Poesie der Liste. Sammelleidenschaft und Sprachkritik in der modernen deutschen Lyrik Ralph Pordzik
Mirabilien der Postmoderne. Listengedicht und Sammelleidenschaft Wer ohne nennenswerte materielle Besitztümer aus dem großen Völkerringen in sein altes Leben zurückkehrt, dem wird sich wohl kein zwingender Anlass mehr für einen radikalen Kassensturz erschließen. Diesem Rückkehrer dürfte vor allem daran gelegen sein, den Umständen gemäß verbittert oder gelassen die wenigen Dinge beim Namen zu nennen, die seine verbliebene Identität jetzt noch vermessen: Inventur Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. […] Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn.1
Im leidvollen Bannkreis der deutschen Nachkriegspoesie hat dieses Trümmergedicht von Günter Eich Geschichte geschrieben. Es gestaltet sich als Weckruf zu nüchterner Gelassenheit und Lakonik angesichts bedrückender Verhältnisse. Darüber hinaus stellt es jedoch noch etwas anderes dar, gibt sich zu erkennen als Signet einer neuen Verfasstheit in der deutschen Lyrik nach den Katastrophen zweier Weltkriege. Es verständigt sich weniger auf das naive Sammeln von Dingen als vielmehr Wörtern, die deren Platz eingenommen haben, erschließt einen Katalog aus essentiellen Objekten, der durch keine Erläuterung kommentiert oder gerechtfertigt werden muss, der sich selbst genügt und weitgehend autonom daherkommt. Als Auflistung bildet das Gedicht ein kompatibles Bedeutungsganzes und stellt sich so der Meditation zur Verfügung. In diesem Beitrag soll an einigen prägnanten Beispielen gezeigt werden, weshalb in der jüngeren deutschsprachigen Lyrik Listen und Rubri1
Günter Eich: Inventur. In: ders.: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Jörg Drews. Frankfurt a.M. 2006, S. 42-43.
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ken noch immer – bzw. wieder – so einen prominenten Platz einnehmen, wie sie im Kontext poetisch gebundener Sprache funktionieren, und – in vorderster Linie – welche Eigenschaften und spezifischen Funktionen des Sammelns und Rubrizierens ihnen zugesprochen werden können. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Liste eines der artikulationsfähigsten literarischen Stilmittel der modernen internationalen Poesie ist.2 Sie tritt in expliziter oder verborgener, teilweise rhizomischer Form auf;3 ihr eignet eine faszinierende „relative Inkohärenz“,4 die sich zu einem starken Quell ästhetischer Wirkung ausbilden kann, da sich die imaginierten Fluchtpunkte einer (beliebigen) Reihe nicht selten abstoßen oder wechselseitig verstärken und so in der Wahrnehmung des Lesers ungewohnte Kombinationen eingehen. Listen und Kataloge reduzieren – syntaktische, semantische – Komplexität, um neue Komplexität zu erzeugen, die eng an Fragen der Kombinierbarkeit der gesammelten oder aufgereihten Terme geknüpft ist. Begrifflich erfassbare Daten, Eindrücke und Gegenstände werden in eine neue sinnliche, von ihrer Herkunft befreite Form gebracht und erhalten dabei eine andere Kontur. Welche Bedeutung darf dieser Praxis bzw. Kunst der Liste im Kontext der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 zugeschrieben werden? Unwirksame Anordnungen – vom Nutzen und Segen der Liste Möchte man sich dem Phänomen der Liste in der modernen Dichtung nähern, wird man von Anfang an in Erwägung ziehen müssen, dass die Liste in einem engen Verhältnis zur modernen Passion für das Sammeln (von Zeichen, Icons, Codes, etc.) steht. Die Tätigkeit des Sammelns bzw. Archivierens strukturiert das Bedürfnis, dem unterstellten Verlust an historischer Sinnhaftigkeit ein positives Gespür für die Museifizierung der Gegenwart entgegenzusetzen und so die Erfahrung der Vergänglichkeit
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Vgl. dazu u. a. Thomas Ballhausen (Hg.): Listenweise. Poetik und Poesie der Liste. Wien 2004; Ann Cotten: Nach der Welt. Die Listen der konkreten Poesie und ihre Folgen. Wien 2008; Umberto Eco: Die unendliche Liste. München 2009; François Jullien (Hg.): Die Kunst, Listen zu erstellen. Berlin 2004. Zu den geschichtlichen Grundlagen vgl. Jack Goody: Woraus besteht eine Liste? Übers. v. Sandro Zanetti. In: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Hg. v. Sandro Zanetti: Frankfurt a.M. 2012, S. 338-96. Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom. Übers. v. Dagmar Berger. Berlin 1977. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang insbesondere die multiplen Konnexe, in denen die Listenpoesie ihre „Intensitäten“ (S. 7) fluktuieren lässt, die nicht-dichotomischen Verzweigungen, die sich in der Art eines Geflechts über den Text verbreiten, sowie der selektiv verengte Fokus auf Partialobjekte, die dem Rezipienten bei seiner Lektüre ebenso viele Ausgänge wie Sackgassen der Deutung in Aussicht stellen. Jullien: Kunst der Liste. S. 8.
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und Entfremdung in Gestalt einer Auslese oder Galerie zu überwinden.5 Das Überlieferte zu feiern und zu bewahren, den mnemonischen Innenraum der Texte entweder heilsuchend oder ludisch-karnevalesk auszukleiden, kann daher als ein elementares Interesse der Poeten bewertet werden, die sich darin als Stifter einer Kultur des Eingedenkens6 inszenieren, einer ars memoriae, der sich ihre eigenen Texte einschreiben, deren assimilierten Erträge und Setzungen sie jedoch ihrerseits in den Gebilden ihrer speziellen, am einzelnen Gedächtniszeichen ausgerichteten Wortarchitektur zu deponieren und synchronisieren suchen. Traditionell setzen Sammler sich das Ausfüllen von Leerstellen (in Bibliotheken, Privatwohnungen, Archiven, öffentlich zugänglichen Sammlungen, etc.) zum Ziel. Diesem primären, identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Zweck dient ihr ruheloses Anhäufen und Zusammenführen des Vor- oder Wiedergefundenen bzw. auf ökonomischem Wege Erworbenen – „Mehrung ad infinitum.“7 Mit den Brüchen der technologisch beschleunigten Moderne setzt jedoch eine allmähliche Umkehrung dieses idealisierten Prozesses der Ergänzung und Einverleibung ein: Die Aktivität der Aufbewahrung verkehrt sich in ein Sammeln, das kein „Konzept von Totalität“ als Handlungsgrund mehr vermittelt.8 Das fieberhaft-nervöse Auf- und Versammeln von unmarkiert-unbeachteten und heterogenen Resten, von Kuriositäten und Raritäten, gewinnt die Oberhand vor dem konservativen Bewahren des Überlieferten, die unendlich scheinende Märchenwelt erneuerbarer Analogien und Bezüge wird überführt in Akte inszenierter Dehierarchisierung und Sinnzertrümmerung, der Dezentrierung und Zerteilung des vormalig Ganzen. Diese melden damit unwiderruflich den Geltungsanspruch postmoderner Gedächtnisskepsis an, die sich anheischig macht, das überlieferte Archiv erneut zu entmischen und zu zergliedern, der Monologizität des tradierten Sinns mit einer latent nachdrängenden Bedrohung der Text- und Werkeinheit zu begegnen. Vor diesem Hintergrund darf dann auch das Erscheinen der poetischen Liste oder Sammlung beurteilt werden: Das Inventarisieren und Katalogisieren im Gedichtkontext kämpft gegen den zähen Vorwurf 5
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Zur kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Funktion und Bedeutung des Sammelns vgl. insbesondere Aleida Assmann u.a. (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Tübingen 1998; Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt a.M. 1991; Boris Groys: Die Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters. München/ Wien 1997, und Manfred Sommer: Sammeln. Frankfurt a.M. 1999. Vgl. zu dem Begriff Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen. Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1980, S. 676. Eco: Die unendliche Liste, S. 165. Vgl. Dominik Finkelde: Vergebliches Sammeln. Walter Benjamins Analyse eines Unbehagens im Fin de Siècle und der europäischen Moderne. In: Arcadia 41.1 (2006), S. 187-202, hier: S. 187.
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der ästhetischen Vergeblichkeit an, den ein postmodernes Zeitalter dem dichterischen Tun entgegenwirft, und sucht nun seinerseits nach Wegen, dem fortschreitenden Prozess materieller Objekt- und Güterakkumulation durch ein aufmerksames Versammeln und Zitieren des Marginalisierten und Ausgestoßenen entgegenzutreten.9 Worin liegt nun die besondere Leistung einer Liste bzw. eines Katalogs als Werkzeug des Sammelns bzw. der Aneignung von Welt in Gestalt von Analogiebezügen, und unter den dominant erkenntniskritischen Bedingungen der Postmoderne? Wie können Poeten sich jenes Netz der Korrespondenzen zu Nutze machen, das Listen archivalisch zu bewältigen suchen, indem sie z.B. synchron Vorliegendes in eine zeitlichchronologische Verlaufsform bringen? Worin liegen überhaupt die Vorzüge von Listen in der Poesie? Zunächst fällt einem die strukturelle Offenheit der Liste in die Augen, das Faktum ihrer semiotischen Unabschließbarkeit, die bereits in der Antike (im Sinne einer durchgängig wirkenden und im Innern einheitlichen Kulturepoche) als Abbild einer strukturell unbegrenzten Welt der Phänomene verstanden wurde. Der Weltaneignung durch den Text waren keine festen Ränder oder Rahmen gesetzt, weil man die „Grenzen dessen, was man darstellen“10 wollte, gar nicht kannte. Die Ordnung, die in der Aufzählung der Liste verborgen ist, ihr „schöpferisches Vermögen“,11 entsprach somit schlicht der unendlichen Anzahl von „nebensächlichen, zufälligen Eigenschaften einer Sache“,12 die an und für sich – als Gegenstand der Erkenntnis – als unerschöpflich betrachtet werden konnte. Von schlichter Kontiguität (der Objekte und Begriffe) bis zum Modus der Steigerung und Hierarchisierung, von diffizilen und kohärenten Verkettungen zu Effekten spielerischer Diskontinuität, umfasst die Liste einen Katalog an Formen und Verfahren, den genau zu studieren sich als ertragreich erweist, zumal sich im Kontext der räumlichen Lektüre eines Ge-
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Vgl. dazu etwa folgenden Kommentar von Boris Groys: „Die moderne Subjektivität kann sich nur noch durch das Sammeln definieren. Da in der Moderne an keine metaphysische, vorgegebene Ordnung der Dinge mehr geglaubt wird, sind wir dadurch gezwungen, diese Ordnung durch das Sammeln künstlich herzustellen.“ Groys: Die Logik der Sammlung, S. 48. Eco: Die unendliche Liste, S. 15. Jullien: Kunst der Liste, S. 9. Eco: Die unendliche Liste, S. 15. Eco scheut sich an dieser Stelle nicht, daran zu erinnern, dass das Unendliche in der klassischen Ästhetik eine Empfindung ist, die „von der vollendeten und perfekten Abgeschlossenheit des Gegenstandes herrührt, den man bewundert.“ (S. 17) Aus diesem Verständnis der Einheit der Dinge in der klassisch-rationalistischen Episteme leitet sich sein schlüssiges Konzept der modernen Liste als autonomer Kunstform ab, die nur deshalb unendlich ist, weil sie nicht mehr abgeschlossen werden kann – ein Gedanke, dem wir an dieser Stelle folgen wollen.
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dichts ungeahnte Möglichkeiten ergeben, den über interne syntaktischsemantische Relationen und Felder gestreuten Parcours in eine respektable kausale Reihe zu bringen. Keinesfalls sollten Listen also als literarisch primitiv, unfertig oder kulturell minderwertig13 bzw. als Arrangements missverstanden werden, die nur einer räumlich-rationalen Ökonomie (der Sinnfälligkeit, des linearen Aufbaus, etc.) unterworfen sind; gerade ihre häufig unterstellte „Eigenschaftslosigkeit“14 ist es, die es dem Leser erleichtert, gehaltvolle Hypothesen über den Text zu bilden, in dem er sich gerade bewegt. Ob er die vorgefundenen Elemente dabei nach einer (intrinsischen) Ordnung oder spezifisch pragmatischen bzw. hermeneutischen Erwägungen folgend reiht, ist letzten Endes sekundär; in jedem Fall ermöglichen diese Bausteine ihm jenes ruhelose assoziative Abtasten des Ensembles, das gemeinhin als Aufmerksamkeit bezeichnet wird, und damit die Gratifikation einer Lektüre, die durch erzwungene Brüche und Sprünge ihr Denken erst produktiv macht. Es zeigt sich also: Der ästhetisch-narrative Dispositiv der Liste ist nicht weniger deutlich ausgeprägt als der anderer Bauformen von Textualität, er hält sich nur vergleichsweise bedeckt, agiert geschickter im Verborgenen; wie Ann Cotten spielerisch und durchaus richtig vermerkt, ist die Liste damit „der Einzeller unter den Organisationsformen.“15 Dem Leser verlangt sie die zelluläre Verknüpfung des Unverbundenen ab, den Mut zur Korrelation des Verstreuten, die geistige recollectio, ebenso wie das sinnliche Zusammenfügen der dinghaften, materiellen und taxonomischen Verkörperungen, aus denen Rubriken, Listen und Kataloge als „elementarste Formgebung des Wissens“16 im Allgemeinen schöpfen. Listen sind eigensinnig: Erst der – mitunter willkürlich und subjektiv – geschaffene figurale Kontext verleiht ihnen Bedeutung. Trotz ihrer strukturellen Unbestimmtheit und elliptischen Konnektivität eignet vielen Listen dabei eine durchaus als naturwissenschaftlich zu bezeichnende Methodik. Listen sind eifrige Sammler, ihre Gedächtnisund Gestaltungsrezeptur übertrifft andere Sammlungsmedien und Glossare durch ihren Grad an Offenheit, Abstraktion und scheinbarer Simplizität. Von ihrer Anlage her folgen sie nicht selten logischen und symmetrischen Anordnungsprinzipien, für manche lässt sich in gewissen Grenzen sogar ein empirischer Wahrheitsgehalt in Anspruch nehmen. Sie verengen das phänomenale Universum auf eine Serie von Gegenständen und Topoi, die in ihm flottieren und dabei wechselnde Positionen besetzen können. Entsprechend besteht das Kernproblem in der Frage nach der Verknüpf13
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Siehe zu dieser Voreingenommenheit im Einzelnen mehr bei Eco: Die unendliche Liste, S. 18. Cotten: Nach der Welt, S. 61. Cotten: Nach der Welt, S. 64. Jullien: Kunst der Liste, S. 17.
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barkeit dieser Elemente, die ihrem Sosein eine konkrete Form bzw. Gestalt hinzufügt. An einem bekannten Listengedicht von Ernst Jandl lässt sich dieser Vorgang in seinen Grundzügen eindrucksvoll präsentieren: Naturgedicht heu see17
Im Vergleich mit der von Günter Eich unternommenen Inventur verbliebener Habseligkeiten mischt sich dem Katalog hier ein karger und weitaus ironischerer Grundton ein. Menschlich-historische Abgründe liegen zwischen der stoisch-leibhaften Form der Inventur bei Eich und dem sprachkritischen Minimalismus Jandls, der mit einem Paukenschlag die romantische Überhöhung der Natur abserviert und seinem Text dabei zugleich ein profanierendes und erkenntniskritisches Moment vermittelt. Natur zerfällt in seiner Kurzliste in die binären Oppositionen bzw. Semanteme Heu / See, fest / flüssig, trocken / nass, gebunden / grenzenlos, finit / infinit, usw.: eine poetische Miniaturwelt, geordnet auf der Grundlage einfachster Sinnpaarungen, deren Verhältnis zueinander allein durch ihre unterstellte Gegensätzlichkeit bestimmt wird (und deshalb auch nur so gelesen werden kann). Als „elliptische[r] Satz“18 erfüllt dieses Listengedicht vor allem aufgrund der fehlenden Relatoren die Erfordernis, beim Leser einen gedanklichen Prozess anzuregen und damit eine Anordnung zu erzwingen, die ein Maximum an Wirkung erzielt. Ist die semantische Kohärenz des Gedichts zu bestimmen im Sinne von: Heu und See; Heu ohne bzw. mit, trotz oder wegen See, etc.? Komplementieren oder ersetzen die beiden Glieder einander im Sinne einer einfachen Analogie oder eines Simile als Bildspender und -empfänger (= See wie Heu)? Trotz Abwesenheit dieser logisch-grammatischen Beziehungen und Kopplungsmodalitäten genügen dem kurzen Text die beiden Wortelemente, um im Leser ein stattliches visuelles Panorama anzustoßen: Die Glieder Heu und See reichen aus, sich eine weite Küstenlandschaft zu denken bzw. zu malen, reichen aus, eine Gegend anzudeuten, ohne deren Grenzen räumlich-semiotisch zu markieren. Seine Gestalt als Arrangement einfacher Grundbegriffe im Verbund mit der Fähigkeit, durch raffiniert gewählte Kontrastpaare einen suggestiven Referenzbereich abzustecken, lassen den Text somit geradezu als Grundtypus eines Listengedichts erscheinen.19 17
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Ernst Jandl: Naturgedicht. In: ders.: Sprechblasen. verstreute gedichte 3. poetische werke in 10 bänden. Hg. von Klaus Siblewski. München 1997, S. 34. Cotten: Nach der Welt, S. 67. Bei aller Offenheit der literarischen Form dürfte als einzige wirklich unverzichtbare Grundvoraussetzung und Kompositionsregel für die Bildung einer Liste demnach die Kombination von mindestens zwei vertikal gereihten und untereinander anschlussfähigen Begriffen erforderlich sein. Ab welchem Zeitpunkt eine derart gebildete minimale Liste allerdings als Literatur gelten darf, muss letzten
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Es ergibt durchaus Sinn, die Gedichte von Jandl und Eich als einander gegenüberliegende, differenziert markierte Elemente eines breit angelegten Korpus von Listenpoesie zu begreifen, der in den vergangenen Jahrzehnten literarischer (Selbst-)Modernisierung in die Gattungen und Formen eingewandert ist. Sprachkritische Erkenntnis und Zweifel am unzweideutig Narrativen, aber auch Vertrauen in die „Plausibilität“20 bzw. Wahrhaftigkeit der Liste, haben einen Stil gezeitigt, der sich in diversen ästhetischen Formationen abgesetzt hat und dem zeitgenössischen Leser manche Gedichte weniger als ästhetisch geschlossene Gebilde denn als mirabilistische Konservatorien erscheinen lässt, mit denen sich Welt- und Sinnbezüge völlig neu erfahren lassen. Sie appellieren an die intellektuellen und visuellen Fähigkeiten ihrer Leser, schöpfen aus der Ressource der unendlichen Wirklichkeit als eines stetig fortschreitenden Prozesses und nehmen Einschränkungen bzw. Grenzen des Darstellbaren vor allem als ästhetische Herausforderungen zur Kenntnis. Beispiele hierfür gibt es zuhauf. Die Gedichte kapseln ihren unmittelbaren Referenzbereich ein, suggerieren aber zugleich, dass die entworfene Welt sich jenseits der Textgrenzen weiter fortsetzt: Am Rande Alles fließt, sagt Hegels Tante. Das Haus erbte sie von ihrem Vater. Ein Leben am Herd. Rosmarin und Salbei. Jeden Dienstag Eier holen. Mit 37 brach sie sich das Schlüsselbein. Sie pflegte Gerüchte, doch fand sie die Leute ernst und alt. Hin und wieder Himbeergeist des Abends. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern, sagte die Tante, die sanftmütig war, weiße Hände sorgsam pflegte.21
Hier stellt sich die Aufzählung in knappen, zum Teil elliptischen und metonymisch komprimierten („Rosmarin und Salbei“) Satzfolgen ein. Die Sprache ist einfach und objektiv, erfasst das Leben der „Tante“ mit einer Prägnanz und Übersicht, die an Vertraulichkeit grenzt. Ein biographischer Verlauf findet sich angekündigt, der die Jahre der Kindheit und des monotonen Erwachsenendaseins bis zur Pflege der gealterten Hände in
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Endes wohl dem Geschmack und dem ästhetischen Urteil des Lesers überlassen werden. Cotten: Nach der Welt, S. 70. Dirk von Petersdorff: Am Rande. In: ders.: Wie es weitergeht. Frankfurt a.M. 1992, S. 51.
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wenige Zeilen rafft. Dabei liegt dem Text jedoch eine Art subtiler philosophischer Täuschung zugrunde; ganz so, als könne Wittgensteins geläufige Aussage Gewicht haben, die da behauptet: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.“22 Denn natürlich erschließt der volle Sinn sich dem Leser nicht im ersten Zugriff auf das Wortmaterial. Die Liste erscheint bei von Petersdorff in sich abgeschlossen; maßt sich an, einen ganzen Lebensweg einzubegreifen, und muss doch zugleich ihre Unfähigkeit eingestehen, all die bedeutungsvollen Momente benennen zu können, die außerhalb der optischen Brennweite ihres Erzeugers liegen. Dem betont lakonischen Blick, der die Gegenstände, Augenblicke und Attribute einfängt, fällt es offenkundig schwer, das Leichte vom Gewichtigen zu trennen: Dem „Himbeergeist“ am Abend scheint der Sprecher ähnlich weitreichende Bedeutung zuzugestehen wie Hegels idealistischer Philosophie oder den Adern, die im Herzen „scheiden und kehren“, und alle gemeinsam verbindet das Schicksal der Vergeblichkeit, die Macht des Todes, die am Ende alle vergänglichen Gaben und Zufälle der menschlichen Existenz wieder einholt. Was hier vorliegt, ist eine Liste mit Vanitas-Anstrich und zeitlicher Inventurfolge, die sich in ironisch bildraffender Absicht eines außertextlichen soziotemporalen Zusammenhangs annimmt. In ihr stemmt sich ein Wesensmerkmal vieler Listen auf, mit dem das Verhältnis von unendlicher Material- und Sinnfülle einerseits und dem spezifischen Mangel-an-Sein (manque à être), dem Verlust von Übersicht, Sagbarkeit, Unzweideutigkeit und Ganzheit, andererseits bestimmt ist. Es ist dieser als universal erkannte Mangel in der Moderne, der die Liste und ihre originellsten Schöpfer zu ständiger Fortschreibung und Re-Inventarisierung des letztlich Unsagbaren und Unbestimmten drängt. Unabschließbare Dialoge. Die Funktionen der Liste bei Eich und Celan Für den Topos des Unsagbaren23 ließen sich viele, vor allem philosophisch motivierte Anlässe in der Geschichte anführen; hier soll diese betagte und schwierige Thematik allerdings sprachseitig angegangen werden, um spezifische Artikulationseffekte im Listengedicht möglichst genau bestimmen zu können. Der Zusammenführung verstreuter Elemente aus den Randzonen einer dezentrierten „Konstellation“,24 welche die Lyrik nach dem Epochenbruch der Weltkriege kennzeichnet, soll im Rahmen ästhetischer Markierungen und historischer Werkstufen nachgefahren, ihre Register, Losungen und Dimensionen sollen herauspräpariert werden. Wie 22
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Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. I, Frankfurt a.M. 1984, S. 28. Vgl. zu diesem Punkt das vierte Kapitel in Eco: Die unendliche Liste, S. 49ff. Hermann Korte: Geschichte der deutschen Lyrik. Bd. 6: Von 1945 bis heute. Stuttgart 2012, S. 12f.
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konnte es dazu kommen, dass Kataloge und Listen eine so prominente Stellung als Gedächtnisorte erlangten? In welcher Hinsicht ist ihre Existenz auch Ausdruck des zwanghaften Sammelns von Objekten, Orten, Eigenschaften und Sujets, das damit die Krisenvorstellung eines unkontrollierbar wuchernden semantischen Potentials nährt, dem weder mit dem Regulativ der Selektion noch dem des Vergessens letztlich beizukommen ist? Sind die vorliegenden Gedichte Belege einer fragmentarischen bzw. scheiternden Inventur der Moderne, setzen sie sich kritisch ins Verhältnis zur Unabgeschlossenheit der Phänomene, oder drücken sie nur eine profane Freude am Überfluss der intellektuellen Pointen aus, die sich mit den technischen Mitteln der Liste ausdrücken lassen? In der späten Lyrik Günter Eichs finden sich vortreffliche Beispiele einer katalogisch und rhizomisch verfahrenden Poesie, die den sprachlichen Skeptizismus auf den Punkt bringt, dem die schöpferische Kunst der Liste wesentlich geschuldet ist.25 Sinndemontage, Reduktion und Profanierung geben den überwältigenden Ton an in dieser Lyrik, die viel zu lange, und dies unter Nichtbeachtung ihrer spezifisch anti-lyrischen Anliegen und formalen Eigenheiten, als Ausdruck eines „resignativen Stoizismus“26 gelesen und unter Aspekten der Desillusionierung und Ungereimtheit rezipiert und rubriziert wurde. Mit Blick auf die Liste als literarische Form, ihre quantifizierende Intensität und polysyndetische Unersättlichkeit, lässt sich hingegen ein abweichendes Bild zeichnen. Eich offenbart, vor allem in seinen späten Texten, eine starke Neigung zur sarkastischen Pointe und zur Antiklimax. Seine distinkte Technik der De/Rekomposition untergräbt vor allem Erwartungshaltungen, die traditionelle Leser im Umgang mit lyrischen Texten pflegen:
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Der Vollständigkeit halber sei hier darauf hingewiesen, dass die poetische bzw. ästhetische Liste von der praktischen Liste vor allem auf Basis der fehlenden dingweltlichen Referentialität ersterer abgegrenzt werden soll. Poetische Listen sind im Gegensatz zu praktischen Listen a) disjunktiv und potentiell unendlich, b) heteroklit, d.h. sie neigen zu wunderlichen Verzweigungen und abwechslungsreichen Brüchen und Reflexionen, und c) sie bilden ihren Katalog vorzugsweise auf der Ebene der Signifikanten anstelle der Signifikate; ihre besondere Pointe gilt, mit anderen Worten, einer Form, die selten die geläufige oder im gegebenen Kontext ‚passende‘ ist. Von hier aus erschließt sich im Übrigen auch die ästhetische Differenz der Liste zur herkömmlichen Serie, die in systematischer Hinsicht auf Strukturen der Wiederholbarkeit und Vorhersehbarkeit setzt, die nur selten wirklich – und das heißt epistemologisch wirksam – gebrochen werden. So etwa Jörg Drews in seinem Nachwort zu Günter Eichs Sämtlichen Gedichten, S. 184.
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POESIE DER LISTE Nicht geführte Gespräche Wir bescheidenen Übersetzer, etwa von Fahrplänen, Haarfarbe, Wolkenbildung, was sollen wir denen sagen, die einverstanden sind und die Urtexte lesen? (So las einer aus Eulenspiegels Büchern die Haferkörner) Vor soviel Zuversicht bleibt unsere Trauer windig, mit Regen vermischt, deckt die Dächer ab, fällt über jedes Lächeln, nicht heilbar.27
Dieser poetischen Liste geht es nicht allein um die Aufzählung und melancholische Wiederversammlung des Zerstreuten, sondern auch um die Eigenschaften der benannten Dinge, ihre würdevolle Kleintuerei, die sich gezielt von den idealistischen Menschheitsanliegen – etwa der gravitätischen „Zuversicht“ und den „Urtexten“ – abwendet. Alles dreht sich dabei um eine probate Verneinung, die den Text bereits im Titel fest verankert. Die Elemente und Objekte sind nach dem Prinzip abnehmender Erhabenheit oder Relevanz geordnet, vom Höchsten („Urtexte“) herab bis zu den einfachsten Tätigkeiten bzw. solchen, die als anspruchslos und kommod durchschaut worden sind. Dazu profiliert sich die ironische Antiklimax als dominierende rhetorische Figur. Der weltumspannende Sinn und der hohe, geborgene Ton sind aus den Sammlungsgegenständen herausdestilliert worden, die Aufzählung an sich bestimmt ein Imperativ der geistig-intellektuellen Entfremdung. Was übrigbleibt, ist das Aroma eines Verlusts, nur teilweise ausgeglichen durch den Überschwang der freundlichen, ja warmen Begriffe. Alles nur ein Katalog des Imaginären also, reiner Klang der Worte und „flatus voci“28 eines gelangweilten Dichters? Beileibe nicht. Hier stehen eindeutig wichtigere Anliegen zur Disposition. Eichs eigenwillige Technik der Bild- und Themenreihung, die nicht selten wie ein aus zufälligen Funden gebildetes Lexikon der Dinge daherkommt, forciert geradezu ein Changieren zwischen verschiedenen Zuständen, Erfahrungswelten und Seinsweisen, überlässt sich dem Ausscheren in collagierende Vielfalt und Negation, um die innere Spannung der Texte gegen27
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Günter Eich: Nicht geführte Gespräche. In: ders.: Sämtliche Gedichte, S. 184. Zuerst veröffentlicht in Eichs richtungsweisendem Gedichtband Zu den Akten (1964). Eco: Die unendliche Liste, S. 156.
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über nicht-listenähnlichen Formen oder Mustern zu verdeutlichen bzw. solchen, die sich nur als pragmatisch-ideologische Reihung zu erkennen geben, wie etwa die Namen von Kriegshelden und -opfern auf Monumenten, Persönlichkeiten von hohem Rang, usw. Das Arrangement der Elemente mag dabei zufällig oder willkürlich erscheinen, ist es aber in den seltensten Fällen.29 Auf welchen Umstand seiner Schreibpraxis könnte diese Anordnungsform dann aber zurückgeführt werden? Zum einen dürfte es Günter Eichs lebenslanger Verbundenheit mit der Literatur Chinas – u.a. als Übersetzer – geschuldet sein, dass vor allem seine späten Texte, die er mit deutlichen Worten als eine Form der Kritik am zerstörerischen Denken der westlich-abendländischen Gesellschaft fasst, einen völlig neuen Modus erkunden und dabei auf die fernöstliche Tradition des Listenmachens stoßen.30 Das Bedürfnis, poetische Sammlungen und Listen zu erstellen und sich dabei dem Rausch einer Anhäufung von Wörtern zu unterwerfen, haben seine Gedichte mit den lexikalischen Wucherungen gemein, die sich in vielen Genres der klassischen Literatur aus Fernost belegen lassen.31 Darüber hinaus eignet ihnen die Verweigerung des Abstrakten; die meisten Gedichte zeichnet ein farbiger und konkretistischer Stil aus, der ohne Umschweife seine Verbundenheit mit dem Objekt verkündet, ohne dabei jedoch einem falschen und prätentiösen Jargon der Eigentlichkeit aufzusitzen.32 So fällt ins Gewicht, dass der „Übersetzer“ in obigem Gedicht sich bescheidet, nur Fahrpläne, Haarfarben und Wolkenbildung im Programm zu haben, das heißt, er überträgt im Grunde nichtige, profane oder ästhetisch harmlose bzw. wertlose Gegenstände in Zeichenrubriken, die in Anspruch und Gravität höchstens „Haferkörner[n]“ 29
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Dies ist vor allem durch die außerordentlich hohe Zahl der Entwürfe und Fassungen belegt, die von Eichs Gedichten überliefert sind. Diese Einflüsse sind in der Sinologie bzw. der Germanistik m.E. bislang noch nicht eingehend untersucht worden. Vgl. aber allgemein zu Rang und Wichtigkeit Chinas in Eichs Lyrik: Maoping Wei: Günter Eich und China. Studien über die Beziehungen des Werks von Günter Eich zur chinesischen Geisteswelt. Diss. Heidelberg 1989. Weis klassische Textbeispiele belegen unmissverständlich die Affinität von Eichs Lyrik zur chinesischen Poesie, vor allem in der Wahl ihres Tons und ihrer Begriffe, der gedrängten Semantik und des auf Verknappung und Kürze abhebenden lakonischen Stils. Vgl. zu den weitreichenden kulturellen Funktionen von Listen u.a. Jacqueline Pigeot: Die explodierte Liste: die Tradition der heterogenen Liste in der alten japanischen Literatur. In: Jullien: Kunst der Liste, S. 73-115. Vgl. dazu Theodor Adornos berüchtigte Abrechnung mit den deutschen Nachkriegseliten im Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a.M., 1964. Nach Eichs literarischer Selbstkritik in den frühen Jahren der Bundesrepublik wäre eine Rückkehr zum Dogma des Echten, zur Natürlichkeit und Lebendigkeit, zu Auftrag und Gesinnung, zu den ganzen gequält-neoromantischen Idiomen der Naturmagischen Schule, einem Verrat an der soeben erworbenen ästhetischen Skepsis gleichgekommen.
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gleichkommen. Die Tätigkeit des Übersetzens schreibt sich gewissermaßen klein. Damit wird die unterstellte Nützlichkeit einer Übertragung von Welt in geordnete Zeichenfolgen in ihrer Sinnhaftigkeit radikal in Frage gestellt, das konkret gelistete Element beansprucht keine über sich selbst hinausreichende Relevanz mehr. Immer wieder gelingt es Eich in dieser Form, allgemeine und spezielle Gegenstände und Fälle reihenartig miteinander zu verknüpfen, ohne ihrer realen Kompatibilität dabei Beachtung zu schenken. Seine Form der Liste bzw. Sammlung behält sich alle Möglichkeiten der Kombination vor, genügt sich aber selbst durch ihre Weise der Aufzählung und erschafft so erst die Welt, in der sie ihre Wirksamkeit entfalten möchte. Wirklichkeit ist nicht ihre Voraussetzung, sondern ihr Ziel.33 Der Äther, in dem diese Sprache gedeiht, ist jenem verwandt, der seit den sechziger Jahren die wachsende Sprach- und Gedächtniskritik der jüngeren Generationen der Bundesrepublik genährt hat; wie viele andere wendet sich Eich mit seiner Lyrik gegen die „onto-theologischen Eröffnungen der neuzeitlichen Metaphysik und die am Altar des grünen Gottes geweihten Sinnfunde naturmagischer Lyrik“, geht an gegen das „Aufspreizen mit Sinn und Bejahung in jeder Gestalt.“34 Die für diesen Verzweiflungsakt des poetischen Ungehorsams benötigte Grammatik entwickelt Eich dabei aus einer Reihe von Textbezügen, die seinem Hang zur heterokliten, wortreich flottierenden Liste entgegenkommen. Als prominentes Merkmal ist dabei an erster Stelle sein Verzicht auf die grammatisch fixe Subjektposition zu nennen, die dem traditionellen Gedicht seine Stabilität und Kohärenz verleiht. Sprecher werden nicht nur fragmentiert, in variable Äußerungspositionen zerlegt, sie verschwinden buchstäblich aus dem Text, wobei meist unpersönliche Passiv- bzw. Partizipialkonstruktionen ihre Funktion übernehmen: Pläne Mit dem Rücken an meine Pläne gelehnt, über mürrisches Pflaster, eingedenk der Ermordeten, der unlesbaren Knotenschnüre, der Sternwarten 33
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Hier böte es sich an, die von Detlev Schumann vor Jahrzehnten getroffene Unterscheidung zwischen konjunktiven und disjunktiven Aufzählungen wiederzubeleben. Detlev W. Schumann: Enumerative Style and its Significance in Whitman, Rilke, Werfel. Modern Language Quarterly, 3.2 (1942), S. 171-204. Carsten Dutt, Dirk von Petersdorff: Der frühe und der späte Eich. Kontinuitäten in der Werkgeschichte? In: Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstages am 1. Februar 2007. Hg. von Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff. Heidelberg 2009, S. 9-24, hier: S. 21.
RALPH PORDZIK und der tauben Stellen des Fleisches, der Maya und der Brachvögel abwandernd, und aufgegeben die Schnalzlaute afrikanischer Sprachen.35
Der Verlust des Agenten oder Spezifikators (bzw. des aktiven Trägers des beschriebenen Vorgangs oder Zustands in einer syntaktischen Folge) steht hier ganz im Dienste einer Identitätsflucht bzw. Selbstaufhebung, die das sprechende Ich hinter die ineinander gleitenden Gegenstände der Liste zurücktreten lassen und seinen Freiraum zum aktiven Eingreifen in die Prozesse der Welt entschieden einschränken. Die freie Wortstellung bei gleichzeitigem Fehlen des Ich und eines abgeschlossenen Sujets zeigt eine Überwucherung der Persona mit den im Gedichtkörper rubrizierten Elementen an, die sich wie eine textuelle Zyste um ihre Selbstwahrnehmung zu legen scheinen: Das Subjekt tritt aus seiner metaphysischen Umgrenzung aus und verliert sich im unsortierten Feld der Liste, deren Komponenten scheinbar wahl- und beziehungslos aus dem welt- und geschichtsumspannenden Realen zusammengetragen worden sind. Aufschlussreich ist dabei zum einen, dass die „Möglichkeit des Gestaltwechsels und der Selbstaufgabe“ nicht mehr mit der mystischen „Einswerdung“ des Ich mit einer „bergenden Natur“ verbunden werden kann wie noch in der naturmagischen Dichtung der zwanziger Jahre; dieser Sprecher vermag sich nicht mehr mit dem größeren Ganzen des geschichtlichen Kosmos zu versöhnen.36 Zum anderen erlangt die Reihe den Status einer eigenständigen Episteme im Sinne Michel Foucaults, d.h. sie bewirkt – durch Juxtaposition des Entlegenen und forcierte Rekomposition des Zerstreuten – auch eine Neuordnung der Möglichkeiten und Bedingungen, unter denen kulturelles Wissen (bzw. Denken) zustande kommt, begründet im weiteren Sinne ein alternatives Aufschreibesystem als Netzwerk zur Speicherung, Weitergabe und Diffusion von Informationen und Relationen.37 Denn was die hier gelisteten Elemente in konnotativer Hinsicht wesentlich eint, ist ihre Zugehörigkeit zur Welt semiotischen Vermittelns. Die in eine unerwartete Konstellation gebrachten Termini folgen einer Logik, die Elemente und Erfahrungsgenstände zunächst einmal gemäß ihrer Fähigkeit reiht, dem Sprecher als Verständigungsmedium zu 35 36
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Günter Eich: Pläne. In: ders.: Sämtliche Gedichte, S. 373. Vgl. dazu Jürgen Joachimsthaler: Die Pest der Bezeichnung. Günter Eichs Poetik der Verstrickung und der Austauschbarkeit. In: Dutt/von Petersdorff: Günter Eichs Metamorphosen, S. 87-120, hier: S. 93f. Vgl. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Übers. v. Hans-Joachim Metzger. Berlin 1978. Zum Konzept des Aufschreibesystems vgl. Friedrich A. Kittlers nach wie vor eindrucksvolle Schrift Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995.
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dienen und die Vermitteltheit des eigenen Ich zu dramatisieren. Afrikanische „Schnalzlaute“ und indianische „Knotenschnüre“ sowie die scheinbar eigenmächtig eingerückte „Sternwarte“ bzw. die – metonymisch für ihre ausgestorbene Sprachfamilie einstehenden – Maya verweisen auf seinen Zugang zur natürlichen Umwelt wie auch der Sphäre kultureller Traditionen; sie ermöglichen ihm ein Eindringen in unbekannte Sinn- und Erfahrungsräume. Die Tatsache jedoch, dass sie ihm nur „aufgegeben“, „unlesbar“ oder „taub[ ]“ bzw. wie die Brachvögel in „abwandernd[er]“ Gestalt entgegentreten,38 schränkt zugleich ihre Brauchbarkeit als Medien- oder Verständigungswerkzeuge ein und verdeutlicht damit den Zustand sprachlicher Uneigentlichkeit, der Eich allerorten begegnet, die zunehmende Schwierigkeit des Dichters, in den Naturzeichen bzw. den Sprachen der Menschheit etwas Entzifferbares zu sehen, das nicht zugleich arbiträr bzw. einem größeren Sinnzusammenhang entzogen wäre. Zwar ist der Poet noch immer ein Fährtenleser und Skriptor, der die Welt um sich herum in Zeichen zu legen vermag, doch ist ihm darüber der Sinn für klassische Ordnungen und Systematiken gründlich abhandengekommen. Dass er seine scheiternden Pläne und sein Gefühl für misslingende Kommunikation zugleich im Gedenken an die nicht weiter differenzierten Opfer von Gewalt – die „Ermordeten“ – formuliert, verstärkt hier nur den Eindruck der Resignation bzw. Kritik am Versagen der Sprachen, aufklärerisch – oder wenigstens therapeutisch – in der Welt ihre Wirksamkeit zu entfalten. All dies ist bereits hinlänglich bekannt.39 Weitgehend unbeachtet ist hingegen der Bezug zur Listenhaftigkeit vieler Texte geblieben, der sich hinter Eichs sprachkritisch-taxonomischer Wende verbirgt, der poetischgenealogischen Welt hinter den austauschbaren „Namen mit i / oder Namen mit o“,40 die auf inhaltsleere Nomenklaturen oder Bezeichnungen hindeuten und der längst entzauberten Naturmystik ironisch ihr Spiegelbild vorhalten. Hierin nur den Gram eines Enttäuschten zu sehen, dessen poetische Sprache am Ende nichts anderes mehr kommuniziert als „ihre (kunstvoll und virtuos inszenierte) Unfähigkeit, überhaupt irgendetwas
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Brachvögel werden traditionell mit dem „ersten Pflügen des Ackers“ und den natürlichen Anbauzyklen der traditionellen Landwirtschaft assoziiert. Ihr Abwandern suggeriert damit eine Unterbrechung dieser Zyklen und legt einen Bruch des Menschen mit seinem von alters her überlieferten Bezug zur Natur nahe. Vgl. dazu Peter Bertau: Die Bedeutung historischer Vogelnamen – Nichtsingvögel. Bd. I. Berlin und Heidelberg 2014, S. 422. Vgl. dazu weitere Informationen über Eichs frühen Ruhm als deutscher Nachkriegsdichter, seine Wandlungen in den sechziger Jahren und seine Kritik der herrschenden poetischen Diskurse und Versformen bei Joachimsthaler: Die Pest der Bezeichnung, S. 102ff. Günter Eich: Namen. In: Ders.: Sämtliche Gedichte, S. 320.
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zu kommunizieren“,41 wäre zweifellos verkürzt. Die zu vitalen und farbigen Katalogen verdichteten Reihungen drücken viel mehr aus als wortreiche Resignation, gestalten auf ungewohnten Wegen alternative Kommunikationsräume. Sie erweisen sich als offene Leselabyrinthe in ihrem Bemühen, die Eigenschaften ihrer Elemente deren Substanz vorzuziehen und situieren sich damit im kritischen Wirkungszusammenhang einer spätmodernen Kulturphase, die sich – so Umberto Eco – „in einer Krise befindet und alle vorangegangenen Definitionen in Zweifel ziehen will.“42 Dass die Arbeit dieser Gedichte an der Liste sich dabei auf Akzidenzien und beschreibende Enumerationen in der Art eines Wörterbuchs stützt, leistet zu ihrer Erscheinungsweise eher einen geistreichen Beitrag als dass es ihr Schaden zufügte. Nichtlinear und ironisch wie Eichs Gedichte angelegt sind, transformieren sie ihre Elemente in flüchtige Symbole eines lyrischen Gebrauchskontextes, der am Ende als sein eigener Multiplikator denk- und deutbar wird und im Fortschreiten immer neue Relation ent- bzw. verwirft. In poetologisch-stilistischer Hinsicht etwas anders verhält sich dies in den Gedichten Paul Celans. Auch in seinem hermetischen und metaphorisch konzentrierten, dabei auf Eichs sprachkritischer Linie liegenden Werk nehmen listenartige Reihungen viel Raum ein. Celans Hang zur Bildung offenstehender Metaphern lässt diese jedoch häufig in den Hintergrund treten. Gleich bleibt zunächst die schon bei Eich hervorspringende Technik, die ausgeliehenen Elemente bzw. Eigenschaften gegebener Objekte zu dekontextualisieren und im eigenen Text in anderer Abfolge beliebig neu zu arrangieren. Man könnte hier auch von versteckten bzw. unbestimmten Listen sprechen, da sich das Moment der Aufzählung dem Leser nicht unmittelbar aufdrängt: ETWAS WIE NACHT, scharfzüngiger als gestern, als morgen; etwas wie einer Fischmäuligen Gruß übern Jammertresen; etwas Zusammengewehtes in Kinderfäusten; etwas aus meinem und keinerlei Stoff.43
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Joachimsthaler: Die Pest der Bezeichnung, S. 103. Eco: Die unendliche Liste, S. 218. Paul Celan: Schneepart. Frankfurt a.M. 1997, S. 33.
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In diesem Listengedicht aus Celans später Sammlung Schneepart fallen, wie schon bei Eich, zunächst der fehlende Spezifikator und die Verwendung passivischer Perfektpartizipien („Zusammengewehtes“) ins Auge. Wortaufschüttung auf der einen und syntaktisch-semantischer Zerfall auf der anderen Seite markieren zwei Areale, um die herum sich das Sprachmaterial lose gruppiert. Allein das unbestimmte Numerale „etwas“ scheint der hier vorgestellten Liste einen per Anapher gebildeten Zusammenhalt zu verleihen, der paradoxerweise Relativität und Austauschbarkeit der Begriffe suggeriert („etwas wie…“, „etwas aus meinem / und keinerlei Stoff“, usw.). Das heimelige Geraune, das der frühen Lyrik Celans vielfach anhaftet, findet sich in diesem Text weitgehend annulliert, die poetischen Zeichen erscheinen von jeder Mystik losgelöst und stehen in einem sprachlichen Verbund, der höchstens noch seine eigene Geheimnislosigkeit expliziert. Zum arbiträren Signifikanten reduziert, erscheint der Wortsinn dem Leser beliebig ersetzbar. In seiner impliziten Sprachkritik geht dieses Gedicht allerdings ersichtlich über die bei Eich hervorgekehrten Grenzziehungen hinaus. Dem Leser, konfrontiert mit seinem operativen Bedürfnis, aus der gegebenen Vorstellungsfolge Sinn zu destillieren, offenbart sich dieser Schritt zunächst im Kontext der von Celan durchgeführten „Spektralanalyse“44 seiner für sachfähig befundenen bzw. scheinbar willkürlich aufgelesenen Objekte: Die in loser Aufzählung oder Reihung per Numerale vergegenwärtigten Komponenten finden sich in subtile Akzente und Splitterungen aufgelöst. Der „fischmäulige“ Gruß, von unbekannter Seite über den „Jammertresen“ gereicht, lässt den Zusammenhang offen, in dem er sich ereignet; ein Gebilde, das „scharfzüngig“ auftritt und dabei an „etwas wie“ Nacht gemahnt, lässt sich nur unter Mühen denken; „gestern“ und „morgen“ scheinen darin zudem synonym bzw. fungibel. Diese Reihung und Vergegenwärtigung des Abstrakten, mitunter Undenkbaren, emergiert hier demnach als Chiffre; die Listung erscheint in sich gebrochen, in Schliffflächen und Kanten geborsten, zeigt Gegenstände nur in Durchdringung mit anderen, nachbarlichen oder disparaten Elementen und verweigert sich damit der Allseitigkeit bzw. „Unersättlichkeit“45 der traditionellen Liste. Die Reihe oder Litanei selbst, ihrer klassischen Verbindungsglieder und Konjunktionen beraubt, scheint in ihrer Funktion als brauchbares Instrument der Wirklichkeitssuche in Frage gestellt. In anderen Gedichten Celans ist es die Metapher bzw. die Analogie, die es gestattet, unbekannte Beziehungen zwischen den rubrikartig prä44
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Zur Herkunft dieses Begriffs vgl. Theo Buck, der Celans Lyrik vor allem als „Impulse zur Verfertigung von Kristalldiagrammen“ versteht: Mehrdeutigkeit ohne Maske. Zum ästhetischen Modus der Dichtung Paul Celans. In: Text und Kritik 53/54 (1984), S. 1-8, hier: S. 3. Eco 2009: Die unendliche Liste, S. 137.
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sentierten Elementen zu entdecken bzw. herzustellen – ein bislang nur am Rande ausführlich berücksichtigter Aspekt in Celans spezifischer Metaphorologie.46 Im Früh- und Spätwerk sind gleichermaßen Konstruktionen zu finden, die ihr Bilderrepertoire inventarisierend – im Rahmen ungewohnter Kategorien – präsentieren: ESPENBAUM, dein Laub blickt weiß ins Dunkel. Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß. Löwenzahn, so grün ist die Ukraine. Meine blonde Mutter kam nicht heim. Regenwolke, säumst du an den Brunnen? Meine leise Mutter weint für alle.47
Die Komplementarität der Bezüge in diesem frühen Gedicht verrät eine überschwängliche Freude an enzyklopädischen Mustern, die über den reinen Katalogeffekt hinaus andeutungsreiche, syntaktisch-semantische Wiederholungen generieren. Die am Bildhaften ausgerichtete Phantasie findet sich in der glücklichen Situation, ungewohnte Verbindungen zwischen den Begriffen herzustellen, obwohl sie im Lektüreakt selbst einem Wiederholungsritual strenger Parallelismen unterworfen ist: eine zunächst höchst paradoxe Setzung. Im Modus der Anrede werden Fälle der natürlichen Umwelt („Löwenzahn“, „Regenwolke“, usw.) verzeichnet, die im Felde ihrer unmittelbar mimetischen Bedeutung nur dinghafte Eigenschaften verkörpern würden, hier aber unter einem anderen Meridian zu neuen qualitativen Ehren kommen. In jedem der verzeichneten Fälle wird dabei ein spezifischer Bezug zur „Mutter“ als einer Quelle des Verlusts bzw. des Mangels hergestellt, wird dem Gedicht die Gunst einer das Historische transzendierenden, psychischen Dimension erwiesen. Wieder übernehmen binäre Oppositionen die Bürde des Arguments in dem Bemühen, die beim Leser anfallende Bedeutungsbringschuld abzuleisten: So etabliert die erste Kurzstrophe einen Gegensatz zwischen dem Alter des Baumes und der unterstellten Kürze des Lebens der Mutter, die zweite suggeriert das tragische Fehlen mütterlicher Nähe in einem scharfen Kontrast aus Fruchtbarkeit („grün“) und Kargheit bzw. erzwungener Infertilität, usw. Die spezifische Qualität der hier verwendeten Listenglieder liegt vor allem in ihrer Fähigkeit, Kategorien vorzusehen, die sich bevorzugt aus dem Parallelismus der Strophen und der dabei gebildeten, komplementären Metaphern ergeben: eine metaphorische oder nichtlineare Liste
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Vgl. zu Celans außergewöhnlichen Metaphern und den listenartigen Kontexten ihrer poetologischen Verwendung Peter H. Neumann: Zur Lyrik Paul Celans, Göttingen 1968, 7–21. Paul Celan: Mohn und Gedächtnis [1952]. München 2012, S. 15.
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sozusagen, der ein ganz eigenes, auf der Erkenntnismacht des akkumulierenden Sinnbilds beruhendes Potential zugeschrieben werden darf. Gegen den mehrheitlich vorherrschenden Jargon sprachlicher Klarheit und Eigentlichkeit seine Schöpferkraft unter Beweis zu stellen, gelingt Celan gerade in dieser Hinsicht auch in seinen späten, häufig als unverständlich gebrandmarkten Gedichten. Was die Listenkunst angeht, so bleibt diese ein unaufkündbarer Teil seiner markanten poetischen Gestaltungstechnik. Ein spätes Beispiel vermag zu zeigen, wie sich die Rubrik oder Sammlung dabei mitunter zum einfachen, auf mehrere Zeilen verteilten Satz verengt: ALS FARBEN, gehäuft, kommen die Wesen wieder, abends, geräuschvoll, ein Viertelmonsun ohne Schlafstatt, ein Prasselgebet vor den entbrannten Lidlosigkeiten.48
Diffuse, farbig auftretende „Wesen“ und ihre Eigenschaften bzw. Unterscheidungsmerkmale fungieren in diesen Zeilen vordergründig als Bedeutungsträger. Ein Pantonym bzw. richtungs- oder themenweisendes Lexem, dem sich – z.B. über den Titel – erläuternder Charakter zuweisen ließe, fehlt diesem Text jedoch ebenso wie vielen anderen Gedichten Celans auch. Der Leser muss sich auf den gegebenen Eintrag verlassen und sich selbst ermutigen, jene Trennwände niederzureißen, die gewisse Morphoklasmen („Viertelmonsun“, „Prasselgebet“, usw.), Themen und Referenzen von der Welt des Realen abgrenzen. Auf allgemeine Kategorien zurückzugreifen ist ihm als Durchschlupf verwehrt aufgrund der geistreichen und überraschenden Handhabung des Wortmaterials. Die klassische Satzliste vermengt sich hier mit den diversen Schichten aus Rätseln und Anspielungen, die den Text einhüllen und den Leser schrittweise zur Differenzierung seiner Hypothesen ermutigen; sie bildet somit Verfahren und Motiv in einem gemeinsamen Akt ab. Die couragierte Inventur erst erschafft ein Inventar, birgt Fossile von innerweltlichen Reflexen und Bewusstseinsakten, und spinnt das solcherart durch Addition Erschlossene zugleich in eine Art Mikroerzählung ein: Der schattenhafte Umriss einer Themengalerie des von Schlaflosigkeit Gezeichneten schimmert durch („abends“, „ohne Schlafstatt“, „Lidlosigkeiten“, usw.). Konzentration und Raffung sowie der Einsatz gewagter Nominalkomposita lassen die Reihung sich zu einem abgründigen und delphischen Pantonym verdichten.
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Paul Celan: Fadensonnen. Frankfurt a.M. 1968, S. 109.
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4. Vom Katalog zur Serie: Buchstabenketten des Jetzt Im Lichte der bis hierhin zusammengetragenen Techniken und Verfahren lässt sich den Listen der modernen Poesie ihr markant sprachkritischer Impuls ohne größere Hemmnis nachweisen. Sie haben Anteil an einer Stimmungslage, die sich den im Bilde der Sprache figurierten Wahrheiten, Anliegen und Bindungen nicht mehr leichtfertig anvertrauen mag. Den signalhaft einschnappenden Reflexen, die da Verwendung finden sollen, um das Feld und die Funktionen der Dichtung für die Alibis und Hierarchien eines größeren gemeinschaftlichen Sinnganzen einzunehmen, entwinden sie sich, wo es ihnen gefällt.49 Ihr Status als Kataloge, Bildregister oder -konservatorien und damit als Instrumente epistemologischer Erkenntnis arbeitet ihnen dabei zu. Weil sie konkret und abstrakt zugleich sind; weil sie welthaltig sind, ohne sich voreiliger Objektivation zu unterwerfen; weil sich in ihnen jede Hoffnung auf völlige Deckungsgleichheit von Signifikat und Signifikant außerdem als illusorisch erweist, lassen sie – erleichtert nicht zuletzt durch ihr Grundprinzip der Montage, der kalkulierten Auslassung und des Einschlusses sowie der aleatorischen Zeichenwahl – in ihrem Verhältnis zum Außertextlichen dessen ungleichmäßige Topographie erst erkennbar werden.50 Was auf dem Wege paradigmatischer Selektion und Kontrastierung in ihren näheren Orbit gerät, gibt – ex negativo – Aufschluss über die übrigen Gegenstände und Fälle, die ebenfalls hätten abgebildet werden können: Das Konzept der vollständigen Beschreibbarkeit von Welt gerät so auf den Prüfstand, das Sammeln der bekannten bzw. benennbaren Dinge in einem Text oder einer beliebigen Rubrik verweist zugleich auf den nicht bekannten (oder unbewusst ausgeschlossenen) Teil der Welt.51 Die Welt wird als linguistisches Konstrukt transparent und performativ auf den Text abgebildet; die außersprachliche Realität zeigt sich für höchst differenzierte Formen der Aufteilung aufgeschlossen und enthüllt damit, dass jede unterstellte Homogenität – einer Reihe, Aufstellung, Nomenklatur – letztlich eine Frage der epistemologischen Entscheidungen ist. Nicht einmal die klassischen Leit49
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Vgl. dazu auch das Manifest jüngster, post-postmoderner Dichtungstheorien in: Ann Cotten, Daniel Falb, u.a.: Helm aus Phlox. Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs. Berlin 2011. Vgl. dazu Ann Cotten, die mit gebührendem Nachdruck den paranoischen Sachverhalt aufdeckt, dass sich „theoretisch zu jedem zeitlich und räumlich begrenzten Chaos das System denken [lässt], in dessen Interpretation die Sache geordnet erschiene.“ Cotten: Nach der Welt, S. 31. Vgl. dazu die bei Cotten aufgeführten, diversen Projekte vergangener avantgardistischer Kunst und Poesie, die auf eine umfassende Erschließung der Welt durch Listen und Inventare abzielen. Dass die meisten von ihnen mit ihrem Anliegen gescheitert sind, dürfte wohl ihrem vermessenen Anspruch auf universale und erschöpfende Repräsentation geschuldet sein. Cotten: Nach der Welt, S. 164f.
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begriffe oder Pantonyme, in denen idealerweise alle Elemente einer Liste „potentiell enthalten“52 sind, können so noch die Sicherheit einer zwar dynamischen und letztlich unendlichen, in sich aber systematisch geordneten und dem kritischen Verstand zugänglichen, anschaulichen Welt gewähren. Damit ließe sich – zugespitzt formuliert – die Hypothese wagen, dass die Liste, Reihung oder Rubrik die absolute bzw. reinste Verknüpfungsform des Gedichts – möglicherweise sogar von Textualität an sich – repräsentiert.53 Beispielsweise gestattet es die ungenierte Zusammenstellung seiner Leidenschaften und Aversionen Roland Barthes in seiner Autobiographie Über mich selbst, der exotischen Freizügigkeit seiner Auswahl durch Juxtaposition des Entlegenen frappant ingeniöse Züge beizumengen – eine Art rettendes (Ver-)Sammeln in der Beschwörung, dessen poetische Kraft nicht zuletzt auf der Möglichkeit beruht, auch eine praktische oder Alltagsliste als poetische zu lesen.54 Paradigmatische Wortund Kontextrelationen bestimmen auf der anderen Seite die relative Listenhaftigkeit des Gedichts vor aller Kombinatorik seiner Grapheme in der syntagmatischen Achse, reglementieren durch Akte der Selektion, Semem- und Wortbildung, durch Zeilenfall, Kompression, Steigerung, usw. seinen Reichtum an Initiative und schöpferischem Vermögen. Wirklich schlüssige oder gar universelle Regeln für die Bildung einer poetischen Liste lassen sich aus diesem Befund allerdings nicht ableiten. Wohl stiftet die Liste Ordnung bzw. Kohärenz, setzt dabei aber weitgehend autonom die Kriterien fest, nach denen diese Ordnung gebildet und welchen Funktionen sie sich letztlich fügen wird. Sie provoziert riskante Effekte der Diskontinuität bzw. Äquivalenz und bietet sich aufgrund innerer Brüche und Spannungen als eine enzyklopädische sprachliche Gestalt eigener Provenienz, Kraft und Ausdrucksfülle dar. Die Kunst des Anfertigens von Listen beruht dabei stets auf einer etablierten und sprachlichkompositorisch transparenten Logik und parallelen bzw. „räumlichen“55 52 53
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Pigeot: Die explodierte Liste, S. 80. Goody: Woraus besteht eine Liste?, S. 353: „Tatsächlich dürfte sogar der bloße Umstand, dass so etwas wie Listen angefertigt wurden, bereits mit zur Entwicklung des Alphabets in Phönizien und Palästina beigetragen haben.“ Vgl. Roland Barthes: Über mich selbst [1975]. Berlin 2010, S. 137: „Ich liebe: Salat, Zimt, Käse, Gewürze, Mandelteig, […] Rosen, Pfingstrosen, Lavendel, Champagner, leichte Stellungsnahmen in der Politik, Glenn Gould, über alle Maßen eisgekühltes Bier, flache Kopfkissen, […] abgemessene Spaziergänge…“, usw. Die Kriterien der Mengenbildung erscheinen in dieser witzigen Litanei auf den Kopf gestellt bzw. radikal subjektiviert. Eine Liste, die mit den Worten „Ich liebe…“ eingeleitet wird, ist potentiell unendlich erweiterbar. Barthes’ regelmäßige Exkursionen in das Medium der Inventur als eines Mittels der Selbstdarstellung rechtfertigten im Übrigen einen eigenen Aufsatz. Goody: Woraus besteht eine Liste?, S. 354.
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Anordnung; den Urhebern geht es allein darum, ihre Dispositive und Typologien so einzusetzen und anzuordnen, dass sich ein maximaler Wirkungsgrad und -effekt damit erzielen lässt. Mit diesen summarischen Hinweisen ließen sich Rang und Geltung der Liste als richtungsweisender Instanz in den poetischen Sinnbildungsverfahren der modernen Lyrik mühelos festigen. Dem bisherigen Argument folgend, bietet sich als Kehraus eine Abrundung des geleisteten Aufrisses mit einem Blick auf Arbeiten der jüngsten deutschen Dichtergeneration an. Nicht wenige ihrer Texte werben für die Liste als strukturgebendes Prinzip und gestalten dabei das einzelne Gedicht als einen Raum des ästhetischen Zusammentreffens aus, der nicht nur überraschende Begegnungen und Zusammenwürfe zeitigt, sondern die Kriterien der Raumbildung selbst einer kritischen Prüfung unterzieht: eine demonstrative Konsequenz des spatial turn in den Kulturwissenschaften, wie man meinen möchte.56 Ann Cottens Gedicht Solidus etwa wartet mit einer Listenstruktur in Form eines in zahlreiche Verästelungen sich gabelnden, nichtdichotomischen Rhizoms auf: Die Einsen bei Heine / der Einstieg zu Heinse / der Kottbusser Damm / die trippende Nadel / der Gang durch das Zimmer / der Deckel / das Gähnen / die gleißenden Dächer / die Schritte des Typen der neben mir geht / die Schritte auf Treppen / die Flecken auf Treppen / das Knacken der Gänge / die Liebe der Dielen / das Schöne am Versmaß / das Irren im Versmaß / das Skansionshaus / der Trickster / der Klempner / das lügende Bett/ die fahrende Werbung […] und Kiemen / die Lungen in Auslagen / liegen herum.57
Der überlange, aus insgesamt 37 eng bedruckten Zeilen bestehende Text kommt als sprühendes Pointengedicht daher, das eine zunächst willkürlich und prätentiös abnorm oder skurril wirkende Reihung am Ende völlig überraschend mit einer Verbkonstruktion abschließt. Eine kritische Lektüre liefert schnell den Befund, dass vor allem der Gebrauch möglichst vieler rhetorischer Figuren das Kompositionsprinzip des Textes bildet – neben Assonanzen („Einsen bei Heine / der Einstieg zu Heinse“) verleihen zahlreiche Parallelismen („der Regen auf Dächern / die Tauben auf Schildern“) und Paronomasien („Wissen / und Schismen“) sowie die Denotation im Titel („Solidus“58) dieser eigenwilligen Liste ihre Gestalt, die 56
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Vgl. dazu Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg: Rowohlt, 2006, S. 289f. Ann Cotten: Florida-Räume. Berlin 2010, S. 210f. Ursprünglich handelte es sich beim Solidus um eine römische Goldmünze aus der Zeit Konstantins des Großen. Vielleicht waren es Semanteme wie Währung, Instabilität derselben, Umlauf und Prägung, die der Autorin zur Wahl dieses Ti-
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sich damit als radikal heteroklit erweist und der Welt vorgefundener Elemente ihren eigenen – nach rhetorischen Kriterien zurechtgeschnittenen – Ordnungsstempel aufdrückt. Als rhizomisch verfasster Begriffskatalog erkundet das Gedicht zugleich eine Thematik, mit der sich vor allem die jüngeren Generationen konfrontiert sehen: Anlass des Schreibens bildet die Omnipräsenz einer Kultur der medialen Rundum- und Überversorgung, in der die verlässliche Herkunft von Daten und Informationen – und damit ihre Plausibilität und Überprüfbarkeit – zunehmend in den Hintergrund tritt.59 Zettelkataloge geben den Ton an, und Suchmaschinen ordnen die Welt nach optimierten und vorstrukturierten Formeln und Algorithmen, deren Zuverlässigkeit und Sicherheit durch keine allgemeingültige Methode gewährleistet ist. In „Solidus“ verleihen diese Unwägbarkeiten der Auswahl und Kombination der Dichterin das Rüstzeug für ihre Machinationen und geübten Irreführungen. Wo der Leser sich vorschnell auf den intrinsischen Zusammenhang der verwendeten Termini versteifen mag, steht letztlich die lapidare, aber zeichen- und medientheoretisch bedeutsame Erkenntnis im Raum, dass der Text nur eine mögliche Manifestation der Idee darstellt, Schrägstriche als Zeichen zur Unterteilung von Einheiten bzw. Komponenten zu nutzen, die rhetorisch distinkten Merkmalen folgend collagiert wurden. Dass diese Merkmale letztens Endes mehr Aufschluss über das Eigengewicht der Wörter als über die Ordnung der Welt vermitteln, ist dabei nur eine der erfindungsreichen Ironien, die der Text abwirft. Was sich präsentiert, ist der assoziative Bewusstseinsstrom einer körperlich nicht in Erscheinung tretenden Persona; allein der Schrägstrich vermittelt hier eine rudimentäre Konzeption von gedanklich strukturierter oder räumlich gegliederter Anordnung.60 Die Sinnproduktion des klassischen lyrischen Diskurses wird in „Solidus“ somit wirkungsvoll zur Strecke gebracht, das Sprechersubjekt selbst verschwindet im Gewimmel der Liste, die ihre Gegenstände ohne jede unteroder nebenordnende Konjunktion in den Raum entlässt. Textintern entsteht dabei eine Art neuer Grammatik (oder Linguistik) der Bezüge auf der Grundlage einer „Lautleite“ (Elke Erb) qua Assoziation und Gleichklang, die ungeniert von einem Lexem zum anderen springt, während die handelsübliche Syntax völlig an Gewicht verliert.
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tels verholfen haben. Wörtlich handelt es sich dabei allerdings einfach nur um den im Englischen gängigen Begriff solidus, der auf Deutsch Schrägstrich bedeutet, und den Leser pointiert auffordert, sich – mit Roland Barthes gesprochen – für oder gegen die Konnotation zu entscheiden. Vgl. dazu im Einzelnen Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft. Berlin 2012. Es wäre ein Leichtes, Ann Cotten an dieser Stelle mit ihren eigenen Formulierungen über die radikalen Tendenzen zeitgenössischer Inventurlyrik einzuholen. „Solidus“ ließe sich unter dieser Prämisse einer Sprecherin zuordnen, die sich in einer Situation befindet, in der sie „sich nicht auskennt, und deswegen erst einmal davon absieht, Aussagesätze zu äußern.“ Cotten: Nach der Welt, S. 170.
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Es käme einer groben Verallgemeinerung gleich, anzudeuten, dass alle zeitgenössischen Dichtungen so radikal ausfielen wie der von der jungen Ann Cotten auskomponierte (Listen-)Text. Dass neue Grundlagen des Sammelns und Rubrizierens, neue Verzeichnisarten und literarische Thesauri nötig geworden sind, um den wachsenden Informations- und Datenmengen der Postmoderne und ihrer neuen ökonomischen Imperative Herr zu werden, dürfte jedoch fast schon als Gemeinplatz gelten.61 Unter dem Einfluss der Liste und den ihr angegliederten Praktiken der Inventarisierung hat sich die deutsche Lyrik der letzten Jahre deshalb maßgeblich verändert. Individuelle Autor- bzw. Urheberschaft haben konzeptuell an Relevanz verloren; der Tauschwert der Zeichen, ihre Beziehbarkeit und Kombinatorik, hat sich ihrer mimetischen Bezeichnungsfunktion übergeordnet; die Kreisläufe des Kapitals und der in Umlauf befindlichen Datenmengen haben sich in einer Weise beschleunigt und verkompliziert, dass sich kaum mehr von einer störungsfreien Zirkulation der Kommunikation sprechen lässt. Es liegt daher nahe, einen engen, möglicherweise restaurativen Bezug der poetischen Liste zur grassierenden Ästhetik des Verschwindens62 zu konstatieren. Dem wichtigsten Macht- und Kontrollinstrument der Moderne, ihrer rasenden Beschleunigung in der Abfolge neuer und neuester Moden und Denkmuster, begegnen ihre Schöpfer mit der (Ab-)Lagerung poetischer Materialien, dem Ideal der unendlichen Lektüre, vielfältigen Formen des Nachhalls von Zitaten und abgewandelten Zitaten, Morphoklasmen, witzigen Registern und Verzeichnissen, die, indem sie auf keine festgefügte Realität mehr rekurrieren, vor allem sich selbst repräsentieren. Der Vorherrschaft des sedimentierten, zur Schließung strebenden Sinns hält die Liste einen poetischen Setzkasten entgegen, in dem diverse Tonlagen – hoch und niedrig, trivial und zerebral – räumlich wie sinngemäß eng beieinander liegen. Man darf diese Archiv- und Sammelmaßnahmen durchaus als verspätetes Hohelied auf das aus präskribierten Kontexten befreite Lexem und seine Bedeutung für die Wirkkraft poetisch-ästhetischer Sprache verstehen. Auf 61
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Unter den gegenwärtig weithin beachteten Lyrikern wären hier u.a. Ron Winkler zu nennen sowie der zuletzt mit Preisen reich gesegnete Jan Wagner. Allgemein zeichnet ihr Einsatz poetischer Listen sich allerdings weniger durch eine Demontage der Form als vielmehr durch eine auf Formbegehren und Rekomposition geeichte Semantik aus. Der rhizomische Genuss, die Freude an der Entflechtung und Zerstückelung, weicht einem restaurativen Drängen nach kohäsiver Erschließung und Reinkorporation der jeweiligen Listenglieder. Vgl. erhellend dazu auch Jan Wagners Gedicht die vögel. waratah street; dessen Regentonnenvariationen (München 2014, S. 36f.) zeichnet allgemein ein konzilianter, auf Unruhe, Friktion und Zerstreutheit verzichtender Stil – ja, man möchte fast sagen, ein neues Systembegehren – aus. Vgl. Paul Virilio: Ästhetik des Verschwindens. Übers. v. Marianne Karbe und Gustav Roßler. Berlin 1991.
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dem Wege der mnemonischen Verdichtung, der ironischen Selbstaufhebung und des respektlosen Betretens heterogener Text- und Gattungsdomänen schreibt sich die Liste beharrlich ein in die Gedächtnisarchitekturen der späten Moderne, die sie in ihrer Funktion als Bildspeicher oder krypta vervollständigt und zugleich radikal transformiert. Einer Kultur der ästhetischen und medialen Überforderung weist sie den Weg in die mögliche Zukunft einer reimaginierten Ursprünglichkeit; den Sprung aus der Fülle zurück ins Singuläre und Konkrete, aus der Immanenz in die Kontingenz bzw. Zerstückelung, aus dem Syntagma in das Paradigma. Was sich aus den Umweltsystemen nicht tilgen lässt, ist der beharrliche Eindruck einer Welt, die von Unbeständigkeit und Inkohärenz bedroht ist und schon aus diesem Grunde weiter der kompensatorischen Meisterschaft und Kunstfertigkeit des poetischen Listenschreibers bedarf, um neu geordnet und in ihrem fragilen Inneren zusammengehalten zu werden.
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Report "Poesie der Liste. Sammelleidenschaft und Sprachkritik in der modernen deutschen Lyrik "