Strahlen (in) der Finsternis Zwei neue Bücher über Goethes Farbenlehre
OLAF L. MÜLLER: Mehr Licht: Goethe mit Newton im Streit um die Farben, S. Fischer, Frankfurt a.M. 2015, 544 Seiten, 26,99 EUR Goethes Farbenlehre sei »die totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten« proklamierte der Naturwissenschaftler Emil du Bois-Reymond in seiner Berliner Rektoratsrede von 1882. Der Grund für dieses harsche Urteil? Es gebe kein anderes Erkennen als das mechanische, keine andere wissenschaftliche Denkungsform als die mechanisch-physikalische. Goethe habe also nur einen alternativen, nicht mechanisch-physikalischen Ansatz zu dem Newtons verfolgt und deswegen bleibe dessen Theorie von Goethes Kritik bzw. Polemik letztlich unberührt. Physiker wie Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, die Goethes Denkungsart durchaus schätzten und sich von ihr sogar beeinflussen ließen, wunderten sich. Weizsäcker: »In seiner Kritik der herrschenden Farbenlehre hat Goethe den klaren Sinn der Worte und Versuche Newtons vierzig Jahre lang missverstanden und hat sich durch so kluge und sachkundige Gesprächspartner wie Lichtenberg nicht belehren lassen. Wie konnte ein so großer, so umfassender Geist so irren?« (Goethe, S. 537) Das Zitat, dem Kommentarteil der populären Hamburger Ausgabe entnommen, zeigt, wie fest sich diese Meinung in der Rezeption von Goethes Farbenlehre etabliert hat. In seinem Buch widmet sich der Wissenschaftsphilosoph Olaf Müller von der Humboldt Universität Berlin der Dekonstruktion dieses Urteils. Seine These lautet überraschend provokant: Die »intelligenteste Kritik an Newtons Optik stammt von Goethe«, weil er eine wissenschaftliche Entdeckung höchsten Ranges gemacht habe, und zwar mit dem experimentellen und mathematischen Geschick eines erst-
rangigen Naturwissenschaftlers (S. 121). Diese Behauptung untermauert Müller auf mehr als 500 Seiten über die relevante Geschichte, alte und neue Experimente und die Wissenschaftsphilosophie mit ausgezeichnetem, klarem und verständlichen Stil. Die Entdeckung Goethes? Müller nennt sie ›Goethes Theorem‹ und erklärt dies in seiner Einleitung wie folgt: »Im Reich der optischen Experimente herrscht eine perfekte Symmetrie zwischen Hell und Dunkel; zu jedem Experiment Newtons gibt es eine Umkehrung« (S. 31). Auf den ersten Blick erscheint dieser Satz harmlos, die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Newtons Farbtheorie sind aber alles andere als das. Um sie zu verstehen, ist es hilfreich, uns Newtons Hauptgedanken und Experimente noch einmal vor Augen zu führen, wie es Müller ausführlich im ersten Kapital tut. Newton glaubte, mit seinem berühmten experimentum crucis bewiesen zu haben, dass weißes Sonnenlicht aus verschiedenfarbigen Lichtstrahlen bestehe. Dieses Experiment hat zwei Teile. Im ersten ließ Newton einen Sonnenstrahl durch ein kleines Loch im Fensterladen in ein dunkles Zimmer fallen. Nach dem Durchgang durch ein Glasprisma war das Sonnenbild nicht mehr rund und weiß, sondern verlängert und regenbogenfarben. Newton sah, dass die »blauen Lichtstrahlen« sich im Prisma am stärksten beugten, rote am schwächsten und dazwischen lagen gelbe, grüne und türkisfarbene. Erklären konnte er dieses schon seit tausend Jahren bekannte Phänomen damit aber noch nicht. Um die von ihm angenommene Heterogenität des Lichtes zu beweisen,
die Drei 11/2015
www.diedrei.org
Schwerpunkt
10
fügte er seinem Experiment noch einen zweiten Teil hinzu: Durch ein Loch in einem Schirm hinter dem Prisma ließ Newton nur einen kleinen Ausschnitt des Lichtsprektrums, eine einzelne Farbe, durch und führte diesen Lichtstrahl durch ein zweites Glasprisma. Dieses einfarbige Licht wurde nun aber nicht weiter in andere Farben »aufgespalten«. Also muss weißes Licht aus verschiedenfarbigen Lichtstrahlen zusammengesetzt, heterogen sein, während das Licht einzelner Spektralfarben homogen ist.
Umkehrung Im zweiten Kapitel zeigt Müller, dass es, Goethes Theorem zufolge, einen umgekehrten Satz gibt. Um ihn zu formulieren, werden in Newtons Satz konsequent die Wörter Licht und Dunkelheit ausgetauscht: Dunkelheit besteht aus verschiedenfarbigen Dunkelheitsstrahlen (oder Finsternisstrahlen). Dieser umgekehrte Satz kommt uns sehr merkwürdig vor, weil wir uns Finsternis typischerweise als die Abwesenheit von Licht vorstellen und deswegen für ein bloßes Nichts halten. Aber dieses ontologische Urteil über Licht und Finsternis folgt nicht zwangsläufig aus den optischen Experimenten selbst. Denn phänomenologisch sind Hell und Dunkel gleichberechtigt und im Bereich der optischen Experimente stellt die Natur uns zunächst frei, ob wir Finsternis als Abwesenheit des Lichtes annehmen oder umgekehrt. Laut Müller war es nun die schärfste Einsicht Goethes zu erkennen, dass er Newton zwar nicht durch irgendein Experiment widerlegen konnte, aber stattdessen für jedes beliebige optische Experiment Newtons ein umgekehrtes Experiment ausdenken könnte, das genau der gleichen Logik des newtonschen Experiments folgt, aber zu der konträren Theorie käme. Goethe ahnte, dass es ein umgekehrtes Experiment zum experimentum crucis geben müsse, womit die Heterogenität der Finsternis auf Basis derselben Logik bewiesen werden könnte. Doch forschte er nicht weiter daran und es war auch nicht sein Hauptanliegen, hielt er doch wegen einer reductio ad asdurdum letztlich beide Theorien für falsch. Vielmehr wollte er
Freiraum schaffen für seine eigene Farbenlehre. Dass sein Gedanke, dass ein umgekehrtes experimentum crucis möglich sei, nicht weiter verfolgt und realisiert wurde, könnte einer der Gründe dafür sein, warum Physiker Goethes Newton-Kritik einfach missverstanden oder für misslungen gehalten haben. Die Radikalität seiner Kritik an Newton mag auf viele abstoßend wirken, aber Goethes eigene Farbtheorie und seine Kritik sind, wie Müller deutlich macht, zwei getrennte Sachen. Kann also Newtons experimentum crucis praktisch invertiert werden? Wenn man statt einem Lichtstrahl einen »Finsternisstrahl« (was nach Newtons Denkweise die Abwesenheit von Licht ist, also ein Schatten) durch ein Prisma fallen lässt, so wird das Schattenbild nicht mehr rund und schwarz, sondern verlängert und bunt. Das Spektrum ist zum Newton-Spektrum komplementär und besteht aus Gelb, Rot, Purpur, Violett und Blau. Zu diesem Stand gelangte schon Goethe selbst, aber dieses Phänomen, das sich ja newtonisch erklären lässt, macht noch nicht das umgekehrte experimentum crucis aus. Die Umkehrung des zweiten Teilexperiments stellte lange ein Problem dar. Lässt man einen einfarbigen Ausschnitt des komplementären Spektrums durch ein zweites Prisma fallen, ergibt sich, wie es ja auch Newtons Theorie entspricht, ein heterogenes, buntes Bild. Vielmehr muss die ganze Situation invertiert werden. Statt der hellen Sonne, die an einem vergleichsweise dunklen Himmel steht, braucht es einen hellen Himmel mit schwarzer Sonne. Zusätzlich erforderlich ist dann noch eine »Lichtkammer« anstelle der Dunkelkammer Newtons. Wie sich dieser Versuchsaufbau für ein Experiment realisieren lässt, war lange unklar. In den 1960er Jahren aber griffen skandinavische Physiker Goethes Idee wieder auf, gelangten zu der Überzeugung, dass ein umgekehrtes experimentum crucis tatsächlich möglich sei, und bauten es schließlich auf (S. 205). Um die Dunkelkammer umzukehren, muss man das Experiment in einer »Streulichtkammer« durchführen. Matthias Rang und Johannes GrebeEllis beleuchteten dazu ein mit Blumenseide beklebtes Plexiglasgehäuse von außen einheitdie Drei 11/2015
www.diedrei.org
Goethes Farbenlehre
11
lich mit vielen weißen Lampen. Als invertierte Sonne diente ein Stück schwarzes Papier an einer Wand der Gehäuses. Die zwei Blenden, also das Fensterloch und das zweite Loch, mit dem ein Ausschnitt des Spektrums für das zweite Prisma ausgewählt wird, wurden zu Spiegeln, um das Streulicht weiter zu reflektieren (Rang und Müller). Es konnte beobachtet werden, dass sich verschiedenfarbige Ausschnitte des komplementären Spektrums unterschiedlich stark beugten: Gelb am meisten, Blau am wenigsten. Wie zuvor lässt sich diese Beobachtung newtonisch erklären, aber die komplementäre und viel einfachere Erklärung, dass Dunkelheit aus verschiedenfarbigen »Finsternisstrahlen« bestehe, also das Ergebnis dieses umgekehrten experimentum crucis, ist ebenso stimmig. Wie Müller im zweiten Kapitel darstellt, zeigt dieses umgekehrte experimentum crucis empirisch, dass Goethes Newton-Kritik wohlbegründet ist: Wenn man die Heterogenität des Lichtes empirisch beweisen kann, so kann man die Heterogenität des Finsternis anhand des umgekehrten Experiments genauso gut beweisen. Weil die Argumentation derselben Logik folgt, verstärkt man mit dem Versuch, Newtons Beweisanspruch zu untermauern, in genau demselben Maße die Gegenthese. Die Richtigkeit von Newtons Schlussfolgerung ist heutzutage unter Philosophen umstritten. Müller stellt sich aber hinter Newton und argumentiert, dass die Heterogenität des Lichtes sich durchaus vom experimentum crucis empirsich beweisen lässt, ebenso aber auch Goethes Gegenthese vom umgekehrten Experiment. Goethe hat eine Symmetrie entdeckt, womit man jegliche optische Theorie umdrehen und daraus eine komplementäre Theorie entwerfen kann, die den gleichen Beweisanspruch hat wie die originale. Aber sie widersprechen einander und es gibt kein Experiment, das für die eine oder die andere entscheiden kann. Dass die Wissenschaft zu solchen Schwierigkeiten kommen könnte, hat der amerikanische Philosoph W. V. O. Quine in seiner These der theoretischen Unterbestimmtheit formuliert, die besagt, »dass Theorien nicht eindeutig durch Empirie bestimmt sind, weder per Beweis noch
sonstwie« (S. 314). Nach dieser These wird Newtons Theorie »von keinem der umgekehrten Experimente widerlegt, die Goethe aufgeboten oder angeregt hat« (S. 413), aber auch umgekehrt: Goethes Gegenthese kann auch nicht durch Newtons Experimente widerlegt werden. Was das wissenschaftsphilosophisch zu bedeuten hat, macht das vierte und letzte Kapitel des Buches deutlich.
Grenzen Müllers Ziel ist klar: »Ich schreibe hier kein Buch über die Philosophie der Farben, kein Buch über deren Ontologie, Metaphysik oder über die Sprachphilosophie der Farbwörter. Mein Buch handelt von der Wissenschaftsphilosophie einiger Farbexperimente« (S. 81). Und dies schafft er auf eine sehr klare und systematische Art und Weise, die sowohl dem Laien zugänglich als auch für Experten interessant ist. Aber in dem Buch wird Goethes eigene Farbenlehre außer Acht gelassen: Denn Goethes Farbenlehre, in der »die Farben irgendwie aus einem Zusammenspiel von Licht und Dunkel hervorgehen« (S. 40), kann Müller – nach eigener Aussage – nicht verstehen und hegt sogar den Verdacht, dass »es sich überhaupt nicht verstehen lässt«. Er findet »die Artikulation von Unverständnis attraktiver als exegetische Eiertänze im Trüben« (S. 40). Die Farbexperimente, auf die das Buch eingeht, stammen aus der Physik. Demzufolge argumentiert Müller, dass wir »im Augenblick gut beraten sind, an der Theorie festzuhalten, die wir Newton verdanken und die immer noch Kern und Ausgangspunkt dessen bildet, was wir heute über Farbe, Licht, Dunkelheit denken«. Macht aber Newtons Theorie wirklich Kern und Ausgangspunkt dessen aus, was wir heute über Farbe, Licht, Dunkelheit denken? Schauen wir die heutige Farbforschung an, sehen wir, dass derjenige, der wirklich Farbe qua Farbe verstehen will, Newton eigentlich nicht so viel zu verdanken hat. Der amerikanische Philosoph Evan Thompson merkt an, dass »all die zeitgenössischen Philosophen, die sich mit wissenschaftlicher Forschung zum Farbsehen
die Drei 11/2015
www.diedrei.org
Schwerpunkt
12
auseinandersetzen, die herkömmliche [also newtonsche] Sichtweise verlassen« (Thompson, S. 3). Müller gibt sogar zu, dass das experimentum crucis »erfolgreich von einem völlig farbblinden Physiker durchgeführt werden« könnte (S. 91). Was kann uns dieses Experiment also über Farbe lehren? Newton wollte vor allem die Heterogenität des weißen Lichtes beweisen. Dies hat er laut Müller auch geschafft, allerdings mit dem Nachteil, dass die Heterogenität der Finsternis als Gegentheorie genau so haltbar ist (zumindest im Bereich optischer Experimente). Eine Farbtheorie ist das aber noch nicht. Dewegen fügte Newton dem Ergebnis des experimentum crucis eine zweite These hinzu, dass »zum selben Grad der Refrangibilität immer dieselbe Farbe gehört« (Newton, Philosophical Transactions), also eine »strikte« Eins-zu-eins Entsprechung zwischen Brechung (Refrangibilität) und Farbe herrsche. Diese These war jedoch voreilig und ist inzwischen widerlegt worden. Man kann das beispielsweise an der Farbe Braun zeigen: Um Braun zu erzeugen kann man eine gelbe Fläche nehmen und deren unmittelbare Umgebung erhellen. Je heller die Umgebung, desto dunkler wird das Gelb, bis es schließlich als dunkles Braun wahrgenommen wird. Die Brechung des »gelben« Lichtes bleibt gleich, aber die wahrgenommene Farbe ändert sich. Wie die über ihre Brechung errechnete Wellenlänge eines Lichtstrahls und der wahrgenommen Farbe zusammen hängt, ist bis heute umstritten. Andere Probleme, die eine echte Farbenlehre erklären sollen, werden beispielsweise aus Wittgensteins Bemerkungen über die Farben deutlich, die er verfasste, als er Goethes Farbenlehre las. Was heißt es z. B., dass es ein Gelbgrün, aber kein Rotgrün gibt (I, 7-14) oder das Weiß die hellste Farbe ist (III, 1)? Und warum wird dunkles Gelb eigentlich nicht als schwärzlich empfunden? (III, 106) Wittgenstein selbst hat nicht versucht, diese Rätsel zu lösen. Der englische analytische Philosoph Jonathan Westphal hat, um Fragen dieser Art zu beantworten, auf Basis der von Michael Wilson weiterentwickelten Farbenlehre Goethes eine Farbtheorie entwickelt, die seine Hauptthese, dass Farbe
eine Art Schatten oder ein Zusammenspiel von Licht und Dunkelheit sei, einschließt und damit Müllers Behauptung, dass Goethes eigene Farbtheorie unverständlich sei, entgegensteht. Westphal zeigt damit: »Das einzige, was Newtons Modell nicht erklären kann, ist Farbe. Das liegt nicht an einer metaphysischen Erklärungsgrenze oder daran, dass Farbe identisch mit etwas sei, das nicht Farbe ist – nämlich einer Komponente von Gehirnprozessen – sondern an der Struktur des newtonschen Modells.« (Westphal, S. 111). Diese und ähnliche Farbforschungen, die von Goethes Farbenlehre angeregt wurden, kommen bei Müller allerdings nicht vor. Müller gebührt der große Verdienst, wissenschaftsphilosophisch gezeigt zu haben, wie wohlbegründet und originell Goethes Kritik an Newton ist und wie sie von weiteren Experimenten, die von Goethes Arbeiten inspiriert wurden, untermauert wird. Mit seiner Darstellung hat Müller Goethe wieder in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt, nicht nur als ernst zu nehmendem Wissenschaftler, sondern sogar als Wissenschaftsphilosophen ersten Ranges. Jenen, die ein umfassendes und tiefes Verständnis für Newtons Farbexperimente, Goethes Newton-Kritik und deren wissenschaftsphilosophische Konsequenzen gewinnen wollen, sei Müllers Buch sehr ans Herz gelegt. Jene aber, die an aktueller Farbforschung und Goethes eigener Farbenlehre interessiert sind, werden hier weniger finden. Troy Vine Literaturhinweise: Müller, O. und Rang, M.: Newton in Grönland. Das umgestülpte experimentum crucis in der Streulichtkammer, in: philosophia naturalis 46 Heft 1, 2009, pp. 61-114 Quine, W.O.: Two Dogmas of Empiricism, in: From a logical point of view, Harvard University Press, Cambridge/Massachusetts 1980. Thompson, E.: Colour Vision: A Study in Cognitive Science and the Philosophy of Perception, New York 1995 Westphal, J.: Colour: Some Philosophical Problems from Wittgenstein, Oxford, 1987 Wittgenstein, L.: Bemerkungen über die Farben / Über Gewissheit / Zettel / Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a. M. 1984.
die Drei 11/2015
www.diedrei.org
Comments
Report "Review of Olaf Müller\'s book \"Mehr Licht: Goethe mit Newton im Streit um die Farben\" "