Rez.: Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933, in: Kriminologisches Journal 2006, Bd. 38, H. 1, S. 66-69.
tretendenRichterim Vordergrundstehen,währendin DeutschlandParagraphenund anonymeGerichtedasBild beherrschen. Zusammenfassend sieht Liora Lazarusin Deutschlandeine ausgeprägte (RightsCulture),währendsie ftir EnglandeineTraditiGrundrechts-Kultur in on des ,RightsScepticims'konstatiert(S. l63ff.). Damit korrespondiere BürEnglanddas Vertrauenauf das Parlamentals einzigemGarantender gerfreiheit.Auch die ausdrücklicheVerpflichtung auf die Europäische Menschenrechtskonvention durch den Human Rights Act (1998) habe an foldieserrichterlichenZurückhaltungnur wenig geändert.Rechtspolitisch gert die Autorin daraus,dassman sich in Englandmehr an der deutschen Erfahrungorientierensolle. Sie meint damit vor allem den Schritt der in Deutschlandim Strafvollzugsgesetz vollzogenwurde,als man die ein Jahr zuvor gebildetenStrafuollstreckungskammern auch für Beschwerdenüber Vollzugsbedingungen zuständigerklärte.Fernerpropagiertsie die bei uns vollzogeneErgänzungvon Abwehrrechtender Gefangenendurch positive Resozial isierungsrechte. Das Buch enthältkeineausdrücklichen Ratschläge Paradofür Deutschland. xerweisekönnteallerdingsauchein umgekehrter Lemprozess durchauswünschenswertsein.Denn: Trotz der umfassenderen Kontrolledurch Gerichte im Strafuollfunktioniertauchin Deutschland der gerichtlicheRechtsschutz zug nur sehrbegrenzt.Dies wird von Liora Lazarusdurchausdargestellt:die großenErmessensspielräume, Verwaltungenlässt, welcheunserGesetz-den ärin welchedie Gerichtesich nicht einmischendürfen,sowiedie besonders gerlicheTatsache,dassdie Verwaltungenunbequeme Gerichtsentscheidungen manchmaleinfachnicht umsetzen. Aus deutscherSichtwürdeman sich hier Richtermit dem Selbstbewusstsein angloamerikanischer KollegenwündesGerichts(Conschen.Denn diesewürdensich eine solcheMissachtung temptof Court)zweifellosnicht langegefallenlassen. JohannesFeest,Bremen Müller, Christian: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland I87l-1933 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschqft, Bd. 160) Göttingen 2004 (Vandenhoeck & Ruprecht), 337 5., 38,90 €. klafftebis zum ErscheiUm die Geschichte der Kriminologiein Deutschland nenvon RichardWetzellsStudie,,lnventing the Criminal" im Jahr2000einc große Forschungslücke. Nun ist bereitsdie fünfte Monographieinnerhalh Aspektc dcr wenigerJahreerschienen,die sich - jeweils verschiedener anninrtrtt.' Entwicklungder Kriminologieseit dem späten19. Jahrhundert I
Vg l. We tze ll,Ric har dF. ( 2000) :I nv ent ingt hc ( ' r inr i n a l .A l l i s t o r y o l '( i c r n r l n ( 'r i r r r r . n olo gy (Stud ies in Legal lJ is t or y ) ( ' hapc l llill/l . o r t d o n ; I l c c k c r . l 'c t c r ( l ( X ) l ) : Ve rdcrhn isu nd [ : nt ar t uns .I r ir r c( ic s c hic hlct lc r Kr i r r t i t t o l o u rrcl c s l ( ) . . l i r l t r h r r r t t l t 'r t r hl r r r r
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Der Essencrllistorikcr('hrislianMüllersetztsichin der überarbeiteten FassungseincrI)isscrlationallcrdingsnicht dasZiel, eineGesamtgeschichte der gehtes Müller darum,eineLängsunterKriminologicvorzulcgcn.Stattdcssen an die suchungzu schrcibcn,,,wclchcdie deutscheStrafrechtsennvicklung Wisscnschallsgcschichtc dcr Kriminologieankoppelt, um zu einerSynthese (S. 15). dermodcrncnKriminalpolitik zu gelangen" Müller untertciltscin Buch in zwei Teile,in denener für das Kaiserreich und die WcimarerRepublikjeweilsdie EntwicklungdesVerhältnisses zwischenStraliechtsrelirrmbewegung und Kriminologieuntersucht.Abschließendfblgt ein sehrkurzerAusblickauf dasnationalsozialistische Deutschland. DaserstcKapitel beschäftigtsich mit dem großenEinflussder forensischen Psychiatrieauf den Entstehungsprozess der Kriminologie in Deutschland. Als Ausgangspunkt schließtsich Müller Wetzellsund Beckers These an, dass sich das ,,medizinisch-biologische Paradigmader (S. 23) bereitsgegenEnde des 19. Jahrhunderts Verbrechensauf-fassung" habe.Das psychiatrische Psydurchgesetzt Konzeptdes,,verbrecherischen chopathen",das auch vor Gericht anschlussftihig wurde, habe dann das Fundament für eineKriminologiegelegt,die sichbis in die l960erJahrein habe.DieseEntwickersterLinie fiir die Anlageder Täterlnneninteressiert lung erklärt Müller unteranderemausdem deutschenSpezifikumder Verbindungeines,,anthropologischen Pessimismus mit gesellschaftspolitischem Fatalismus"(S. 77): Sowohldie Anlageals auchdie Umwelt werdenals unveränderbar begriffen.Müller folgertdaraus,dasssozialeFaktorenin ein vorrangigbiologistisches Verständnisvom Verbrechenintegriertwerdenkonnten,ohnediesesaufzubrechen. Das zweite Kapitel widmet sich dem praktischenEinflussder Anstaltspsychiatrieauf den Strafvollzugim Kaiserreich.Müller verfüllt nicht in eine dichotomeAuffassungvon Humanitätund Repression,sondernzeigt vielmehr, inwiefernvon einer engenVerflechtungausgegangen werdenmuss. Die währendweiter Teile des 20. Jahrhunderts starkeAnlehnungder Psychiatriean den Interventionsstaat sei derendoppelterVerteidigungsstellung gegen liberale und konservativ-klerikale Positionengeschuldetgewesen. Der Teil über dasKaiserreichendetmit einemKapitel zur Verbindungvon Psychiatrieund Strafrechtsreform. vertritt Müller die PositiÜberzeugend on, dassin der historischenForschungder vermeintlichdrastischeGegensatz innerhalbder Strafrechtswissenschaft um 1900 zwischender ,klassischen' Schule,die das Vergeltungsstrafrecht verteidigenwollte, und der einsetzte,oft deutlich ,modemen'Schule,die sich für ein Schutzstrafrecht überzeichnetwird. Wichtiger sei hingegender Gegensatzzwischenden Bd. 176) Göttingen; Uhl, Karsten (2003): Das ,,verbrecherische Weib". Geschlecht, Verbrechenund Strafenim kriminologischen Diskurs 1800-1945(Ceschlecht- Kultur - Gesellschaft,Bd. ll) Münster/Hamburg/London; Galassi,Silviana (2004): Kriminologie im DeutschenKaiserreich.(ieschichteeiner gehrochcncnVcrwrsscn(PallasAthenc.Ild. 9) Stuttgart. schaftlichung -1 1 ){ } / r
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handeltees sich um verDisziplinengewesen;in Müllers Interpretation schiedenejuristische Reaktionenauf die psychiatrischeHerausfbrderung In diesemSinne verstehtMüller einer Medikalisierungdes Strafsystems. die Strafrechtsreformbewegung als den Versucheiner ,,defensivenModernisierung"(S. 159). Interessean der Verteidigungder juristiGeradedas professionspolitische schenDeutungsmacht sei als ein wesentlichesMotiv der Reformbewegung im Jahr zu begreifen.Durch den Kompromissder beidenStrafrechtsschulen 1904konnten,,dasStigmader Bestrafungund die unbefristeteAnstaltsunterbringung"(S. 149)miteinanderkombiniertwerden;namentlich,,verminzwei Tätermusstenin FolgediesesKompromisses dert zurechnungsfiihige" Formender staatlichenSanktionüber sich ergehenlassen.Der strafrechtliwurde deutlicherweitert,das Strafensei durch die che Handlungsrahmen Verschränkung,moderner' und,klassischer'Elemente,,potentiell entgrenzt"(S. 169)worden.Müller hält fest, dassdie Strafgesetzentwürfe des anzusehenseien. Kaiserreichsnicht als Medikalisiemngdes Strafsystems Entscheidend der Strafenerfolgt sei,dasskurzfiistig keineRationalisierung und die Deutungsmacht bei denJuristengebliebensei. lm zweitenTeils seinerArbeit hält Müller zunächstfest.dasssich die Strafrechtsdebatte in der WeimarerRepublikvon der Diskussionder wissenschaftlichenExpertenzu eineröffentlichenpolitischenAuseinandersetzung ausgeweitethabe. Entscheidendfi.ir die Debattesei nun nicht mehr der Schulenstreit, sondernder Konflikt zwischeneinerliberalenund einerautoritären Strafrechtspolitikgewesen.Selbstder liberalsteder verschiedenen Entwürfe eines neuen Strafgesetzbuches, derjenigedes sozialdemokratigrößere schenJustizministers GustavRadbruch1922,hättegleichermaßen Milde als auch größereHärte erlaubt.Radbruchhabe sich ebensofiir die Resozialisierung von ,Besserungsfühigen' wie fiir die sozialeVerteidigung gegen,Unverbesserliche' eingesetzt. Dies habedemKern der Strafrechtsreformbewegungseit den Bemühungenihres InitiatorsFranzvon Liszt entsprochen:Es sei nie um eine Humanisierung,sondemum einen,,zweckbe(Liszt) gegangen.Die späterenEntwürfe am wusstenRechtsgüterschutz" Endeder WeimarerRepublikhättenallerdingsdurcheine Kombinationdes Vergeltungsprinzips mit dem Sicherungsgedanken deutlichdie repressiven Züge gestärktund die Ideeder Resozialisierung an den Randgedrängt. Müller wendetsich zum Abschlussdes zweitenTeils gegenverbreitete Lesarten,die den in der WeimarerRepublikeingeftihrten Stufenstrafvollzug als ElementeinerModemisierung begreifen.Müller zeigtdagegenarrr Beispieldesbayerischen zum einendie Nähezur konStufenstrafvollzugs Auszum anderendie wechsclscitigc servativ-katholischen Straftradition, Trcnnung in tauschbeziehung zur Kriminalbiologie auf.Sowohldic .lJcsscalsauchdic Vcrbincluttg dcsSlral'-rnit rungsllihige' und ,Unverbesserlichc' Slralvollzug seicn irn haycrisclrcn tratlicrtgcucdem Erziehungsgeclanken trril,.
gehaltenwurden,habe sen. I)u rrrrrrvcnigc(iclirngcne1ürresozialisierbar als ein Selektionsinein Erziehungsmittel clcrSttrll'nstrllvollzug ,,wcniger (S. I l(r)rlargcstcllt. strunrcnt" dassSicherungund Strafenicht als Übcrzcugcrr.l kanrrMiillcr aufZeigen, (icgcnslitzcvcrstundcnwurden.Vielmehrging es einer autoritärenStrafrcchtspolitik,dic irn Kontext der Kriminalbiologiestand,darum,SicheIn diesemSinnewaren auch trl.sStraf'edurchzusetzen. rungsnur[.]nllrrrrcrr Teilc clcrl{cchtsw'isscnschaft in den 1920erund l93OerJahrendarumbezu verDeterminismus rni.iht,,.dasSchuldstraliecht mit dem biologischen einesTäterserschien Geführlichkeit einbarcn"(S. 270).[)ie vermeintliche In einemkurzen in dcr juristischenKonstruktionals ein Schuldmoment. interpretiertMüller die NSAusblick aul' clcn Nationalsozialismus als eine Radikalisierung dieserModelle.Die Strafpolitik Krir-ninalpolitik Strafrechtshätteversucht, denKurs der modernen desNationalsozialisnrus relbrrndcbattc zu korrigieren. Geradedie VerbindungdesmodemenSichehabeeineautoritäre rungsgedankens mit dem klassischen Vergeltungsprinzip itik crlaubt.Sicherungbedeutete im Nationalsozialismus,ÄusKriminalpol gestrichen. wurdenweitgehend merzung",Resozialisierungsmaßnahmen Studiezur Kriminalpolitikim ChristianMüllers anregendgeschriebene ForschungsKaiserreich und der WeimarerRepublikstellteinebedeutende Ansatzeiner leistungdar. Problernatisch erscheintalleinseinmethodischer intentionalistischen Sichtauf die Quellen.Müller begibtsich durchgehend professionspolitihin und wieder in Gefahr,hinter einer Überbewertung Interessen die ebensorealenDisscherund pragmatischer der Handelnden zu verdecken. kursstrukturen So lässtsichdie Vermengung ,moderner'und und soElementeinnerhalbder ,modernen'Strafrechtsschule ,klassischer' gar innerhalbeinerzentralenFigur wie Franzvon Liszt nicht hinreichend Erwägungen der Handelnden erklären.Ebensowemit politisch-taktischen nig kann Müllers Theseüberzeugen,das psychiatrischeDrängenauf eine Ersetzungder Kategorieder Schuldfühigkeitdurch diejenigeder Geführlichkeit sei in ersterLinie durchden Versuchder Psychiaterzu erklären,die (S. 292). fernzuhalten" Verbrecherlnnen ,,vonden eigenen,Heilanstalten' dieDieseAnmerkungen sollenallerdingsnichtüberdie großenVerdienste in der Kontextualidie insbesondere ser wichtigenArbeit hinwegtäuschen, sierunghäufig verwendeterSchlagwortewie Medikalisierung,Modernisierungund Rationalisierung liegen. Karsten Uhl, Nordhausen Muncie, John: Youth & Crime. 2nd Ed., London 2004 (Sage), 351 S., f, 19.99 "Are youngpeoplea threat?"JohnMuncie,Professor of Criminologyund Co-Directorof the InternationalCentrelbr ComparativeCriminological (bekannt dcs u.a.als Mithcrausgeber Research at the C)nenUniversitv/UK )lVl/.
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Report "Rez.: Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933, in: Kriminologisches Journal 2006, Bd. 38, H. 1, S. 66-69. "