S CHWEBEN IN S PANNUNGSFELDERN Anton Weberns Chorlied op. 19, 2
Unter den ohnehin vergleichsweise spärlich durch musiktheoretische Analysen beleuchteten mittleren Werken Weberns (opp. 12-19) erfreuen sich die beiden Chorlieder op. 191 nach Gedichten aus Goethes Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten besonderer Vernachlässigung. Von der Instrumental-Besetzung und dem Klangeindruck her schließen sie an die vorhergehenden Zyklen von Liedern für eine (Sopran-)Stimme und Ensemble an. Obgleich sie reihentechnisch komponiert sind, weisen sie (noch) nicht die faszinierenden Symmetrien des Spätwerks auf; sie sind weder so übersichtlich und zwingend konstruiert wie die Canons op. 16, noch so voll konzentrierten Ausdrucks auf engstem Raum wie die Bagatellen op. 9; den Überschwang der frühen George-Lieder wird man erst recht suchen. So erschließen sie sich einem analytischen Zugang (über das Abzählen der Reihentöne hinaus) zunächst nicht ohne weiteres. Nicht nur die Schlüsselstellung des Werks als eine der ersten zwölftönigen Kompositionen Weberns und zugleich letzte aus der mittleren Gruppe von Vokalwerken, sondern gerade auch die ihm eigene Ambivalenz von Hermetik und Klangsinnlichkeit lassen es jedoch umso erstaunlicher erscheinen, dass ihm bislang so wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Ganz allgemein zeichnet sich bei der mittleren Schaffensperiode ein Wandel der Kategorie ›Ausdruck‹ ab, der sich zunächst darin äußert, dass jede Annäherung mit den bis dahin gültigen Begriffen von subjektiver Expressivität unbefriedigend bleibt, da sie offenbar nicht das Wesentliche des Ausdrucksgehalts zu erfassen vermag. Die folgende Untersuchung soll einige Aspekte dieses neuen Ausdrucksbegriffs in ihrer spezifischen Ausprägung in Weberns Liedern op. 19 herausarbeiten. Für die ganze Werkgruppe schält sich als übergeordnetes Merkmal eine Rücknahme des Subjektiven heraus, die sich zuallererst in der Textwahl zeigt: Webern vertont zunehmend (u. a. religiöse) Volkstexte2 und sogar lateinische liturgische Texte; ihnen allen ist durch die Verankerung in der Volks- oder Kirchentradition eine gewisse Objektivität eigen, ein Rückzug auf das Schlichte, Einfache, Ewiggültige. Dem korrespondiert in vielen Liedern (herausragendstes Beispiel ist vielleicht der Doppelcanon in motu contrario op. 15/V) eine geradezu renaissancehafte Klarheit, der expressionistische Ausdruck kondensiert dabei zu subtilsten Gesten, bezieht sich nur noch auf Mikromotive oder einzelne Töne. Im Gegensatz zu diesen im „Alten Stil“ komponierten Werken wird in op. 19 der Eindruck der Abgeklärtheit, des Darüberstehens nicht von transparenter Polyphonie getragen, sondern von zueinander in unaufgelöster Spannung stehenden, sich gegenseitig in der Schwebe haltenden widerstrebenden Tendenzen, die in ihrem Spannungsfeld ein labiles Gleichgewicht schaffen. Das Aufzeigen solcher Gegensätze in den einzelnen Parametern der musikalischen Struktur und des in ihrem Kräftespiel entstehenden reizvollen Schwebezustands der Musik im zweiten Lied aus op. 19 ist Hauptgegenstand der vorzustellenden analytischen Beobachtungen.
1 Zwei Lieder für gemischten Chor und Ensemble (Celesta, Gitarre, Violine, Klarinette, Bassklarinette), komponiert 1925/26, veröffentlicht
I Text Webern hat hier zum letzten Mal einen Text vertont, der nicht von Hildegard Jone stammt, einer befreundeten Dichterin, deren Lyrik er als seiner Musik zutiefst wesensverwandt empfand und zur Vorlage aller Vokalwerke der Spätphase wählte. Die Gedichte aus Goethes spätem Zyklus Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten, die 1926 immerhin schon 100 Jahre alt waren, kommen aber Weberns Weltsicht und Ästhetik ebenso sehr entgegen, sowohl in ihrer sprachlichen und inhaltlichen Dichte als auch in der philosophischen Verknüpfung von schwärmerischer Natur- und altersweiser Lebensbetrachtung.
1 2 3 4
Ziehn die Schafe von der Wiese Liegt sie da, ein reines Grün, Aber bald zum Paradiese Wird sie bunt geblümt erblühn.
5 6 7 8
Hoffnung breitet lichte [Webern: leichte] Schleier Nebelhaft vor unsern Blick: Wunscherfüllung, Sonnenfeier Wolkenteilend [Wolkenteilung] bring' uns Gück. [!] J. W. von Goethe, Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten (1827)
Das Gedicht ist, äußerlich betrachtet, von fast volksliedhafter Einfachheit und Kürze. Goethe zeichnet nicht nur ein farbenfrohes Bild der vorfrühlingshaften Natur, sondern spielt auch klanglich mit der Häufung bestimmter Vokalfarben: anfangs, fast symmetrisch, a und i, letzteres wird umgefärbt zu ü in Grün, das sich wiederum potenziert in der 4. Zeile und später in Wunscherfüllung und Glück findet; „ei“ in reines greift vor auf breitet und Schleier. Diesen Effekt verstärkt Webern noch, indem er lichte in leichte umwandelt. Auch dass er wolkenteilend zu Wolkenteilung substantiviert, unterläuft ihm nicht versehentlich: Das Aufreißen des Nebels wird so in eine Reihe mit Wunscherfüllung und Sonnenfeier gestellt und sogar satztechnisch auskomponiert. Die Wiese tritt jetzt als reines Grün auf, in dieser Reinheit liegt aber auch der Ermöglichungsgrund für die künftige Blütenfülle. Die Aussicht auf das paradiesische Erblühen verweist dabei schon auf das Thema der zweiten Strophe: die menschliche Hoffnung auf kommendes Glück, auf Wunscherfüllung, die mit dem Hervorbrechen der Sonne aus Wolken zusätzlich verbildlicht wird.3 Die scheinbar naive Hirten-Idylle erhält so eine psychologische Tiefendimension, indem Goethe den Wechsel der Jahreszeiten mit menschlichem inneren Erleben in eins setzt. (vorher )
(nachher)
1.
Reinheit
Fülle, Buntheit, Blüte
2.
Nebel, Wolken
Klarheit, Sonne
3.
Erwartung, Hoffnung
Erfüllung, Glück
Die Gegensatzpaare des Textes lassen sich zeitlich dem Vorher-Nachher zuordnen, wobei die Reinheit (der Wiese) sich auch in der erhofften Klarheit (des Himmels) wieder findet. Der jetzt-Zustand ist also gewissermaßen ein unbefestigtes, aber hoffnungsfrohes Zwischenstadium.
3 Der hier in Paradies, Hoffnung und Wunscherfüllung anklingende Erlösungsgedanke Qindet sich in zahlreichen Liedern, etwa op. 13/IV, op.
14/VI (beide Trakl), dann vermehrt in den Fünf Geistlichen Liedern op. 15 (Volkstexte) und den Fünf Canons nach lateinischen Texten op. 16 (Liturgie), sowie in op. 17 und 18 (das zweite Lied trägt den Titel Erlösung).
II Instrumentation und Schichten Die musikalische Struktur besteht aus drei Schichten: Chor, eine erste Instrumentalschicht mit Celesta und Gitarre, eine zweite mit Geige, Klarinette und Bassklarinette. Die drei klassischen Melodieinstrumente doppeln vom Material her den Chor, sind aber nicht als kantable Stütze eingesetzt, sondern rauen den Chorklang durch die Repetitionen auf, bilden also einen rhythmischen Kontrapunkt. Zudem sind die Einsätze selten kongruent, oft treten die Instrumental-Figuren erst nachschlagend hinzu (vgl. Abbildung 1: Die Stimmkopplungen sind in T. 6 farbig markiert). Die Gitarre verstärkt das Moment des Volkstümlichen4 und bildet ein Komplement zum schimmernden, glöckchenartigen Klang der Celesta. Vom Tonmaterial her ist diese Schicht weitgehend unabhängig von den anderen.5 Beide Instrumente, besonders die Gitarre, gehen zuweilen akustisch unter, treten aber in den Chorpausen überraschend hervor und emanzipieren sich somit von ihrer Begleitfunktion: Ins Ohr springen besonders die kleinen Celesta-Soli, z. B. in T. 10 als überraschendes Vorgreifen auf das bunte Paradies nach dem „reinen Grün“ (vgl. Abb. 2) und wieder fast identisch in T. 12. In T. 14 nach blühn überbrückt es den Einschnitt zwischen den Strophen, fällt fortissimo in die Pause und reißt damit unvermittelt aus dem sich verflüchtigenden pianissimo-Schluss heraus. Dieser heftige Ausbruch dient als Impuls für den folgenden synkopischen Einsatz (Hoffnung…) im Sopran. Die Instrumentation ist, wie die im Gedicht dargestellte Natur und der Sprachklang, hell und farbenreich. Es gibt keine richtig tiefe Stimme, die ein Fundament bilden könnte (die Bassklarinette hat hier keine Bass-Funktion). Nur im Chor verschmelzen ansatzweise die Stimmen, sonst bleibt der Satz trotz der vielen Töne transparent. Der weiche Chorklang im Vordergrund wird durch die unregelmäßigen Repetitionen in den Instrumentalstimmen kontrastiert. Obwohl sie in der Summe großenteils durchlaufende Zweiunddreißigstel ergeben, wirken sie nie mechanisch. Durch unregelmäßige Betonungen, unerwartete Pausen und das Spiel mit Varianten von rhythmischen Urzellen treten die Schichten in schnellem Wechsel in den Vordergrund. So entsteht eine leuchtende und bewegte Oberfläche, die Hervorhebung mancher Töne durch die doppelnden Stimmen verleiht ihr eine zusätzliche Plastizität. Der „bunt gesprenkelte“, durchbrochene Begleit-Teppich stellt mit seiner geradezu anarchischen rhythmischen Unruhe immer wieder fast humoristisch das sangliche Prinzip infrage, wirkt gleichzeitig drängend und stabilisierend. III Form und Metrum Die musikalische Form (vgl. Abb. 3) entspricht äußerlich derjenigen des Gedichts – Vor- und Nachspiel, dazwischen Zweiteiligkeit im Großen (es gibt einen klaren Einschnitt zwischen 1. und 2. Strophe) wie auch im Kleinen: Die erste Strophe ist nicht nur halbiert (Zäsur nach Grün), auch ihre ersten zwei Zeilen sind durch einen eingeschobenen Takt (T. 8) getrennt. Diese Verteilung der acht Halbzeilen auf acht Takte (6–14, 8 nicht mitgezählt) ergibt im Schnitt eine ganz schematische Eins-zu-Eins-Zuordnung der betonten Silben zu den betonten Taktzeiten. Vor dem Hintergrund dieses Schemas sind die Abweichungen besonders deutlich spürbar. Der Dehnung der ersten Strophe steht eine Komprimierung der zweiten auf sieben Takte gegenüber. Aus den leichten Verschiebungen zunächst der Halbchöre (T. 9ff), schließlich aller Stimmeinsätze gegeneinander (T. 13) erwächst ein polyphoner Abschnitt zu Beginn der zweiten Strophe (T. 15ff), der sich ab T. 19 (Vers 7) in eine kreuzweise Stimmbündelung (Sopran und Tenor/Alt und Bass, jeweils mit Antizipation in Sopran und Bass) entflicht; erst im letzten Halbvers (T. 21) verschränken sich die Stimmen wieder (fast) zur Homophonie. In Konkurrenz zu dieser der Text-Form folgenden Gliederung steht die rein musikalische, deren Zäsuren Webern, wie auch in zahlreichen anderen Stücken, durch ritardando – a tempo hervor hebt. 4 Webern setzt sie auch in den Liedern op. 18 mit ähnlicher Wirkung ein. 5Eine Ausnahme bildet der durch die Pause der Instrumentalstimmen in T. 6/1 (vgl. T. 7/1, 10/1, 14/1, 21/1) hervorgehobene erste
Choreinsatz: An diesem Scharnierpunkt sind alle drei Schichten miteinander verschränkt.
Sie ist gegenüber der Strophenform insofern verschoben, als das letzte Wort der ersten beiden Halbstrophen (grün, erblühn) erst im a tempo fällt, also musikalisch gesehen schon zum nächsten Abschnitt gehört, so dass über die Zäsur hinweg eine Verklammerung stattfindet. Gerade an diesen formal bedeutsamen Stellen sind die schweren Taktzeiten mit Bedacht ganz ausgespart (vgl. Abb. 2, T. 10). Die ritardandoDehnung der Erwartung wird noch intensiviert durch die leere Eins und das Einsetzen des Schlussworts auf der leichten Zeit, gleichsam nach einer Schrecksekunde. Lediglich das Zielwort Glück, wieder homophon gebündelt, geklärt, fügt sich in das Schlussritardando, setzt aber, trotz des verlängerten (tiefsten!) Basstons, keinen Schlusspunkt im affirmativen Sinne. Ähnliche Abweichungen von der ansonsten natürlichen Deklamation finden sich immer wieder. Ihre Intention ist aber nicht primär die Durchbrechung einer zu starren Umsetzung des Sprachrhythmus’, sondern vielmehr eine Steigerung des Ausdrucks, wie etwa die minimal zu früh einsetzende und dann überdehnte Wunscherfüllung (T. 19; mit Abstand der längste Ton des Stücks!). Insgesamt ist also einerseits ein zeitlicher Verdichtungsvorgang in der Proportion der Formteile zu beobachten. Dem steht aber andererseits ein Auflösungsvorgang der Satzdichte gegenüber: Der Chorsatz wird immer weniger kompakt (polyphone Verschlingung der Stimmen), zum Schluss hin dünnt er sich zur Zweistimmigkeit aus, das „Nachspiel“ besteht nur aus einer einzigen verfliegenden Geste und bildet so kein Gegengewicht zur Einleitung. Der unverändert beibehaltene 2/4-Takt, an sich Garant für Stabilität, verwischt sich ebenso wie der zunächst klare formale Grundriss. Im Vorspiel wird er geradezu mit dem Zaunpfahl artikuliert: schwere betonte Zeiten mit nachschlagendem Achteln, ein offbeat, der in der rhythmischen Variantenbildung der Instrumentalstimmen seine Fortsetzung findet; doch schon bald zerbröselt der tänzerisch klare Rhythmus sukzessive durch kleinere Notenwerte, durch Pausen, Gegenakzente, Synkopen. Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass auf formaler und satztechnischer Ebene ein Übergang vom Naturhaft-Irdischen des Anfangs (klare Form, starkes Metrum, quasi-homophoner Chorsatz) über die polyphonen Nebelschleier (undurchsichtig, aber leicht, schwebend) zur Verflüchtigung des Nebels, zur Klarheit gestaltet wird. IV Reihentechnischer Hintergrund, Tonhöhenstruktur Dieser Aspekt verdiente durchaus eine detailliertere Behandlung; hier sollen aber nur die für den Höreindruck wirksamsten Sachverhalte erörtert und exemplarisch gezeigt werden, wie trotz der avancierten Tonsprache durch (teils kaum bewusst wahrnehmbare) strukturelle Beziehungen Fasslichkeit entsteht. Op. 19 ist das erste Werk Weberns, dessen beide Sätze vom Tonmaterial her auf einer einzigen Reihe beruhen. Benutzt werden alle vier Formen der Originalreihe auf g und ihre Tritonus-Transpositionen.6
NB 4a: In op. 19/2 verwendete Reihenformen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Rg
Kg
Ug
KUg 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Rdes
Kdes
Udes
KUdes 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
6 Rg bezeichnet die Originalgestalt der Reihe auf g, Kdes bezeichnet den Krebs von Rdes (und nicht etwa die Krebsform auf des), KUg
bezeichnet den Krebs der Umkehrung auf g.
NB 4b: Quarten/Quinten und Tritoni
NB 4b: Quarten/Quinten und Tritoni
Wer die Reihen des Spätwerks kennt, wird hier die ausgefuchsten Symmetrien vermissen: Intervallisch ist die Reihe äußerst heterogen. An der Oberfläche wirksam werden die nie aufeinander folgenden, aber doch in jeder Dreitongruppe auftretenden Halbtonbeziehungen und die auffallenden Quarten/Quinten und Tritoni NB 4b: Quarten/Quinten und Tritoni (orange):
Durchgezogene Markierungen bezeichnen die Intervalle zwischen direkt benachbarten Reihentönen, gestrichelte über mehrere Reihentöne hinweg.
Ebenso spielen Reihenbeginn und -ende mit den pitch class sets 3-3 (rot), also einem Halbtonschritt mit angelagerter kleiner Terz, und auch 3-4 (angelagerte große Terz, grün) eine zentrale Rolle in der linearen und akkordischen Tonhöhenstruktur. Die Wahl der Transposition ist nicht nur aus der Symmetrie der Oktavhalbierung erklärbar; auch die gerade an den Reihenenden entstehenden Tonidentitäten bzw. Tongruppen-Verwandtschaften, exemplarisch an Rg und Kdes aufgezeigt, mögen diese Wahl begünstigt NB 4c: pitch class sets 3-3 und 3-4 haben.
Rg
Kdes Die Reihen laufen nicht linear in einer Stimme ab, sondern werden innerhalb der Materialschichten auf alle Stimmen verteilt. So entsteht eine Sukzession gebrochener Zwölftonfelder; fast immer sind alle zwölf Töne auf engstem Raum vorhanden, aufeinanderfolgende Reihentöne liegen selten auch in einer Stimme nebeneinander.7 Insofern ist die reihentechnische Analyse motivisch gesehen zunächst recht unergiebig. Dennoch lassen sich einige auffällige Phänomene durchaus auf die Reihe rückbeziehen: die Häufung von Quarten und Tritoni (sowohl in der Intervallschichtung der Akkorde als auch z.T. linear) ebenso wie die oft auftretenden pcs 3-3-Konstellationen. Wenige Beispiele müssen hier genügen, um einen Eindruck von Dichte der intervallischen Struktur zu erhalten: Im Vorspiel werden die vorherrschenden Intervalle Quarte (vgl. Abb. 1, gelb unterlegt), große Septime, kleine None und Tritonus sowohl linear von der Klarinette als auch vertikal in der Gitarre exponiert und dann in den anderen Stimmen aufgegriffen und, rhythmisch gesteigert, weitergeführt. Zusätzlich entstehen zahlreiche rhythmische und intervallische Mikro-Bezüge und -Imitationen. Ton-Identitäten, die über mehrere Takte herausgehoben werden, sorgen für weiteren Zusammenhalt (hier etwa der Anfangston gis, s. Markierung in den Noten). Zwei Arten von Klängen beherrschen die Harmonik weitgehend und bilden so innerhalb der potentiell NB 5a: Typische Quart-Tritonus-Schichtungen diffusen Zwölftonwolken feste Ankerpunkte: herbe, aus Quarten und Tritoni geschichtete Akkorde PCS: 4-16
4-8
4-9
5-7
5-7
und die weichere Teilung der großen Septime durch eine kleine Terz bei den Formen von pcs 3-3. Besonders häufig tritt diese Intervallkonstellation als melodische oder akkordische Kombination der Töne 1-3 von Rdes Prime forms
7 Viele klanglich herausstechende Phänomene, wie etwa die dreimalige Folge =is’’-g’ im Sopran (T. 11f, s. auch Vl.), sind nicht direkt auf die
Reihe rückbeziehbar.
bzw. Rcis (oder 10-12 von Kdes), cis-e-c, auf,8 so dass die Reihe kurz als musikalische Gestalt zutage tritt, bevor sie sich wieder in einem Feld auflöst. Die pulsierenden Begleitschichten verstärken auf je spezifische Art das gerade Gezeigte. Beispiele sind das klingelnde Beharren der Celesta auf repetierten Quarten (z.B. T. 14, 16-18) oder das Herausarbeiten von Quart-Tritonus-Schichtungen aus mehreren Stimmen (etwa Sopran, Alt, Klarinette in T. 7; vgl. Abb. 1). Die aufwändig inszenierten Zielklänge der ersten Strophe (auf die Worte Grün und blüh’n) bestehen, als Extremfall der durch das Vorherrschen von großer Septime und kleiner None ständig präsenten HalbtonReibungen, aus zusammenhängenden chromatischen Feldern. Gleichzeitig werden sie durch die Verteilung der Töne auf Chor und Ensemble jeweils in einen chromatischen Teilklang und eine Quart-TritonusSchichtung zerlegt, sodass sie die Synthese der beiden den Klangeindruck bestimmenden IntervallKonstellationen bilden. NB 5b: Zerlegung chromatischer Schlussklänge T. 10, grün T. 14, (er)blüh‘n Chor Instrumente Chor Instrumente
4-8
3-1
4-1
5-7
7-1 8-1 Die Einheitlichkeit der Intervallstruktur und ihre Rückführbarkeit auf Merkmale der Reihe erwächst nicht zwingend aus dem Reihengebrauch, sondern ist bewusst herausgearbeitet. Sie ist eins der wesentlichen integrierenden Momente, die ihrerseits den Widerpart für die auseinanderstrebenden Tendenzen bilden und so Fasslichkeit jenseits traditioneller Mittel gewährleisten.
Zusammenfassung Es zeigt sich also, dass Webern auf unterschiedlichste Art und Weise mit dem Erzeugen und Ausbalancieren von Spannungen spielt. Einige der ganz konkreten, vordergründigen Gegensatzpaare wie leichte Nebelschleier (leise und polyphon verschleiert) und Wolkenteilung (Klärung der Satzstruktur, Ausdünnen), Reinheit und Fülle (bunte Verdichtung des Satzes) entfalten sich als Abbilder des Textinhaltes ganz traditionell im zeitlichen Nacheinander. Ebenso bildlich lässt sich das Instrumental-Ensemble mit der scheinbar ungeordneten Natur, der Chorklang mit dem Menschlichen identifizieren, sodass sich auch auf abstrakte Weise die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Gedichts in der vielschichtigen satztechnischen Struktur widerspiegeln. Dieser Natur-Mensch-Dualismus, im Gedicht angelegt als Spannung zwischen und Analogie von gegenständlicher Natur und philosophisch-psychologischen Begriffen wie Zeit-Vergehen, Erwartung, Erfüllung, findet seine musikalische Entsprechung wiederum in der Gleichzeitigkeit von IdyllischNaturhaftem (farbige Instrumentation, volkstümliches Vorspiel, sinnlicher Chorklang) und AbstraktKomplexem (schwer fassbare Klangfortschreitungen, chaotisch und störrisch anmutende Repetitionen). Dabei wird der Kontrast zwischen dem Anspruch von Allgemeingültigkeit und dem volksliedhaften Charakter des Textes durch die avancierte Tonsprache noch verschärft. Der Verzicht auf eine fassliche Melodik, auf harmonische (nicht: tonale!) Spannung und Lösung, die 8 besonders auffällige Stellen: T. 5 letzte 16tel (Celesta-‐Auftakt zum Choreinsatz, in Abb. 1 markiert), T. 6 letzte 16tel, T. 10 letzte drei 32stel
(Celesta), T. 11 Mitte (Celesta), Schluss (Celesta).
Stabilität suggerierende formale Anlehnung an den Text bei gleichzeitiger Unschärfe der Kongruenz und dem Ungleichgewicht, das durch die Verjüngung vom geschlossenen Anfang zum offenen, gestrafften Ende hin entsteht, die Infragestellung des (menschlich) Sanglichen durch die den Chorklang konterkarierenden sperrigen Begleitstimmen – all das kommt der Verweigerung einer Tonsprache des subjektiven Ausdrucks gleich. Diese Ambivalenzen führen aber keineswegs zu einer Haltlosigkeit, vielmehr entsteht, noch verstärkt durch das Fehlen eines Bass-Fundaments, ein Schwebezustand, ein Entrückt-Sein vom festen Boden wie von der subjektiven Verstrickung, der gleichermaßen ein wichtiger Aspekt des Gedichts wie auch eine übergeordnete Ausdrucksqualität in Weberns mittleren Ensembleliedern ist.
Literatur: Kathryn Bailey: The twelve-note music of Anton Webern. Old forms in a new language, Cambridge 1991 Andreas Meyer: Ensemblelieder in der frühen Nachfolge (1912-17) von Arnold Schönbergs Pierrot lunaire op. 21. Eine Studie über Einfluß und "misreading", München 2000 Joachim Noller: Das dodekaphone Volkslied. Studien zu Weberns op. 17, 18 und 19, in: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hg.): Musik-Konzepte Sonderband Anton Webern II, München 1984, S. 137-150 Lauriejean Reinhardt: Anton Webern, Zwei Lieder für gemischten Chor, op. 19, in: John Newsom, Alfred Mann (Hg.): The Rosaleen Moldenhauer Memorial. Music History from Primary Sources: A Guide to the Moldenhauer Archives, Washington D.C. 2000
1
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KUdes
NB 1
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Kg
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8 11
1
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3
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4
Abbildung 1
NB 2
Abbildung 2
Abbildung 3: Form –
Takt
1
2
5
–
3
4
Form musikalisch Form gemäß Text
– 5
6
4 7
8
rit. tpo.
– 9
10
4
11
– 12
rit. tpo.
1
Vorspiel
2
„grün“
13
14
rit.
3
–
5
–
15
16
17
– 18
tpo.
4
rit.
5
6
„blüh’n“
19
4 20
21
22
tpo. rit.
7a 8a
5
–
6
7b
8b
S A T B
Satztechnik Chor
2 –
homophon gebündelt
–
5
halbchörig gebündelt
–
1 –
5
2 –
Stimmen unabhängig
–
4
–
(–
4
–
–
3
–)
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