Freie Universität Berlin, Wintersemester 14/15 Institut für Romanistik Proseminar 17024: „Das Frauenbild in der französischen Literatur um 1900“ Dr. Paola Traverso
Portrait de Dora als gelungenes Beispiel der écriture féminine? — Widersprüche und Kritik.
Vorgelegt von: Jana Treffler, 12.04.15 Matrikelnr.: 4765453 Mail:
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Jana Treffler
Gliederung 1. Einleitung…………………………………………………………………………….S. 3
2. Cixous écriture féminine……………………………………………………………..S. 4 2.1. Voraussetzungen und Thesen……………………………………………………..S. 4 2.2. Weibliches Schreiben — hysterisches Schreiben…………………………………S. 7
3. Cixous Umsetzung der écriture féminine in „Portrait de Dora“………………………S. 8
4. Hysterie und écriture féminine als weiblicher Protest?…….…………………………S.11
5. Fazit..………………………………………………………………………………….S. 13
Literaturverzeichnis………………………………………………..………………………S. 15
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Jana Treffler
Portrait de Dora als gelungenes Beispiel der écriture féminine? — Widersprüche und Kritik
1. Einleitung „Ich bin keine Feministin“1, erklärte Hélène Cixous einst und dennoch gilt sie als eine der wichtigsten Vertreterinnen des zweiten französischen Feminismus in den 70er und 80er Jahren. Sie veröffentlichte um die 40 Werke, von denen die meisten als fiktional eingeordnet werden können, aus denen aber dennoch eine philosophische, feministische Theorie hervorgeht. Insbesondere ihr Aufruf an alle Frauen sich zu schreiben, sich in die Geschichte einzuschreiben, „weibliches Schreiben“ zu praktizieren, hat im Frankreich der 70er Jahre und auch im amerikanischen Feminismus große Aufmerksamkeit, aber auch Kritik erfahren. In ihrem Manifest der écriture féminine, dem 1976 erschienenen Essay „Le Rire de la Méduse“, schreibt sie: „il faut que la femme s’écrive : il faut que la femme écrive de la femme et fasse venir la femme à l’écriture […].“2. Die Intention der écriture féminine in Cixous Sinne ist es, die vorherrschende phallogozentrische Ideologie des westlichen Diskurse zu (zer-)stören, die Frauen unterdrückt und zum Schweigen bringt3. Nicht nur in „Le Rire de la Méduse“, sondern auch in ihrem in Zusammenarbeit mit Catherine Clément verfassten Text „La Jeune Née“ (1975), entwickelt Cixous ihre Vorstellung davon, wie ein weibliches Schreiben aussehen müsste, um mit den repressiven Strukturen der patriarchalischen symbolischen Ordnung zu brechen und der Frau eine eigene Sprache zu geben. Für Cixous hat dieser weibliche Diskurs Ähnlichkeiten mit der Ausdrucksweise der Hysterie. Das wird vor allem in ihrem Drama „Portrait de Dora“ deutlich, in dem Cixous Freuds „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“4 so abwandelt und uminterpretiert, dass die sich wegen hysterischer Symptome in Behandlung befindende Patientin Dora schließlich zur Heldin und Rebellin gegen die patriarchalische Deutungshoheit avanciert. Doch wie erfolgreich kann Cixous ihre écriture féminine in „Portrait de Dora“ umsetzen, bleibt sie im Rahmen des
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Moi, T. (1989): S. 122. Cixous, H. (1975): S. 39. 3 Vgl. Moi, T. (1989): S. 124. 4 Freud, S. (1971). 2
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Jana Treffler Konventionellen, oder bricht sie erfolgreich aus dem maskulinen Diskurs aus? Und in wie weit kann die Hysterie als Form des feministischen Protests angesehen werden? Im Folgenden werde ich Cixous Auffassung der écriture féminine, wie sie in „Le Rire de la Méduse“ und „La Jeune Née“ beschrieben ist, wiedergeben um dann der Frage nachzugehen, ob „Portrait de Dora“ eine gelungene Umsetzung dieses Konzepts ist. Zuletzt werde ich einige Widersprüche in Cixous Theorie untersuchen sowie mögliche Kritik an der Idolisierung der Hysterikerin aufzeigen.
2. Cixous écriture féminine
2. 1. Vorraussetzungen und Thesen Um Cixous Vorstellung der écriture féminine erfassen zu können, ist es notwendig, sich mit Derridas Beiträgen zur Sprachtheorie sowie Lacans Weiterentwicklungen der Psychoanalyse auseinanderzusetzen. Insbesondere Derridas Begriff der différance ist von großer Bedeutung für Cixous Theorie. Die différance ist gewissermaßen eine Kritik an der binären Logik des logozentrischen Diskurses und wichtiger Bestandteil der Dekonstruktion. Demnach entsteht Bedeutung nicht allein durch die Opposition zu einem Begriff mit gegensätzlicher Bedeutung, sondern durch eine ständige Verschiebung von Bedeutung durch die Anwesenheit bzw. Abwesenheit anderer Signifikanten5. Diese Auffassung bricht mit dem logozentrischen Diskurs, in dem angenommen wird, dass in jedem Wort dessen Bedeutung zu jeder Zeit in gleicher Weise anwesend ist (Metaphysische Präsenz). Cixous übt zu Beginn des von ihr verfassten Teils von „La Jeune Née“ebenfalls Kritik am Konzept der binären Oppositionen, das sie als patriarchalisch auffasst6. Sie nennt Gegensatzpaare wie „Activité/Passivité", „Culture/Nature“, „Logos/Pathos“7 und stellt fest, dass die weibliche Seite stets die passive, machtlose, untergeordnete Rolle übernimmt während die männliche Seite für Vernunft, Stärke, Aktivität steht und der weiblichen übergeordnet scheint. Diese binären Oppositionen sind fest in der patriarchalischen symbolischen Ordnung der Sprache verankert und gilt es somit zu dekonstruieren. Um das zu tun lehnt Cixous ihren Begriff der écriture féminine an Derridas différance an: weibliches
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Vgl. Moi, T. (1989): S. 126. Vgl. Cixous, H. & Clément, C. (1975): S. 114 ff. 7 ebd. S. 115 6
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Jana Treffler Schreiben soll fortlaufend Unterschiede bejahen und vermehren und so die „Geschlossenheit der binären Oppositionen aufbrechen“8. Ein für die écriture féminine essentieller Punkt ist die Anerkennung der natürlichen Bisexualität eines jeden Menschen. Damit ist allerdings nicht die herkömmliche Bisexualität gemeint, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern verschwinden lässt und dadurch ein aus zwei Hälften bestehendes Ganzes hervorbringt. In „Le Rire de la Méduse“ stellt Cixous dieser „klassischen“ Bisexualität eine andere gegenüber („l’autre bisexualité“9), die Unterschiede nicht verneint, sondern ein Nicht-Ausschließen der jeweils anderen sexuellen Komponente bedeutet. Cixous ist der Meinung, dass Frauen für diese Art der Bisexualität empfänglicher und offener sind als Männer10, „[…] étant dressé à viser la glorieuse monosexualité phallique.“11, wobei es natürlich männliche Ausnahmen gibt, die es schaffen ihre weibliche Komponente in ihr Schreiben einfließen zu lassen. Ebenfalls von großer Bedeutung ist der Begriff der jouissance für das weibliche Schreiben nach Cixous, denn sie ist die Quelle und die Kraft der weiblichen Schrift. Die écriture féminine erkennt die Existenz einer spezifisch weiblichen Form des Begehrens an, das in der patriarchalen, männlichen Ordnung der Sprache keine Möglichkeit des Ausdrucks kannte12. Frauen sollen aus ihrer libidinösen Ökonomie, die sich von der phallozentrischen, „zielgerichteten“ männlichen libidinösen Ökonomie grundlegend unterscheidet, heraus schreiben und deren kosmischen, überbordenden Charakter13 in ihre Texte einfließen lassen. So erhält die Frau ihre Stimme wieder, indem sie sich und ihren Körper einschreibt und eine neue Sprache schafft: „Écris-toi. Il faut que ton corps se fasse entendre.“14, fordert Cixous in „Le Rire de la Méduse“, denn die Frau ist in der symbolischen Ordnung abwesend15 und muss sich ihren Körper zurückholen um als Subjekt sprechen zu können. Diese Ansicht resultiert aus Lacans Interpretationen von Freuds Psychoanalyse. Das schon bei Freud als von entscheidender Bedeutung angesehene Ödipus-Modell wird von Lacan sublimiert, sodass der Vater die symbolische Ordnung der Sprache und Kultur darstellt und der Phallus zum Symbol für die Herrschaft über Begehren und Lust wird. Durch das Einschreiten des Vaters wird die Einheit Mutter-Kind zerstört und das Kind muss den
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Moi, T. (1989): S. 128. Cixous, H. (1975): S. 46. 10 Vgl. Conley, V. A. (1991): S. 60. 11 Cixous, H. (1975): S. 46. 12 Vgl. Boyman (1989): S. 185. 13 Vgl. Cixous, H. (1975): S. 50. 14 ebd. S. 43. 15 Vgl. Dane, G. (1994): S. 233. 9
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Jana Treffler präödipalen Raum (das Imaginäre), in dem es weder Subjekt noch Objekt, sondern mit allem identifizierbar war und in allem aufging, verlassen um seinen Platz als Subjekt in der symbolischen Ordnung einzunehmen. Diese ödipale Krise ist mit dem Verlust der Einheit mit der Mutter verbunden, dessen Verdrängung zum Entstehen des Unterbewusstseins führt. Während sich aber das männliche Kind mit dem Vater identifizieren, sein Begehren auf die Frau projizieren (die so zum Objekt wird) und damit den Verlust überwinden kann, ist für die Frau in diesem System kein Platz, ihr Körper wird ausradiert, sie wird zum Objekt der phallozentrischen Ordnung, in der sie als Subjekt nicht existiert16. Auf die präödipale Mutter als Quelle alles Guten nimmt Cixous Bezug, indem sie das weibliche Schreiben als Echo des ursprünglichen Gesangs, der „première voix d’amour“17 bezeichnet. Im Gegensatz zum Mann, der die präödipale Mutter vollständig verdrängt hat, hallt der präödipale Raum in der Frau immer noch nach18, „elle n’est jamais loin de la «mère»“19. Aus dieser besonderen Verbindung ziehen Frauen eine gewisse puissance féminine, die der écriture féminine ihre außergewöhnliche Kraft und Stärke verleiht. Cixous versucht also diese Sprache der Mutter (wieder-)zu erschaffen20, die aus dem präödipalen, vorsprachlichen Raum stammt und somit bereits vor der Interferenz durch den Vater, vor der Implementierung der symbolischen Ordnung und damit einhergehenden Repression bzw. Abwesenheit der Frau existierte. Die Schaffung eines neuen Diskurses nach diesen Vorstellungen soll der Frau eine eigene Sprache abseits der phallozentrischen Ordnung geben, die es ihr ermöglicht Subjekt zu sein und sich selbst zu sprechen und zu schreiben. Cixous geht davon aus, dass diese Revolution der Sprache durch Sprache21 automatisch auch Auswirkungen auf die patriarchalen, repressiven Strukturen der Gesellschaft haben wird und diese letztendlich ebenfalls revolutionieren werden22. Das weibliche Schreiben soll die Frau also von ihrem Schweigen befreien, zu dem sie seit jeher von der phallozentrischen symbolischen Ordnung gezwungen wurde23.
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Vgl. Dane, G. (1994): S. 233-234. Cixous, H. (1975): S. 44. 18 Vgl. Moi, T. (1989): S. 136. 19 Cixous, H. (1975): S. 44. 20 Dane, G. (1994): S. 244. 21 Vgl. Boyman (1989): S. 185. 22 Vgl. Dane, G. (1994): S. 242. 23 Vgl. Cixous, H. (1975): S. 43. 17
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Jana Treffler 2.2. Weibliches Schreiben — Hysterisches Schreiben Unter den französischen Feministinnen wurde die Hysterikerin bisweilen zur Heldin, die aus dem männlich dominierten Diskurs ausbricht, idolisiert und die hysterische Sprache zur Sprache der Frauen erklärt. Auch Cixous, teilte diese Ansicht24 und trug mit ihren Texten maßgeblich zur Verbreitung dieser Idee bei. In „Le Rire de la Méduse“ beschreibt sie etwa wie, „les admirables hystériques“25 sich ihren Körper zu eigen machen und sich durch ihn ausdrücken. Als „corps poétique, la vraie «maîtresse» du signifiant“26 steht die Hysterikerin ihrem männlichen Analytiker gegenüber und unterläuft seine Versuche, ihr seine phallozentrische Ideologie überzustülpen. In „Portrait de Dora“, einer Re-Interpretation von Freud’s „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ als Drama, schafft Cixous mit Dora eine Heldin, die durch ihre Hysterie zum Vorbild des feministischen Protests wird. Doch wieso bedienen sich die Feministinnen gerade der Stimme der Hysterikerin? Cixous Vorstellung der écriture féminine weist an sich große Ähnlichkeiten zum „typischen“ Erscheinungsbild der Hysterie auf, sodass weibliches Schreiben bzw. weiblicher Diskurs auch als hysterisches Schreiben bzw. hysterischer Diskurs verstanden werden kann. Viele der charakteristischen Merkmale der écriture féminine entstehen durch die vielgestaltige weibliche libidinöse Ökonomie, aus der heraus die Frau schreibt: Diskontinuität, Lückenhaftigkeit, Widersprüchlichkeit und Impulsivität. Diese erinnern stark an die Symptome der Hysterikerin, die sich in Aphonie, Amnesie, krampfhaften Anfällen oder Husten äußern27. Ganz im Gegensatz zu den textlichen Merkmalen der écriture féminine — und auch zu den hysterischen Symptomen — steht die phallozentrische Tradition der Sprache, die linear, logisch und objektiv ist und einer chronologischen, abgeschlossenen Narrative folgt. Eine weitere Ähnlichkeit liegt in der Bedeutung des Körpers für die Kommunikation: Die Hysterikerin somatisiert, sie spricht also durch ihren Körper und dementsprechend findet sich in Cixous écriture féminine, die auch als écriture du corps bezeichnet wird, der weibliche Körper in einer wichtigen Position wieder, denn er ist die Quelle des Schreibens, der écriture féminine. Auch die Verbindung zur präödipalen Mutter hat die Hysterikerin mit dem weiblichen Schreiben gemein28: Die Hysterikerin sehnt sich, so Freud, nach dem präödipalen Raum, der frühen Einheit mit der Mutter und drückt dieses unterdrückte Begehren durch ihre 24
Dane, G. (1994): S. 242. Cixous, H. (1975): S. 48. 26 ebd. S. 48. 27 Vgl. French, S. (2008): S. 251. 28 Vgl. Showalter, E. (1993): S. 28. 25
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Jana Treffler körperlichen Symptome aus. Auch die écriture féminine trägt die Stimme der Mutter in sich und will dieser wieder einen Platz geben, der ihr in der phallozentrischen Ordnung ab dem Moment des Einschreitens durch den Vater in der ödipalen Krise verwehrt bleibt. Ebenso wie für die Frau und die präödipale Mutter, gibt es für die Hysterikerin keinen Platz im phallozentrischen Diskurs, was sie automatisch zu einem störenden Element macht29, denn sie droht durch ihre hysterische Sprache die patriarchalische Ordnung zu durchbrechen, die ihr Schweigen verlangt30. Es wird also deutlich, dass der weibliche Diskurs auch — zumindest insofern, wie Cixous die Hysterikerin interpretiert — als hysterischer Diskurs bezeichnet werden kann, da sie dieselben Ausdrucksformen teilen und die gleiche Wirkung auf das phallozentrische System haben bzw. haben sollen.
3. Cixous Umsetzung der écriture féminine in „Portrait de Dora“ „Portrait de Dora“ gilt als entscheidendes Werk auf Cixous Weg zur Erschaffung der écriture féminine als neue Art zu Schreiben31. Anders als bei „Le Rire de la Méduse“ und „La jeune Née“ handelt es sich jedoch nicht um einen literarisch-philosophischen Essay, in dem Cixous ihre Thesen entwickelt, sondern um ein Drama. Um dessen Bedeutung für die Theorie der écriture féminine zu erkennen, muss untersucht werden, wie Cixous dabei ihre eigenen Ideen einer weiblichen Schrift in ein literarisches Werk umsetzt. Im Folgenden werde ich zu diesem Zweck Elemente aus „Portrait de Dora“ vorstellen, die einem weiblichen bzw. hysterischen Schreiben in Cixous Sinne entsprechen. Freud stellt in Cixous „Portrait de Dora“ naheliegender Weise ganz offensichtlich einen Vertreter der phallozentrischen Ordnung dar: Er beharrt auf der Vorstellung, jedes Wort habe eine feste Bedeutung, die ihm naturgemäß innewohnt und eindeutig definiert ist. Er steht also auch für die Logik der binären Opposition, auf dem die patriarchalische Ordnung gründet und für den Glauben, dass Sprache in einer direkten tautologischen Beziehung zum Bezeichneten steht32. Dahingegen steht Dora, die die Sprache der Hysterie spricht, eindeutig für den weiblichen bzw. hysterischen Diskurs. Sie spielt mit der Bedeutung von Wörtern, lässt offen was genau gemeint ist33. In Doras Sprache gibt es keine Hierarchie und so ist Bedeutung in
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Vgl. Dane, G. (1994): S. 234. Vgl. ebd. S. 235. 31 Vgl. Boyman (1989): S. 182. 32 Vgl. Evans, M. N. (1982): S. 67. 33 Vgl. Hanrahan, M. (1998): S. 56. 30
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Jana Treffler ihrem hysterischen System ambivalent und mehrdeutig34. Das Verb „sentir“ etwa hat im Französischen die Bedeutung „riechen“ und „fühlen“ und so wird aus Doras Beschreibung einer Szene mit Herr K., leidenschaftlicher Raucher, als dieser sich an sie drückt und sie zu küssen versucht, nicht deutlich was genau Dora mit „je le sens encore aujourd’hui, en cet instant, je le sens, si intense“35 meint. Möglicherweise spürt sie Herr K. (und dessen erregtes Glied) noch jetzt, oder sie kann immer noch den Rauch seiner Zigaretten riechen. Auch das französische Pronomen „lui“ und die französischen Possessivpronomina, die das Geschlecht des „Besitzendenden“ nicht anzeigen, schaffen derartige Uneindeutigkeiten. Cixous verwendet diese Pronomina in einer Art und Weise, dass teilweise nicht klar wird, welche der Figuren gemeint ist und mehrere Möglichkeiten offen bleiben36. Ähnlich sind auch die Handlungen der Figuren nicht in sich selbst vollkommen und abgeschlossen, sondern erlangen ihre Bedeutung erst in der Beziehung zu anderen Subjekten. Diese Handlungen sind somit kein Ausdruck der Identität eines autonomen, sich selbst definierenden Subjekts, sondern Botschaften, deren Bedeutung von der Rezeption und Interpretation des Empfängers abhängig ist37. Oft richten sich beispielsweise Doras Aussagen vermeintlich an Freud, mit dem sie sich gerade im Gespräch zu befinden scheint, es antwortet dann aber Herr B. oder Herr K.. Dadurch hebt Cixous die Unabgeschlossenheit eines Sprechakts hervor und versucht zu verdeutlichen, wie wandelbar, unstetig und abhängig von anderen Referenzen Bedeutung ist. Ein weiteres, zentrales Motiv in „Portrait de Dora“ ist das der Tür. Anhand dieser Symbolik will Cixous erneut den Gegensatz zwischen der linearen Ordnung und der Logik der binären Opposition der Männer und der Vielfältigkeit, Offenheit und Diskontinuität des hysterischen bzw. weiblichen Diskurses aufzeigen. Die Tür steht in Portrait de Dora für emotionale Zugänglichkeit, aber auch sexuelle Verfügbarkeit. Für Freud als Repräsentant der patriarchalischen Ordnung und der Männer des Dramas, kann eine Tür (die das weibliche Genital darstellt) natürlicherweise nur entweder geschlossen oder offen sein38, was dem Prinzip der binären Opposition entspricht. Doras Türen allerdings sind gleichzeitig nach innen und nach außen offen und geschlossen39, folgen also einer hysterischen Logik, die sich durch kontinuierliche Bewegung und die ständige Verschiebung des Begehrens auszeichnet. Das
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Vgl. Evans, M. N. (1982): S. 66. Cixous, H. (1986): S. 19. 36 Vgl. Evans, M. N. (1982): S. 67. 37 Vgl. ebd. S. 66. 38 Vgl. Cixous, H. (1986): S. 48. 39 Vgl. Evans, M. N. (1982): S. 68. 35
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Jana Treffler ähnelt wiederum dem der écriture féminine zugrundeliegenden Konzept der Derrida’schen différance, nach der sich Bedeutung durch unendliche Bedeutungsverschiebung konstituiert. Auch erinnert die nach beiden Seiten geöffnete Tür Doras an Cixous Vorstellung der Bisexualität, die Unterschiede nicht verneint sondern zulässt und fördert. Denn Dora ist durch die diffuse Öffnung „ihrer Tür“ in beide Richtungen offen und nicht zweigeteilt, wie es die „gesunde“ Logik Freuds sehen würde, sondern vielmehr doppelt40. Diese Doppelung führt nicht wie eine Zweiteilung zur Zersplitterung ihrer selbst, sondern zur Multiplikation der Differenzen, zur Erfüllung ihrer selbst durch das Zulassen von Andersartigkeit, ohne dass eins der beiden Geschlechter ausgeschlossen werden muss. Ebenso wie schon in Freuds „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ haben Träume in „Portrait de Dora“ eine große Bedeutung. Allerdings werden sie in Cixous Werk, anders als imn Freuds „Bruchstück“ uninterpretiert wiedergegeben41. Das hat zur Folge, dass alle Widersprüche, alle Lücken und obskuren Bilder „ungeklärt“ dargestellt werden, also ohne dass ihnen eine Deutung aufgezwungen wird, die notwendigerweise den Regeln des phallozentrischen Diskurses folgen würde. Insgesamt weist „Portrait de Dora“ eine traumartige Struktur auf, die sich spiralförmig mit vielen repetitiven Elementen entwickelt und sich der linearen Logik traditioneller Narrativen (wie in Freuds „Bruchstück“) widersetzt und entzieht42. Diese Form des Schreibens ist exemplarisch für die écriture féminine, die aus der kosmischen, nichtzielgerichteten libidinösen Ökonomie der Frau entsteht und Widersprüche und Diskontinuität zelebriert. Cixous strebt im direkten Gegensatz zu Freud nach einer bewussten Verweigerung des Wunsches nach Linearität, Vollständigkeit und Kontinuität und betont stattdessen Lücken und Unstetigkeiten43. Traum, Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen zu einem, wie Gabrielle Dane es nennt, „surrealen choralen Ballett“44, eine Bezeichnung die an Beschreibungen der Hysterie-Station der Salpetrière erinnert, den Ort, an dem die Hysterie von Jean Martin Charcot „erfunden“ wurde und Freud die Ideen zu seiner Psychoanalyse entwickelte45. Diese Ähnlichkeit unterstreicht den Bezug zwischen hysterischen und weiblichen Texten, die Cixous und andere Feministinnen herstellen. Cixous zielt darauf ab, in „Portrait de Dora“ durch das Umkehren und Überschreiten der Grenzen des herkömmlichen Diskurses und das Verwenden einer komplexen, vielschichtigen
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Vgl. Evans, M. N. (1982): S. 69. Vgl. Hanrahan, M. (1998): S. 56. 42 Vgl. Dane, G. (1994): S. 242. 43 Vgl. French, S. (2008): S. 251. 44 Dane, G. (1994): S. 242. 45 Vgl. Didi-Huberman, G. (1997). 41
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Jana Treffler Symbolik, die traditionellen patriarchalischen narrativen Strukturen von Doras Fall aufzubrechen und so eine komplett neue Interpretation zu ermöglichen. In dieser neuen (weiblichen) Erzählung ist Dora nicht länger die an ihren unterdrückten sexuellen Begehren gescheiterte Patientin, sondern wird zur „Medusa“, die ihre männliche Umgebung bedroht, indem sie sich weigert ihre traditionelle Rolle als Geliebte, Tochter und Kranke zu spielen46. Am Ende geht sie als Siegerin über die phallozentrische Borniertheit Freuds hervor, dessen Deutungshoheit sie sich nicht aufzwingen lässt. „Portrait de Dora“ kann als beispielhaftes Werk einer écriture féminine in Cixous Sinne betrachtet werden, da die Autorin hier innerhalb eines bestimmten Rahmens tatsächlich eine Darstellung außerhalb der „normalen“ patriarchalischen Ordnung entwirft und eine neue, verstörende, aber aufrüttelnde Art von Diskurs bzw. Narrative schafft.
4. Hysterie und écriture féminine als weiblicher Protest? Doch obwohl „Portrait de Dora“ als gelungenes Beispiel einer écriture féminine wie Cixous sie beschreibt gelten kann, bestehen innerhalb von Cixous Theorie einer weiblichen Schrift einige nicht unerhebliche Widersprüche und auch das Idealisieren der Hysterie als weiblichen Aufstand hat teils berechtigte Kritik erfahren. Ein wesentliches systematisches bzw. theoretisches Problem bei Cixous Entwicklung der écriture féminine ist der Konflikt zwischen ihrer klar dekonstruktivistischen Sicht von Textualität und ihrer gleichzeitigen Rückkehr zum Konzept der metaphysischen Präsenz47. Erst dekonstruiert Cixous die patriarchalischen binären Oppositionen, indem sie Derridas Begriff der différance fortführt, um dann aber doch wieder zu einer beinahe biologistischen Auffassung von männlich und weiblich zu gelangen und diese zu zelebrieren. Die Betonung des weiblichen Körpers und der weiblichen libidinösen Ökonomie als Ursprung der écriture féminine führen zu einer essenzialistischen Auffassung des Schreibens und der sexuellen Identität des Autors. Auch die Verehrung der präödipalen Mutter führt zu einer Reduzierung der Frau auf ein einziges Idealmodell, was Differenz und Unterschiede zwischen Frauen eher ausschließt als diese zu fördern und am Ende womöglich dazu führt, dass genau die binären Oppositionen, die Cixous eigentlich untergraben will, bestärkt und aufrecht erhalten werden48.
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Vgl. Feldman, M. (1990): S. 27. Vgl. Moi, T. (1989): S. 149. 48 Vgl. Dane, G. (1994): S. 245. 47
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Jana Treffler Auch die Wahl der Hysterikerin als Heldin und Vorreiterin der heutigen Frau erweist sich als problematisch, denn bei der Idolisierung der hysterischen Frau wird deren real existierendes Leiden vollkommen ignoriert. Die hysterischen Symptome, die als Aufstand gegen die patriarchalische Ordnung und den phallozentrischen Diskurs interpretiert werden, sind Folgen post-traumatischer Störungen und wohl eher nicht aus freiem Willen und autonomer Handlungsfähigkeit vorgetragene Zeichen des Protests. Eine solche Interpretation und nahezu Instrumentalisierung der Hysterie erinnert fast an Freuds Ignoranz gegenüber den sozialen und historischen Bedingungen, die zu Doras Leiden führten49. Die Betrachtung der Hysterie als Sprache außerhalb des phallozentrischen Diskurses und damit als subversiver Ausdruck weiblicher Rebellion ist ebenfalls steitbar, denn auch wenn die Hysterikerin sich durch ihre körperlichen Symptome auf eine andere, unverständliche Art und Weise verständigt, werden dieses Zeichen dennoch innerhalb der gleichen symbolische Ordnung wahrgenommen, rezipiert und interpretiert, die sie angeblich zu unterminieren vermag. Was vor allem bei ihren amerikanischen Mitstreiterinnen auf Kritik stieß, war die politische Unverwertbarkeit von Cixous Ideen, die als zu theoretisch und realitätsfern galten. Es stellt sich die Frage, ob es genügt allein die narrative Strukturen eines Diskurses zu ändern, um gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Zumindest nach Cixous Auffassung kann die écriture féminine gar nicht anders, als revolutionäre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu haben50. Allerdings finden in ihrer Theorie reale Gründe für die Unterdrückung der Frau keinen Eingang. Ihr Aufruf an alle Frauen zu schreiben, aus ihrer weiblichen Sexualität, ihrer jouissance heraus zu schöpfen und sich und ihren Körpern so Gehör zu verschaffen, gleicht einer Utopie, die an den konkreten Lebensumständen, die die Frauen am Schreiben hindern scheitert und so an Wert verliert. Da das Begehren der Frau als Quelle des Schreibens von Cixous im Imaginären angesiedelt wird, ist eine Analyse der realen sozialen Faktoren folglich schlichtweg ausgeschlossen51. Ann Rosalind Jones stellt fest, dass es viel wahrscheinlicher zu vermehrtem weiblichen Schreiben käme, wenn eben diese konkreten Hindernisse bekämpft würden52 anstatt einfach die Flucht ins Imaginäre zu nehmen. Sie kritisiert auch die Exklusivität von Cixous Schriften, die die Lektüre einiger, natürlich männlicher, Größen des westlichen literarischen und philosophischen Kanons voraussetzt53. Diese Abhängigkeit
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Vgl. French, S. (2008): S. 258. Vgl. Dane, G. (1994): S. 242. 51 Vgl. Moi, T. (1989): S. 145. 52 Vgl. Jones, A. R. (1981): S. 259. 53 Vgl. ebd. S. 260. 50
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Jana Treffler impliziert auch, dass sich Cixous stets zu einem gewissen Grad im phallozentrischen Diskurs bewegt und diesen eher modifiziert und neu sortiert, als direkt aus ihm auszubrechen. Cixous Theorien erscheinen zum Teil sehr utopisch und sind einer nicht mit den Theorien Derridas, Lacans und anderen vertrauten Leserschaft etwas unzugänglich. Dennoch ist die Auseinandersetzung mit der Sprache an sich unerlässlich für einen feministischen Diskurs, denn die symbolische Ordnung der Sprache ist allgegenwärtig und definiert Identitäten und soziale Positionen. Sprache ist gewissermaßen die Grundlage aller gesellschaftlicher Strukturen und um diese zu revolutionieren müssten auch die linguistischen Strukturen geändert werden.
5. Fazit Mit ihrer écriture féminine und ihrer beachtlichen Anzahl an Veröffentlichungen hat Cixous einen wichtigen Beitrag zur feministischen Debatte im Frankreich der 70er und 80er Jahre und darüber hinaus geleistet. Sie erkannte die Notwendigkeit, einen neuen Diskurs zu erschaffen, um die traditionellen repressiven Strukturen der Sprache zu unterminieren und schuf mit ihrer Theorie des weiblichen Schreibens einen Entwurf, wie dieser neue Diskurs aussehen könnte. In „Portrait de Dora“ setzte Cixous ihre eigene Vorstellung eines weiblichen bzw. hysterischen Texts in Form eines Dramas um und es gelang ihr dabei, durch eine Re-Analyse der Beziehungen und Strukturen der ursprünglichen Erzählung, Freuds Narrative so umzugestalten, dass neue Interpretationen und Deutungen möglich wurden. Außerdem legt Cixous in „Portrait de Dora“ den Grundstein für die danach bei vielen Feministinnen verbreitete Glorifizierung der Hysterikerin als Rebellin gegen die phallozentrische symbolische Ordnung. Diese Auffassung ist allerdings, vor allem aus heutiger Sicht, nicht mehr vertretbar, denn sie lässt das tatsächliche Leiden der Hysterikerin außer Acht. Des weiteren lässt der utopische Charakter und die teils große Widersprüchlichkeit von Cixous Theorien Fragen zur politischen Relevanz ihres Werkes aufkommen. Allerdings ist, wie Toril Moi ausführt, Widersprüchlichkeit ein typisches Merkmal von Utopien, da diese erst durch den Konflikt mit der herrschenden, totalitären Ideologie, die selbst widersprüchlich ist, entstehen und aus dieser auszubrechen versuchen54. Utopien hätten somit durchaus politisches
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Vgl. Moi, T. (1989): S. 143-145.
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Jana Treffler Potenzial, da allein ihr Entstehen auf die Defizite der vorherrschenden Ideologie hinweist. Cixous utopische Ideen könnten auch heute noch fruchtbar gemacht werden, indem sie als Anstoß und Entwurf angenommen, fortgeführt und weiterentwickelt werden, anstatt sie vorschnell als auf logischem Wege unerreichbares Ziel zu missinterpretieren und als unrealistisch zu verwerfen.
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Jana Treffler
Literaturverzeichnis Boyman, A. (1989). Dora or the Case of L'Écriture Féminine. Qui Parle, 180-188. Cixous, H. & Clément, C. (1975). La jeune née. Union générale d'éditions. Cixous, H. (1975). Le rire de la Méduse. L’Arc, 61, 39-54. ________ (1986). Portrait de Dora. des Femmes. Conley, V. A. (1991). Hélène Cixous: Writing the Feminine. U of Nebraska Press. ISO 690 Dane, G. (1994). Hysteria as Feminist Protest: Dora, Cixous, Acker. Women's Studies: An Interdisciplinary Journal, 23(3), 231-255. Didi-Huberman, G. (1997). Erfindung der Hysterie: die photographische Klinik von JeanMartin Charcot. Fink. Evans, M. N. (1982). Portrait of Dora: Freud's Case History As Reviewed by Hélène Cixous. SubStance, 64-71. Feldman, M. (1990). Le troc des femmes ou la révolte de Dora. Paroles gelées, 8(1). French, S. (2008). Re-imagining the Female Hysteric: Hélène Cixous’ Portrait of Dora. Traffic (Parkville), 10, 247-62. Freud, S. (1971). Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905). Gesammelte Schriften, 3-126. Hanrahan, M. (1998). Cixous's" Portrait de Dora": The Play of Whose Voice?. The Modern Language Review, 48-58. Jones, A. R. (1981). Writing the Body: Toward an Understanding of L'Ecriture Feminine. Feminist Studies, 247-263. Moi, T. (1989). Sexus–Text–Herrschaft. Feministische Literaturtheorie. Bremen: Zeichen und Spuren. Showalter, E. (1993). On hysterical narrative. Narrative, 24-35.
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