Quo vadis, Human-Animal Studies? Bilanz, Überblick und Ausblick eines interdisziplinären Forschungsfeldes I. Human-Animal Studies (HAS) – Bilanz Die Human-Animal Studies boomen. In den letzten 20 Jahren sind Mensch-Tier-Beziehungen zu einem beliebten Untersuchungsgegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung geworden; auch wenn andere Disziplinen in ihren Forschungsambitionen und Publikationstätigkeiten einen größeren Eifer als die empirischen Kulturwissenschaften an den Tag legen. Denn nicht nur in der Europäische Ethnologie häufen sich Studien, die unterschiedlichste Facetten von Mensch-Tier-Verhältnissen zum Gegenstand haben. Insbesondere geschichts-, sozial- und literaturwissenschaftliche Disziplinen haben seit geraumer Zeit nicht-humane Tiere als ein theoretisch und methodologisch vielversprechendes Themenfeld entdeckt. Vielleicht sind es gerade die perspektivischen Möglichkeiten, welche die HAS so reizvoll für den Erwerb erster akademischer Lorbeeren machen und zugleich das Forschungsfeld in eine Spielwiese wissenschaftlicher Extravaganzen verwandeln, auf der sich der akademische Nachwuchs austoben kann. Jenseits der strategischen Positionierung im akademischen Feld eröffnen die HAS, die nicht so sehr eine wissenschaftliche Disziplin darstellen als vielmehr eine Perspektive auf die alltagspraktische Konstitution unserer Alltags- und Lebenswelten, ein Möglichkeitsfeld, bewährte Ansätze neu zu verhandeln und neue theoretische Angebote auszuprobieren. Wie sehr auch die Ungezwungenheit theoretischer Angebote, derer sich die Tierforscherinnen und Tierforscher bedienen, und die thematische Vielfalt der HAS zu kreativen und unkonventionellen Perspektiven und Ansätzen anleiten, so scheint das Potential einer universitär-wissenschaftlichen Aufbruchstimmung
der
Nullerjahre
verflogen
und
die
kultur-,
sozial-
und
geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit nicht-humanen Tieren sich zu einem der vielen anderen „turns“ in der Forschungslandschaft dazuzugesellen. Hatte die erste Generation der geisteswissenschaftlichen Tierforscherinnen und Tierforscher in den 1990er Jahren den Anspruch erhoben, eine tierische Geschichte schreiben zu wollen, indem sie die Wirkmächtigkeit nichthumaner Akteure in sozialen und historischen Prozessen als zentralen Konstituens gesellschaftlicher Lebenswelten entdeckte, und diesen als Anliegen wissenschaftlicher Forschung formulierte, brachte die zweite Generation der Nullerjahre nach dieser ersten Sondierung, deren Forschungsergebnisse sich in Sammelbänden niederschlugen,i unterschiedliche praxistheoretische, diskursanalytische,
1
akteur-netzwerkorientierte und andere poststrukturalistische Theorieangebote in die Diskussion ein.ii Seit ein, zwei Jahren ist eine Kanonisierung der HAS der zweiten Generation in den Kultur-, Sozial-, Geschichts- und Literaturwissenschaften in Gestalt von Lexika und Handbüchern zu beobachten,iii was die Bilanzierung dieser Forschungsperspektive anzeigt, deren übergeordnetes Anliegen
das
Bestreben
ist,
in
unterschiedlichen
sozialen
Feldern
und
Zeiten
die
Handlungsträgerschaft „tierlicher“ Akteure aufs wissenschaftliche Tapet zu bringen und nachzuweisen. Paradoxerweise liegt gerade darin das große der Dilemma der HAS, bewährte theoretische Perspektivierungen und methodologische Gedankenübungen auf soziale sowie historische Akteure auszudehnen, die lange Zeit außerhalb des wissenschaftliches Blickfeldes standen. Wahrlich ist es ein Verdienst, das menschliche Gestaltungspotential sozialer Welten zu dezentrieren. Das ändert aber nichts daran, dass Konzepte von Handlungsträgerschaft, wie sie zum Beispiel praxeologische Ansätze bieten, lediglich auf andere Akteursgruppen ausgedehnt und nicht-humane Akteure dann doch aus einer genuin anthropozentrischen Warte heraus vereinnahmt werden. Diese Setzung untergräbt das Potential der HAS, was unter anderem stark der fehlenden Rezeption von Literatur aus den Applied Animal Sciences geschuldet ist. Die Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften steht einer interdisziplinären Forschung im Weg, die am eigenen Fakultätsgebäude nicht halt macht. Dabei sind perspektivische Schnittstellen auszumachen, die – wie schwierig und mitunter unüberbrückbar Anliegen und Ansätze sind – ein neues Potential der HAS zutage fördern können. In diese Richtung sollten die Tierforscherinnen und Tierforscher der dritten Generation gehen – um die thematischen und theoretischen Verdienste wissend einen Versuch auf „die andere Seite“ wagen, der die in neukantianischer Tradition und im Zuge der Science Wars aufgebauten disziplinären Fronten überwindet. Der Beitrag verfolgt daher zwei Ziele. Er gibt zunächst einen Überblick über die theoretischen Angebote, derer sich Forscherinnen und Forscher, die ihre Arbeiten innerhalb der HAS verorten, bedienen und veranschaulicht diese anhand einiger exemplarischer Untersuchungen. Das zweite Anliegen, das hier knapper ausfällt, soll einen Ausblick über die Möglichkeiten zukünftiger Forschungen auf dem Gebiet der HAS geben und wird als ein Plädoyer für eine Interdisziplinarität zwischen Geistes- und Naturwissenschaften formuliert. II. Die Perspektiven der HAS – Überblick Die HAS greifen auf ein breit aufgestelltes theoretische Repertoire zurück, das im Folgenden in einem schematischen Überblick vorgestellt wird. Genannt werden einschlägige Arbeiten und deren 2
zentralen Thesen, die den thematischen und perspektivischen Horizont der sozial-, kultur-, literaturund geschichtswissenschaftlich ausgerichteten HAS bilden. 1. Donna Jeanne Haraways „companion animals“ Das Verdienst, Mensch-Tier-Beziehungen als ein nicht nur vom Menschen, sondern auch seinen tierlichen Weggefährten tagtäglich ausgehandeltes Beziehungsgeflecht zu begreifen, kommt wohl wie kaum einer anderen Forscherin der Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Jeanne Haraway zu. Haraway befasst sich mit der Handlungsträgerschaft von nicht-humanen Tieren, die gemeinsam mit ihren humanen Kompagnons soziale Beziehungen aushandelten. Beide, humane und nicht-humane Tiere, bildeten demnach eine „co-constitutive relationship“ iv. Tiere bezeichnet Haraway als „significant others“ v, soziale Bezugspersonen, ohne welche die Gestaltung sozialen Alltags undenkbar sei. In ihrer 2008 erschienenen Studie „When Species Meet“ vi führt sie den Gedanken aus und zeigt, wie Menschen und Tiere ihre Lebenswelt gemeinsam gestalteten. Auch wenn Haraway über Hunde forschte und ihr Konzept der „companion animals“ vii auf beispielsweise landwirtschaftlich genutzte Tiere nur schwer übertragbar ist, formuliert sie eine antiessentialistische Perspektive, die dichotome Konstrukte als Produkte sozialer Handlungen begreift und diese nicht a priori setzt. 2. S. Eben Kirkseys und Stefan Helmreichs „Multi-Species Ethnography“ An den Gedanken einer von Tieren und Menschen gemeinsam gestalteten Alltagswelt knüpfen theoretische und methodologische Überlegungen an, die die Kulturanthropologen S. Eben Kirksey und Stefan Helmreich unter dem Begriff „Multi-Species Ethnography“ viii zusammenfassen. Damit ist ein Forschungsansatz gemeint, der in den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften bislang kaum rezipiert worden ist. Die Multi-Species Ethnography macht sich verstärkt sinnesethnografische Ansätze zunutze und zielt auf ein Verständnis einer lebensweltlichen Verflechtung von humanen und nicht-humanen Akteuren: „Multi-species ethnographers are studying the host of organisms whose lives and deaths are linked to human social worlds […]. Multi-species ethnography centers on how a multitude of organisms' livelihoods shape and are shaped by political, economic and cultural forces.“ix Die Multi-Species Ethnography erhebt dabei den Anspruch, die Begegnungen und Aushandlungen zwischen Menschen und Tieren aus einer Perspektive zu untersuchen, die keinen speziezistischen Standpunkt festschreibt und eröffnet die Möglichkeit eines theoretischen und methodischen Zugangs sowie einer epistemologischen und methodologischen Reflexion der eigenen Forschungspraxis: 3
„The goal in multi-species ethnography should not just be to give voice, agency or subjectivity to the nonhuman – to recognize them as others, visible in their difference – but to force us to radically rethink these categories of our analysis as they pertain to all beings“x. Erkenntnis soll durch eine multisensorielle Wahrnehmung ergänzt werden, indem beispielsweise gefragt wird, wie Menschen ihre Beziehungen zu Tieren sinnlich erfahren und inwiefern hierbei Sinne spezifische „ways of thinking and knowing“ xi darstellen können. Zudem werden sinnliche Wahrnehmungen der Forscherin bzw. des Forschers als erkenntnisleitende Möglichkeiten zur Generierung und Aneignung von Wissen in die Analyse miteinbezogen. Darüber hinaus legt die Multi-Species Ethnography neue Formen der Repräsentation nahe, die zum Beispiel auch Geräusche und Gerüche einbeziehenxii und macht sich unterschiedliche Techniken und Medien der Erhebung
und
Repräsentation
(Fotografie,
Ton-
und
Videoaufnahmen,
Zeichnungen,
Schriftprotokolle) zunutze.xiii 3. Jacques Derridas „animot“ Eine Kritik an anthropozentrischen Perspektiven, wie sie Haraway sowie Kirskey und Helmreich fordern, übt auch der Philosoph und Dekonstruktivist Jacques Derrida. Mit dem Neologismus „Animot“xiv – als Alternative zu „animaux“ und „animal“ – unternimmt er einen begrifflichen Versuch, der generalisierenden und die Vielfalt tierlichen Lebens nivellierenden Semantik zu entgehen und „das Tier“ als Differenzkategorie zum „Menschen“ aufzulösen.xv Wie hegemoniale Wissensordnungen das Tierische, Animalische und Bestialische hervorbringen, zeigt er unter anderem eindrucksvoll am Beispiel der Sektion eines Elefanten unter den Augen des jungen Ludwig XIV.xvi Einzuordnen in sein Konzept der „différance“ xvii, wonach Sprache immer willkürliche Setzungen und eine permanente Aufschiebung von Sinn kennzeichne, fordert Derrida, die Begrenztheit des menschlichen Blickes anzuerkennen und zugleich ein Gespür für das Potential tierlicher Lebenswelten und -verständnisse zu entwickeln, ohne den Anspruch zu erheben, diese ultimativ fassen zu können. Worum es Derrida geht – und dies stellt sich als sein zentraler Beitrag für die HAS heraus –, ist es, dem Tier in seinen Lebensäußerungen zu folgen. Diesen Anspruch, sich „dem Tier“ anzunähern, formuliert Derrida in seiner posthum 2006 erschienenen Studie „L'Animal que donc je suis“xviii, dessen deutsche Ausgabe unglücklich und ein wenig irreführend das „suis“ mit „bin“ und nicht, wie von Derrida intendiert, mit „folgen“ übersetzt. Es geht Derrida eben nicht darum ein Tier zu sein oder ein solches in sich zu entdecken, sondern tierlichen Spuren zu folgen. Wie bei Haraway ist auch für Derrida das Tier kein bloßes Zeichen, sondern konkretes Lebewesen, zu dem und mit dem Menschen ihre Beziehungen aushandeln. Am Beispiel seiner Katze, die 4
Derrida, während er nackt im Band steht, ansieht und dabei ein Gefühl der Scham verspürt, versteht er das Tier wie Haraway als ein „significant other“ xix. Die Gegenwart eines Tieres, das einem seinen Blick aufzwingt, indem es einen ansieht, fordere den Angesehenen heraus, weil es ihn verantwortlich mache. Das Andere werde damit nicht nur zu einer variablen Möglichkeit des Eigenen, sondern fordere nach Anerkennung des Andersseins. 4. Giorgio Agambens „anthropologische Maschine“ Mit Fragen nach der Produktion des Tieres und des Animalischen als eines semantischen und lebensweltlichen Kontrastes zum Menschen und Menschlichen befasst sich auch der Philosoph Giorgio Agamben. Mit der „anthropologischen Maschine“ xx entwickelt er die Idee eines historisch gewordenen gesellschaftlichen Dispositivs, das die Grenzziehung zwischen Mensch und Tier bereits im Inneren des Menschen situiert und produziert. Heute ziehe keine biologische Systematik mehr die Grenzen zwischen Lebewesen, sondern der wissenschaftliche Blick, der das „nackte Leben“ xxi vereinnahme, bringe diese überhaupt erst hervor. Insbesondere angesichts des Siegeszuges mikrobiologischer und genetischer Techniken, die eine Manipulation, Modulation und Produktion von Tierkörpern in einem ungekannten Ausmaß ermöglichen,xxii gewinnen Agambens Überlegungen für die HAS an Relevanz. Er selbst kritisiert eine gesellschaftliche Entwicklung, die sich zunehmend des biologischen Lebens bemächtigt. Paradigmatisch für diese Biopolitik der Moderne im 20. Jahrhundert sei das Lager, das einen rechtsfreien Raum der vollkommenen Besitzergreifung von Leben darstellt, indem das biologische, das nackte Leben vereinnahmt werde. So werde der Mensch seiner Existenz und Eigenschaft als vergesellschaftetes und vergesellschaftendes Wesen letztlich beraubt.xxiii Agamben fordert nun, die anthropologische Maschine, die das Menschliche und Tierische stets durch Trennungen produziert, abzuschalten. „[Das] bedeutet […] nicht, nach neuen, effizienteren und authentischeren Verbindungen zu suchen, als vielmehr, die zentrale Leere auszustellen, den Hiat, der – im Menschen – den Menschen vom Tier trennt, bedeutet also, sich in dieser Leere aufs Spiel zu setzen: Aufhebung der Aufhebung, Shabbat sowohl des Tieres als auch des Menschen.“xxiv Mit dieser Forderung geht der Appell einher, das Leben anzuerkennen und nicht zu vereinnahmen, Formen der Ausgrenzung aufzuheben, um schließlich die Auflösung des Menschen im Zuge seiner Reduzierung auf das bloße Leben ihrerseits aufzulösen. Agambens Überlegungen zielen nicht so sehr auf nicht-humane Tiere. Referenzebene einer Kritik an gesellschaftlichen Dispositiven bleibt der Mensch. Diese seien abzulehnen, wenn der Mensch nicht mehr als politisch-soziales Wesen konzipiert, sondern dessen bloßes Leben vereinnahmt und politisiert werde.
5
5. Joseph Vogls und Eva Johachs „Politische Zoologie“ Die Funktionalisierung „des Tieres“ als Vergleichs-, Differenz- und Referenzkategorie menschlicher Selbstverortung,xxv wie sie Derrida kritisiert und Agamben als grundlegende politische Kritik formuliert,
ist
auch
zentraler
Gegenstand
der
Politischen
Zoologie,
wie
sie
der
Literaturwissenschaftler Joseph Vogl und die Kulturwissenschaftlerin und Biologin Eva Johach, die hier stellvertretend für andere genannt sind, entwerfen.xxvi Politische Zoologie untersucht narrative Strategien und rhetorische Praktiken, die Vorstellungen von nicht-humanen Tieren politisch funktionalisieren und für politische Ideologien instrumentalisieren. So mussten zum Beispiel im 20. Jahrhundert
tierische
Sozietäten
häufig
als
prototypische
Blaupausen
menschlicher
Gesellschaftsutopien herhalten – handelte es sich dabei um nationalsozialistische, kommunistische oder demokratische Kollektiventwürfe. Insbesondere staatenbildende Insekten wie Bienen oder Ameisen wurden zu idealen Projektionsflächen für gesellschaftliche Ideologeme, deren Verwirklichung man in ihnen zu finden glaubte.xxvii Neben historischen Quellen sind auch belletristische Texte Gegenstand der Analyse. Joseph Vogl untersucht zum Beispiel Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ „als Verhandlung einer politischen Pathologie“xxviii. Die Schiffsbesatzung des Walfangschiffs Pequod verwandelt sich auf der Jagd nach dem Weißen Wal in ein von Kapitän Ahabs Monomanie infiziertes und entfesseltes Kollektiv, dessen gemeinschaftlich gewordener Wahn, die Bestie Moby Dick zu töten, jegliche Kritik an dem gewagten und irrwitzigen Vorhaben über Bord werfen lässt, so dass die Besatzung sehenden Auges dem
eigenen
Untergang
entgegensteuert.
Vogls
Melville-Analyse
liefert
eine
literaturwissenschaftliche Erklärungsfolie für gesellschaftliche Prozesse von Mobilisierung und Vermassung, bei der die Aufgabe jeglichen Bedürfnisses nach Individualität als ein Akt der Befreiung gefeiert wird. Das Motiv der Metamorphose, wie sie Vogl für Melvilles Moby Dick herausarbeitet, ist auch zentrales Thema in anderen belletristischen Texten. Ihnen gemeinsam ist, dass sie als Verhandlungen gesellschaftlicher und politischer Ideale wie beispielsweise Freiheit oder Selbstbestimmung gelesen werden können. Zudem stellt die Auflösung tierlicher und menschlicher Speziesgrenzen eine narrative Strategie der Verunsicherung sowie einen rhetorischen Griff erzählerischer
Praxis
dar,
um
den
Blick
auf
die
Brüchigkeit
gesellschaftlicher
Selbstverständlichkeiten zu akzentuieren. Nicht zuletzt moralische Grundwerte erscheinen dabei als äußert fragil und verhandelbar und regen die Leserin bzw. den Leser zu einer Reflexion moralischer Prämissen an. 6. Peter Singers und Tom Regans „Ethiken“ 6
Die Reflexion der eigenen moralischen Setzungen, Wertigkeiten und Normen – ein Prozess, der hier als Ethik verstanden wird – begleitet nicht nur die wissenschaftliche Beschäftigung mit Tieren von Anfang an. Der Umgang mit Tieren fordert moralische Positionierungen in vielen Lebensbereichen geradezu heraus. Über den Umgang mit Tieren – hier lässt sich eine Brücke zu den literarischen Texten schlagen – erfahren wir mehr über uns selbst. Nicht von ungefähr standen am Anfang der HAS ethische Fragen, die erlebte und erfahrene gesellschaftliche Defizite herausforderten. Neben der Ökologie und kognitiven Verhaltensbiologie waren es vor allem die Tierrechtsbewegungen der 1970er Jahre, die Pionierarbeit leisteten, um Mensch-Tier-Beziehungen aufs wissenschaftliche Tapet zu bringen und letztlich die HAS als Forschungsperspektive zu etablieren. Tierethische Konzepte können als Teile übergeordneter ethischer Vorstellungen gedacht werden, wie sie zum Beispiel bio- oder ökozentrische Positionen entwerfen. Formulieren erstere eine Ethik, die sämtlichen Lebewesen einen inhärenten Wert zuschreibt, der hierarchisch geordnet wird, weil das Leben der einen immer vom Leben der Anderen abhängt, xxix bezeichnen letztere den wohl umfassendsten ethischen Ansatz, der allem, sowohl dem Lebendigen als auch Nicht-Lebendigen, einen Wert zuschreibt.xxx Die zentralen ethischen Ideengeber, die heute in den HAS rezitiert werden, sind die Philosophen und Tierrechtsaktivisten Peter Singerxxxi und Tom Reganxxxii, die beide einen grundlegenden Wandel des Menschen im Umgang mit Tieren fordern. Während Singer in Bezug auf Jeremy Bentham einen pathozentrischen und präferenzutilitaristischen Ansatz formuliert,xxxiii demnach jedes leidensfähige Lebewesen schützenswert sei und jede Handlung, die dessen Präferenz entgegenstehe, moralisch falsch, entwirft Regan einen Rechtsansatz, der einem Lebewesen einen inhärenten und unveränderlichen Wert beimisst. Dies treffe auf „Subjects-of-a-Life“ xxxiv zu, zu denen Regan alle bewusst und intentional handelnden Lebewesen rechnet. Zwar stellen Singer und Regan die Bedürfnisse und Rechtsstatus von Menschen nicht über diejenigen von Tieren. Allerdings ist für sie nicht so sehr das Tier, sondern der Mensch im Tier schützenswert. Der Philosoph und Tierethiker Herwig Grimm spricht daher von einem „nicht-speziesistischen Anthropozentrismus“ xxxv Singers und Regans. Grimm ist es auch, der drei Generationen von Tierethikerinnen und Tierethikern unterscheidet, deren Anfang Singers Präferenzutilitarismus und Regans Rechtsansatz markieren. Beide entwarfen als erste die Koordinaten der heutigen Tierethik und formulierten eine ethisch begründete Forderung einer als moralisch verwerflich klassifizierten Praxis des Umgangs mit wirtschaftlich oder medizinisch genutzten Tieren. Hatten Singer und Regan Tiere zunächst als moralische Subjekte bestimmt, stehen ethische Konzepte der zweiten Generation von Tierethikerinnen und Tierethikern ganz im Zeichen ihrer Anwendungsorientierung.
Biowissenschaften
fordern 7
ethische
Dimensionierungen
und
Positionierungen geradezu heraus und verlangen nach konkreten Handlungsanweisungen in der Praxis.xxxvi Dabei nehmen Konzepte von Animal Welfare das einzelne Tier als Bezugspunkt und haben (kurzfristig) dessen Wohlbefinden und (langfristig) dessen Wohlergehen zum Ziel. xxxvii Zentrale theoretische Angebote einer anwendungsorientierten Tierethik begreifen das einzelne Tier als ein bedürfnisorientiertes Lebewesen mit spezifischem Interesse und Verhalten (TelosKonzept),xxxviii zielen auf dessen körperliche Unversehrtheit und ein selbstgestaltetes Leben (Integritäts-Konzept)xxxix oder betonen die Verantwortlichkeit und Gewissenhaftigkeit des Menschen gegenüber Tieren, die in ihrem Anderssein anerkannt werden sollen (Würde-Konzept)xl. Wie kreativ und erstrebenswert diese tierethischen Theoreme auch sind und wie begrüßenswert ihre anwendungsorientierte Umsetzung, so drängt sich die Frage auf, inwiefern die Forderung, das Tier in seinem Anderssein kompromisslos anzuerkennen, nicht immer anthropologischer Provenienz bleibt. Hinzu kommt, dass das Spektrum tierethischer Vorstellungen breit gefächert ist. Die Positionen reichen von der Maxime nach einem generellen Verbot von Tiernutzungen – seien diese zum Beispiel wirtschaftlich oder medizinisch motiviert –, bis hin zu der Forderung, ethische Konzepte anwendungsorientiert an den „Problemen sozialer Realitäten“xli auszurichten. Gerade im letzteren Fall können die empirischen Kulturwissenschaften ihren Beitrag leisten, wenn sie diejenigen, die Tiere landwirtschaftlich nutzen, in den Blick nehmen, ihre Wahrnehmungs-, Bedürfnis- und Erwartungshorizonte akzentuieren und dabei das Spannungsfeld untersuchen, innerhalb dessen diese Menschen sich zu positionieren haben – zwischen ökonomischen Zwangslagen und dem persönlichen Bestreben, die Formen der Nutzungen an den Bedürfnissen der Tiere auszurichten. 7. Bruno Latours und Michel Callons „Actor-Network Theory“ Dass unsere soziale Alltagswelt nicht nur das Produkt ausschließlich menschlichen Handelns ist – eine Perspektive, auf die tierethische Konzeptionen immer wieder verwiesen haben –, steht auch im Kern der Actor-Network Theory,xlii die in den letzten Jahren wohl wie kaum ein anderes theoretisches Angebot in den Kulturwissenschaften rezipiert worden ist. Auch für die HAS sind deren Begründer Bruno Latour und Michel Callon Ideengeber für eine spezifische Perspektivierung von Mensch-Tier-Verhältnissen. Ihr Verständnis von der sozialen Welt als eines sich wechselseitig bedingenden Geflechtes aus Akteuren und Aktanten öffnet den Handlungsbegriff für nicht-humane Akteure und macht es möglich, unterschiedlichste Handlungsträgerinnen und Handlungsträger in den Blick zu nehmen. Der Fokus liegt dabei nicht so sehr auf der oder dem Einzelnen, sondern vielmehr auf permanent in Aushandlungen befindlichen Beziehungsgeflechten. Auf diese Forderung nach einer „symmetrischen Anthropologie“xliii verweist bereits das Vokabular Latours und Callons, 8
die unter anderem von „Propositionen“ und „Assoziationen“ xliv sprechen, um ihre Soziologie der Relationen auf ein neues begriffliches Fundament zu stellen. Latour und Callon begreifen die soziale Welt als ein Netzwerk, das unterschiedlichste Akteure und Aktanten
erschaffen,
indem
sie
Beziehungen
miteinander
eingehen.
Um
diese
Aushandlungsprozesse zu verstehen, entwickelten sie eine Methode der Übersetzung. So zeigt Callon am Beispiel der Versuche, Kammmuscheln in den 1970er Jahren an der französischen Atlantikküste zu kultivieren, inwiefern diese als ein Übersetzungsprozess gelesen werden können, „in dessen Verlauf die Identität der Akteure, die Möglichkeit der Interaktion und der Handlungsspielraum ausgehandelt und abgegrenzt werden.“xlv Mit ihrem Blick auf Relationalität kritisieren Callon und Latour die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Natur ebenso wie zwischen Menschen, Tieren und Dingen und akzentuieren die Produktion von Wissen und Wissensordnungen. Ein Verständnis für die Genese und Fragilität von Selbstverständlichkeiten und die Annahme, dass nichts natürlich ist, sondern ein Produkt von Praktiken, Praxisgeflechten und historisch geworden, entspricht dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Europäischen Ethnologie. Für die HAS liegt der Beitrag der Actor-Network Theory in ihrem Anspruch, die Handlungsträgerschaft auf nicht-humane (sowie auch nichtlebendige) Akteursgruppen auszudehnen, und der Welt mit einer neuen Sensibilität und mit Respekt zu begegnen, wie Latour unter anderem im Entwurf seiner „politischen Ökologie“ und mit der Idee eines „Parlaments der Dinge“xlvi fordert. 8. Jeffrey Goldsteins „Emergenz“ Die Vorstellung der Welt als eines Netzwerkes, das unterschiedlichste Akteure knüpfen, wird wohl kaum radikaler gedacht als in schwarm- bzw. emergenztheoretischen Modellen, die den, die oder das Einzelne als Handlungsträgerin bzw. Handlungsträger suspendieren. Ausgehend von der Definition von Emergenz, die der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Goldstein aufgestellt hat, werden Schwärme als unvorhersehbare, unberechenbare, kohärente, dynamische, evolvierende und immer auch anschauliche Phänomene verstanden.xlvii Schwärme sind epistemische und praktische Modulationen des Sozialen. Sie stellen figurative Möglichkeiten des Handelns und Denkens dar, die häufig ein Versprechen nach wünschenswerten aber auch bedrohlichen Alternativen begleitet. Schwärme werden dabei sowohl als postmoderne Erscheinung als auch historische Realität begriffen. Sie stellen Kollektive ohne Zentrem dar, die kooperative Lösungen anstreben und Kontrollprobleme evozieren.xlviii Wie die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn und der Literaturwissenschaftler Lucas Marco Gisi treffend bemerken, sind Schwärme „Modelle alternativer Steuerungslogiken. Als Kollektive ohne 9
Zentrum sind sie freier, kreativer und effizienter – aber auch bedrohlich und unkontrollierbar“xlix. Neben Eva Horn und Lucas Marco Gisi ist die Rezeption schwarmtheoretischer Modelle im deutschsprachigen Raum vor allem der Kulturwissenschaftlerin und Biologin Eva Johach zu verdanken. Johach akzentuiert am Beispiel von „Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaften“l den Wandel der Wahrnehmung von Schwärmen und positioniert aus einer historischen Perspektive das Emergenzmodell im Rahmen einer politischen Zoologie.li Diese hier recht abstrakten Überlegungen werden anhand einiger konkreter Beispiele anschaulicher. In allen Fällen geht es um Kulturtechniken der Strukturierung von sogenannter „moreness“ lii. Massenpsychologische Schriften des 19. Jahrhunderts, um ein historischer Beispiel zu nennen, erklärten die Mobilisierung von Massen mit Phänomenen einer emotionalen Ansteckung, erlebnisorientierten Spontaneität, beschrieben die Unvorhersehbarkeit dezentralisierter Kollektive und bedienten sich damit emergenztheoretischer Modelle avant la lettre. liii Auch literarische Verarbeitungen des Schwarmphänomens und seiner Unkontrollierbarkeit zielen auf dessen ängstigende Wirkung, wie Michael Crichton, Frank Schätzing und insbesondere Stanisław Lem zeigen.liv Sie beschreiben Szenarien einer nanotechnischen Evolution, die sich verselbständigt und der menschlichen Kontrolle entgleitet. Schwärme werden hier dezidiert als dazulernende Kollektive gedacht, die Probleme lösen und deren kooperatives Handeln zu unvorhersehbaren Folgen führt. Leben wird dabei als Struktur und als ein spezifisches Organisationsprinzip gedacht, lv das ein netzwerktheoretisches Modell, wie sie die Actor-Network-Theory entwirft, auf die Spitze treibt. Ein weiteres Beispiel für schwarmtheoretische Überlegungen gibt das Phänomen des Crowdsourcing, das eine spezifische Form der Problemlösung im Internetzeitalter bezeichnet. Dabei adressiert eine Person, die nach einer Problemlösung sucht, über eine Internetplattform eine anonyme Menge an Internetnutzerinnen und -nutzern. lvi Crowdsourcing beruht auf der Annahme einer „dispersed knowledge“lvii, eines gesellschaftlich verteilten Wissens, und versucht dieses zu mobilisieren. Welche historischen oder gegenwärtigen Beispiele herangezogen werden, um emergenztheoretische Modelle zu veranschaulichen, die Schwarmtheorie bietet eine neue Möglichkeit der Perspektivierung sozialer Phänomene. Ebenso wie andere theoretischen Angebote der HAS können auch Schwarmmodelle ein anderes Verständnis wissenschaftlichen Denkens aufzeigen. Überhaupt bieten die HAS ein breites Theoriespektrum an, das kulturwissenschaftliche Perspektiven verändern und zudem neue Themenfelder erschließen kann. Dennoch bleiben kultur-, sozial-, literatur- und geschichtswissenschaftliche Forschungen innerhalb eines geisteswissenschaftlich gerahmten Horizontes verhaftet. Dies kann keinesfalls den theoretischen und perspektivischen Beitrag der 10
zahlreichen Studien schmälern. Ohne in Nörgelei oder eine jungakademische Beflissenheit der Empörung zu verfallen, soll abschließend ein Ausblick und zugleich ein Appell formuliert werden, welchen Weg die HAS beschreiten könnten und vielleicht auch sollten. Der Anspruch, das Soziale neu zu denken und nicht-humane Akteure als handelnd und an der Gestaltung unserer Lebenswelt als aktiv Mitwirkende zu denken, ist innerhalb des allgemein als geisteswissenschaftlich charakterisierten und abgesteckten Horizontes gesättigt. Wenn die HAS ihr theoretisches und methodologisches Repertoires erweitern wollen, erscheint eine Zusammenarbeit mit der Ethologie, Veterinärmedizin und den Applied Animal Sciences unabdingbar. Möglichkeiten und Grenzen einer Kooperation werden abschließend als Ausblick für zukünftige Forschungen der HAS genannt. III. Eine Zukunft der HAS – Ausblick Die Frage nach den (Un-)Möglichkeiten einer perspektivischen Vernetzung kultur- und naturwissenschaftlicher Zugänge stellt eine zentrale Herausforderung und Notwendigkeit dar, den Blickhorizont der Human-Animal Studies neu auszurichten und dieses sich ohnehin als interdisziplinär begreifende Forschungsfeld fortzuschreiben. Abschließend seien daher zwei Gedanken formuliert, die mögliche Schnittpunkte kultur- und naturwissenschaftlicher Perspektiven aufzeigen und zu einem interdisziplinären Dialog anregen sollen. Die Möglichkeit eines kooperativen Ansatzes bietet unter anderem die verstärkte Hinwendung (verhaltens)biologischer Studien zur reflexiven Perspektivierung des Forscherinnen- und Forscherstandpunktes, mit der die Konstruktivität von Datenerhebungen kritisch beleuchtet werden soll. Diese Frage nach der subjektiven Färbung des wissenschaftlichen Forschungsprozesses steht auch spätestens seit der Krise der ethnographischen Repräsentation sowie dem linguistic turn im Mittelpunkt der Debatte in den Kulturwissenschaften nach den Möglichkeiten und Grenzen repräsentativer Praktiken.lviii Ein weiterer Schnittpunkt zwischen Natur- und Kulturwissenschaften eröffnet sich über interaktionistische und praxistheoretische Konzeptualisierungen. So akzentuieren zum Beispiel nutztierethologische Forschungen verstärkt theoretische Modelle, die Beziehungsmuster und -qualitäten in nicht-humanen sozialen Gruppen mit einem Fokus auf Interaktionen untersuchen. lix Eine
solche
Perspektivierung
schlägt
eine
Brücke
zu
kulturwissenschaftlichen
Konzeptualisierungen von Agency, die die Konstituierung von sozialen Beziehungsgeflechten jenseits einer akteurszentrierten Handlungsträgerschaft untersuchen und Interaktionen als verhandeltes und verhandelbares Dazwischen forcieren.lx Die
Perspektivierung
von
nicht-humanen
Tieren
als
gestaltende
Akteure
sozialer
Beziehungsgeflechte ist vermutlich die zentrale Schnittstelle einer interdisziplinären Kooperation 11
zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Daneben stellen ethische Fragen und Dimensionierungen ein Themenfeld dar, das eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nahelegt. In den Applied Animal Sciences sind Fragen nach der ethischen Rechtfertigung von unterschiedlichen Formen einer wirtschaftlichen Tiernutzung von einer vermutlich noch nie zuvor dagewesenen Relevanz,
Herausforderung
und
Brisanz.
Eine
historische
und
kulturwissenschaftliche
Dimensionierung ethischer Fragestellungen und Forderungen, wie sie unter anderem im Rahmen des Animal Welfare-Konzepts erhoben werden, kann einer epistemologischen Tiefenbohrung gleichkommen, die die Genese und den Wandel erkenntnistheoretischer Selbstverständlichkeiten offenlegt
und
nachvollziehbarer
gestaltet.
Mit
Blick
auf
die
wissenschaftlichen
und
lebensweltlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster von Tiernutzerinnen und Tiernutzern können Kulturwissenschaften ethische Fragen und Herausforderungen, die sich diesen stellen, und damit die „Probleme sozialer Realitäten“ lxi stärker lebensweltlich und alltagskulturell angehen. Zudem können Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler ihre Expertise in gesellschaftspolitische Debatten einbringen, die an Brisanz und Tragweite kaum zu überschätzen sind.
Globale
Diskrepanzen
in
der
Verfügbarkeit
von
Lebensmitteln,
die
zwischen
verschwenderischem Überfluss und eklatantem sowie zugleich vermeidbarem Mangel schwanken, monopolisierte Ernährungsregime, deren ökonomische Prämissen Notwendigkeiten einer Daseinsvorsorge fahrlässig gefährden oder bewusst in Kauf nehmen, katastrophale ökologische Folgen einer an wirtschaftlicher Effizienz und Rendite ausgerichteten Nahrungsmittelproduktion oder die Etablierung von Arbeitsbedingungen, die selbstverständlich geglaubte Errungenschaften der Arbeitssicherheit, Vertragsfreiheit und geregelten Entlohnung trotzen und neue Formen der Ausbeutung von Mensch und Tier etablieren, sind brennende Herausforderungen unserer Zeit, die eine wissenschaftliche Positionierung notwendig machen und in Anbetracht derer ein akademisches Stillschweigen kaum gerechtfertigt erscheint. In diesen perspektivischen Schnittpunkten von Natur- und Kulturwissenschaften eröffnet sich die Möglichkeit zu einem interdisziplinären Dialog. Sicherlich wäre es naiv zu glauben, beide mehr oder weniger getrennten wissenschaftlichen Welten auf einmal zusammenführen zu können. Interdisziplinarität stampft man nicht aus dem Boden. Wissenschaftliches Wagnis, vielleicht auch Frust und nicht zuletzt ein Bedürfnis nach perspektivischer Innovation setzt ein solches Vorhaben voraus. Gleichwohl bremsen diesen Optimismus erhebliche wissensperspektivische und erkenntnistheoretische
Hürden.
Nicht
nur
unterschiedliches
Wissen
und
divergierende
Wissenshorizonte stehen Kooperationen im Weg. Überhaupt gilt es zunächst eine gemeinsame Sprache zu finden und gemeinsame Ziele einer interdisziplinären Forschung(sperspektive) zu formulieren und zu etablieren. 12
i
Vgl. Münch, Paul (Hrsg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses. Paderborn [u.a.] 1998. ii Konferenzen, Workshops, Summer schools und Forschungsinitiativen fördern seit einigen Jahren den wissenschaftlichen Austausch und vernetzen die Forschungslandschaft. Als Beispiele seien hier genannt: die zwischen 2012 und 2014 von der VolkswagenStiftung geförderte „Würzburg Summer School for Cultural and Literary Animal Studies“, das seit 2011 einmal jährlich an unterschiedlichen Orten stattfindende „Forum Tier und Geschichte“, das Berliner Forschungsnetzwerk „Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies“ und die an der Universität Hamburg angesiedelte „Group for Society and Animals Studies“ (http://www.ndl1.germanistik.uniwuerzburg.de/forschung/nachwuchsnetzwerk_cultural_and_literary_animal_studies/summer_school_clas/; https://www.univie.ac.at/tiere-geschichte/; http://www.chimaira-ak.org/; http://www.wiso.unihamburg.de/projekte/animals-and-society/die-gsa/, aufgerufen 13.2.2016). iii Vgl. Borgards, Roland (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2015; Ferrari, Arianna, Klaus Petrus (Hrsg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. Bielefeld 2015. iv Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago 2003, S. 12. v Vgl. ebd., S. 7-10. vi Vgl. dies.: When Species Meet. Minneapolis 2008. vii Vgl. dies.: The Companion Species Manifesto, S. 12-14. viii Vgl. Kirksey, S. Eben, Stefan Helmreich: The Emergence of Multi-Species Ethnography. In: Dies.: Cultural Anthropology, Special Issue: Multi-Species Ethnograpy 25, 2010, S. 545-576. ix Ebd., S. 545. x Ebd., S. 562-563. xi Ingold, Tim: Worlds of Sense and Sensing the world: A response to Sarah Pink and David Howes. In: Social Anthropology/Anthropologie Sociale 19, 2011, 3, S. 313-317, hier S. 316. xii Vgl. Stoller, Paul: The Taste of Ethnographic Things: The Senses in Anthropology. Philadelphia 1989; Pink, Sarah: Doing Sensory Ethnography. Los Angeles 2009. xiii Vgl. Fijn, Natasha: A Multi-Species Etho-Ethnographic Approach to Filmmaking. In: Humanities Research XVIII, 2012, 1, S. 71-88. xiv Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin [L'animal que donc je suis]. Wien 2010 [Paris 2006], S. 68. xv Vgl. hierzu auch die Kritik der Ökofeministin und Tierrechtlerin Carol J. Adams, die sich in intersektionalen Analysen mit Verschränkungen von gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen von Frauen und Tieren befasst. Vgl. Adams, Carol J.: The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarian Critical Theory. Cambridge 1990. xvi Vgl. Derrida, Jacques: The Beast & the Sovereign, Bd. 1, Eleventh Session, March 13, 2002. Chicago 2009, S. 276304. xvii Vgl. Ders.: Differance. In: Margins of Philosophy. Chicago 1982, S. 1-28. xviii Vgl. Ders., Das Tier, das ich also bin (wie Anm. 14). xix Haraway, The Companion Species Manifesto (wie Anm 5), S. 7-10. xx Vgl. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M. 2003, S. 47. xxi Vgl. ders.: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frankfurt/M. 2002, S. 11-22. xxii Vgl. Nieradzik, Lukasz: Geschichte der Nutztiere. In: Borgards, Tiere (wie Anm. 3), S. 121-129, hier S. 127. xxiii Vgl. Agamben, Homo sacer (wie Anm. 21), S. 175-189. xxiv Ders., Das Offene (wie Anm. 20), S. 100. xxv Wie selbstverständlich und wirkmächtig die anthropologische Differenz ist, veranschaulicht Jean Baudrillard beispielhaft anhand der Irritationen, die allein die Vorstellung, ein Tier hinzurichten, auslöst. Vgl. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982, S. 263-265. xxvi Vgl. Vogl, Joseph: Das charismatische Tier. In: Ders., Anne von der Heiden (Hrsg.): Politische Zoologie. Zürich/Berlin 2007, S. 119-130; Johach, Eva: Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaften. In: Horn, Eva, Lucas Marco Gisi (Hrsg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld 2009, S. 203-224. xxvii Vgl. zum Beispiel: Escherich, Karl: Termitenwahn. Eine Münchener Rektoratsrede über die Erziehung zum politischen Menschen. München 1934, S. 11-20; Gastev, Alexej Kapitanovic: Über die Tendenzen der proletarischen Kultur (Moskau 1919). In: Lorenz, Richard (Hrsg.): Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917-1921). Dokumente des Proletkults. München 1969, S. 57-63; Kelly, Kevin: Hive Mind. In: Ders.: Out of Control. The New Biology of Machines, Social Systems and the Economic World. Reading 1994, S. 7-13 und 18-25; Seeley, Thomas D.: Honey Bee Democracy. Princeton 2010, S. 1-8. xxviii Vogl, Das charismatische Tier (wie Anm. 26), S. 125. xxix Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ sei hier als vermutlich bekanntestes Beispiel genannt. Vgl. Schweitzer, Albert: Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, 6. Aufl. München 1991. xxx Ein prominenter Vertreter der ökozentrischen Ethik ist Aldo Leopold mit seinem Konzept einer „Land-Ethik“. Vgl. Leopold, Aldo: Am Anfang war die Erde. Pladoyer zur Umweltethik/A Sand County Almanac. Darmstadt 1992, S. 149-177. xxxi Vgl. Singer, Peter: Animal Liberation. New York 1977. xxxii Vgl. Regan, Tom: The Case for Animal Rights. London [u.a.] 1984.
xxxiii
Zentral für die pathozentrische Perspektive ist die These, die Jeremy Bentham 1789 formulierte: „[T]he question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?“ Sie steht im Zentrum einer Ethik, die das Leiden als Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier akzentuiert. Hier zit. nach: Grimm, Herwig: Benthams Erben und ihre Probleme – Zur Selbstreflexion einer Ethik der Mensch-Tier-Beziehung. In: Ders., Jochen Ostheimer, Michael Zichy (Hrsg.): Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage nach dem Gegenstand der Angewandten Ethik. Freiburg im Breisgau/München 2012, S. 436-475, hier S. 439. xxxiv Hier nach: ebd., S. 448-451. xxxv Ebd., S. 446. xxxvi Vgl. ebd., S. 458-459. xxxvii Animal Welfare umfasst die Forderungen nach körperlicher Unversehrtheit, psychischem Wohlbefinden und der Möglichkeit, ein als natürlich definiertes Verhaltensrepertoire ausleben zu können. Vgl. Broom, Donald M.: Animal Welfare defined in Terms of Attempt to cope with the Environment. In: Acta Agriculturae Scandinavica, Section A, Animal Science 27, 1996, S. 22-29; Broom, Donald M.: Animal Welfare. Concepts and Measurement. In: Journal of Animal Science 69, 1991, 4167-4175 (http://www.uesc.br/cursos/pos_graduacao/mestrado/animal/bibliografia2011/selene_artigo1_animalwelfare.pdf, aufgerufen 14.2.2016); Duncan, Ian J.H.: Animal Welfare defined in Terms of Feelings. In: Acta Agriculturae Scandinavica, Section A, Animal Science 27, 1996), S. 29-36; Fraser, Andrew F., Donald M. Broom: Farm Animal Behaviour and Welfare. New York 1990; Fraser, David: Assessing Animal Welfare at the Farm and Group Level. The Interplay of Science and Values. In: Animal Welfare 12, 2003, S. 433-445. Einen Überblick gibt: Christoph Winckler: Tierwohl in der Nutztierhaltung aus tierschutzwissenschaftlicher Perspektive. In: Nieradzik, Lukasz, Brigitta Schmidt-Lauber (Hrsg.): Ökonomien tierischer Produktion. Mensch-Nutztier-Beziehungen in industriellen Kontexten. Wien [erscheint im Dezember 2016]. xxxviii Vgl. Rollin, Bernard: The Frankenstein Syndrome. Ethical and Social Issues in the Genetic Engineering of Animals. Cambridge 1995, S. 159. xxxix Vgl. Rutgers, Bart/Heeger, Robert: Inherent Worth and Respect for Animal Integrity. In: Dol, Marcel [u.a.] (Hg.): Recognizing the Intrinsic Value of Animals beyond Animal Welfare. Assen 1999, S. 41-51. xl Vgl. Kunzmann, Peter: Die Würde des Tieres – zwischen Leerformel und Prinzip. Freiburg/München. Vgl. auch die Ausführungen des Philosophen Emmanuel Levinas, der in der Pflicht, Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, eine conditio sine qua non des Menschseins erkennt und als eine soziale Erbsünde versteht, deren Schuld man andauernd zu begleichen habe. Zugleich sieht Levinas die anthropologische Differenz in dem nur Menschen vorbehaltenen Vermögen, Verantwortung übernehmen und die eigene Freiheit durch Anerkennen der Freiheit des Anderen selbst begrenzen zu können. Vgl. Levinas, Emmanuel: „Nom d'un chien“ oder das Naturrecht. In: Von Miething, Frank, Christoph von Wolzogen (Hrsg.): Apres vous. Denkbuch für Emmanuel Levinas zum 100. Geburtstag, Frankfurt/M. 2006, S. 55-59; ders.: The Name of a Dog, or Natural Rights. In: Ders. (Hrsg.): Difficult Freedom: Essays on Judaism. Baltimore 1990, S. 49-50. xli Gemeint sind „reale Probleme, die auch von Nichtphilosophen als lösungsbedürftig erkannt werden“, „sie resultieren aus einer Verunsicherung im Handeln und haben normativen Charakter“, „sie sind auf nicht triviale Weise mit empirischen Fragen verknüpft, die oft nicht von Ethikern beantwortet werden können“, und „sie sind in Handlungszusammenhänge eingebettet und verlangen nach einer praktischen Lösung.“ Grimm, Herwig: Ethik in der Nutztierhaltung: Der Schritt in die Praxis. In: Ders., Carola Otterstedt (Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Göttingen 2012, S. 276296, hier S. 282. xlii Zur Einführung: Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie. Frankfurt/M. 2010. xliii Vgl. Callon, Michel: Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung. Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht. In: Belliger, Andréa, David J. Krieger (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 135-174, hier S. 142-143; Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt/M. 2009. xliv Vgl. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt/M. 2008, S. 286 und 297. xlv Callon, Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung (wie Anm. 43), S. 146. xlvi Vgl. Latour, Das Parlament der Dinge (wie Anm. 44). xlvii Vgl. Goldstein, Jeffrey: Emergence as a Construct: History and Issues. In: Emergence 1, 1999, 1, S. 49-72; Horn, Eva: Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. In: Horn, Gisi, Schwärme (wie Anm. 26), S. 7-26. xlviii Vgl. zum Beispiel: Goldstein, Emergence (wie Anm. 47), S. 50; Horn, Eva: Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction. In: Horn/Gisi, Schwärme (wie Anm. 26), S. 101-124, hier S. 104-106 und 109; Kelly, Kevin: Hive Mind. In: Ders.: Out of Control. The New Biology of Machines, Social Systems and the Economic World. Reading 1994, S. 7-25, hier S. 22-24. xlix Horn/Gisi, Schwärme (wie Anm. 26), [Klappentext]. l Vgl. Johach, Eva: Genealogien sozialer Organisation in Insektengesellschaften. In: Horn/Gisi, Schwärme (wie Anm. 26), S. 203-224. li Unter anderem mit Verweis auf Alfred Espinas und Jules Michelet zeichnet sie den Wandel der Wahrnehmung von Bienen nach und entwirft eine emergenztheoretisch fundierte Gesellschaftsanalyse. Vgl. ebd., S. 209-211. lii Vgl. Kelly, Hive Mind (wie Anm. 48), S. 21.
liii
liv
lv
lvi
lvii lviii
lix
lx
lxi
Vgl. Gamper, Michael: Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge. In: Horn/Gisi, Schwärme (wie Anm. 26), S. 69-84, hier S. 75-84. Vgl. Crichton, Michael: Beute, 3. Aufl. München 2002, S. 5-12, 157-167, 182-194, 434-446; Lem, Stanisław: Der Unbesiegbare. Utopischer Roman. Frankfurt/M. 1964/67, S. 118-131, 146-152 und 218-222; Schätzing, Frank: Der Schwarm, 28. Aufl. Köln 2007, S. 508-513, 717-722, 731-733, 770-776. Vgl. Giessmann, Sebastian: Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation. In: Horn/Gisi, Schwärme (wie Anm. 26), S. 163-182, hier S. 170; Horn, Das Leben ein Schwarm (wie Anm. 48), S. 103. Vgl. Gegenhuber, Thomas: Crowdsourcing. Linz 2013, S. 4-18, 27-29; Howe, Jeff: The Rise of Crowdsourcing. 2006 (http://www.wired.com/wired/archive/14.06/crowds.html, aufgerufen 14.2.2016). Gegenhuber, Crowdsourcing (wie Anm. 56), S. 12-14. Vgl. Berg, Eberhard, Martin Fuchs (Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1999. Vgl. Croft, Darren P., Richard James und Jens Krause: Exploring Animal Social Networks. Princeton 2008; Whitehead, Hal: Analyzing Animal Societies. Quantitative Methods for Vertebrate Social Analysis. Chicago 2008. Fallbeispiele geben: Connor, Richard, Michael Heithaus und L. M. Barre: Complex Social Structure, Alliance Stability and Mating Access in a Bottlenose Dolphin ‘Super-Alliance’. In: Proceedings of the Royal Society of London, Series B: Biological Sciences 268, 2001, 1464, 263-267; Croft, Darren P., Jens Krause und Richard James: Social Networks in the Guppy (Poecilia reticulata). In: Proceedings of the Royal Society of London, Series B: Biological Sciences 271, 2004, 516-519; Lusseau, David: The Emergent Properties of a Dolphin Social Network. In: Proceedings of the Royal Society of London, Series B: Biological Sciences 270, 2003, 186-188. Beispielhaft ist Bruno Latours und Michel Callons netzwerktheoretisches Modell, das das „Dazwischen“ handlungspraktischer Perspektiven in begrifflichen Theoremen wie „Assoziation“ und „Proposition“ verdichtet. Vgl. Latour, Das Parlament der Dinge (wie Anm. 44). Vgl. Grimm, Ethik in der Nutztierhaltung (wie Anm. 41).
Comments
Report "Quo vadis, Human-Animal Studies? Bilanz, Überblick und Ausblick eines interdisziplinären Forschungsfeldes "