberglaube. Richtig an der Einbeziehung der Neurobiologie4 ist die Erkenntnis, dass eine effektive Didaktik in irgendeiner Form auf das „Gehirn“ bezogen sein
3 Den Begriff der Studierendenzentrierung verdanken wir unter anderen maßgeblich dem amerikanischen Wissenschaftler und Psychotherapeuten Carl R. Rogers, der das von ihm entwickelte Konzept der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie (Client-Centered Therapy) naheliegenderweise auch auf allgemeine Lernprozesse angewendet hat. So konnte Rogers schon in den 50er Jahre des vorigen Jahrhunders (!) vom „Lern-Prozeß im schüler- und studentbezogenen Unterricht“ sprechen. Siehe daher: Rogers, Carl, Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie, 17. Auflage, 2005, 350. 4 Dieser Begriff umfasst u. a. Neuroanatomie, Neurohistologie, Neurophysiologie und weitere „Gehirndisziplinen“ und ist daher besser geeignet als der etwas schlichte Begriff der Hirnfor-
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sollte. Problematisch wird das Verweisen auf die „Hirnforschung“ aber immer dann, wenn aus sehr allgemeinen Aussagen der Neurowissenschaft sehr konkrete Folgerungen für Lehr-Lern-Situationen gezogen werden. Die den angeblichen „neuen Erkenntnissen“ zugrunde liegenden Forschungen geben nämlich häufig eine solche konkrete Interpretation gar nicht her. Es besteht vielmehr die Gefahr, zeitlich bedingten Moden zu unterliegen. So wird immer wieder in Lehr-Lern-Kontexten die Behauptung aufgestellt, logisch-analytisch begabte Menschen würden stärker ihre rechte Gehirnhälfte nutzen, kreativ-künstlerische mehr ihre linke Hirnseite. Zu rasche und grobe Verallgemeinerungen u. a. von anatomischen Fakten (Sprachzentren sitzen normalerweise linksseitig) verursachte hier einen Boom von Ratgeberliteratur5. Schon die Bezeichnung „Gehirn“ suggeriert nur eine Genauigkeit in der Bedeutung, die der Begriff nicht hat. Unser „Gehirn“ besteht ja nicht nur aus den beiden Hälften des Großhirns. Das limbische System, dass für die Emotionen sehr wesentlich ist, sitzt anatomisch mitten im „Gehirn“. Es ist festzuhalten, dass je allgemeiner die Aussagen zu angeblichen „Erkenntnissen“ der Neurobiologie sind, desto eher allenfalls Hypothesen gemeint sein können.6 Angesichts des sich ständig verändernden Wissensstandes in Sachen Neurobiologie und angesichts des eben angedeuteten großen Abstands zwischen empirischen Befunden und dem Wunsch nach möglichst rasch und sicher umsetzbaren „Gehirntechniken“ fragt es sich, ob die Neurobiologie der Rechtsdidaktik überhaupt etwas zu sagen hat. Können geistige Vorgänge prinzipiell mit empirischen Befunden in Verbindung gebracht werden? Gehören jene Vorgänge nicht ganz grundsätzlich einer anderen „Sphäre“ an, die durch noch so viel Forschung nicht erklärbar ist? Diese und ähnliche Fragen mögen sich dem einen oder der anderen tatsächlich stellen. Die Frage nach der Neurobiologie berührt immer auch die Frage nach dem persönlichen Weltbild, der Ansicht zum Verhältnis von Geist und Gehirn. Eine wissen-
schung. Dazu Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 145. 5 Typischerweise gekoppelt mit dem Versprechen, dass es schnell und leicht geht z. B.: Edwards, Betty/zur Nedden, Modeste, Garantiert zeichnen lernen. Das Geheimnis der rechten Hirnhemisphäre und die Befreiung unserer schöpferischen Gestaltungskraft, 1999; Pink, Daniel/ Höner, Rita, Unsere kreative Zukunft: Warum und wie wir unser Rechtshirnpotenzial entwickeln müssen, 2008; Nussbaum, Cordula, Organisieren Sie noch oder leben Sie schon?: Zeitmanagement für kreative Chaoten, 2012. 6 So Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 21.
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schaftlich fundierte Rechtsdidaktik sollte dieses Verhältnis offen diskutieren. Festzuhalten bleibt: Eine naive, philosophisch unreflektierte Übernahme „neuerer Erkenntnisse“ der „Hirnforschung“ genügt einer wissenschaftlich fundierten Rechtsdidaktik nicht. Sie formuliert bestenfalls interessante Hypothesen. Schlimmstenfalls leistet sie auf diese Weise einem modischen Reduktionismus Vorschub. Die vollständige Ablehnung der Beschäftigung mit neurobiologischen Aspekten rechtsdidaktischer Tätigkeit ist ebenso abzulehnen, sie birgt die Gefahr ignoranter, allzu subjektiv-eklektizistischer Beliebigkeit.
II.
Rechtsdidaktik und Neurophilosophie
Aus dem oben Gesagten ist deutlich geworden, dass sich die Rechtsdidaktik der Geist-Gehirn-Debatte nicht entziehen kann.7 Sie steht hier allerdings nicht alleine. 1)
Der Begriff der Neurophilosophie
Mit ihrem außerordentlich einflussreichen Buch „Neurophilosophy“ aus dem Jahre 1986 schuf Patricia Churchland nicht nur einen griffigen Oberbegriff für die Schnittmenge von Neurowissenschaften und Philosophie, sie stieß auch eine ganze Bewegung (Movement) innerhalb der Philosophie an.8 Die Rechtsdidaktik darf sich dabei auf die Kompetenz der Philosophie verlassen, hier die wichtigen, ganz im Wortsinn grundlegenden Fragen zu stellen, die Begriffe zu klären und zu operationalisieren, sowie die „Überprüfung der logischen Struktur von Aussagen und die Struktur der Argumentationen“ 9 vorzunehmen. Eine so verstandene Neurophilosophie ist notwendigerweise interdisziplinär unter Hinzunahme von Neurobiologie, Psychologie, Informatik und Systemwissenschaften, im weiteren der Sprach- und Kulturwissenschaften, der Sozialwissenschaften und auch der Rechtswissenschaften bzw. der
7 Das mag für die Rechtswissenschaft anders sein, die sich als „Normativwissenschaft“ vielleicht in vornehmer Distanz zur Empirie aufhalten kann. 8 Bickle, John, Introduction, in: The Oxford Handbook of Philosophy and Neuroscience, New York, 2009, S. 3: „It seems reasonable to date the explicit start of the philosophy and neuroscience movement to 1986 and the publication of Patricia Churchland’s Neurophilosophy.“ 9 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 13.
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Rechtsdidaktik anzulegen.10 Die Rechtsdidaktik ist daher im „Gespräch“ mit einer sich interdisziplinär verstehenden Neurophilosophie. So kann „das Erklärungspotential der (Neuro-)Biologie realistischer eingeschätzt werden“.11 Schon aus der Tatsache, dass die Neurobiologie notwendigerweise mit dem Gehirn als (Erkenntnis-)Mittel, eben jenes Gehirn untersuchen will, ergibt sich die bislang offene Frage, ob und wie weit das überhaupt möglich ist. 2)
Die neurophilosophische Position der Rechtsdidaktik
Welche neurophilosophische Position sollte die Rechtsdidaktik einnehmen? Sie hat grundsätzlich die Wahl, zwischen einem radikalen Empirismus – der nur Erfahrungstatsachen anerkennt und diese naiv als Übereinstimmung mit der „realen“ Welt deutet (Korrespondenztheorie) – und einem (radikalen) Konstruktivismus, der eine unmittelbare Sicht auf die Wirklichkeit für nicht möglich hält. Hierbei wird die „Welt“ weniger als „Wahrnehmung“ denn als Konstruktion des Gehirns gesehen. In Übereinstimmung mit Tretter und Grünhut12 wird vorgeschlagen, weniger in die Diskussion über die Vor- und Nachteile der einen oder anderen Grundposition einzusteigen, sondern beim wissenschaftlichen Erkenntnisprozess selbst anzusetzen. Beide oben kurz umrissenen Extrempositionen haben die Tendenz, sich auf nur schwer widerlegbare und eher metaphysische Voraussetzungen zu stützen. Damit wird eine Widerlegbarkeit im Sinne Poppers erschwert. Im Lichte der neueren Theorien zur Wissenschaftlichkeit ist der „critical discourse“ ein wichtiger Bestandteil der „Nature of Science“13, insofern stärkt gerade eine skeptische systemische Metaper-
10 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 21 bzw. 236. 11 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 22; Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M., 2009, S. 10: „Das Bemerkenswerte an diesen Entwicklungen ist, dass es sich nicht um rein neurobiologische, sondern um eine zutiefst interdisziplinäre Forschung handelt, an der neben den Neurobiologen bzw. Hirnforschern auch Neuropsychologen, Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologen, Psychiater, Psychotherapeuten, Soziologen, Ökonomen und Philosophen beteiligt sind. Diese Interdisziplinarität ist der beste Garant gegen das Schreckensbild eines ‚Homo neurobiologicus‘, d. h. eines Menschen, der von Gehirnprozessen vollständig beherrscht wird, kein eigenes Ich und keinen freien Willen mehr hat.“ 12 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 37 ff. 13 Hoyningen-Huene, Paul, Systematicity – The Nature of Science, New York, 2013, S. 108 ff.
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spektive auch und gerade auf die (neuro-)philosophischen Grundpositionen das Entstehen wissenschaftlichen Wissens. Im Lichte dieser neueren Vorschläge zu einer Konzeption von Wissenschaft ist auch die alte Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufzugeben.14 Von den sogenannten Naturwissenschaften gewonnene empirische Daten werden und müssen immer interpretiert und in Modelle integriert werden. Diese lassen wiederum Vorhersagen zu, die die weitere Empirie steuern. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess verläuft daher zyklisch.15 Die „formal sciences“, die „natural sciences“, die „social sciences“ und die „arts and humanities“ beteiligen sich mit ihren fachspezifischen Beiträgen.16 Für das Verhältnis der Rechtsdidaktik zur Neurobiologie kann daher festgehalten werden: These 1: Die überkommene Trennung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ist aufzugeben. These 2: Die Erkenntnisse der Neurobiologie und deren Bedeutung für die Rechtsdidaktik sind auch mit Hilfe der Neurophilosophie zu bestimmen. These 3: Die Neurobiologie ist keine Leitwissenschaft für die Rechtsdidaktik.
D.
Die Empirie der Neurobiologie als biologisches Korrelat von Bewusstseinsvorgängen
Wie soll die Rechtsdidaktik die neurobiologischen Befunde verarbeiten? Welche Modelle der Rechtsdidaktik sind geeignet, eine Schnittstelle zur neurobiologischen-neurophilosophischen Diskussion zu bieten?
14 Dazu näher: Janich, Peter/Oerter, Rolf, Der Mensch zwischen Natur und Kultur, Göttingen, 2012, S. 18: „Beide [ACK: Natur- und Geisteswissenschaften] verfahren bezüglich ihrer Gegenstände und Methoden im Wesentlichen naturwüchsig: Sie haben kaum eine Rechtfertigung außer der, dass sich sich im Sinne einer ausreichenden Schar von Anhängern faktisch durchgesetzt haben.“; Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M., 2009, S. 228: „In meinen Augen gibt es keinen fundamentalen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, und damit keine Definition dieser Wissenschaften über einen spezifischen Gegenstandsbereich“. 15 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 40 f. 16 Als Hauptgruppen von Wissenschaften schlägt Hoyningen-Huene in: Hoyningen-Huene, Paul, Systematicity – The Nature of Science, New York, 2013, S. 30, diese vier Gruppen vor.
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Der Verfasser hat an anderer Stelle vorgeschlagen17, die Luhmann’sche Systemtheorie als rechtsdidaktische Super- bzw. Rahmentheorie18 mit den drei Systemreferenzen Biosystem, Bewusstseinssystem und Sozialsystem als Leitdifferenzen in die Rechtsdidaktik einzuführen. Dies mag zunächst etwas kühn erscheinen, Rahmentheorien haben aber entscheidende Vorteile. Dies wird sofort deutlich, wenn man zur Mathematik hinüberschaut. Hier genießt die Mengenlehre den Status einer Rahmentheorie19. Damit werden alle mathematischen Objekte in dieser „Sprache“ interpretierbar. Ausgehend von den Begriffen der operativen Schließung und der strukturellen Kopplung kann nämlich mit Niklas Luhmann gezeigt werden, dass die Systemtheorie als Rahmentheorie besonders brauchbar für die Rechtsdidaktik ist, weil sie die oben gestellten Anforderungen nach Anschlussfähigkeit in hohem Maße erfüllt. Dabei dient als Referenzsystem für neurobiologische Überlegungen die biologische Ebene, genauer das Zentralnervensystem, für die Anbindung an den psychologischen Diskurs als Referenzsystem der Bewusstseinssysteme. Dieses systemische Referenzkonzept hat den großen Vorteil, keinerlei Festlegungen auf „Wesensannahmen“20 oder Menschenbilder vornehmen zu müssen. Damit bleibt der Theorierahmen dieser Rahmentheorie plural-offen. Der Vergleich mit der Mengenlehre hält auch hier stand. Die Mengenlehre als Rahmentheorie entlastet auch in der Mathematik von umstrittenen Seinsaussagen über ihre Objekte.21
17 Kulow, Arnd-Christian, Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, in: Brockmann, Judith/Pilniok, Arne (Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden, 2014, S. 335 ff. 18 Luhmann, Niklas, Theorietechnik und Moral, 1978, S. 9 ff.; Das Präfix „Super“ im Begriff der „Supertheorie“ drückt zwar korrekt die höhere Abstraktionsebene dieser Klasse von Theorien aus, führt aber doch sehr dominant die alltagssprachliche wertende Bedeutung mit. Aus diesem Grunde wird im Folgenden von der Systemtheorie als „Rahmentheorie“ gesprochen, da es hier nicht um eine wertende Über-Unterordnung von Theorieansätzen geht. 19 Deiser, Oliver, Einführung in die Mengenlehre, Heidelberg, 3. Auflage, 2010, S. 43. 20 Luhmann, Niklas, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt a. M., 2002, S. 23. 21 Deiser, Oliver, Einführung in die Mengenlehre, Heidelberg, 3. Auflage, 2010, S. 43: „Hier [Anm. ACK: bei der Interpretation von mathematischen Objekten als Mengen] geht es nicht um Ontologie – was ist π? – , sondern um präzise und brauchbare, sich im Aufbau einer Theorie natürlich ergebende Definitionen […]. Was man sich unter den mathematischen Objekten schließlich vorstellt und welche Eigenschaften der Objekte am wichtigsten erscheinen, ist jedem Mathematiker selbst überlassen – z. B. π als fundamentale Größe zur Berechnung von Umfang und Inhalt des Kreises.“; vgl. auch Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M., 2009, S. 228, mit der Forderung nach „Brückentheorien“, die „… den traditionellen Graben zwischen den Natur- und Biowissenschaften einerseits und den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften andererseits … überbrücken und letztlich zuschütten“.
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Rechtsdidaktik, Neurobiologie und „Selbstlernkompetenzen“ – einige kurze Thesen
Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Es geht dem Verfasser nicht um eine inhaltliche Entleerung der Rechtsdidaktik – ganz im Gegenteil. Die je nach Sichtweise unterschiedlichen Seinsaussagen und Bedeutungen können und sollen in der inhaltlichen Diskussion – gerahmt und geordnet von der Systemtheorie – eingebracht werden. Nach der Einführung der Systemtheorie als Rahmentheorie tritt nun die umrissene Fragestellung klarer zutage. In welchem Verhältnis stehen von der Neurobiologie empirisch beforschte Zustände des Zentralnervensystems (Biosystem) zu den bewussten Wahrnehmungen (Bewusstseinssystem) eines Menschen? Auf einer sehr abstrakten Ebene hängt die Beantwortung dieser Frage davon ab, ob einem monistischen oder dualistischen Ansatz gefolgt wird. Eine monistische Sicht kann nun entweder idealistisch oder materialistisch ausgerichtet sein. Beide monistischen Positionen stehen sich unvereinbar gegenüber.22 Die andere grundsätzliche Sichtweise geht von einer Unterscheidbarkeit von „Gehirn“ und „Geist“ aus. Beide Positionen sind kritisierbar.23 Beide Grundpositionen führen in grundsätzliche philosophische Fragen. Der hier vorgeschlagene Weg orientiert sich an den empirisch neurobiologisch – zumindest intersubjektiv – plausiblen Ergebnissen. Demnach lässt sich bei empirischen Beobachtungen am Biosystem Gehirn und gleichzeitig kommunizierten Bewusstseinserlebnissen der Probanden mit Sicherheit nur die Gleichzeitigkeit feststellen. Diese Koinzidenz kann, wenn diese statistisch relevant allenfalls als Korrelation gelten.24 These 4: Das Verhältnis von empirischen Befunden der Neurobiologie und (Selbst-)Beobachtungen des Bewusstseinssystems ist vorsichtig dualistisch als Korrelationsverhältnis zu sehen. These 5: Diese vorsichtige Position zeigt sich in der Wortwahl. Alle Begriffe, die hier Ursachen und Wirkungen suggerieren, sind mit Skepsis zu betrachten.
22 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 78 f. 23 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 78 ff. 24 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 92 ff.; Gegen einen Reduktionismus auch Antonio Damasio (in: ders., Descartes‘ Error, London, 2005, S. xiv): „The intent is not reduce ethics or esthetics to brain circuitry but rather to explore the threads that interconnect neurobiology to culture.“
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E.
Das „Gehirn“ – ein Mehr-Ebenen-System von Schaltkreisen
Wie oben schon gesagt ist das Sprechen von „dem Gehirn“ tatsächlich ungenau und unzulänglich. Das Gehirn ist ein äußerst komplexes biologisches Gebilde. Die einzelnen Strukturen haben höchst unterschiedliche Funktionen, die sie oft im Zusammenwirken mit vielen anderen Bereichen wahrnehmen. Gleichwohl benötigt die Rechtsdidaktik ein handhabbares Modell. MacLean hat in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts vom „triune brain“ gesprochen. Er wollte damit zwischen dem sogenannten „Reptilienhirn“, dem „Altsäugerhirn“ und dem spezifisch menschlichen „Neusäugerhirn“ unterscheiden. Dieses Modell hat den Charme großer Anschaulichkeit, allerdings um den Preis zu großer Schlichtheit.25 Den Vorschlag von Tretter und Grünhut, eine „geringgradig gestufte Vereinfachung und Modellierung der […] makroanatomischen Verhältnisse des Gehirns“26 vorzunehmen, greift der Verfasser daher gerne auf. Demnach sind vier verschiedene Ebenen zu unterscheiden, nämlich Kortex, Basalganglien, das limbische System und der Hirnstamm. Die für den didaktischen Kontext vordringliche Bedeutung dieser Einteilung im Hinblick auf die psychischen Funktionen (das Korrelat im Bewusstseinssystem) sähe demnach so aus: – dem (Neo-)Kortex – vor allem dem präfrontalen Kortex – korrelieren die „Themen“ Kurzzeitgedächtnis, höhere soziale und psychische Leistungen, i. w. S. Kontrolle, Entscheidung, Handlungssteuerung, – den in den älteren und tieferen Schichten des Kortex gelegenen Basalganglien, mit z. B. dem Striatum als „zentrale Schaltstelle motorischer Impulse“27, wobei es um Handlungsplanung und Verhaltensteuerung sowie auch Emotionen und Verhaltensbewertung geht28, – dem limbischen System die Emotionsverarbeitung; hier spielen die Mandelkerne eine wichtige Rolle, sie steuern das Furcht- und Verteidigungsverhalten, Stressreaktionen und emotionales Lernen. Sie dekodieren auch entsprechende Gestik und Mimik anderer Menschen.29 Mit Dama25 Roth, Gerhard, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a. M.,1997, S. 197: „Das Konzept […] ist aber falsch, und zwar aus folgenden Gründen: (1) Alle wesentlichen Teile des Wirbeltiergehirns sind in der Evolution gleichzeitig entstanden. […]. (2) Neuere neuroanatomische und physiologische Untersuchungen zeigen, daß Hirnstamm, limbisches System und Neocortex anatomisch und funktional aufs engste miteinander verbunden sind (…).“ 26 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 153 ff. 27 Trepel, Martin, Neuroanatomie, Jena, 3. Auflage, 2004, S. 194. 28 Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M., 2009, S. 24. 29 Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M., 2009, S. 25.
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sio30 ist davon auszugehen, dass diese jeweils im Biosystem entstehenden Emotionen als Gefühle vom Bewusstsein wahrgenommen werden, – schließlich der Hirnstamm mit den ganz basalen Funktionen, den das Bewusstseinssystem z. B. über den Wach-Schlaf-Rhythmus wahrnehmen kann. Diese vier Ebenen bestehen allerdings nicht getrennt neben- oder übereinander, sondern sind miteinander über ihre Neuronen (Nervenzellen mit Empfangsstrukturen [Dendriten] und Axonen, die die Reize weiterleiten) in Rückkoppelungsschleifen vernetzt.31 Durch diese spezifische Art der Verknüpfung der Schaltkreise untereinander entsteht eine sehr große Komplexität. Diese ist nur mit kybernetischen Modellen erforschbar. Der Begriff der Kybernetik setzte sich im Anschluss an Norbert Wieners grundlegendes Buch „Cybernetics – or control and communication in the animal and the machine“ (1948) durch. Weitere Modelle entstanden in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch unter dem Begriff der Systemwissenschaft oder Systemtheorie.
I.
Die Geschlossenheit des Gehirns
Nur wenige Nervenzellen liefern dem Gehirn Input von außerhalb. Es ist daher kaum überspitzt zu sagen, dass das Gehirn sich im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt. Bei ca. 100 Milliarden Nervenzellen, die mit 1000 bis 10.000 anderen Nervenzellen vernetzt sind, sind etwa 1 Million Milliarden (1×1015) Verbindungen möglich. Im Durchschnitt tritt dabei nach 4 Kopplungsstufen eine Rückkopplung auf.32 Dieser relativen Geschlossenheit des Biosystems Gehirn korreliert eine semantische Geschlossenheit des Bewusstseinssystems. Nur Bekanntes kann erkannt werden. Erkennen kann nur anhand vorhandener Strukturen erfolgen.
30 Damasio, Antonio, The Self comes to Mind, 2010, S. 109 f. 31 Damasio, Antonio, Descartes’ Error, London, 2005, S. xvii: ,… working in concert across many levels of neuronal organization, rather than on a single brain center.“ 32 Tretter, Felix/Grünhut, Christine, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen, 2010, S. 153 ff.
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II.
„Selbstlernkompetenzen“ als originäre Eigenschaft des Gehirns
Der neurobiologisch nachweisbaren semantischen Geschlossenheit des Zentralnervensystems korreliert allerdings wohl auch eine semantische Geschlossenheit des Bewusstseinssystems. „Selbstlernkompetenzen“ sind daher immer schon vorhanden, konstituieren vielmehr die menschlichen Bewusstseinssysteme. Der Begriff der „Selbstlernkompetenz“ ist daher tautologisch, wie es etwa auch die Begriffe der „Selbstgeh-“, „Selbstatem-“ oder „Selbstlebkompetenz“ wären. Daraus folgt, dass Selbstlernkompetenz im Regelfall nicht nur nicht vermittlungsfähig, sondern daher auch nicht vermittlungsbedürftig ist. Die Gefahr solcher „Kompetenz-Begriffe“ liegt zum einen in der fast beliebigen Anwendbarkeit auf der einen Seite und ihrer unterschwelligen Wirkung auf der anderen Seite. So suggeriert eben die Vermittlungsbedürftigkeit von „Selbstlernkompetenz“ eben das derzeitige Fehlen oder die anormale Unterentwicklung entsprechender Fähigkeiten. Das Fehlen von Kompetenz ist aber die Inkompetenz. Der Begriff drückt den Studierenden herab, und zwar ausgerechnet bei seiner stärksten Ressource: dem Lernen. Bevor man mich der grenzenlosen Naivität zeiht, sei Folgendes angemerkt: Natürlich wollen Studierende nicht unbedingt Jura lernen. Lernen ist zuweilen ein mühsamer Vorgang. Da, wo aber entsprechende Motivation vorhanden ist, scheint die Ressource Lernen fast grenzenlos. Wie ist es sonst zu erklären, dass viele Studierende sich sehr intensiv mit den komplizierten Verfahren zum Erreichen von höheren Spielleveln bei Videospielen bis zum frühen Morgen beschäftigen können. Ohne Zweifel sind das Lernvorgänge. Der Verfasser plädiert daher für eine konsequente, ressourcenorientierte Begriffsprägung im Bereich der Rechtsdidaktik. Die besten Begriffe brauchen häufig gar nicht geprägt zu werden, weil sie schon lange und erfolgreich im Sprachrepertoire vorhanden sind. Der Begriff, den der Verfasser anstelle der „Stärkung von Selbstlernkompetenzen“ setzen möchte, ist der schlichte Begriff der „Neugier“. These 6: Anstelle des Begriffs der „Selbstlernkompetenz“ sollte lieber das Wort „Neugier“ verwendet werden.
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F.
Ausblick – das Angebot von Techniken der Stoffdekonstruktion und -rekonstruktion durch Dozierende
Wie macht man neugierig auf Jura? Wie lade ich die Studierenden dazu ein, ihre „Selbstlernkompetenz“ auf das Stoffangebot zu lenken? Neugierde kann nur entstehen, wo auch Neues angeboten wird. So z. B. wenn rechtliche und rechtswissenschaftliche Modellbildung nicht ontologisierend als zu lernende „Fakten“ präsentiert, sondern als Kommunikationsinhalte lebender, sozialer Systeme angeboten wird. Einmal mehr erweist sich der Vorschlag, die Luhmann’sche Systemtheorie als Rahmentheorie einer Rechtsdidaktik zu verwenden, als hilfreich. Statt die Studierenden mit scholastisch anmutenden Definitionen über „Recht“ zu langweilen, kann mit Hilfe der Theorie sozialer Systeme die für die Studierenden täglich erlebbare Komplexität von Rechtswissenschafts- und Rechtssystem angemessen und spannend erklärt werden. Dieser Ansatz beinhaltet Angebote zur Stoffdekonstruktion im Sinne Derridas, der nicht von ungefähr in den Rechtsfakultäten den eigentlichen Ort der Dekonstruktion sieht.33 Mindestens ebenso wichtig sind aber Techniken der Stoffrekonstruktion bzw. „Stoffaneignung“ durch die Studierenden. Hierbei sollten sich Dozentinnen und Dozenten immer darüber im Klaren sein, dass sie (nur) subjektive Beobachter sind. Mit der Zielsetzung einer konsequenten Deontologisierung der Rechtskommunikation ist die Rolle des Dozenten oder der Dozentin als „objektiver Verkünder objektiver juristischer Wahrheiten“ nicht mehr vereinbar. Lehrende und Lernende sind Beobachter der Kommunikationen zweier gesellschaftlicher Großsysteme, nämlich der Rechtswissenschaft und des Rechts. In der Lehr-Lern-Situation kommt es zu einer wechselseitigen Beobachtung von Studierenden und Lehrenden und zu jeweiliger Beobachtung des Stoffes. Bezogen auf die Studierenden sind die Lehrenden als Beobachter 2. Ordnung34 zu beschreiben, weil sie die Stu33 Derrida, Jaques, Gesetzeskraft, Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt a. M., 6. Auflage 2013, S. 18; Näher dazu Kulow, Arnd-Christian, Vom Folgen zum Verstehen – eine Etüde zum „didactic turn“ in der Rechtslehre, in: Busch, Dörte/Kutscha, Martin (Hrsg.), Recht, Lehre und Ethik der öffentlichen Verwaltung – Festschrift für Paul Prümm, Baden-Baden, 2013, S. 289 ff. 34 Bei der Beobachtung 2. Ordnung geht es um das Beobachten von Beobachtern. Heinz von Foerster und andere entwickelten Anfang der 1970er Jahre die „Kybernetik der Kybernetik“. Nach Dirk Baecker (in: von Foerster, Heinz, Wissen und Gewissen, 1993, S. 18) war dies als „Überwindung“ einer „technokratischen Steuerungs- und Kontrolleuphorie“ ein wichtiger Entwicklungsschritt der Kybernetik. Näheres auch bei Müller, Albert/Müller Karl. H, Systeme beobachten, in: Pörksen, Bernhard (Hrsg.), Schlüsselwerke des Konstruktivismus, Wiesbaden,
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dierenden bei der Beschäftigung mit dem Stoff (am besten unmittelbar am und mit dem Gesetzestext, wie der Workshop von Frank Bleckmann eindrücklich zeigte) beobachten. Damit entsteht automatisch über der Stoffoder Sachebene (der Objektebene) eine Metaebene. Diese kann und sollte verstärkt für die Verstärkung von Neugier genutzt werden35. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Art des Umgehens mit den Studierenden36. Sie relativiert und eliminiert die uns allen anerzogenen und kaum hinterfragten, klassischen, oft auf Aristoteles zurückgeführten „aristotelischen Denkgesetze“ für Beobachter 1. Ordnung, nämlich: Identität, also A = A, verbotenener Widerspruch, also ¬ (A ∧¬A), und Ausschluss eines Dritten, also A ∨¬A. Diese sind nun aber zugunsten der folgenden „kybernetischen Sätze“37 aufzugeben. Diese „Sätze“ sind nach Dirk Baecker der Umgang mit Paradoxien, mit Ambivalenzen und mit Kontrolle. In symbolischer Schreibweise nach Baecker38 also: Paradoxie, also a ≠ a, Ambivalenz, also a ∧ ¬ a, und Kontrolle, also a ∨ a.
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2011, S. 564 ff, S. 575: „Von ihrem Anspruch her sollte eine Kybernetik zweiter Ordnung eine neue Form der Wissenschaft darstellen, die sich als Wissenschaft von lebenden Systemen durch lebende Systeme für lebende Systeme versteht und die überkommene Form der Wissenschaft mit ihrer Trias von Objektivität, Kausalität und analytischer Isolierbarkeit beerben sollte.“ Näher dazu: Kulow, Arnd-Christian, Rechtsunterricht und Metakommunikation – der gemeinsame Tanz auf der Beziehungsebene, in: Griebel, Jörn/Gröblinghoff, Florian (Hrsg.), Baden-Baden, 2012, S. 83 ff. Der Verfasser folgt hier einem Gedankengang von Dirk Baecker (ders, in: Beobachter unter sich – Eine Kulturtheorie, Berlin, 2013, S. 153 ff.: „Diese Theorie der Evaluation, eine Theorie der auf Beobachter im Medium unendlicher Rekursionen zurückzurechnenden und von diesen generierten Formen im Sinne Spencer-Browns, arbeitet nicht mehr mit den Aristoteles zugeschriebenen drei Sätzen der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten …“. So Dirk Baecker a. a. O., S. 155 mit Verweis auf Heinz von Foersters „KybernEthik“ (1993). Baecker, Dirk, a. a. O., S. 155 f.
Rechtsdidaktik, Neurobiologie und „Selbstlernkompetenzen“ – einige kurze Thesen
Mit den folgenden erläuternden Worten von Dirk Baecker, die gleichsam das Mantra einer sich selbst reflektierenden Rechtsdidaktik sein können, soll der kurze Ausblick beendet werden: „Diese drei Sätze, […] formulieren, dass kein a aus der Perspektive verschiedener Beobachter mit sich selbst identisch ist, dass für jedes a daher auch gilt, das es ist, was es nicht ist, und dass man bei jedem Rekurs auf a daher immer die Überprüfung mitlaufen lassen sollte, ob es sich noch um dasselbe a handelt, mit dem man es zuvor zu tun zu haben glaubte.“39 These 7: Anstelle der aristotelischen „Denkgesetze“, die für die Objektebene des Rechts unabdingbar sind, sollten in der Lehr-Lern-Situation die kybernetischen Sätze der Paradoxie, der Ambivalenz und der Kontrolle den metatheoretischen Rahmen bilden. Zusammenfassend seien die hier vertretenen Thesen abschließend aufgeführt: These 1: Die überkommene Trennung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ist aufzugeben. These 2: Die Erkenntnisse der Neurobiologie und deren Bedeutung für die Rechtsdidaktik sind auch mit Hilfe der Neurophilosophie zu bestimmen. These 3: Die Neurobiologie ist keine Leitwissenschaft für die Rechtsdidaktik. These 4: Das Verhältnis von empirischen Befunden der Neurobiologie und (Selbst-)Beobachtungen des Bewusstseinssystems ist vorsichtig dualistisch als Korrelationsverhältnis zu sehen. These 5: Diese vorsichtige Position zeigt sich in der Wortwahl. Alle Begriffe, die hier Ursachen und Wirkungen suggerieren, sind mit Skepsis zu betrachten. These 6: Anstelle des Begriffs der „Selbstlernkompetenz“ sollte lieber das Wort „Neugier“ verwendet werden. These 7: Anstelle der aristotelischen „Denkgesetze“, die für die Objektebene des Rechts unabdingbar sind, sollten in der Lehr-Lern-Situation die kybernetischen Sätze der Paradoxie, der Ambivalenz und der Kontrolle den metatheoretischen Rahmen bilden.
39 Baecker, Dirk, a. a. O., S. 155/156.
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