Plessner und Adolf Portmann Zur philosophischen Bestimmung des Menschen durch Exzentrizität und Frühgeburt
1. Helmuth Plessner und Adolf Portmann: zwei Outsider Plessner beeinflusst Portmann sicher stärker als umgekehrt Portmann Plessner und seine Stufen beeinflusst. Und das nicht nur aus anagraphischen Gründen, sondern eher weil ihre jeweiligen Grundwerke mit einem Abstand von fünfzehn Jahren erscheinen, d. h. 1928 Die Stufen des Organischen und der Mensch und 1944 Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Portmann erkennt außerdem schon in den Biologischen Fragmenten an, was er Plessner verdankt – der mit gutem Recht zu seinen wichtigen philosophischen Bezugspersonen gerechnet werden kann.1 Portmann hingegen wird vor allem von Plessner ab den sechziger Jahren massiv rezipiert. Beide Denker agieren im Klima der anthropologischen Wende, indem sie sogar als bedeutsame Protagonisten auftreten. Über die seit Jahren virulente Frage, wer der Gründer oder wer die Gründer der philosophischen Anthropologie seien, hinaus, ist festzuhalten, dass neben Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos, Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch oder Gehlens Der Mensch auch Portmanns Zoologie und das neue Bild des Menschen2 ohne Zweifel zu den Eckpfeilern des anthropologischen Gedankens in der Zeit seiner größten Verbreitung gehört – d. h. bis zu den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Michael Landmann rechnet es zu den sechs anthropologischen Klassikern der Gegenwart3 und Hans-Eduard Hengs-
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Dazu gehören sicher auch Frederik Buytendijk, Martin Heidegger, Karl Jaspers, Wilhelm Szilasi. Vgl. zu den Beziehungen zu Szilasi H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, Weinheim 1988, S. 19-25. A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1951, S. 1-145. Mit Plessner, Gehlen, Rothacker, Alsberg und Cassirer; vgl. M. Landmann, Philosophische Anthropologie, Berlin 1976, S. 201.
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tenberg zögert nicht, von einem „Portmann-Phänomen“ zu sprechen. Auch als Marjorie Grene in den USA die philosophische Biologie verbreitet, bezieht sie sich auf fünf Autoren: Helmuth Plessner, Adolf Portmann, Frederik J. J. Buytendijk,4 Erwin W. Strauss und Kurt Goldstein als die Förderer eines geistigen Ansatzes, der „als neuer Ansatz einer ideologiefreien, der Sonderstellung des Menschen verpflichteten anthropologischen Betrachtungsweise unsere humane Eigenart mitten in dieser wissenschaftlich-technischen Zivilisation von Spaltung und Zerstörung bewahren will.“5 Adolf Portmann hat zwar nie versucht, eine systematische Aufarbeitung seines philosophischen Gedankens vorzuschlagen, sein biologischer Ansatz jedoch hat sich als einer der ertragreichsten im Bereich der anthropologischen Philosophie erwiesen. Der von Joachim Fischer vorgeschlagenen Leseart folgend, stammen Portmann und Plessner, im Unterschied etwa zu Gehlen und Rothacker, die zum Reich gehörten, aus der Peripherie des Reiches;6 und das nicht nur im politischen, sondern auch im akademischen Sinne. Keiner von beiden gehört tatsächlich zum „Club“, wie es Illies formuliert, und zwar genau betrachtet, weil beide als Andersdenkende zur dominierenden wissenschaftlichen Ideologie der damaligen Universitäten in Opposition treten.7 Beide überarbeiten ihre Konzeption vor dem gemeinsamen Hintergrund der Forschung von Uexküll,8 Buytendijk und André.9 Sie eignen sich hauptsächlich das Konzept der Weltoffenheit an – wobei sich beide gleichermaßen von einer reduzierten Interpretation der menschlichen 4 5 6 7
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Zu Plessner und Buytendijk vgl. den Beitrag von Becker in diesem Band. J. Illies, Das Geheimnis des Lebendigen. Leben und Werk des Biologen Adolf Portmann, München 1976, S. 189. J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München 2008, S. 135. Portmann fehlt paradoxerweise in den Lehrbüchern der Biologie, obwohl er bei den Philosophen – von Heidegger bis Jaspers, Plessner, Gehlen usw. – dank seines Beitrags zur Theorie des Menschen zu den einflussreichsten Denkern zählt. Vgl. J. Illies, Das Geheimnis des Lebendigen, S. 133. Vgl. den Beitrag von Köchy in diesem Band. In den 1930er Jahren interessiert sich Portmann für Plessner vermittelt durch den Botaniker Hans André, mit dem er eine lange Brieffreundschaft pflegte – und hatte mit Plessner später direkten, persönlichen Kontakt. Fischer berichtet, dass Portmann Plessner in ein Projekt involvierte, das die Gründung der Werner-Reimers-Stiftung vorsah, die sich der anthropologischen Forschung widmete. Vgl. J. Illies, Das Geheimnis des Lebendigen, S. 24 und S. 166; J. Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 345-361.
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Umwelt abgrenzen; beide heben den Erscheinungscharakter von Lebewesen hervor, einen Ansatz, den sie mit Buytendijk teilen, der jedoch vom demonstrativen Seinswert der Organismen spricht.10 Außerdem verbindet sie eine klare Distanzierung von Schelers Auffassung des Geistes. Die Isolierung des Menschen, die er – und Klages –, erzeugen, indem sie ein typisch Menschliches, den Geist, behaupten, lässt jede Art von übergreifender Lebensforschung unmöglich werden.11 Scheler stellt sich der Idee entgegen, dass der Mensch auch in seiner Tierheit von Anfang an mit dem Geist eins sein kann, indem er den Geist auf Grund seiner metaphysischen Orientierung als gegensätzlich zum Leben konzipiert: Das, was den Menschen ausmacht, steht damit außerhalb von dem, was wir Leben nennen. Und so ist Portmann davon überzeugt, der Einfluss Schelers steigere „eine Auffassung vom Menschen, welche die jetzt sich formende Anthropologie schon seit beträchtlicher Zeit in immer wieder erneuten Versuchen überwinden möchte. So wie die Biologie in der Erforschung des tierischen Lebens die Spaltung in Soma und Psyche durch den Rückgriff auf eine neutralere Sphäre, auf das Verhalten, zu überwinden sucht, so trachtet in den erwähnten Versuchen auch die Anthropologie nach einem Standort, der gegenüber den Trennungen in Leib, Seele und Geist neutralisiert ist. Schon einzelne frühere Versuche der Deutung des Menschen, wie sie etwa Marx unternommen hat oder später in Amerika John Dewey, gelten diesem Bestreben. Helmuth Plessner hat in seiner bedeutsamen Abhandlung von 1928 an der gleichen Zielsetzung mitgeholfen.“12
10 Auf diese Beziehung weist auch F. J. J. Buytendijk hin, indem er vom „demonstrativen Seinswert der Organismen“ spricht, im Unterschied zu Portmann, der vom „Darstellungswert der Gestalten“ spricht (A. Portmann, „Die Biologie und das Phänomen des Geistigen“, in: ders., Biologie und Geist, Freiburg, Basel, Wien 1963, S. 22). Vgl. A. Portmann, Die Tiergestalt, Freiburg, Basel, Wien 1965, S. 227. 11 Vgl. A. Portmann, „Der Mensch. Ein Mängelwesen?“, in: ders., Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 1970, S. 207; A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, Zürich 1965, S. 236-237. A. Portmann, Biologie und Geist, S. 34: „Schelers Auffassung der biologisch erfaßbaren Aspekte des Menschen war trotz seiner Kampfposition eben doch bestimmt durch die in seiner Zeit gangbarsten wissenschaftlichen Meinungen und durch eine metaphysische Voreinstellung zum Geist.“ 12 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 237.
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2. Zur Bedeutung Plessners für Portmanns Anthropologie Plessners Stufen stellen daher einen wichtigen Bezugspunkt für Portmann dar und das zeigen auch die vielen Verweise, die wir in den verschiedenen Werken des Biologen finden.13 Die Anlage der Gedankengänge Portmanns ist eng mit dem von Plessner geleisteten Versuch der exzentrischen Positionalität verbunden. Wir könnten sogar sagen, dass er die Idee der Expressivität des Lebewesens verwendet (vgl. Plessner und Buytendijk) und ebenso die Idee der Grenze, die er in die Zoologie zu übertragen versucht. Bei seinem Versuch, eine Morphologie als Wissenschaft zu erarbeiten, behauptet Portmann, dass die Formen der Lebewesen ein Mittel sind, dank dessen das Leben nicht nur die Selbsterhaltung des Individuums und der Art sicherstellt, sondern vor allem auch sich selbst ausdrückt.14 Auf Grund seiner zahlreichen und bekannten Studien zur Mimikry, zum Gefieder der Vögel oder zur Färbung der Fische zeigt er, wie der Primärzweck des Lebens ästhetischer Natur ist; die auffallende Vielfalt an Formen und Farben entspringt dem Wunsch der Natur, sich selbst darzustellen. Diese „Selbstdarstellung“ ist das primäre Ziel des Lebens. Jener Erscheinungscharakter verstärkt sich übermäßig, wenn man von tendenziell transparenten, halbtransparenten oder opaleszierenden Organismen – die durch eine perfekte Übereinstimmung von interner und äußerer Gestalt geprägt sind – zu Organismen mit undurchsichtiger Oberfläche übergeht. Die undurchsichtige Oberfläche wird ein vollkommenes Organ, dessen Ziel nicht nur ist, das Innere zu schützen und eine Wechselwirkung mit dem Äußeren zu ermöglichen, sondern Innerlichkeit auszudrücken und zu vermitteln. Mit dem Übergang zur undurchsichtigen Form zeichnet sich, in anderen Worten, eine Opposition zwischen Innen und Außen ab, die bei den
13 So etwa (um nur einige der deutlichsten Passagen zu nennen) in A. Portmann, Entläßt die Natur den Menschen?, S. 18-19, S. 40-57, S. 107; A. Portmann, Biologie und Geist, S. 3-45, S. 160, S. 266-271; A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 13-32, S. 33-57, S. 158, S. 237, S. 241, S. 243; A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 11, S. 66. 14 A. Portmann, „Selbstdarstellung als Motiv der lebendigen Formbildung“, in: Geist und Werk. Aus der Werkstatt unserer Autoren. Zum 75. Geburtstag von Dr. Daniel Brody, Zürich 1958, S. 166: „Wenn Lebewesen nicht deshalb da wären, damit Stoffwechsel getrieben werden, sondern Stoffwechsel treiben, damit das Besondere, das sich in Weltbeziehung und Selbstdarstellung verwirklicht, eine Weile in der Welt Bestand habe?“
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durchsichtigen Organismen nicht existiert und die die Geburt eines zweidimensionalen Systems markiert, das „weitgehend unabhängig von den Strukturen des Innern“15 ist und das die Bildung des zentralen Nervensystems fördert. Diese Zentralität führt dazu, dass die Einbindung des Tieres in die Welt über Akte der Vermittlung erfolgt, so dass die Innerlichkeit (das Ganze der mit der Umwelt verbundenen Tätigkeiten) sich immer häufiger des äußeren Anscheins des Organismus bedient. Das Äußere oder das vom Inneren Getrennte bringt die Geburt einer Grundform der Innerlichkeit mit sich. Der ganze Organismus entwickelt indirekte Kommunikationsfähigkeiten der Selbstdarstellung, durch die er lernt, symbolisch mit dem Äußeren in Kontakt zu treten und zwar mit Hilfe von Farben, Verzierungen, Zeichnungen, Wörtern usw. Die Undurchsichtigkeit erlaubt vor allem eine Art von Verstecktsein und somit eine erste Form der Nichtidentifizierung mit dem Inneren selbst; sie gibt dem Organismus die Möglichkeit, sich selbst sowohl darzustellen als auch zu verstecken, sich sowohl auszugleichen, eine innere Funktionalität auszudrücken, als auch eine freie veranschaulichende Wiedergabe des Selbst zu liefern.16 „Was H. Plessner 1928 in seiner Darstellung der ‚Grenze‘ hervorgehoben hat, daß sie nämlich zum Organismus gehört, aber über ihn hinauswirkend Weltbeziehung durch Überschreiten der Körperlichkeit stiftet, das gilt in einer ganz besonderen Weise von der opaken Grenze, die durch Erscheinen im Licht zu einer Fläche der Darstellung, der Kundgabe wird. Die Grenzfläche, die opak wird, stellt einen höheren Grad der ‚Grenzmöglichkeiten‘ dar […].“17 In einem gewissen Sinne erkennt Portmann, dass sein Konzept der undurchsichtigen Grenze in Plessners Theorie der Expressivität voll entfaltet wird und auf eine gewisse Weise den Kern von dessen Gedanken darstellt. Die Grenze in Kontakt mit dem Licht, erlaubt die Ausbildung nicht adressierter Kommunikationsmöglichkeiten, die sich an kein Lebewesen wenden, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Aus15 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 16. 16 Vgl. A. Portmann, „Um eine basale Anthropologie“, in: ders., Biologie und Geist, S. 244: „[…] sieht man die lebendigen Tätigkeiten in ihrem vollen Reichtum, so erhalten auch Verhaltensweisen eine Bedeutung, die nicht unmittelbar dem elementaren Erhaltungskreislauf eingegliedert, sondern zum Beispiel Ausdruck einer Hochstimmung sind, denen also kein sozialer Signalwert, sondern ein Darstellungswert zukommt.“ 17 A. Portmann, Entläßt die Natur den Menschen?, S. 54.
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druck der Innerlichkeit sind.18Plessners Annahme einer Grenze – darin inbegriffen die Unterscheidung von exzentrisch und konzentrisch, die sie mit sich bringt und die Artikulierung von Körper-haben und Leibsein19 – ermöglicht Portmann philosophisch die Einführung anthropologischer Voraussetzungen seiner Konzeption der Selbstdarstellung des Lebendigen und der extrauterinen Frühzeit. Im Menschen erlebt diese Selbstdarstellung ihren Höhepunkt. Nur bei ihm können wir, Portmann zufolge, von Innerlichkeit in voller Bedeutung im Sinne von Reflexivität oder Bewusstsein sprechen. Da der Mensch eine Frühgeburt ist – Portmanns bekannter Theorie der extrauterinen Frühzeit zufolge – lebt er sein erstes Jahr in einem sozialen Uterus. Jede seiner Kundgebungen, sei sie auf die Erhaltung oder auf den Ausdruck gerichtet, gehört in den Bereich der Wahlentscheidungen, stellt also eine künstliche und schöpferische Weise dar, historisch frei und flexibel auf natürliche Notwendigkeiten zu reagieren. „Dieser Darstellungsfunktion dient nicht nur die Stimme, die Gebärde, sondern auch die gesamte menschliche Technik. Sie ist von allem Anbeginn an mehr als der Ausgleich von Mängeln, sie leistet mehr als die bloße Kompensation von organischen Schwächen, sie ist nicht nur ein Ersatz fehlender somatischer Organe durch geistige Werke, sondern stets auch eine Organ-Überbietung, in der sich der Drang nach Selbststeigerung als Glied unserer humanen Darstellungsfunktion machtvoll äußert.“20 Die Weltoffenheit, Tochter der physiologischen Frühgeburt, befreit den Menschen einerseits, andererseits zwingt sie ihn jedoch zu einer Ursprungsgesellschaft, in der das „wir“ vor dem „ich“ kommt. Sie zwingt ihn außerdem noch zu handeln, um seine künstliche, indirekte und utopische Reife zu erreichen, die immer erreicht werden muss. Der Mensch, der eine stabilisierte Frühgeburt ist, ein dürftig entwickelter Nesthocker,21 ist um seine Zukunft besorgt, sieht voraus und plant, programmiert sich durch Erziehung, technische Rationalität und agiert in der Geschichte. Mit anderen Worten, Portmann ist davon überzeugt, „die Evolution des Lebendigen sei von jetzt an in unsere 18 Ebd.; A. Portmann, „Um eine basale Anthropologie“, S. 240: „Das Äußere wird zu einem Erscheinungsfelde, das der Darstellung und der Kundgabe dient und das sich stark von der Apparatur der Erhaltung absondert.“ 19 Vgl. A. Portmann, „Spiel und Leben“, in: ders., Entläßt die Natur den Menschen?, S. 236; A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 66. 20 A. Portmann, „Um eine basale Anthropologie“, S. 238. 21 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 38.
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Hand gegeben, wir seien voll verantwortlich für sie und damit auch verpflichtet, die neue Aufgabe zu erfassen und durchzuführen“.22 Portmann eignet sich mindestens die ersten beiden anthropologischen Grundgesetze der Stufen an und tritt damit, auch anhand seines Konzepts der Frühgeburt, in die Fußstapfen Plessners: Der Mensch ist von Natur aus ein geistiges Wesen, das eine sekundäre Welt erschafft und das sich indirekt in die Welt einfügt: „Diese Anerkennung des Geistigen als ein Glied unserer zweiten Natur, dieser ‚natürlichen Künstlichkeit‘, wie H. Plessner unsere Lebensform genannt hat, hat schließlich in den letzten Jahren dazu geführt, so extrem abweichende Vertreter wie P. Teilhard de Chardin und Sir Julian Huxley in einem Lager zu vereinigen, in dem im übrigen recht Verschiedenes sich zusammengefunden hat.“23 Daher ist der Mensch im Wesentlichen ein historisches und künstliches Wesen: Er ist gezwungen, in seiner Unmittelbarkeit, künstlich in seiner Naturalität,24 sozial in seiner Individualität, relativiert zu werden. Die Tatsache, während des einjährigen Aufenthaltes im sozialen Uterus überlebt zu haben, lässt den Menschen zu einem einzigartigen Wesen werden, in dem das „wir“ einen grundlegenden Vorrang vor dem „ich“ besitzt und das von Anfang an im Flussbett einer zweiten Natur agiert, die sich neben die Natur in ihrer selektiven und wandelbaren Rolle stellt. Im Gegensatz zu der Annahme der Neodarwinisten „sind die entscheidenden menschlichen Varianten nicht die erblichen Mutationen, sondern die Träger besonderer geistiger Leistungen auf den verschiedensten Gebieten des Soziallebens, die Träger schöpferischer Ideen“.25
3. Die Wiedergewinnung Portmanns durch Plessner Vom Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts an und vor allem in den sechziger Jahren wird die Interaktion zwischen den beiden Autoren intensiver. Jetzt ist es Plessner, der sich die Biologie Port22 A. Portmann, Entläßt die Natur den Menschen?, S. 345. 23 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 241; In Biologie und Geist (S. 268 f.) spricht Portmann ausdrücklich von „natürlicher Künstlichkeit unserer Kulturformen“. 24 Es ist offensichtlich, dass „die natürliche Wesensart des Menschen ‚historisch‘ geschichtlich ist“ (A. Portmann, Biologie und Geist, S. 268). Vgl. auch S. 40 f. 25 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 240.
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manns zunutze macht und in gewissem Sinne seine Stufen neu im Licht des extrauterinen Frühjahrs liest. 1957 hatte Portmann zu der Festschrift für Helmut Plessner durch einen wichtigen Aufsatz mit dem Titel Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfeld26 beigetragen. Plessner veröffentlicht darauf eine Reihe von Aufsätzen, in denen er sich mehr oder weniger auf die Arbeit Portmanns bezieht und seine Verdienste anerkennt: Conditio humana (1961), Ein Newton des Grashalms (1964), Der Mensch als Naturereignis (1965), das Vorwort zur zweiten Ausgabe der Stufen (1965).27 1967 erscheint dann der bedeutungsvolle Aufsatz Plessners zum 70. Geburtstag von Adolf Portmann Der Mensch als Lebewesen.28 Im zuletzt genannten Beitrag benutzt er die Theorie der Frühgeburt, um der exzentrischen Positionalität eine biologische Grundlage zu geben und so gelingt es ihm, die Geistlichkeit des Menschen zu erklären, ohne weder dem Biologismus noch dem Spiritualismus zu verfallen. Mit anderen Worten, so wie Portmann die Exzentrizität Plessners aufgewertet hatte, um seinen Gedanken vom Ausdrucksund Darstellungswert hervorzuheben, so benutzt Plessner die Idee der extrauterinen Frühzeit, um der Theorie von der exzentrischen Personalität ein biologisches Fundament zu geben, indem er sie in ihrer genetischen Dimension erfasst. Auf diese Weise antwortet Plessner indirekt denjenigen, die gegen ihn einwenden, er habe die Exzentrizität nicht in ihrer historischen und sozialen Entwicklungsdimension analysiert und nicht geklärt, ob sie das Ergebnis einer historisch-genetischen Entwicklung sei oder aber eine feste transzendentale Struktur des Menschen darstelle.29 26 A. Portmann, „Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde“, in: ders., Entläßt die Natur den Menschen?, S. 40-57. 27 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. VII-XXIII. 28 H. Plessner, „Der Mensch als Lebewesen“, in: ders., Conditio humana, Gesammelte Schriften, hrsg. G. Dux et al., Bd. 8, Frankfurt a. M. 2003, S. 314-327. 29 Nach Günter Dux gilt: „Die von Plessner entworfene Anthropologie bleibt, gebunden an eine absolutistische Denkstruktur, darin fundamentalistisch, daß sie diese Verschränkung als statische Gegebenheit einer auf den Begriff der exzentrischen Positionalität fixierten Verfassung einschreibt. In dieser Fundamentalisierung bleibt die Geistigkeit selbst undurchsichtig; sie wird einer letztendlich absolut gedachten und eben deshalb unergründlichen Substanz im Menschen zugeschrieben. Exakt darin gehen wir in einer historisch-genetischen Theorie über Plessner hinaus.“ (G. Dux, „Für eine Anthropologie in historisch-genetischer Absicht. Überlegungen zur philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners“, in: U. Wenzel, G. Dux (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen
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In einer bestimmten Hinsicht erweisen Plessner und Portmann sich gegenseitig als zweckdienlich, da die jeweiligen Theorien des anderen in der Lage sind, der eigenen Theorie eine Grundlage zu geben. So haben die hier genannten Texte von Plessner den Verdienst oder die Charakteristik, versuchsweise eine Erklärung der Conditio humana als Naturereignis zu geben. Besonders in Menschen als Lebewesen versucht Plessner, die Kategorie in seinen Gedanken zu deklinieren, als er die Ideen Portmanns erfasste. So wird die Fähigkeit des Menschen, sich von außen als ein Ganzes zu sehen, sich als ein „Ich“ zu bezeichnen, den eigenen Körper zu manipulieren, im eigenen Körper zu sein und einen Körper zu haben, Prothesen zu erstellen – ein Prothesenproteus zu werden – künstlich zu sein, in engem Zusammenhang mit den ersten Jahren des menschlichen Lebens gesehen. „Adolf Portmann hat das große Verdienst, den Charakter dieser Vorbereitungszeit biologisch zum ersten Mal deutlich bestimmt zu haben.“30 Das extrauterine Frühjahr, zusammen mit dem aufrechten Gang und der Sprache versetzen den Menschen in einen Zustand der endgültigen Trennung vom Tier, der Invalidität, aber auch der Exzentrizität, des Risikos, aber auch der Kreativität. Die Positionalität, die auf dem Konzept der Grenze basiert, die das Innere und das Äußere in Kommunikation miteinander bringt und somit Innerlichkeit schafft, drückt sich auf eklatante Weise in der undurchsichtigen Grenze Portmanns aus. Umgekehrt liefert die biologische Frühreife des Menschen, der vorzüglichsten Art, die Grenze zu realisieren und auszudrücken, eine biologische Grundlage, die den Menschen ausmacht: Die Exzentrizität, mit all dem, was sie an Mittelbarem und Künstlichem mit sich bringt, hat in der extrauterinen Frühzeit eine ihrer Voraussetzungen. „Mit dem Durchbruch zum Ich ist jedenfalls eine Positionsform etabliert, die ihrer eigenen Mitte ansichtig sein kann und muß und darum nicht mehr in sich ruht. Sie hat ihren Schwerpunkt außer sich, weshalb ich von exzentrischer Positionsform spreche. Die Monopolstellung des Menschen als animal rationale, als zoon logon echon ist darin eingeschlossen, weil Vernunft, Einsicht, Versachlichung, Wortsprache nur dank des Außersichseins dieser Art Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994, S. 114) Der Einwand wird von H. Fahrenbach erwidert in seinem Beitrag „‚Phänomenologisch-transzendentale‘ oder ‚historisch-genetische‘ Anthropologie – eine Alternative?, in: U. Wenzel, G. Dux (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte, S. 64-91. 30 H. Plessner, „Der Mensch als Lebewesen“, S. 322.
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Lebewesen möglich werden.“31 Die Theorie der Positionalität Plessners basiert auf der Voraussetzung der Idee der Expressivität des Lebenden, die sie auch in sich trägt und die Portmann zu meistern versucht. Die Theorie der extrauterinen Frühzeit – mit der Weltoffenheit und der Teilinvalidität, die sie mit sich bringt – hilft Plessner, den Übergang zu legitimieren zu dem spezifischen Modus, die Grenze zu leben und zu erleben, der typisch für den Menschen ist. Dieses ist ihre mittelbare und künstliche Expressivität, die die Exzentrizität ausmacht. In demselben Aufsatz zeigt sich eine tiefe Übereinstimmung sowohl in Bezug auf die „umfassende“ Idee der Evolution als auch bezüglich der Unmöglichkeit, ohne Zweifel eine Sonderstellung des Menschen zu konstatieren. Dem außergewöhnlichen Erscheinen eines Wesens gegenüber, das in der Lage ist, die eigene Innerlichkeit in die Äußerlichkeit zu setzen (in das, was außen steht) – das also fähig ist, den eigenen Körper als ein Werkzeug wahrzunehmen, das entblößt oder geschmückt werden kann – ist die Versuchung naheliegend, den Weg des Finalismus oder den des Materialismus zu wählen. Den Menschen, so wie Teilhard de Chardin es tat, entweder als den Gipfel eines ehrgeizigen Projektes der Natur, „das vorgesehene, geheime Ziel des Lebens“ oder aber einfach als einen „Fehltritt der organischen Welt“32 zu betrachten. Zu diesem Dilemma aber wagt Plessner „nicht zu entscheiden“. Man sollte sowohl die metaphysische Drift des Idealismus als auch eine reduzierende Verhaltensordnung verhindern. Man sollte sowohl den Entwicklungsoptimismus von Schelling, Haeckel usw. vermeiden, die den Menschen an der ersten Stelle der Schöpfung, also mit Gott gleichgestellt, sehen, als auch die Vereinfachung der Ethologie, die den Menschen in allem mit dem Tier gleichstellt. Die Wahrheit lautet für Plessner: „Nach wie vor sind die Triebkräfte der Evolution unbekannt. Natürliche Auslese und Mutation spielen zweifellos dabei eine Rolle, aber zur Erklärung der transspezifischen Metamorphosen in der Geschichte des Lebens reichen beide Faktoren nicht aus.“33 Die Idee, dass die geheime Absicht der evolutionären Entwicklung im Menschen erreicht wird, ist höchst unwahrscheinlich und zwar gerade wegen einiger Argumente, die Portmann hoch schätzt. Der Reichtum, der in der 31 Ebd., S. 323. 32 Plessner, ebenso wie Portmann, ist gegen die Idee einer „orthogenetischen“ Richtungskraft. Vgl. H. Plessner, „Der Mensch als Lebewesen“, S. 323. 33 Ebd., S. 325.
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Natur feststellbaren Formen, die Üppigkeit lebender Strukturen, die Vielfalt der Wege, die das Leben einzuschlagen versucht, um weiterzukommen, scheinen auf die Abwesenheit eines auf den Menschen hin ausgelegten Plans, hinzuweisen.34 Der auch von einem biologischen Standpunkt aus feststellbare Luxus, die „spielerische Gestaltenfülle“ – die die Morphologie auf sich nimmt – ist Zeichen einer kreativen und überschießenden Phantasie, die die Existenz eines Wesens ermöglicht, das von Natur aus „invalid“, weltoffen ist und daher zur Gebrochenheit verdammt, zur Distanz zu sich selbst, zur Kenntnis des Todes.35 Mit anderen Worten, im Menschen kann man, mehr als alles andere, „einen Antagonisten zur Sterblichkeit alles Lebens sehen, ein Aufbegehren der Natur gegen sich selbst.“36
4. Das Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen Mit der gleichen Absicht, die sich in den eben zitierten Texten zeigt, versieht Plessner 1965 die Stufen mit einem zweiten Vorwort. Dieses hat das Verdienst uns einen Schlüssel anzubieten, um die intellektuelle Verwandtschaft, die die Forschung der beiden Autoren verbindet und ihre gemeinsamen Interessen zu erschließen. Sicher fechten beide eine neodarwinistische Interpretation der Evolution an. Bekannt ist die Stellungnahme Portmanns, für den nicht alles das, was in der Natur erscheint, erklärt werden kann, indem man sich auf den Wert der Mutationen und auf die Aktion der selektiven Faktoren bezieht. Im Gegenteil, in gewissem Sinne muss Darwins Prinzip des Kampfes um das Überleben (struggle for life) als ein Element der Selbstentwicklung und der Selbstdarstellung angesehen werden,37 womit behauptet wird, dass im Leben des Organischen 34 Ebd.: „[…] entscheidend für die Zweifel am einsinnigen Entwicklungssinn ist die überwältigende Vielfalt organischer Grundformen […]“. 35 In diesem Punkt überwiegt bei Portmann die Tendenz, die Gestaltenfülle positiver und die Distanz des Menschen zur Natur weniger antagonistisch zu interpretieren. 36 Ebd., S. 327. Daher „dürfen wir das Ereignis der Anthropogenese nicht als in der Entwicklung des Lebens schon präformiert betrachten. Daß sie eine Umwälzung ausgelöst hat, die unabsehbare Folgen hat, ist für ihren Ereignischarakter typisch.“ (Ebd., S. 326). 37 Vgl. A. Portmann, „Kampf und Frieden in biologischer Sicht“, in: ders., Aufbruch der Lebensforschung, S. 89-116.
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der Überlebenswert (survival value) dem Ausdruckswert zweckmäßig funktionsgerecht ist. So könnten die kreative Phantasie der Natur und die Verbreitung der Formen erklärt werden. Die Form darf nicht nur als zweckgerecht angesehen werden, sondern als „Zeugnis der Innerlichkeit“.38 Die Morphologie hat die Aufgabe, den Akzent auf den Wert der Vorstellung der Form zu setzen (Phaneroskopie). Die Erscheinung einer sozial geschützten Innerlichkeit begünstigt außerdem die Entwicklung eines Wesens, das fähig ist, eine freie und nicht im Sinne purer Überlebenssicherung funktionale oder zweckorientierte Beziehung mit Raum und Zeit aufzubauen. Der frühreife und weltoffene Mensch „spielt“ mit der Welt: im Menschen bilden sich spielerischer Raum und spielerische Zeit, in denen das Leben sich selbst ausdrückt.39 Der monistische Evolutionismus ist eines der Hauptziele Portmanns. Es ist jedoch emblematisch, dass gerade Plessner, im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen, darüber klagt, wie er, zum 100. Jahrestag von On the Origin of Species, Gefahr läuft, als „evolutionsfeindlich, wohl gar ein Anhänger idealistischer Morphologie“40 zu erscheinen. Und das nicht nur auf Grund des Titels seines Meisterwerks.41 Und so ist es im Vorwort unübersehbar, dass er sich Portmanns Überlegungen bedient, um die Beziehung zwischen Form, Erscheinung und Selbsterhaltung neu zu definieren: „Das Aussehen als Lockmittel, Schutz (Mimikry), Abschreckung, Imponiergehabe ist in den Lebenszyklus eingebaut, aber als Aussehen und Darstellung wird die Gestalt des Organismus, wie A. Portmann sagt, zur ‚eigentlichen Erscheinung‘. ‚Selbstdarstellung muß als eine der Selbsterhaltung und der Arterhaltung gleichzusetzende Grundtatsache des Lebendigen aufgefaßt werden‘.“42 Mit dieser ausdrücklichen Dimension, die die Autoren vereint, ist die Anerkennung der spielerischen Funktion des Lebens auch durch Plessner verbunden. Nicht nur „die kreative Phantasie, die spielerische Gestaltenfülle spottet jeden Versuchs eintönig fortschreitender Evo-
38 A. Portmann, Die Tiergestalt, S. 212: „Die Gestaltung des Tierkörpers über die elementaren Notwendigkeiten der Erhaltung weit hinausgeht“. 39 In Bezug auf das Spiel in seiner ethologischen und kosmologischen Dimension verweise ich auf meinen Aufsatz „Antropologia del gioco: A. Portmann“, in: G. Sorgi (Hrsg.), Le scienze dello sport. Il laboratorio atriano, Roma 2012, S. 157-169. 40 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. IX. 41 Der Originaltitel hätte wie folgt lauten müssen: Pflanze, Tier, Mensch. Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form. 42 Ebd., S. XXIII.
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lution, die im Menschen kulminiert“,43 sondern auch in der organischen Realisierung „liegt ein Moment absoluter Beliebigkeit, dessen wesensnotwendige Auswirkung die Irrationalität der Stammform der Organisation darstellt. Ohne diesen Wesenszug spielerischer Willkür wäre das Leben nicht mehr Leben.“44 Eng mit dem vorhergehenden Punkt verbunden ist die Ablehnung des Dualismus von Descartes, zusammen mit der dazugehörigen Kritik an einem alles erläuternden Mechanismus. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist die Übereinstimmung zwischen Plessner und Portmann bezüglich der Notwendigkeit einer Revision der „divisio mundi“45 und der totalen Äquivalenz zwischen Ausdehnung und Messbarkeit, physischer Realität und Berechenbarkeit, vollständig. Jener Ansatz sieht tatsächlich vor, dass „die meßfremden, qualitativen Eigenschaften der Körper nicht zum Wesen der Körperlichkeit gehören.“46 Das würde allerdings das Plus, das dem Organischen eigen ist und an das beide Denker sich zwecks einer erweiterten und problematischen Analyse der Realität wenden, ausschließen. Man muss hingegen den Mut haben, „die ausschließliche Sachdienlichkeit der exakten Methoden für die Naturerkenntnis zu bestreiten.“47„Es gibt infolgedessen viel mehr in der Welt, als an ihr feststellbar ist.“48 In diesem Sinne erschöpfen die physischen Eigenschaften das Lebewesen ganz und gar nicht; in dieses Missverständnis gerät man nur, wenn die wissenschaftliche Methode auf reduzierende Weise betrachtet wird: „Erst wenn man glaubt, die exakte Methode sei die einzige Art der Naturerkenntnis, will man im Gegenstande nichts da sein lassen, was sie nicht erklären kann.“49 Wie Plessner und Portmann jedoch in ihrer Analyse der Form, der Grenze und der organischen Grundeigenschaft gezeigt haben: „Aufgelöst wird das Organische durch seine Erklärung
H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen, S. 325. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 170. Ebd., S. 97. Ebd., S. 43; „Wogegen sich eine anticartesianische Bewegung richten muß, ist die Identifizierung von Körperlichkeit und Ausdehnung, physischem Dasein und Meßbarkeit, die es verschuldet hat, daß wir für die meßfremden Eigenschaften der körperlichen Natur blind geworden sind.“ (Ebd., S. 42). 47 Ebd., S. 41. 48 Ebd., S. 119. Plessner fährt bezüglich der organischen Grundeigenschaften fort: „Alle nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte haben dieses Schicksal, in die Erfahrung einzugeben, ohne im Fortgang der Erfahrung bestimmbar zu werden.“ 49 Ebd., S. 86. 43 44 45 46
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nicht.“50 Das ruft einerseits die Zentralität des Protoplasmas (Portmann), die formelle Idee der Totalität, die in den Dingen ist und deren Entwicklung antizipiert,51 die innerliche Teleologie des Lebenden, auf die die Biologen stoßen, zurück; andererseits verweist es auf eine unterschiedliche Interpretation des wissenschaftlichen Wissens, das sich nicht mit reduzierender, mechanischer Analyse begnügt. Ähnlich wie Plessner bekräftigt auch Portmann, wie unmöglich es inzwischen ist, den Menschen vollkommen zu verstehen, ohne eine vergleichende Studie mit dem Tier und den lebenden Formen im Allgemeinen vorzunehmen. Nicht zufällig reiht deshalb Odo Marquard52 Portmann bei der Hervorhebung des Einflusses der Biologen und Mediziner auf die philosophische Anthropologie in die Reihe derjenigen ein, die es für nötig halten, den Menschen, auf natürliche Weise zu verstehen.53 Portmann teilt außerdem mit Plessner die Einsicht in die Notwendigkeit, sich den empirischen Befunden der Wissenschaft zu stellen, den Menschen also, in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen54 (gegen den Ontologismus) vor dem Hintergrund der biologischen Mechanismen und Dynamiken, die ihn mit der übrigen Welt des Organischen verbinden, zu studieren. Plessner sieht in Portmann einen Alliierten gegen die von Heidegger eingeschlagene „Richtung nach innen“.55 Indem Heidegger die philosophische Anthropologie als regionale Ontologie abstempelte, musste auch die philosophische Reflexion über den Menschen in den Rahmen einer größeren ontologischen Betrachtung eingeordnet werden56 Diese Forderung jedoch beeinträchtigte den vollständigen anthropologischen Ansatz Plessners, die Untersuchung des Menschen ‚von 50 Ebd., S. 109. 51 Ebd., S. 168-169. 52 O. Marquard, „Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropologie‘ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel, Stuttgart 1965, S. XV. 53 Vgl. R. Kugler, Philosophische Aspekte der Biologie Adolf Portmanns, Zürich 1967, S. 45; J. Dewitte, „Animalité et Humanité: Une comparaison fondamentale. Sur la démarche d’Adolf Portmann“, in: Revue européenne de sciences sociales, XXXVII (115)/1999, S. 9-31. 54 Vgl. H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, S. 64. 55 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XIII. 56 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 51991; H. Fahrenbach, „Heidegger und das Problem einer ‚philosophischen‘ Anthropologie“, in: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970, S. 118 f.
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unten‘ zu beginnen, indem er den Menschen in das „Meer des Seins“57 hineinstellte; ein Versuch, der Plessner bis an die Schwelle der Metaphysik führt, ohne diese jedoch zu überschreiten. Er tut dies in der Überzeugung, dass jedes metaphysische Apriori (Geist oder Dasein) nicht die Möglichkeit berücksichtigt, dass von der Welt grundsätzliche Hilfe zum Verständnis des Lebens kommen kann. Nicht zufällig drückt sich Plessner diesbezüglich schneidend scharf aus: „Von Natur gibt es keinen Menschen. Er wird zu einem solchen durch seine Beziehung zu Gott. Der Theomorphie des Menschen im Sinne Schelers entspricht die Ontomorphie in Heideggers Sinn.“58 Plessner bezieht in seine Abgrenzung Löwith mit ein und bekräftigt, dass für Heidegger: „[…] die Seinsweise des Lebens, nur privativ, vom existierenden Dasein her, zugänglich sei.“ Damit „entstand der Anschein, als seien beim Menschen Geburt, Leben und Tod reduzierbar auf ‚Geworfenheit‘, ‚Existieren‘ und ‚Sein zum Ende‘. Desgleichen wurde die Welt zu einem ‚Existenzial‘ […] Die lebendige Welt, die Nietzsche mit großen Opfern wieder entdeckte […] ist, in eins mit dem leibhaftigen Menschen, im Existenzialismus wieder verlorengegangen.“59 Plessner ist hingegen auf der Seite Nietzsches und damit auch auf der Seite Portmanns und stellt sich gegen denjenigen, der das Dasein vom Leben trennt. In diesem Sinne werden Portmanns Untersuchungen der Innerlichkeit und das extrauterine Frühjahr von Plessner als Mittel benutzt, das gegen die Rückkehr des Subjektivismus, gegen den in der Linie Husserl-Heidegger anhaltenden verschleierten Idealismus eingesetzt werden muss: Gegen die Idee, dass das Leben in seiner physischen Dimension, angefangen vom existierenden Dasein, nur in privativen Bestandteilen fassbar ist. „Mit dieser These bekam die seit den Tagen des deutschen Idealismus der Philosophie zur lieben Gewohnheit gewordene Richtung nach innen wieder Oberwasser.“60 Das heißt aber nicht, dass gilt für Portmann mehr noch als für Plessner, dass dem Menschen nicht doch eine privilegierte Rolle zugeschrieben wird, von dessen Standpunkt aus die restliche Welt des Lebens analysiert werden soll, womit Portmann vor allem unter dem Einfluss Szilasis und Heideggers, den Weg von unten herauf nicht vollständig übernimmt.61 Die Allianz zwi57 58 59 60 61
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. V. Ebd., S. XI. Ebd., S. XII (Karl Löwith zitierend). Ebd., S. XIII. Vgl. H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, S. 63.
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schen Plessner und Portmann ist allerdings stark, da beide davon überzeugt sind, dass uns das Leben helfen kann, den Menschen und das Geheimnis, auf dem er ruht, zu verstehen. Dazu bedarf es allerdings einer reiferen Wissenschaft62 als der offiziellen. Was Plessner und Portmann vereint, ist eine umfassende Idee von Wissenschaft – wie sie Plessner initiiert hatte –, die in der Lage ist, jene Zäsur zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu überwinden, die am Anfang des Jahrhunderts etabliert wurde; in der Lage, eine Brücke zu schlagen zwischen Erklären und Verstehen. In der Streitfrage um die Konzepte von Erklären und Verstehen bekräftigt Portmann mehrmals die Bedeutung des Verstehens als ein Mittel, die Phänomene von einem höheren Standpunkt ganzheitlich zu erfassen (in Analogie zur Morphologie) und sie damit in einer Weise zugänglich zu machen, die nicht nur funktional ist.63 Plessner negierte die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Ansatzes allerdings nie. Das Verständnis des Lebenden, als geordnete Totalität, ist nur möglich, wenn man lebendige Mechanismen betrachtet, die einzelnen Phänomene also unter dem Licht der Totalität und der Ordnung des Ganzen untersucht, die jeden lebenden Geist leitet und die sich im Isomorphismus offenbart. (Demnach scheint es so, als gäbe es eine Korrespondenz zwischen einer angeborenen Struktur in der Innerlichkeit des Organismus und der Wirklichkeit).64 Plessner hält das Hinterfragen der wissenschaftlichen Dignität für eine Wissenschaft des Geistes mit Sicherheit für falsch. Er erkennt vielmehr an, dass geistige Phänomene mit der gleichen Sicherheit untersucht werden können wie natürliche Phänomene, wenn man ein anderes Verfahren verwendet als das konstruktiv experimentelle.65 Sicher erkennt er, dass die Geisteswissenschaften auf dem Ausdruckscharakter ihrer Gegenstände basieren, die sich nicht darauf begrenzen, Sinn zu haben, sondern die diesen auch mitteilen. Indem sich Plessner 62 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 29. 63 A. Portmann, „Gestalt als erstes und letztes Problem der Lebensforschung“, in: Eranos-Jahrbuch XXXIV/1965, Zürich 1966, S. 447-482. „Den Raum des Verstehens zu erweitern, aus der Enge einer einseitigen Geltung der genetischen Erklärungsversuche herauszuführen, statt einer ausschließlich sanktionierten Deutungsart, den Möglichkeiten des ‚sowohl – als auch‘ Erhaltungs- als auch Darstellungsfunktion zu ihren Recht zu verhelfen –, das ist die Absicht unserer Umschau“. 64 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 79: „Ein Tier mit einem angeborenen Bild vom Sternenhimmel!“ 65 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 39.
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auf Dilthey bezieht, erkennt er jedoch „die Unmöglichkeit eines vollkommenen Desinteressements der Theorie der Geisteswissenschaften an der Natur. […] Sogar die Methode des Verstehens bleibt wie der Mensch leiblich gebunden.“66 Trotz des Anscheins „gibt die Natur in vielen ihrer Schichten den Gegenstand oder den Hintergrund oder das Mittel oder das Prinzip ab, vor dem bzw. mit dem der Mensch seine geistige Existenz führt; so daß Natur und geistige Welt doppelt miteinander verklammert sind, indem die eine die andere trägt und bedingt und gleichzeitig von der anderen Qualifizierung und Deutung empfängt.“67 Die philosophische Anthropologie Plessners setzt also voraus, dass die historisch-geistige Wahrheit und die Natur in einer Perspektive zusammengefasst werden müssen. Die Hermeneutik der geistigen, kulturellen Geste beruht somit auf einem vorhergehenden Verständnis der reifen Ausdruckskraft des Menschen, in der sie wurzelt.68 Zu behaupten: „Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen“,69 heißt, das hermeneutische geistige Verständnis auf einem vorhergehenden Verständnis der Sprache der physischen Welt, der lebendigen Welt zu gründen; einer Welt, die als lebende eine eigene Morphologie, eine eigene Mimik, eine eigene natürliche Ausdruckskraft besitzt. Diese Ausdruckskraft ist an und für sich – dieses liegt auf der Linie von Portmanns Gedanken – an den Lebensbereich gebunden, zu dem sie gehört, daher geht sie ursprünglich von der Totalität aus, die sich selbst versteht, die man instinktiv versteht und von der der Mensch ein Teil ist. Mit anderen Worten ist auch die menschliche Kommunikation nur der höchste Grad einer kommunikativen Verbindung und eines Verständnisses, die das Leben von Anfang an auszeichnet. Der hermeneutischen Interpretation des Lebens in ihrem geistigen Ausdruck geht die Interpretation der morphologischen Ausdruckskraft der Lebenden voraus. Wenn wir nur kurz den Akzent auf „morphologisch“ legen, wird uns klar, wie sehr der gesamte von Portmann erarbeitete Gedanke 66 Ebd., S. 21. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 23: „Philosophische Hermeneutik als die systematische Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte läßt sich nur in Angriff nehmen – oder gar durchführen – auf Grund einer Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks.“ 69 Ebd., S. 26.
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– die Idee von Morphologie als Wissenschaft einer universellen Kommunikation, eines Isomorphismus – gerade diese Intuition Plessners wieder aufnimmt und vertieft. Ein lebender Körper, mit seinen Formen und Bewegungen, ist an und für sich bereits ein Bedeutungsträger; seine Bewegungen sind mit Sinn ausgestattet, egal ob man sie nun versteht oder nicht. Deshalb gilt: „In derselben Unmittelbarkeit und Lebenshöhe, die der Mensch existentiell zu sich hat, zu seinen Mitmenschen, zu seiner Zeit, in der er sich ausspricht und von sich weiß, weiß er auch von der Natur.“70 Die arglose Ausgangssituation ist die einer ursprünglichen Verbindung von Kommunikation und Verständnis, der die Wissenschaft mit der Zeit eine interpretierende objektivierende Form übergeordnet, dabei jedoch jenen Ursprung vergessen hat. Der Mensch als Lebewesen ist insofern von einer ursprünglichen Kommunikation umgeben. Die Hypertrophie des Ich, die Verabsolutierung eines objektivierenden Ansatzes, die Reduzierung auf die physischen Daten eines sich bewegenden Lebewesens, die Desertifikation der „Primärwelt“ zum Vorteil der „Sekundärwelt“, um weiterhin mit Portmanns Worten zu sprechen, die Überbewertung eines begriffsmäßigen Wissens und die Abwertung dessen, was man gefühlsmäßig versteht (die Sensibilität und die Intuition)71 haben aus der Wissenschaft ein mächtiges Mittel gemacht, das jedoch dem Leben gegenüber blind ist. Für Plessner und Portmann ist eine reifere Wissenschaft notwendig, die in der Lage ist, die Limitiertheit der eigenen Gedankenfülle, die strenge Dichotomie zwischen Erklären und Verstehen zum Vorteil des Verstehens, zu überwinden.
5. Schlusswort Zwischen den beiden Autoren verbleibt jedoch ein grundsätzlicher Unterschied: Die Lehre Plessners findet keinen Abschluss. Das exzentrische Tier bleibt ein utopischer Ort, immer bereit, jede dazugewonnene Wahrheit, jeden religiösen Grundsatz zu untergraben. Die Verwurzelung der geistigen in der physischen Welt hindert den Menschen nicht daran, sich gegen die Natur, deren Sohn er ist, aufzulehnen. Die 70 Ebd., S. 27. 71 Ebd., S. 53.
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ursprüngliche Kommunikation unter den Lebewesen ist keine Garantie für einen umfassenden Sinn. Es fehlt Plessner – im Gegensatz zu Portmann – das Vertrauen darin, die Ausdruckskraft der primären Welt könne einen umfassenden Sinn verstecken. Es fehlt der Gedanke, dass Totalität und Ordnung ein Vorverständnis ermöglichen, um die Mechanismen des Lebens zu lesen und zu verstehen. Beide lehnen es ab, den Menschen im Sinne Teilhard de Chardins zu verstehen. Bei Portmann lassen jedoch die Ästhetik und die Fülle der lebendigen Formen, die Sonderstellung des Menschen, der „Geheimnisgrund“, aus dem alles hervorgeht,72 einen Sinn erahnen. Es scheint so, als ob eine Harmonie und eine gegenseitige Abhängigkeit der Seiten existiert, es eine kosmische Kommunikation (Isomorphie) gibt, die sich Gott, der Wiedererlangung des mythischen und phantastischen Gedanken öffnet: Die Sehnsucht nach der primären Welt. Sollte es wahr sein, dass die Öffnung der Welt uns Ptolemäern erlaubt, kopernikanisch zu werden und die Sicherheit der Primärwelt für die Unsicherheit der Sekundärwelt zu verlassen, dann ist es noch richtiger, dass wir, eher Ptolemäer als Exzentriker, die Pflicht haben, die Erde als Heimat73 zu bewahren. (Übersetzung: Brigitte Schäffer)
72 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 112. 73 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 147.
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