Polykontexturalität: Die Erforschung komplexer systemischer Zusammenhänge in Theorie und Praxis.

June 15, 2017 | Author: Werner Vogd | Category: Sociology, Qualitative methodology, Social Systems Theory
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Polykontexturalität: Die Erforschung komplexer systemischer Zusammenhänge in Theorie und Praxis Übersicht: Offen ist in der systemtheoretischen Forschung bis heute die Frage, wie komplexe und verschachtelte Beobachterverhältnisse anhand empirischen Datenmaterials rekonstruiert werden können. Relevant wird dies insbesondere in komplexeren Interaktionssystemen, etwa Familien oder Organisationen, da hier unterschiedliche Perspektiven in der Kommunikation verzahnt und arrangiert werden müssen. Mit dem folgenden Beitrag soll ein Forschungszugang vorgestellt werden, der im Arbeitsbereich Soziologie an der Universität Witten/Herdecke in den vergangenen Jahren entwickelt und erprobt wurde und mit dem qualitative Sozialforschung und anspruchsvolle systemtheoretische Analyseperspektiven verbunden werden können (vgl. Vogd, 2011). Dabei wird zunächst etwas ausführlicher auf die systemtheoretische Konzeption der Polykontexturalität und die hiermit einhergehende Analyse von Rahmungsprozessen eingegangen. Im Anschluss wird am Beispiel eines Forschungsprojektes zum mitbestimmten Aufsichtsrat aufgezeigt, wie eine solche Analyseperspektive gewinnbringend für die systemtheoretische Forschung nutzbar gemacht werden kann.

Einführung Kommunikative Sachverhalte lassen sich entsprechend der systemtheoretischen Perspektive nicht mehr als lineare Kausalitätsverhältnisse beschreiben. Die Verhältnisse erscheinen jetzt vielmehr als eine polykontexturale 1 Ordnung. Text und Kontext sowie unterschiedliche, nicht ineinander überführende Beobachtungsverhältnisse – im Folgenden als Kontextur bezeichnet – finden hier zu komplexen Anordnungen zusammen, in denen jeweils nur noch standortabhängig entschieden werden kann, was Grund und was Be2 gründetes ist. Selbst eine auf den ersten Blick einfache soziale Situation wie eine Interaktion zwischen einem Ehepaar ist schon als ein komplexes Arrangement mehrerer sich überlagernder systemi-

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Schlüsselwörter: Qualitative Sozialforschung, Systemtheorie, Polykontexturalität, Organisationen

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Die Idee der Polykontexturalität ist von dem Mathematiker und Logiker Gotthard Günther entlehnt, der hiermit eine Beschreibung von Kausalverhältnissen möglich machen wollte, die über die zweiwertige Logik hinausgeht (Günther, 1978). Für das Gesamtsystem lässt sich hiermit keine letzte Begründung mehr ausmachen: »Was Grund und was Begründetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begrün-

scher Kontexturen zu beschreiben, das sich nur verstehen lässt, wenn jeweils unterschiedliche Standpunkte eingenommen werden. Jeder Standpunkt entspricht einer formallogischen Konstellation, die klassischerweise als Subjektivität erscheint und dann mögliche Kausalitäten und spezifische Attributionsmuster oder -weisen beinhaltet (etwa die Zurechnung oder Aberkennung von Autonomie, Schuld oder Verantwortlichkeit). In Interdependenzschleifen können sich dann unterschiedliche, teils sogar widersprechende Orientierungen verschiedener Akteure so verzahnen, dass ein übergreifendes Muster entsteht, welches einen solch starken Zwang ausübt, dass sich die beteiligten Einzelakteure in der Regel der hiermit verbundenen Dynamik nicht mehr entziehen können. Auf einer elementaren

dung. Der Wechsel des Standortes regelt den Umtausch von Grund und Begründetem. Jeder Ort der Begründung ist in diesem Fundierungsspiel Grund und Begründetes zugleich. Orte sind untereinander weder gleich noch verschieden; sie sind in ihrer Vielheit voneinander geschieden. Die Ortschaft der Orte ist bar jeglicher Begründbarkeit« (Kaehr, 1993, S. 171 f.).

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Ebene haben Watzlawick et al. solche Schleifen beschrieben, etwa die Probleme einer Paarbeziehung, welche darauf beruhen, dass beide Ehepartner denselben Sachverhalt im Hinblick auf Zeitverhältnisse und Kausalität jeweils anders interpunktieren und interpretieren. Aus der Verschränkung der beiden Perspektiven heraus entsteht dann eine Hyperstruktur, welche eine bestimmte Form des Konflikts repetierend und gleichsam ritualisierend reproduzieren lässt:

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Ein oft zu beobachtendes Eheproblem besteht z. B. darin, daß der Mann eine im wesentlichen passiv-zurückgezogene Haltung an den Tag legt, während seine Frau zu übertriebenem Nörgeln neigt. Im gemeinsamen Interview beschreibt der Mann seine Haltung typischerweise als einzig mögliche Verteidigung gegen ihr Nörgeln, während dies für sie eine krasse und absichtliche Entstellung dessen ist, was in ihrer Ehe ›wirklich‹ vorgeht, daß nämlich der einzige Grund für ihre Kritik seine Absonderung von ihr ist. Im wesentlichen erweisen sich ihre Streitereien als monotones Hin und Her der gegenseitigen Vorwürfe und Selbstverteidigungen: ›Ich meide dich, weil du nörgelst‹ und ›Ich nörgle, weil du mich meidest‹. (. . .) In der gemeinsamen Psychotherapie von Ehepaaren kann man oft nur darüber staunen, welch weitgehende Unstimmigkeiten über viele Einzelheiten gemeinsamer Erlebnisse zwischen den beiden Partnern herrschen können, so daß manchmal der Eindruck entsteht, als lebten sie in zwei verschiedenen Welten. (Watzlawick et al., 1990, S. 58 f.)



Von jedem Blickwinkel aus ist dann zwar eine konkrete operative Logik auszumachen, die jedoch aus einer anderen Perspektive ganz anderes gedeutet werden kann. In der Methodologie der qualitativen Sozialforschung wird die Frage der Perspektivität sozialer Kausalitäten und das Problem der dazugehörigen

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Rahmungen mit Ausnahme von Bohnsack (2007) kaum in systematischer Weise gestellt. In der Regel finden sich in der qualitativen Forschungspraxis ›essentialistische‹ Verdichtungen, die dann ›Biografien‹, ›subjektiv gemeinter Sinn‹, ›Interaktion‹, ›latente Sinnstrukturen‹, ›Fallstrukturgesetzlichkeiten‹ etc. zu einem (weitgehend) beobachterunabhängigen Erklärungsprinzip verdichten. Man bleibt hier in der Regel bei einem »halbierten Konstruktivismus« stehen (Hirschauer, 2003, S. 204). Mit der systemtheoretischen Perspektive kann nun die Beobachterabhängigkeit selbst thematisiert werden. Es darf und kann jetzt gefragt werden, welche Beobachterperspektive welche Systemreferenz in den Blick nimmt, welche Kausalitäten hierdurch aktualisiert werden und welche Eigenwerte hierdurch in Folge generiert werden, die dann als sich selbst plausibilisierende Strukturen soziale Realität gewinnen. Die Leistung einer solchen polykontexturalen Perspektive zeigt sich immer dann, wenn man beginnt, kommunikative Ereignisse als polyvalent zu verstehen, um auf diesem Wege verschiedene Systeme und systemische Kontexturen als gleichzeitig bestehend und einander überlagernd begreifen zu können. Erst auf diesem Wege wird es möglich, empirisches Datenmaterial (z. B. Interviewmaterial oder Beobachtungsprotokolle) in Form einer »multidimensionalen Typologie« aufzuschließen (Bohnsack, 2001), denn die untersuchten Texte und Kontexte können nun als Verweise auf beobachterabhängig kontexturalisierte Wirklichkeiten interpretiert werden. Ein Beobachter erscheint nun jeweils als eine systemische Kontextur, die durch ihre entsprechenden standortabhängigen Unterscheidungen jeweils einen spezifischen Kausalitätszusammenhang herstellt bzw. regeneriert. Mit der Luhmann’schen Systemtheorie braucht der Beobachter dabei nicht

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mehr subjektphilosophisch konzipiert werden, sondern kann in genereller Form als Reflexionsform, nämlich als unterscheidendes Unterscheiden – als »Unterschied, der einen Unterschied macht« (Bateson, 1987) – verstanden werden. In diesem Sinne kann nicht nur ein Bewusstseinssystem Unterscheidungen treffen, um auf diese Weise eine eigene ›Beobachterperspektive‹ (sozusagen ›Subjektivität‹) als standortbezogene Zentriertheit hervorzubringen, sondern auch die Kommunikation. Die Besonderheit der systemtheoretischen Analyse liegt gerade darin, Kommunikation als eine eigen-

Mit der systemtheoretischen Perspektive kann die Beobachterabhängigkeit selbst thematisiert werden ständige Sphäre zu betrachten, die ebenfalls reflexiv auf sich selbst Bezug nehmende Bereiche sich absondern lässt, die dann lokal eine gewisse ›Autonomie‹ erlangen können. In diesem Sinne kann man etwa von der ›Wirtschaft‹, dem ›Recht‹ oder der ›Organisation‹ sprechen, da diese Felder ein auch für andere unhintergehbares Eigenleben entfalten. Im gleichen Sinne kann etwa auch ein ›Streit‹ zu einem sich selbst reproduzierenden kommunikativen System werden, dessen Einfluss sich die Beteiligten selbst dann nicht entziehen können, wenn sie es wollten. Auf diese Weise erscheinen auch die nörgelnde Frau und der sich zurückziehende Mann aus dem vorangegangenen Beispiel nicht mehr nur als individuelle Charaktere. Vielmehr lässt sich ihre Beziehungsdynamik jetzt auch als eine übergreifende, verschränkte kommunikative Reflexionsperspektive darstellen, welche die Wünsche und Intentionen der Einzelakteure transzendiert. Eine therapeu-

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tische Intervention kann ggf. die hier zum Ausdruck kommenden Zurechnungsmuster auflockern und verstören, sodass sich neue Arrangements entwickeln können.

Polykontexturalität Schauen wir an dieser Stelle etwas ausführlicher auf Gotthard Günthers Verständnis von Polykontexturalität. Günther unterscheidet zunächst zwischen den drei Positionen ›Ich‹, ›Es‹ und ›Du‹ und leitet hieraus unterschiedliche Reflexionsbeziehungen ab. Das ›Ich-Es‹Verhältnis stellt die Beziehung eines Subjekts zu einem objektivierbaren Gegenstand dar. Es bildet eine einfache Kontextur. Der Begriff Kontextur meint hier im Sinne eines Seinsverhältnisses, dass entsprechend der klassischen Identitätslogik einfach etwas ist oder nicht ist. Ein Gegenstand existiert oder eben nicht, und dies ist aus der Perspektive der Kontextur (wie eben auch aus Sicht der klassischen Logik) evident und eindeutig entscheidbar. Beim ›Ich-Du‹-Verhältnis stellt sich die Sachlage jedoch anders dar. Das ›Du‹ erscheint im wechselseitigen Austauschverhältnis nun als ein anderes ›Ich‹, das jetzt selbst eine Subjekt-Objekt-Relation – und damit eine eigene klassi3 sche Kontextur – bildet. Die Reflexion des ›Du‹ fügt diesem etwas hinzu, was durch die Spiegelung von Sein im Subjekt nicht gedeckt ist, denn es gibt keine objektiven Kriterien, um zu beurteilen, ob das Du wirklich ›Subjektivität‹ besitzt oder ob man es lediglich mit einem hoch entwickelten strukturdeterminierten Automaten zu 3

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Um hier mit Nina Ort zu sprechen: »[Kein] ›Ich‹ reflektiert ein ›Du‹ einfach nur als ein Objekt. Wie ich bereits angedeutet habe, gesteht es dem ›Du‹ autologisch Subjektivität zu, obwohl das ›Du‹ dem ›Ich‹ so fremd bleibt, wie jedes andere Objekt. Da die Reflexion des ›Du‹ also kein einfaches ›Sein‹ reflektiert, sondern ›Reflexion‹, kann sie diese nur als ›leeren Akt‹ reflektieren, das heißt als Wille oder als Handlung« (Ort, 2007, S. 145).

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tun hat. Die Frage, ob es das Du in der vorgestellten Form wirklich gibt oder nicht, lässt sich nicht durch Beobachten feststellen. Man kann Subjektivität nur durch Reflexion zuschreiben. Hiermit tritt die Reflexion unweigerlich selbst in die Beziehung von Ich und Du mit ein. Die Reflexion fügt hiermit der Welt etwas Eigenständiges, etwas Drittes, hinzu, nämlich die Zurechnung einer Du-Perspektive. Mit dieser lässt sich dann in Form von Erwartungen rechnen. In soziologischer Hinsicht begegnen wir hier dem Problem der doppelten Kontingenz. Das ›Ich‹ weiß nicht, was im anderen vorgeht und umgekehrt (es kann noch nicht einmal wissen, ob der andere überhaupt über Bewusstsein verfügt). Mit Blick auf eine Dyade von zwei Subjekten finden wir nun die Situation einer doppelten Unsicherheit vor. Diese lässt sich nur dadurch stabilisieren, dass sich durch die Verschränkung von wechselseitiger Beobachtung und hieran anschließenden Handlungen stabilisierte Zurechnungs- und Erwartungsmuster etablieren. Mit der Zeit findet man heraus, ob die getroffenen Zuschreibungen tragen und kann seine Erwartungen dann daran ausrichten. ›Ich-Es‹ und ›Du-Es‹ bilden dabei jeweils eine zweiwertige Kontextur, die als zwei unterschiedliche Beobachtungszentren in der Welt erscheinen und für die die Wirklichkeit im Sinne der zweiwertigen Identitätslogik als phänomenologisch unhintergehbar präsentiert wird (was beobachtet wird, ›ist‹). ›Ich-Du‹ erscheint demgegenüber als ein Reflexionsverhältnis, das sich durch Deutung und Zurechnung, nicht jedoch als eine repräsentierende Abbildung realisiert. Darüber hinaus ergibt sich eine weitere Möglichkeit der Relationierung, die darauf beruht, dass das Verhältnis von zwei Positionen zueinander reflektiert werden kann. Das ›Ich‹ kann sich nun etwa das Verhältnis von ›Es-Du‹ (also der Wahrnehmung und Perspektive eines anderen) verge-

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genständlichen. Es blickt auf die klassische zweiwertige Kontextur von Objekt und Repräsentation (also die Wahrnehmung durch ein anderes Subjekt) und kann aufgrund der hierdurch erzeugten reflexiven Distanz eine Operation vollziehen, welche die durch die binäre Struktur aufgeworfene Sicht einer unhintergehbaren Wahrnehmung verwirft (so lässt sich nun beispielsweise sagen: ›Was Du wahrnimmst, ist eine Täuschung‹). Diese Rückweisung des unmittelbar Evidenten (von Günther als Rejektion bezeichnet), ist eine transklassische logische Operation, da hier nicht mehr nur

Es gibt keine objektiven Kriterien, um zu beurteilen, ob das Du wirklich ›Subjektivität‹ besitzt das, was ist oder nicht ist, sondern auch das Fiktive, also das, was sein oder nicht sein könnte, in die Wirklichkeit eindringt und diese prägt. Die durch eine klassische Kontextur aufgespannte Subjekt-Objekt-Dichotomie kann demgegenüber lediglich feststellen: Da ist etwas Bestimmtes, oder dieses bestimmte Etwas ist nicht. Eine Täuschung ist für den Wahrnehmenden als solche nicht sichtbar. Aus dem Blickwinkel einer weiteren Kontextur jedoch, welche dieses Verhältnis reflektiert, ergibt sich ein ganzes Spektrum an Alternativen: Um was es sich dort handelt, kann unbestimmt bleiben, in anderer Weise bestimmt werden oder als noch nicht bestimmt erscheinen. Entsprechend sind transklassische Operationen nicht mehr in einem zwingenden Seinsverhältnis gefangen, sondern eröffnen die Möglichkeit, die Welt durch Interpretation und Zurechnung mitzugestalten. Verdeutlichen wir diese komplexen Verhältnisse durch ein Beispiel. Ein

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Mann sagt zu (s)einer Frau: ›Ich liebe dich‹. Mit Blick auf die Selektion von Information und Mitteilung mag nun zunächst klassisch geschaut werden, ob die Aussage denn wirklich so gemeint sein kann, die Wahrnehmung eines liebevollen Blicks oder einer gegenteiligen Geste die Aussage verifiziert oder 4 falsifiziert. Darüber hinaus lässt sich aber auch die Alternative Liebe/NichtLiebe verwerfen und vermuten, dass es um ein anderes Thema gehe (beispielsweise darum, das schlechte Gewissen zu vertuschen, mit einer anderen geflirtet zu haben). Drittens ist es möglich, die Aussage in der Schwebe des Noch-Unbestimmten zu halten, um dann vielleicht durch das eigene Anschlussverhalten mit beitragen zu können, dass sich Liebe entwickelt. Schon in diesem kleinen Beispiel finden wir Verweise auf Reflexionsverhältnisse, die sich nicht mehr auf die binäre Struktur von wahr/falsch reduzieren lassen, sondern in denen der Wechsel von einer zur anderen Kontextur in Betracht gezogen wird, wodurch eine zukunftsoffene Prozes5 sualität entfaltet wird. Es ist an dieser Stelle wichtig, zu begreifen, dass die subjektiven Kompo-

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»›Wahr‹ ist deshalb kein einfacher logischer Wert mehr, weil das Wahre in der IchDu-Relation eine andere logische Struktur zeigt als in der Ich-Es- oder Du-Es-Beziehung. In der klassischen Logik etabliert die Negation eine Existenzdifferenz zwischen Sein und Nichtsein. Es ist evident, daß der Unterschied zwischen ›Ich‹ und ›Du‹ nicht als Existenz- sondern als Reflexionsdifferenz gedacht werden muß« (Günther, 1976, S. 27 f., hier zit. n. Ort, 2007, S. 94 f.). »An dieser Stelle greift die Kybernetik mit ihrer Theorie der selbstreflektierenden Systeme ein und stellt fest, daß reflexionstheoretisch betrachtet ein Umtauschverhältnis nicht nur eine Alternativsituation zwischen zwei Werten repräsentiert, die zur Parteinahme für das eine oder das andere Verhältnisglied verlocken, sondern daß sich noch eine zweite, tiefer fundierte (transklassische) Alternative anbietet: man kann nämlich das Alternativverhältnis von zwei Werten akzeptieren oder als Ganzes verwerfen« (Günther, 1963, S. 148 f.).

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nenten ›Ich‹ und ›Du‹ nicht ontisch zu verstehen sind, etwa als mit inneren Seelwesen ausgestattete biologische Formen. Innerhalb der Günther’schen Konzeption bezeichnen sie nur die logische Anordnung räumlich verteilter Reflexionsperspektiven. Entscheidend für das Verständnis der hier entwickelten Denkfigur ist die kybernetische Einsicht, dass Lebewesen nicht nur in einer Umwelt sind, sondern eine Umwelt haben. Während ein Stein zu seiner Umwelt in einem Verhältnis steht, indem seine Orts- und Geschwindigkeitsbestimmung vollkommen determiniert sind, verhält sich die Sachlage bei Lebewesen anders. Ihr Verhältnis zur Umwelt ist auch durch ihre interne Organisation 6 der Informationsverarbeitung bestimmt. Selbst in einer deterministischen Beschreibung ist das Verhalten eines Organismus deshalb üblicherweise nicht voraussagbar, da dieses von einer in der Regel unbekannten Interaktionsge7 schichte abhängig ist. Die Intransparenz der Reflexionsperspektiven stellt ein konstitutives Merkmal von Systemen dar.

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Gesellschaftliche Kontexturen und Goffmans Rahmenbegriff Mit der systemtheoretischen Unterscheidung unterschiedlicher Sinnkontexturen eröffnet sich ein systemtheoretisches Verständnis von Rahmungsprozessen. Rahmen und Rahmungen lassen sich nun als dynamisches Wech6

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Um mit Gregory Bateson zu sprechen: Wenn man einen Stein tritt, weiß man, was passiert, er fliegt entsprechend der newtonschen Gesetze durch den Raum, tritt man einen Hund, hat man es demgegenüber mit einem unberechenbaren Eigenverhalten zu tun. Siehe diesbezüglich zu trivialen und nichttrivialen Maschinen Heinz von Foerster (1994, S. 357 ff.).

selverhältnis von Gesellschaft und Kommunikation begreifen. Erving Goffman entwickelte seinen Rahmenbegriff bekanntlich in Anlehnung an Gregory Batesons Untersuchungen 8 zum Spielverhalten von Tieren. Je nach Kontext zeigt hier dasselbe Verhalten eine vollkommen andere Bedeutung: Innerhalb der eigenen Gruppe erscheint das Kampfverhalten als

Die Intransparenz der Reflexionsperspektiven stellt ein konstitutives Merkmal von Systemen dar Spiel, in Beziehung zu Fremden als Kampf, wobei zu beachten ist, dass das »Spielverhalten etwas an sich bereits Sinnvollem genau nachgebildet« ist, nämlich dem Kämpfen als »einer wohlbekannten Art orientierten Handelns« (Goffman, 1996, S. 52). Dem Rahmen entspricht dabei eine Wirklichkeitssicht, eine Perspektive, in der ein gegebenes Problem gesehen und verstanden werden kann. Rahmen stellen gewissermaßen das Organisationsprinzip der menschlichen Erfahrung und Interaktion dar. Unterschiedliche Rahmen führen zu verschiedenen Problemsichten, wobei jedoch der konkret Handelnde, wenn er »ein bestimmtes Ereignis erkennt«, dazu neigt, »seine Reaktion faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primäre nennen könnte. (. . .) Ein primärer Rahmen wird eben so gesehen, dass er einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem macht« (Goffman, 1996, S. 31). Die primären Rahmen stellen ihrerseits jedoch das Ausgangsmaterial für weitere Sinntransformationen: Rahmen können moduliert werden – etwa in dem Sinne, dass eine ursprünglich ernsthafte oder

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Vgl. hierzu Bateson (1992, S. 241 ff.).

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mentation etwas verfälscht, um rechtlich nicht verfolgt werden zu können, braucht hier nicht mehr als Entscheidung eines einzelnen Akteurs gesehen werden. Vielmehr können diese Prozesse nun als überpersonale (man könnte hier durchaus sagen: transpersonale) Orientierungsrahmen verstanden werden (weil Entsprechendes in bestimmten Verhältnissen eben üblich ist), die dann ihrerseits gesellschaftlich formatiert zu sehen sind. Im Sinne der für systemtheoretische Analysen konstitutiven Beobachtung zweiter Ordnung kann nun zum einen beobachtet werden, wie beobachtet wird (also welcher Rahmen der Beobachtung zugrunde liegt). Zum anderen kann untersucht werden, wie die Rahmungen hergestellt werden (also durch welchen Prozess das Anlaufen spezifischer Rahmen moderiert bzw. moduliert wird). Der Blick auf die Rahmungsprozesse fokussiert auf »reflexive und metakommunikative Sinntatsachen, die (Bedeutungs-, Rahmen stellen gewissermaßen Handlungs-)Felder, Sphären oder Welten konstitudas Organisationsprinzip der ieren, ohne Sequenzen zu determinieren« (Willems, menschlichen Erfahrung und 1997, S. 309). Das VerhältInteraktion dar nis von Offenheit und Notwendigkeit, Kontingenz Prozesse verstanden werden. Der das und Schließung tritt hiermit selbst in Einzelbewusstsein transzendierende die Analyse mit ein und wird jetzt als Kommunikationsbegriff weist hier den ein Prozess begriffen, der mit der InterWeg. Statt sich von einer Theateraktion bzw. Kommunikation entfaltet metapher verführen zu lassen, welche und gestaltet wird. zunächst die individuellen DarstelIn diesem Sinne schärft die Rahmenlungsleistungen pointiert, können die analyse den Blick für Widersprüche Rahmungsprozesse im Sinne der urund Doppeldeutigkeiten, die sich dann sprünglichen Intention der Bateson’auch in speziellen ›Markierungen‹ schen Arbeiten auch als primär kominnerhalb der Kommunikationen der munikativ hergestellte Vorgänge verbeteiligten Akteure zeigen. Beispielsstanden werden, die entsprechenden weise können die Geltungsbereiche sozial vorformatierten Semantiken folmancher Aussagen relativiert werden – gen. Ob gespielt wird oder es bitterer etwa indem Dinge gesagt werden, um Ernst ist, ob man über den Schwerezugleich deutlich zu machen, dass dies grad einer Krankheit hinwegtäuschen nicht so gemeint sei. In vielen Kommusollte oder nicht, ob man die Dokunikationen werden zugleich die »Bezugssysteme«, die »Anhaltspunkte« mitkommuniziert, welche auf die »eingeklammerten Kommunikationsteile gar bedrohliche Situation nun in den Kontext von Spiel, Simulation oder einer Übung transformiert wird. Goffman benennt fünf Formen der Modulation: »So-tun-als-ob«, »Wettkampf«, »Zeremonie«, »Sonderaufführungen« und »In-anderen-Zusammenhang-Stellen«. Insbesondere die Sinntransformationen der Formen ›So-tun-als-ob‹ und ›In-anderen-Zusammenhang-Stellen‹ generieren für die Kommunikation zusätzliche Freiheitsgrade, die genutzt werden können, um komplexere Systemarrangements aufbauen zu können. Wenngleich Goffman es in seinem Werk oftmals nahelegt, all diese Phänomene im Sinne einer subjektphilosophischen Interpretation zu lesen – hier sind es jeweils die individuellen Akteure, die sich auf der Bühne des Sozialen möglichst vorteilhaft präsentieren –, können die Rahmungsvorgänge im Sinne einer systemtheoretischen Interpretation auch als überindividuelle

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hinweisen und eine sonst konventionelle Bedeutung in einem anderen Licht erscheinen lassen, z. B. bei ironischen Nebenbemerkungen, indirekter Rede, scherzhaften Anspielungen usw.« (Goffman, 1978, zitiert nach Willems, 1997, S. 312). Jegliche Interaktion, jede Kommunikation unter Anwesenden, erscheint damit eingebettet in semantische Räume potenziell aktivierbarer Attributions- und Deutungsmuster, insofern diese als gesellschaftliche Reflexionsverhältnisse institutionalisiert sind. Macht-, Rechts-, Wahrheits-, Knappheits- bzw. Wirtschafts-, Liebeskommunikation, aber auch die Semantiken von Krankheit, Religion, Freundschaft etc. erscheinen dabei als gesellschaftlich ausdifferenzierte Protoformen, an die bei Bedarf angekoppelt werden kann. Die Reflexion der Bedürfnisse des jeweils anderen erscheint aus dieser Perspektive nicht mehr und nicht weniger scripted als die Interaktion in Organisationen. Auch in formal institutionalisierten Interaktionssystemen können unterschiedliche Arrangements von Rahmungen durchprobiert werden, bis schließlich eine Lösung handlungspraktisch einrastet. Wenn beispielsweise ein Patient einer psychosomatischen Abteilung den Ablauf einer Station massiv zu stören droht, mag man es seitens des Behandlungssystems zunächst mit einem verstehenden Gespräch und dann mit etwas Erziehung probieren. Wenn dies nicht weiterhilft, kann der Patient versuchsweise pathologisiert werden (etwa indem ihm eine psychiatrische Problematik zugerechnet wird). Falls dieser weiterhin widerständig erscheint, können schließlich rechtliche Semantiken in den Vordergrund treten. Gegebenenfalls kann auch im Modus ›als ob‹ eine entsprechende Diagnose vorgetäuscht werden, um eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie durchsetzen 9 zu können.

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Siehe hierzu ausführlich die Fallanalysen in Vogd (2004, S. 365 ff.).

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Qualitative Organisationsforschung als Rekonstruktion polykontexturaler Rahmungsprozesse Bewusstseinssysteme wie auch Kommunikationssysteme reproduzieren sich im Medium Sinn. Sie benutzen bzw. zitieren bewährte semantische Formen, um sich in ihrer jeweils spezifischen Form entfalten zu können. Eine empirische Forschung, welche diesen Prozessen gerecht werden kann, hat die sich hiermit entfaltenden Sinnarrangements in den Blick zu nehmen. Wir haben jetzt also mit verschiedenen Kontexturen zu rechnen, welche jeweils ihre eigenen Anschlussmöglichkeiten eröffnen, und – dies ist die eigentliche empirische Herausforderung – von polykontexturalen Verhältnissen auszugehen, in denen sich die verschiedenen Kontexturen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssysteme (Medizin, Recht, Wirtschaft, Liebe etc.) nicht nur überlagern, sondern zudem durch weitere semantische Felder geprägt werden, die aufgrund ihrer eigenen Historie manche Lösungen wahrscheinlicher als andere werden lassen. So können etwa Eigenarten der Interaktions-, Familien- oder Organisationsgeschichte Erwartungsmuster prägen und die sich hieraus ergebenden Anschlusswahrscheinlichkeiten formatieren. Mit der hiermit anklingenden Dualität von Konkretion (beobachtbare Elemente) und abstrakter Formation (Struktur der gesellschaftlichen Potenziale bzw. Semantiken) werden wir zugleich der Vielfalt des Konkreten gerecht, ohne dabei jedoch auf ein Wissen um die soziogenetisch wirksamen Felder verzichten zu müssen. Die verwirrende Vielfalt der Phänomene bekommt nun auf der Ebene der latenten Strukturen nicht nur deshalb Sinn, weil

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mit bestimmten, also nicht beliebigen Potenzialen gerechnet werden kann, sondern vor allem deshalb, weil nun davon auszugehen ist, dass Kommunikation selbst rekursiv und prokursiv mit diesen Potenzialen rechnet. Die Einsichten der Ethnomethodologie werden hierdurch um eine gesellschaftstheoretische Dimension erweitert. Die Kommunikation bringt jetzt auf der einen Seite selbst die Methoden hervor, um mit den Kontingenzen des Alltags umzugehen (etwa indem vage und mehrdeutig gesprochen wird). Andererseits kann sie all jene gesellschaftlichen Figuren und Semantiken zitieren, die sich als eine eigenständige Systemik etabliert und bewährt haben. Damit wird auch deutlich, dass sich das Konzept der Polykontexturalität von dem der Polykontextualität unterscheidet. Wir haben es bei der Erforschung von kommunikativen Prozessen nicht mit einem beliebig verschieb- und kontextualisierbaren Text zu tun, sondern mit Ereignissen, die auf unterschiedliche Kontexturen mit jeweils eigenständiger systemischer Autonomie treffen. Deren Struktur kann jeweils durch eine zweiwertige Logik hinreichend erklärt werden, die dann jedoch über Verbundkontexturen in einem Arrangement miteinander verwoben sind. Der Verweis der Kontextabhängigkeit allen Geschehens mündet hier nicht in ein interpretatives Paradigma, das gesellschaftliche Strukturen (allein) auf die inneren Kontexte interaktiver Aushandlungsprozesse zurückführt.

Beispiel: Forschungsprojekt Aufsichtsrat Das folgende Beispiel stammt aus der Studie »Entscheidungsfindung im paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat«, die Till Jansen (2011) im Rahmen der Forschungsinitiative ›High Performance Boards‹ an der Universität Witten/ Herdecke durchgeführt hat. Es beruht auf Interviews mit Aufsichtsräten und dem Vorstand eines großen deutschen produzierenden Unternehmens. Die

Namen sind zum Schutz der Anonymität der Betroffenen verfremdet. Aus demselben Grunde kann nicht näher auf die Inhalte der Entscheidung eingegangen werden, die im Folgenden thematisiert wird. An dieser Stelle wird jeweils ein Interviewausschnitt mit dem Vorsitzenden sowie einem Anteilseignervertreter herausgegriffen. In beiden wird die Bearbeitung von Kritik und inhaltlichem Dissens innerhalb des Gremiums Aufsichtsrat thematisiert. Interviewausschnitt 1: Interviewer: »Wären Sie so weit gegangen, auch gegen die Anteilseigner zu stimmen?« [Anteilseignervertreter] Schmidt: »Nein. Ich hätte, ich hätte diese andere Meinung hätte ich klar im, in dem Anteilseignergremium, äh, zum Ausdruck gebracht und hätte dann auch, sag ich mal, bisschen arrogant wie ich bin, ich hätte die Anteilseigner gedreht, in den mir wichtigen Dingen hätte ich die gedreht.« Interviewer: »Okay.« Schmidt: »Ja? Aber ich würde nicht, äh, in ’ner Anteilseignersitzung, entweder verstehe ich die Argumente, dann schließ ich mich denen an, oder ich krieg sie gedreht, und dritte Variante ist, äh, ich krieg die in einer mir wichtigen Sache nicht gedreht, und dann geh ich aus dem Gremium raus.« (Jansen, 2011, S. 162) Interviewausschnitt 2: Aufsichtsratsvorsitzender Gerhard: »Das Vorgespräch, äh, wo Sie, ich sag mal, in der Anteilseigner Vorbesprechung mit dem Vorstand (. . .), äh, sehr offen reden können und sagen, was Ihnen alles nicht gefällt. So, schwierig wird’s dann, äh, wenn Sie, ich sag’ mal, in Anwesenheit der Mitarbeiter, also des leitenden Angestellten und der anderen Mitarbeiter, äh, da sollten Sie einen Vorstand nicht demontieren. (. . .) Das ist ja für dessen (. . .) Wirkungsgrad im Unternehmen nicht gut (. . .) Ja, auch wenn Sie dann mit

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dem einen oder anderen Thema nicht einverstanden sind. So, und das ist die Frage nicht, dass Sie nichts ansprechen, sondern, äh, wie Sie die Dinge ansprechen. Und da ist, ich sag’ mal, eine Art, die der Herr Kohl hat, vielleicht nicht gerade zielführend. (. . .) Das kann man dann etwas abgestuft machen. Also in der (. . .) Vorbesprechung kann ich schon sehr Tacheles reden. Äh, in der Prüfungsausschusssitzung, äh, denke ich, waren wir auch relativ klar, aber das ist dann etwas abgeschwächt. So, und, und die Kollegen wie Lampe und so, die verstehen das auch. So, im großen Kreis, öh, muss man das etwas sachter. Das ist nicht, dass man die Leute gar nicht anspricht, sondern dass man sie etwas abgeschwächter.« (Jansen, 2011, S. 236) Die folgenden Ausführungen reflektieren die in den Interviewsequenzen zum Ausdruck kommenden Systemarrangements (die ausführliche reflektierende Interpretation des Materials sowie komparative Analysen, welche dieses sinngenetisch einbetten und kontextualisieren, sind in der Arbeit von Jansen nachzulesen). Der Aufsichtsrat ist ein unternehmerisches Gremium, das qua Gesetz den Auftrag hat, ein Unternehmen zu kontrollieren sowie wichtige Entscheidungen herzustellen (etwa die Bestellung des Vorstands). Durch die »Mitbestimmung kommt es zu einer enorm unwahrscheinlichen Kombination von Karrieren. Betriebsräte sitzen neben Bankiers, Gewerkschaftsvertreter neben Vorständen von Industrieunternehmen, leitende Angestellte überwachen ihre unmittelbaren Vorgesetzten, Betriebsräte ihre Arbeitgeber. Und sie alle sind durch ihr Mandat dazu genötigt, diese Differenzen abzuarbeiten und die Arbeitsfähigkeit des Gremiums sicherzustellen« (Jansen, 2011, S. 3). Wie lassen sich nun die unterschiedlichen, miteinander zu einem polykontexturalen Arrangement verschränkten

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Reflexionsverhältnisse der Komplexität des Gegenstandes angemessen beschreiben? Wie bereits angedeutet, besteht ein zentrales Bezugsproblem des Aufsichtsrates darin, abgesicherte Entscheidungen zu produzieren (KommunikationOrganisation). Hier steht also die Organisation in Hinblick ihrer Einheit im Vordergrund, und im Zentrum steht damit die Frage der Entscheidungsfähigkeit des Gremiums. Der Einzelne ordnet sich hier zugunsten des übergreifenden Interesses unter, insofern er die anderen nicht zuvor »gedreht« bekommt. Zudem ist die organisationale Kommunikation in einen rechtlichen Rahmen eingebettet

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Kommunikative Prozesse zu erforschen hat mit Ereignissen zu tun, die auf unterschiedliche Kontexturen mit jeweils eigenständiger systemischer Autonomie treffen

(KommunikationRecht), der es beispielsweise problematisch erscheinen lässt, wenn in Sitzungsprotokollen Konflikte deutlich werden, die den Mitgliedern als mangelnde Aufsichtspflicht zugerechnet werden können (»Im großen Kreis muss man das etwas sachter«, denn »hier kommt alles ins Protokoll«, könnte man ergänzen). Darüber hinausgehend zeigt sich als weiteres Bezugsproblem des Gremiums die Differenz zwischen den Bänken der Arbeitnehmer- und der Anteilseignervertreter. Eingebettet in den politischen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit (KommunikationKlassenkampf) entsteht hier von der Position der jeweiligen Bank gedacht eine Gruppen10 systemik, die Einheit der jeweiligen Bank aufrechtzuerhalten (KommunikationArbeitnehmer-Bank und KommunikationAnteilseigner-Bank).

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Mit Blick auf divergierende Orientierungen und Einschätzungen der einzelnen Vertreter innerhalb einer Bank ist es jedoch keineswegs selbstverständlich, dass sich im Sinne der Logik des besseren Arguments ohne Weiteres ein Konsens über das richtige Vorgehen oder die angemessene Einschätzung der Sachlage finden lässt. Mit Blick auf das wirtschaftliche Primat mögen sich die Anteilseigner zwar einerseits gemeinsam am Abstraktum ›Gewinnmaximierung‹ orientieren (KommunikationWirtschaft), doch dies kann angesichts der Komplexität unternehmerischer Sachlagen nicht ausreichen, hier zu einer einheitlichen

Mit Tyrell (1983) lässt sich auch die Gruppe als ein eigenständiger Systemtyp betrachten.

Vorstellung zu gelangen, wie eine rich11 tige Entscheidung auszusehen habe. Es kann nun herausgearbeitet werden, dass die Einheit der Aktionärsvertreter nur durch hierarchische Entscheidungskommunikation sichergestellt werden kann: Die Anteilseignervertreter »schaffen symbolische Einheit über die Beschwörung eines qualifizierten Diskurses unter dem Vorzeichen managerialer Rationalität, während zur Entscheidungsfindung schlichtweg auf Hierarchie zurückgegriffen wird« (Jansen, 2011, S. 160). Was die jeweiligen Vertreter eint, ist eine bestimmte Form der Karriere, die auf der einen Seite betriebswirtschaftliche Management-Rationalität verkörpert, auf der anderen Seite jedoch

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Die Komplexitätslasten bringen dann erst den ›Entscheider‹ hervor oder um mit Heinz von Foerster zu sprechen: »Wir können nur jene Fragen entscheiden, die prinzipiell unentscheidbar sind« (Foerster, 1994, S. 351).

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bedeutet, in ihr so einsozialisiert zu sein, dass inhaltliche Fragen im Zweifelsfalle zugunsten der Einordnung in die Hierarchie zurückgestellt werden (KommunikationOrganisation). Dies schließt dann allerdings nicht aus, dass auf Ebene der informalen Interaktion alles versucht werden kann, alternativen Positionen Geltung zu verleihen. Das formale Entscheidungsgremium Aufsichtsrat kann entsprechend von der Mikrodiversität seiner nahen Umwelt profitieren, da hier Kontroversen außerhalb der rechtlichen und wirtschaftlichen Beobachtung im informalen Rahmen ausprobiert werden können. In den Vorbesprechungen kann und muss dann sehr wohl »Tacheles« geredet werden (KommunikationInteraktion). Deutlich wird dies in den Aussagen des Anteilseignervertreters ›Schmidt‹ im ersten Interviewausschnitt. Einerseits würde er alles versuchen, um die anderen Vertreter seiner Bank zu ›drehen‹, andererseits werde er jedoch niemals den offenen Konflikt mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden während einer formellen Sitzung suchen. Der implizite Codex der Manager-Rationalität würde im Fall einer unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheit eher den Rücktritt des subordinierten Mitglieds nahelegen, als die Einheit des Gremiums zu gefährden. Der Aufsichtsrat bleibt entscheidungsfähig, weil die Bänke sich in einer Weise als Bänke konstituieren, dass all jene prekären Fragen vorab durch die jeweiligen Einheitsstiftungsprozeduren beruhigt werden. Für die Arbeitgeberseite bekommt hiermit der Aufsichtsratsvorsitzende jene dominante Rolle, die im Zweifelsfall Abweichler aus den eigenen Reihen eher zum Rücktritt drängt, statt dass riskiert wird, einen offenen Konflikt auszutragen. In Interviewausschnitt 2 bestätigt der Aufsichtsratsvorsitzende ›Gerhard‹ den zuvor geschilderten Modus

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Operandi und verweist auf die Stufenfolge ›Vorbesprechung, Prüfungsausschuss, große Aufsichtsratssitzung‹, entsprechend der Kritik zunächst scharf, dann abgeschwächt und schließlich überhaupt nicht mehr geäußert werden sollte (»(. . .) ist die Frage nicht, dass Sie nichts ansprechen, sondern, äh, wie Sie die Dinge ansprechen«). Darüber hinaus wird jedoch mit dem Anteilseigner ›Kohl‹ auf einen Vertreter hingewiesen, der sich offensichtlich nicht an die bevorzugte Praxis hält. In der Erzählung wird eine Kontexturalisierung gewählt, welche auf die Person attribuiert (»eine Art, die der Herr Kohl hat«), und dieser wird dann die Aufgabe des Gremiums gegenübergestellt (»vielleicht nicht gerade zielführend«). Die Abweichung wird damit den Idiosynkrasien eines anderen Bewusstseinssystems zugeordnet, ohne damit die Eigenlogik des Gremiums suspendieren zu müssen (›Du‹ vs. KommunikationOrganisation). Im Sinne der Günther’schen Terminologie findet eine Rejektion der hier zum Ausdruck kommenden inhaltlichen Perspektive statt, die jedoch zugleich im Sinne des ausgeschlossenen Dritten in der Erzählung weiter mitgeführt werden kann. Zudem wird die Beschreibung mit dem Verweis auf die eigene Perspektivenhaftigkeit des Sprechers (»ich sag’ mal«) relationiert (›Ich-Ich‹). Hiermit bleibt der Fall ›Kohl‹ subjektivierend eingeklammert. Die Gremienarbeit ist durch die Störung nicht gefährdet. Die Abnormalität sehend, kann die Kommunikation sich weiterhin zugleich als formale Entscheidungskommunikation fortschreiben, da das Gesehene zugleich wieder ausgeblendet wird. Die Abweichung (›Du‹) wird mit der Gremiumsaufgabe (KommunikationOrganisation) in einer Weise kontexturalisiert, dass sich die beiden (logischen) Sphären nicht zu berühren brauchen (Subjektivität ist kein Thema betriebswirtschaftlicher Rationalität). Die Kommunikation entfaltet hier gleichsam ein raffiniertes Arrangement, die

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Dinge zu benennen wie auch sie gleichzeitig wieder ausklammernd ins Nicht12 Sichtbare zu verweisen. Hiermit wird jedoch auch deutlich, wie fragil und gefährdet ein solches Arrangement ist. Es werden jene Weichenstellungen sichtbar, an denen prinzipiell auch andere Rahmungen angelaufen werden können, die dann vielleicht zu instabileren und riskanteren Verhältnissen führen würden. Ohne hier auf weitere Details ein13 gehen zu können, lässt dieses Beispiel die Leistung einer polykontexturalen Reflexion auf organisierte Kommunikation deutlich werden. Wir verlassen hiermit in produktiver Weise die klassische Entweder-oder-Logik im Sinne des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten und gelangen zu einem postontologischen Sowohl-als-auch der Gleichzeitigkeit verschiedener Kontexturen, um erst auf diesem Wege den Reichtum und die Problemlösungsfähigkeit empirischer Verhältnisse angemessen aufschließen zu können.

Epilog Die im vorangegangenen Beispiel vorgestellte Kontexturanalyse eröffnet eine forschungspraktisch handhabbare

und zugleich anspruchsvolle methodologische Perspektive auf unterschiedliche systemische Zusammenhänge. Sie beruht darauf, Interviewprotokolle nicht nur inhaltsanalytisch, sondern zugleich in Hinblick auf die getroffenen Rahmungen und Zurechnungen und die hiermit einhergehenden Wirklichkeitskonstruktionen zu interpretieren. Dies geschieht am besten unter Supervision von Forschungswerkstätten, die mit der Rahmenanalyse, etwa im Sinne der dokumentarischen Methode, vertraut sind. Seien es Familien, Organisationen oder therapeutische Beziehungen – in all diesen kommunikativen Zusammenhängen treffen wir auf unterschiedliche, auf den ersten Blick unvereinbare Ansprüche und Beobachterperspektiven, die jedoch in der Praxis zu einem systemischen Arrangement zusammenfinden müssen. Die Kontexturanalyse lenkt das Augenmerk auf die Eigenlogik dieser Prozesse und richtet damit den Blick sowohl auf Fragen der Intervention als auch auf die Wertschätzung der innerhalb der Praxis gefundenen Lösungen. Sie eröffnet den Weg zu einer anspruchsvollen qualitativen Sozialforschung, die ihre Aufmerksamkeit auf die polykontexturale Verfasstheit moderner Kommunikation lenken kann.

Î Summary Polycontexturality – The Investigation of Complex Systemic Configurations in Theory and Practice In systems-theoretical research it is still an open question how complex and intricate observer conditions can be reconstructed with reference to empirical data material. This is particularly important in connection with interaction systems displaying an advanced degree of complexity, like families or organisations, as here different perspectives have to be dovetailed and arranged in communication. This article presents a research approach developed and tested in the field of sociology at the University of Witten/Herdecke over the past few years. With its aid, qualitative social research can be combined with sophisticated systems-theoretical analysis perspectives (cf. Vogd 2011). First of all, the author enlarges on the systems-theoretical concept of polycontexturality and the analysis of framing processes associated with it. Subsequently the example of a research project on a co-determined supervisory board is used to show how such an analysis perspective can profitably be drawn upon for systems-theoretical research.

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Für die Interaktion hat insbesondere Goffmann in seinen Untersuchungen zum ›Stigma‹ aufgezeigt, dass hier immer von einer Kopräsenz von Hinsehen und Wegsehen auszugehen ist, also die Kommunikation ständig daran arbeiten muss, bestimmte Dinge nicht zu sehen (Goffman, 1967). Jansen (2011, S. 162) führt als Vergleichshorizont beispielsweise den Fall auf, bei dem es nicht gelingt die Rahmeninkongruenzen zu integrieren und in dem ein Aufsichtsratsmitglied zum Rücktritt gedrängt wird. Erst im Blick einer komparativen Analyse, welche fallinterne und fallexterne Vergleiche in Beziehung setzt, lassen sich die unterschiedlichen Bezugsprobleme, die beteiligten Kontexturen sowie eine Typologie praktikabler Systemarrangements valide herausarbeiten.

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„ Polykontexturalität heißt, dass unsere sozialen Welten nicht mehr als eine hierarchische (logische) Ordnung begriffen werden können, sondern polyzentrisch, d. h. über mehrere logisch äquivalente Orte und Beobachtungsperspektiven hinweg organisiert sind. „ In einer systemtheoretisch informierten Sozialforschung geht es zunächst darum, die relevanten Kontexturen, welche als autonome Zentren die Kommunikation prägen, zu identifizieren. „ In einem zweiten Schritt können die Arrangements herausgearbeitet werden, mit denen die unterschiedlichen, teils inkommensurablen Kontexturen in der Praxis miteinander in Beziehung gebracht werden. „ Die Arrangements können auf der Basis von transkribierten Interviewgesprächen, Gruppendiskussionen oder protokollierten Beobachtungen rekonstruiert werden. „ Die Referenzen auf die relevanten beteiligten Kontexturen zeigen sich in der Art und Weise, wie die untersuchten Akteure aufeinander Bezug nehmen bzw. wie und in welcher Rationalität sie sich dabei konstruieren.

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Keywords: qualitative social research, systems theory, polycontexturality, organisations

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Anschrift des Verfassers Prof. Dr. Werner Vogd Universität Witten/Herdecke Alfred-Herrhausen Str. 50 58 448 Witten [email protected] Jg. 1963, Lehrstuhl für Soziologie. Auf Resonanz gestoßen sind insbesondere seine Arbeiten zur Verbindung von qualitativen Methoden und soziologischer Systemtheorie. Aktuelle Forschungsprojekte: »Der mitbestimmte Aufsichtsrat« und »Buddhismus im Westen« (beides von der DFG gefördert).

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